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Mozarts Muse

 

Die Institutsleitung gab mir bis zu einem gewissen Grad freie Hand. Was immer das heißen mag, ich hatte die Erlaubnis etwas zu tun, wovon die meisten Menschen jedenfalls nur träumen konnten...

Ich durfte, sofern es mir überhaupt gelingen sollte, als erster Mensch einen direkten Kontakt mit der Vergangenheit aufnehmen…

Als Ingenieur für Kreativtechnologie des 21. Jahrhunderts arbeitete ich schon mehr als drei Jahre an diesem hochinteressanten Projekt und wollte eigentlich schon immer herausfinden, wie genau diese Vergangenheit wirklich war, von der uns die Historiker in ihren Aufzeichnungen berichteten. Und wenn mich nicht alles täuschte, standen wir mit der Erforschung der Zeitpartikularien kurz vor einem technisch entscheidenden Durchbruch. Das heißt, sollte es uns gelingen, diese Partikel in die umgekehrte Richtung des Zeitenstrahls zu lenken, würden wir bewusst an der Vergangenheit teilhaben können. Leider könnte eine aktive Teilnahme allerdings auch eine geradezu fatale und nicht zu unterschätzende Auswirkung bis hinein in unsere Zeit und sogar darüber hinaus haben. Deshalb war bei solchen Sprüngen stets allergrößte Vorsicht geboten und es war noch lange nicht klar, ob es in der Zukunft überhaupt jemanden gestattet sein würde, in die Vergangenheit zu reisen. Denn der gewaltige Schaden, der allein durch eine einzige unbedachte Handlung eines einzelnen Zeitreisenden angerichtet werden konnte, der war sehr wahrscheinlich sogar irreversibel. So erstreckte sich denn die formelle Erlaubnis bislang nur auf eine passive Teilnahme an der Vergangenheit und die beschränkte sich somit auf das bloße Beobachten des gewünschten Ereignisses, welches man anvisiert hatte...

 Wir waren immerhin schon so weit, dass wir ein bestimmtes Datum und die exakten Geo Koordinaten des gewünschten Ereignisses in den Computer eingeben konnten. Es mussten lediglich noch die passend dazugehörigen Zeitpartikularien ermittelt werden, die danach dann auf die entgegengesetzte Schiene des Zeitstrahls übertragen werden konnten. Wenn nun alles richtig zusammengesetzt und konfiguriert worden war, so konnte man quasi als ein unsichtbarer Beobachter sowohl optisch, als auch akustisch an einem längst vergangenen historischen Ereignis teilhaben.

Allerdings gab es dabei noch ein kleines Problem, je länger das gewählte Ereignis in der Zeitgeschichte zurücklag, desto ungenauer waren die zu erwartenden Resultate. Die Bilder waren unschärfer, der Ton leider auch etwas verwaschener. Einige der leicht fehlfarbigen Testbilder und ein paar zusammenhängende Moviesequenzen von 1916, von den grauenhaften Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges aus der Gegend um Verdun hatten wir bereits schon sehen können. Dabei handelte es sich um einige jener furchtbar anzuschauenden Bildfolgen, welche die Filmtechnik der damaligen Zeit leider nur unzureichend darstellen konnte, obwohl die Filmkamera, als simpler, aber zuverlässiger Handkurbelmechanismus bereits erfunden worden war. Trotzdem, sollte es überhaupt jemals gelingen historische Ereignisse in komplexer Form aufzuzeichnen, so müsste die menschliche Geschichte in vielen Teilen sehr wahrscheinlich neu geschrieben und bewertet werden. Viel Arbeit für ganze Heerscharen von künftigen Historikergenerationen...

 Aber soweit waren wir noch nicht. Erst einmal die richtigen Chronopartikel identifizieren, die diese Bilder hervorrufen und diese dann auf die entgegengesetzte Schiene des Zeitstrahls übertragen. Dazu sollte mir mein völlig neu entwickeltes Computerprogramm behilflich sein, welches ich erst kürzlich aktualisiert und sodann auf meinem Rechner installiert hatte. Allerdings hatte mein Institutsboss noch keine Ahnung von diesem neuen Programm. Heute nun sollte die alles entscheidende Testphase stattfinden und ich gedachte sogar noch einen Schritt weiter zu gehen. Vielleicht gelang mir neben der mehr als deutlichen Verbesserung der alten Bildtechnologie noch ein kleiner hübscher Quantensprung und ich könnte das Objekt, welches mich interessierte, sogar separieren. Meine nicht unbegründete große Hoffnung war es, durch eine Bündelung des Energiestrahls von rein persönlich definierten Chronotronen das Objekt in eine stabile Energieblase zu transferieren, um später dann darinnen normal mit ihm zu kommunizieren. Wenigstens für eine gewisse Zeit.

Zu dumm, dass ich mir in der vergangenen Woche beim Squash leider das rechte Bein gebrochen hatte und von daher an meinen Sessel gefesselt war, wo ich das eingegipste Bein waagerecht ablegen konnte. Ich ahnte nämlich schon, wenn ich aus bestimmten gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage wäre, diesen Versuch selbst durchzuführen, dann würde das Institut ganz sicher einen anderen Chronopiloten für diesen Job finden. Dass mir jetzt so kurz vor dem Ziel, jemand anderes die Früchte meiner mühseligen Arbeit wegfressen würde, das kam für mich überhaupt nicht infrage. Nun, dann musste es also auch mit einem Gipsbein und im Sitzen gehen. Den Versuchsablauf, den konnte ich ohnehin bequem von daheim aus über das Internet steuern. Lediglich die große, mit Hochleistungselektronik vollgestopfte Blechkiste, auch Chronotron genannt, welches zur Erzeugung dieser temporären Energieblase nötig war, die musste bei mir zuhause direkt an meinen Computer angeschlossen werden. Technisch gesehen, war aber auch das überhaupt kein Problem.

Meine engsten Mitarbeiter, beide selber versierte Elektronikingenieure, erledigten diesen Job im Handumdrehen. Nach einer knappen halben Stunde stand das silberfarbene Metallungetüm fix und fertig aufgebaut, angeschlossen und betriebsbereit in meinem Arbeitszimmer neben meinem Rechner. Diese reichlich unspektakuläre Aluminiumkiste fraß allerdings schon in der Aufwärmphase Unmengen an Strom und das Amperemeter lief bereits am Limet dessen, was die Elektroleitungen meiner Wohnung hergaben. Aber es war nicht zu erwarten, dass sich der Stromverbrauch nach meinen Berechnungen weiter dramatisch erhöhen würde, sonst hätte ich diesen Versuch bei mir zuhause natürlich nicht in Angriff nehmen können. Trotzdem, mit einem Auge schielte ich immer wieder auf das Messgerät und hoffte, dass ich mich nicht geirrt hatte. Natürlich wollten meine beiden Kollegen unbedingt mit dabei sein, wenn wir das erste Mal einen solchen Feldversuch durchführten. Aber ich bestand darauf, den allerersten wirklichen Test, ausschließlich allein durchzuführen.

 »Erst mal nicht, Jungs. Lasst mich zuerst mal alleine mit Cleopatra reden. Ich kann sowieso nicht zu ihr in das Milchbad steigen«, sagte ich und wies grinsend auf mein Gipsbein. »Für euch bleibt dann immer noch genügend Zeit, etwas in dieser Richtung zu unternehmen«, vertröstete ich die beiden Enthusiasten. Sie maulten zwar erst ein bisschen und faselten etwas von, es wäre ja wieder mal klar, dass immer der Boss zuerst und so weiter, aber schließlich fügten sie sich und ließen mich mit dem bereits vorinstallierten Versuchsaufbau im meiner Wohnung allein. Nicht allerdings, ohne mir vorher das Versprechen abgerungen zu haben, dass sie beim nächsten Feldversuch mit dabei sein durften. Ich musste es ihnen hoch und heilig in die Hand versprechen. Letztendlich gaben sie aber nach und ließen sich überreden. Nachdem sie am Ende die Wohnungstür ins Schloss gezogen hatten, machte ich mich flugs daran, die tags zuvor schon errechneten Daten des Transfers herauszusuchen und sie in das Programm zu integrieren. Nun konnte ich auch in aller Seelenruhe meine errechneten Parameter am Computer einstellen. Natürlich waren es nicht die Koordinaten und auch nicht die Parameter von Cleopatra, auf die ich mich schon lange eingeschossen hatte, obwohl das mit der letzten Pharaonin Ägyptens garantiert auch keine so schlechte Alternative gewesen wäre. Nein, etwas Näheres hatte ich schon im Sinn.

Ich wollte Mozart und zwar jenen Wolfgang Amadeus, höchst persönlich kennenlernen. Na gut, vielleicht nicht unbedingt persönlich, so aber doch wenigstens seine temporären Chronopartikel, oder auch Chronotronen genannt, die nach meinen Berechnungen bestenfalls sichtbar, aber nicht spürbar sein mussten. Es musste also eine Art farbiger Energiestrahl sein, den man zwar sehen, nicht aber anfassen konnte. Eigentlich würde man sogar durch ihn hindurchgreifen können ohne dass das Objekt, oder man selber zu Schaden kommen würde. Schließlich würden wir uns, geschützt durch jene Energieblase in zwei völlig verschiedenen Dimensionen bewegen. Lediglich diese Energieblase würde uns für eine gewisse Zeit lang gemeinsam stabil in einem Raum halten können, wenn alles gut ging. Natürlich wusste auch niemand, ob eine solche Energieblase überhaupt jemals entstehen könnte und wenn doch, wie lange sie dann funktionsstabil sein würde. Meinen neusten Berechnungen zu Folge dürfte sie allerhöchstens für etwa dreißig bis sechzig Minuten existent sein, wenn ich Glück hatte. Ich persönlich rechnete mit etwa dreißig Minuten, jede Minute darüber hinaus würde ich für mich als einen Extrabonus betrachten, den ich so lange genießen würde, solang es eben ging.

Nachdem ich die Gerätschaften ausgerichtet und die Parameter eingestellt hatte, begann ich mit diesem einmaligen Versuch. Ich hatte mir vorher auf einem Zettel die exakten Daten notiert, an denen ich mich orientieren wollte. Es war genau der dreißigste September 1791, also gut zwei Monate vor Mozarts Tod, denn genau an diesem Tag fand in Wien, die Uraufführung seiner Oper, "Die Zauberflöte" statt.

Ich hatte allerdings nicht die Absicht, ihm das Datum seines Sterbetages mitzuteilen, auch wenn es mir selbst genauestens bekannt war. Diese Klippe musste ich umschiffen, denn das hätte zum Beispiel eine unbedachte Handlung mit unabsehbaren Folgen sein können, von welcher mein Boss immer sprach. Die Koordinaten des Theaters in Wien, im Freihaus auf der Wieden, hatte ich auf den Punkt genau recherchiert und wenn alles funktionierte, würde ich Mozart sehen können wie er aus seiner Loge heraus, die Uraufführung seiner Oper verfolgte.

Am Ende der Oper wollte ich dann seine persönlichen Chronopartikel auf den programmierten Zeitstrahl führen und den Maestro auf einem gesicherten Weg, in eine Energieblase, in meine Gegenwart lenken. Der Sammelpunkt der Energie sollte dann in meinem kleinen Arbeitsraum stattfinden, wo auch mein Computer mit dem daran angeschlossenen Chronotron stand. Wir würden uns in dieser Energieblase auch bewegen können, aber nur innerhalb der vorgegebenen engen Toleranzen. Großartige Spielräume für Experimente erwartete ich also nicht. Außerdem war meine eigene Bewegungsfreiheit ohnehin schon durch mein Gipsbein stark eingeschränkt, was mir in diesem Falle allerdings sogar etwas entgegen kam.

 Ein spannendes Abenteuer erwartete mich und ich gebe zu, ich war natürlich auch ein bisschen aufgeregt, aber nur aus Sorge, ob die von mir erdachte Konstruktion auch so funktionieren würde, wie ich mir das vorstellte. Ich konnte nur hoffen, dass mein Stromnetz nicht ausgerechnet gerade dann zusammenbrechen würde, während ich damit beschäftigt war, die Vergangenheit sichtbar zu machen. Oder was noch viel schlimmer wäre, gar in dem Moment, wenn es mir gelingen sollte, mit Personen aus der Vergangenheit zu kommunizieren. Das wäre dann ziemlich fatal.

Andererseits konnte ich ein gewisses Restrisiko natürlich nicht ausschließen und weshalb mich mein Boss auch ständig ermahnte, stets vorsichtig mit all dem zu sein, was ich »da hinten« zu tun gedachte. Ich musste ihm aus naheliegenden Gründen bereits im Vorfeld versprechen, keine unbedachten oder übereilten Handlungen vorzunehmen, wenn ich auf den Spuren der Vergangenheit wandelte. Zur Sicherheit hatte ich meinen Camcorder, der die ganze Zeit mitlief und jede Phase des Experimentes mit einem farbigen HD-Bild und einem Stereoton aufzeichnete, mit einem extragroßen Speicherchip ausgestattet, damit mir ja auch kein noch so winziges Detail meines Versuchsablaufes entgehen konnte.

Nachdem ich meine Versuchsapparatur soweit hochgefahren hatte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ich die ersten Chronotronen von Mozart auf die entgegengesetzte Zeitschiene lenken konnte, begann ich das Kraftfeld für die Stabilität der Energieblase aufzubauen. Dieses Kraftfeld war nötig, um die Chronopartikel in dem Raum zu halten, in welchem sie sichtbar gemacht werden sollten.

Als mein Messgerät plötzlich einen rasanten Anstieg der Feldstärke signalisierte, konstatierte ich freudig erregt, dass sich auch tatsächlich eine gewaltige Energieblase aufzubauen begann. Der eindeutig wichtigste Teil, ohne den dieses Experiment auf gar keinen Fall funktionieren konnte, wurde ganz allmählich zur Realität. Ich begann bereits euphorisch zu frohlocken. Die Luft in dem Zimmer roch immer stärker nach ionisiertem Gas und war zudem seltsam leicht zu atmen.

Mir stiegen im wahrsten Sinne des Wortes die Haare zu Berge und über meine Haut sprangen knisternd, blaue Funken. Je stärker aber das Kraftfeld wurde, umso größer wurde auch die Energieblase und die Oberflächenspannungen an meinem Körper entluden sich immer weniger. Wenn man genau hinsah, konnte man diese leicht hellbläuliche Schicht erkennen, deren Oberfläche sich wie ein aufblasender Luftballon immer mehr vergrößerte. Die sich inzwischen stark ausgebreitete Energieblase drückte plötzlich mit einem kräftigen Ruck das nur leicht angelehnte Kippfenster zu und verpresste sich dann in den Ecken des Zimmers. Ich wartete noch ein paar Minuten und gab sicherheitshalber noch anderthalb Millionen Gauß an Feldenergie hinzu, sodass ich auch etwas sicherer sein konnte, dass die Blase während des Experimentes nicht kollabieren würde. Mein Rechner zeigte mir an, dass die maximale Ausdehnung der Energieblase erreicht war und sich der Druck in den Toleranzen vorerst konstant verhielt.

Nun galt es die Stabilität der Energieblase zu testen. Ich stand auf und hinkte mit meinem Gipsbein zur Tür, um sie versuchsweise zu öffnen. Es gelang mir nicht, denn diese blaue Energieblase drückte ziemlich kräftig gegen das Türblatt und hielt die Tür dadurch fest geschlossen. Mit Leichtigkeit dagegen bohrte ich nun mit meinem Zeigefinger ein Loch in das Holz der Zimmertür. Meine Fingerspitze drang jedoch nur etwa zehn Millimeter tief in das Holz ein, dann wurde der Widerstand doch zu groß und ich zog den Finger rasch wieder heraus. Das Loch war sofort wieder verschwunden. Mein Finger und das Holz der Tür hatten für die Zeit des Ineinanderseins eine ähnliche Konsistenz angenommen, aber zum Glück schien mein Finger nach diesem etwas leichtsinnigen Versuch unversehrt zu sein.

 Ich atmete auf, denn das Wichtigste war geschafft. Jetzt konnte ich die Chronopartikel aktivieren und versuchen sie auf den entgegengesetzten Zeitstrahl zu schleusen. Von Mozart aus gesehen, in die Zukunft und nicht wie natürlicherweise üblich, in seine Vergangenheit. Kaum hatte ich den Befehl für die Chronopartikel in die Tastatur gehämmert, als urplötzlich wie aus dem Nichts heraus, ein grobfarbiges Bild aus dem Zuschauersaal eines Theaters auf dem Monitor erschien und langsam die gesamte Bildfläche des Monitors ausfüllte. Aus den Lautsprechern drang sehr leise Mozarts Musik, die ich als Liebhaber und Kenner Mozartscher Musik sofort als einen signifikanten Bestandteil jener Zauberflöte zuordnete. Das Bild konnte ich qualitativ zwar noch deutlich verbessern, die Tonlautstärke verblieb allerdings auf dem Maximum der Regelskala und ließ sich leider nicht weiter erhöhen.

Ich war aber trotzdem absolut fasziniert, denn mir war es als ersten Menschen gelungen, quasi ein Fernsehbild aus der Vergangenheit zu erhalten. Ich war damit in Wien, abends am dreißigsten September 1791, am Tag der Uraufführung von Mozarts Oper, "Die Zauberflöte" angekommen und mir wurde von dort aus dem Opernhaus ein farbiges Livebild per Zeitstrahl auf meinen Monitor übertragen...

Ich war mächtig beeindruckt, von dem was ich sah. Mit dem Joystick ließ sich die imaginäre Kamera so steuern, dass ich Schwenks in alle Richtungen machen konnte. Im gedämpften Licht der Theaterbeleuchtung konnte ich mir sogar die Gesichter aller Theaterbesucher genauestens ansehen und sie mir auch formatfüllend auf dem Monitor heranzoomen. Leider musste ich das Vergnügen nach einiger Zeit abbrechen, denn der Pufferkondensator meiner Energieblase würde die Energie nicht ewig halten können. Ich musste also unbedingt Mozarten finden. Hier irgendwo in den Logen musste er sein, denn er sollte ja laut einigen alten Wiener Zeitungsberichten bei der Uraufführung seiner Oper, "Die Zauberflöte" anwesend sein. Ich suchte also die Logenplätze kontinuierlich nach dem Maestro ab, beginnend mit den besten Plätzen. Mozart ließ sich doch bestimmt nicht in irgendeine der billigeren hinteren Ecklogen verfrachten. Er hatte garantiert Anspruch auf einen erstklassigen Logenplatz mit bester Aussicht auf die Bühne, dessen war ich mir sicher. Aber so intensiv ich auch nach ihm suchte, ich konnte ihn nirgends entdecken. Mozart war leider nicht aufzufinden. Ich war schwer enttäuscht, denn das Ergebnis war in der Tat einfach nur niederschmetternd. Ich suchte nun im Parkett und auf den Rängen, von Mozart keine Spur. Es war natürlich auch nicht gerade leicht, diesen einzigartigen Mann unter einer Vielzahl von ähnlich weißgepuderten Perückenträgern so adhoc herauszufinden. Sie sahen sich nämlich irgendwie ziemlich ähnlich, die Herren, mit ihren Rüschen an den hellen Röcken und den weißen gepuderten Perücken. Mir lief die Zeit davon und ich konnte trotz alledem den Mozart nicht ausfindig machen und war beinahe schon daran aufzugeben. Außerdem hatte ich von der Institutsleitung eh‘ nur eine zeitlich befristete Genehmigung zum Ansehen und Observieren von Mozart erhalten, nicht aber um ihn in meine Wohnung zu teleportieren. Verzweifelt ließ ich die imaginäre Kamera über den Logen kreisen, ohne Ergebnis.

Plötzlich überflutete mich ein kräftiger Adrenalinschub. Da war doch was, in der letzten Eckloge im zweiten Rang. Tief im Dunkeln gelegen, bewegten sich ein paar helle Perückenlocken und Zöpfe mal knapp über und dann wieder unterhalb des mit rotem Samt bezogenen Bordes. Gesichter waren nicht zu erkennen, aber ganz offensichtlich war dort jemand in der Loge und dieser Jemand war definitiv nicht allein. Und diesem Jemand schien auch die Oper nicht sonderlich zu interessieren, denn er, beziehungsweise sie, waren augenscheinlich mit völlig anderen Dingen beschäftigt. Ich zoomte die Kamera nun näher heran und veränderte den Blickwinkel so, dass ich nun leicht schräg von oben in die bewusste Loge hineinsehen konnte.

Da war er und wälzte sich mit einer ebenfalls weißperückten Frau auf dem flauschigroten Teppichboden der Loge. Ich verglich schnell noch einmal elektronisch das Porträt eines Gemäldes mit den Gesichtszügen des am Boden liegenden Mannes. Kein Zweifel, diese Person war Wolfgang Amadeus Mozart persönlich. Aber es war definitiv nicht seine Frau Konstanze. Die Frau lag ebenfalls am Boden und hatte ihre Brüste entblößt, ihre Perücke lag nun neben ihr auf dem Fußboden und Mozart umarmte und liebkoste sie zu den Klängen seiner unvergleichlichen Musik.

 

 

Ihm war unterdessen seine weiße Perücke in den Nacken gerutscht und mit hochrotem Gesicht, küsste er nun den blanken Busen jener schönen Unbekannten. Dann stütze er sich einen Moment auf seinen Arm und sagte leise etwas zu ihr. Diesen einen Moment nutzte ich aus und separierte seine Figur auf dem Monitor.

Dann schickte ich dessen Chronotronen nach der Separierung seiner Person, per Computerbefehl auf die entgegengesetzte Zeitschiene. Das heißt, von ihm aus gesehen in die Zukunft, eine sehr ferne Zukunft, die für ihn erst in weit über 200 Jahren Realität sein würde. Genauer gesagt, in meine Gegenwart und exakt auf meine Positionskoordinaten...

Kein Mensch hatte jemals zuvor die Chronotronen einer Person in eine andere Zeit versetzt. Ich fühlte mich wie Pythagoras, James Watt, Albert Einstein, und Neil Armstrong zusammen genommen. Eine ungeheure Welle der Euphorie jagte durch meinen Körper und versetzte mich in Hochstimmung. Ich hatte es geschafft. Gleich würde ich dem Maestro persönlich gegenübersitzen dürfen, dem Musikgenie, das zwar mit jungen Jahren starb und dennoch in seinem kurzen Leben phantastische Musik für die Ewigkeit komponiert hatte. Und genau mit ihm würde ich in Kürze über Gott und die Welt plaudern dürfen. Über andere Umstände, die mit diesem Transfer im Zusammenhang standen und die sich daraus ergebenden möglichen Konsequenzen, machte ich mir zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Gedanken. Wer wollte Albert Einstein kritisieren, als er den unwiderlegbaren Beweis für seine geniale Relativitätstheorie veröffentlicht hatte und damit zu einem gefeierten Physikgenie wurde?

Fakt war, ich hatte eindeutig meine Kompetenzen überschritten, als ich auf meinem Sofa in der Ecke sitzend, plötzlich eine blassblaue, kugelförmige Erscheinung wahrnahm, die sich innerhalb weniger Minuten immer mehr zu einer menschlichen Gestalt ausentwickelt hatte und nun sogar auch in dreidimensionalen Konturen deutlich sichtbar geworden war. Mit offenem Mund starrte ich auf die Person, die nur dank einer von mir geschaffenen, real existierenden Kraftfeldblase nun auf meinem Sofa saß und mich ihrerseits fassungslos anstarrte...

Kein Zweifel, es war … eine Frau, und auf keinen Fall aber war es Wolfgang Amadeus Mozart. Es schien mir eher jene Dame zu sein, mit welcher sich der Maestro in der Loge amüsiert hatte. Ich verstand die Welt nicht mehr. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht, gar die Koordinaten am Ausgangspunkt verwechselt, keine Ahnung. Urplötzlich kreischte die Frau kurz auf, als sie merkte, dass sie nicht mehr in der Loge mit Mozart zusammen war, sondern mit einer wildfremden Person an einem für sie völlig unbekannten Ort. Rasch zog sie ihr heruntergerutschtes Mieder über ihren blanken Busen und mit gerötetem Gesicht fingerte sie an den Bändern, die ihr das Miederkleid zusammenhielten. Während sich die Dame fieberhaft darin versuchte, sich anzukleiden, checkte ich mein Programm nach möglichen Fehlernquellen.

»Wo ist Wolferl?«, fragte sie mich in einem süßen österreichischen Dialekt und zerrte genervt an ihren Miederbändern. »Jetzt geht ma der Spaß zu weit, ich bin gern für jeden Schmarren zu haben, aber was zu vuiel ist, ist zu vuiel. Es war abgemacht, dass ich nur mit ihm allein in die Theaterlogen hab‘ gehen gesollt‘. Er hat auch nur für einen bezahlt, von zweien war net die Red‘. Wolferl?...«, rief sie nun ziemlich laut und mit einer deutlich aufgeregten Stimme in den Raum.

»Entschuldigung, ich wüsste auch gern, wo er abgeblieben ist«, sagte ich unwirsch. »Aber vielleicht finde ich ihn ja noch. Wer sind denn Sie eigentlich?«

»Woas, i?«, fragte die Dame und zeigte mit dem Finger auf sich. Ich nickte.

»I glaub‘ des geht Sie goa nix an. Aber mer san denn Sie überhaupt und woas machen S' hier, wo i doch bis grad‘ eben noch mit dem Wolferl szamme war? Sie, ist des denn erlaubt, in a fremder Menschen ihr intimes Privatleben herumzustreunen, he?«

Ein in der Tat bemerkenswerter Aspekt, über den ich mir angesichts der jüngsten Entwicklung nun auch so meine Gedanken zu machen begann. Leider konnte ich den Fehler auf die Schnelle nicht finden und so musste ich mich in dieser Situation mit jener Dame abfinden, mit der sich Mozart in der Loge während der Uraufführung seiner Oper vergnügt hatte. Dieser Umstand missfiel mir selbst immer mehr, aber ich hatte keine andere Wahl, als diese absurde Situation durchzustehen. Leider gab es auch keine Möglichkeit die Sache zurückzudrehen. Ich musste erst den regulären Energieabfall in dem Pufferkondensator abwarten und darauf hoffen, dass sich alles auf natürlichem Weg von selbst regulieren würde. Inzwischen hatte sich die Dame wieder vollständig angekleidet und sich auch ebenso schnell wieder gefasst, wie sie sich aufgeregt hatte. Mir war schon klar, dass sie dem horizontalen Gewerbe angehörte und von Mozart gewiss für ein Vergnügen der besonderen Art engagiert wurde. Also war sie mit den Gepflogenheiten in diesem Metier bestens vertraut und hatte sich rasch von ihrem anfänglichen Schrecken erholt. Sie trat hinter mich und starrte auf den Monitor meines Computers, wo ich die Wikipedia-Web-site mit Mozarts Vita aufgeschlagen hatte. Sie las den Text und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich quasi in Windeseile von verwundert nach entsetzt.

»Sie, woher wissen S' des alles, was da geschrieben steht? Und wieso wird Wolferl in zwei Monaten an Nikolaus sterben?«, fragte sie mich entgeistert. Ich hätte mich in diesem Moment ohrfeigen können, dass ich nicht verhindert habe, dass sie den Mozart-Text gelesen hatte. Aber leider war das nun dummerweise auch nicht mehr zu ändern. Schnell schaltete ich das Web weg, damit sie nicht noch mehr ungeeignete, oder gar gefährliche Informationen mit zurück in ihre eigene Vergangenheit nehmen konnte. Ich versuchte die Situation zu retten und trat entschlossen die Flucht nach vorn an,

»Ich bin Wissenschaftler und mittels eines Experiments haben wir versucht etwas wiederzufinden, was längst verschwunden war. Aber offensichtlich sind wir noch nicht so weit, dass wir einen Erfolg verbuchen können«, versuchte ich den Fauxpas abzumildern und die Situation etwas zu entschärfen.

»Nein, nein, nein…«, widersprach sie mir hartnäckig, »ich meine da war doch eben noch Wolferls Bild in Ihrer Zeitung gestanden und ich hab' genau gelesen, dass er am 6. Dezember 1791 in Wien verstorben sein soll...«, rief sie inzwischen nun wieder deutlich aufgeregter.

»Da haben sie sich bestimmt geirrt, gnädige Frau, ich habe nämlich davon nichts gelesen«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Sie waren doch selbst erst grade eben noch mit ihm zusammen, sah er denn da so aus, als ob er in zwei Monaten sterben würde?« Sie schüttelte den Kopf. »Na sehen Sie!«

 Sie schaute mich von der Seite an,

 »Sie... Sie Wissenschaftler, Sie lügen mich doch net an?«

»Nein, natürlich nicht«, gab ich gereizt zurück, »ich habe doch gar keinen Grund, Sie anzulügen. Außerdem hab' ich jetzt ganz andere Sorgen, als mich um Ihre Belange zu kümmern.« Und um Zeit zu schinden, setzte ich der Sache noch eins drauf und drehte den Spieß nun herum. »Und außerdem, was machen Sie hier in meinem Labor, wie kommen Sie hier herein und vor allem, wer sind Sie überhaupt? Sie sind wohl eine Spionin von Professor... Moriati?«, erfand ich schnell den designierten Gegenspieler von Sherlock Holmes, der ja zu jener Zeit noch nicht einmal erschaffen war.

»Iiiich?«, empörte sich die Dame. »Ich hab‘ damit nix zu tun, ich kenne ja ihren Professor Moriati überhaupt nicht einmal. Ich kenne nur den Herrn Professor Bernard vom hiesigen Gymnasium, ein reizender Mann übrigens und sowas von lieb… Er bezahlt immer reichlich und stets im Voraus. Natalie, sagt er immer, Natalie, heut‘ ist Samstag und samstags müssen S' mir immer einen bla…«

 Mit einer energischen Handbewegung schnitt ich ihr rigoros das Wort ab,

»Genug Natalie, ich weiß jetzt, wer und was Sie sind. Belassen wir es also besser dabei«, unterbrach ich lautstark den eloquenten Redefluss meiner neuen Bekannten, immer in der leisen Hoffnung, dass sich das Zeitfenster bald schließen und das Chronotron sie wieder zurück an ihren Ausgangspunkt teleportieren würde. Stattdessen schaute sie mich wütend an, holte mit der Hand aus und wollte mir so richtig mit Schwung eine schallende Ohrfeige verpassen.

»Sie Flegel Sie, was denken Sie denn, wer Sie sind… ?«

Ihre Hand hatte meine Wange erreicht und… schlug nun ungehindert und widerstandlos durch mein Gesicht hindurch. Sie hatte sich dabei natürlich völlig verschätzt und schrie plötzlich auf, als ihre Hand unverrichteter Dinge durch mein Gesicht huschte. Entsetzt prallte sie zurück und setzte sich langsam rückwärtsgehend auf mein Sofa. Sie schlug ihre Hände vors Gesicht und begann aufgeregt zu schluchzen.

 »Der Leibhaftige… Sie sind der Teufel«, rief sie aus und fing erschüttert an zu weinen.

»Nun machen Sie mal einen Punkt, rief ich ihr zu, seh‘ ich denn etwa aus wie der Teufel? Oder haben Sie etwa schon mal einen Teufel gesehen, der sich ein Bein gebrochen hat? Ich jedenfalls nicht…«, brummte ich zufrieden über meinen Erfolg. Sollte sie doch denken was sie wollte, wenn sie daheim ihre Geschichte erzählte, würde ihr sowieso niemand glauben. Ich schaute instinktiv auf meine Armbanduhr. Exakt siebenundfünfzig Minuten waren seit der Aktivierung der Energieblase bereits vergangen.

 Natalie saß inzwischen zusammengesunken und mucks mäuschenstill auf meinem Sofa. Plötzlich bemerkte ich, wie ihre Gestalt rasch an Kontur und Farbe verlor. Sie begann sich quasi aufzulösen und verblasste nun immer schneller. Die Energie in dem speichernden Pufferkondensator hatte sich in Wärme umgewandelt und infolge dessen kollabierte nun auch die Energieblase. Natalie war verschwunden...

 Aus meiner Sicht konnte ich nun wie die Männer von »Apollo 13« sagen, es war ein erfolgreicher Fehlschlag. Ich wollte Mozart kennenlernen und stattdessen machte ich die Bekanntschaft einer Wiener Prostituierten aus dem 18. Jahrhundert, namens Natalie, die zu alledem auch noch die Gespielin des großen Maestros war...

 

 Am nächsten Tag holte man das Chronotron wieder ab. In der Chefetage hatte man beschlossen, dass Experimente mit Zeitreisen nur noch limitiert und unter strenger Aufsicht und Kontrolle stattfinden würden.

 Nur eines macht mir noch Sorgen, im Internet auf der Wikipedia-Site von Mozart steht nun als Sterbedatum von Wolfgang Amadeus Mozart, der 5. Dezember 1791.

Dabei war ich mir absolut sicher, dass vorher sein Todestag auf den sechsten Dezember datiert war. Genau das hatte ja Natalie auch gelesen…am 6. Dezember, also an Nikolaus 1791.

Hatte Natalie ihn womöglich nach ihrer Rückkehr, von unserer Begegnung berichtet und der geniale Musiker hatte seinem Leben durch eine Überdosis von weiß ich was, vorzeitig ein Ende gesetzt? Womöglich, weil er auch dachte, er würde ohnehin am nächsten Tag sterben müssen? Habe ich jetzt etwa den Mozart auf dem Gewissen, weil ich mit dem naiven Tatendrang eines Wissenschaftlers in den Lauf der Geschichte eingegriffen hatte?

Das allerdings wäre dann tatsächlich die Ironie des Schicksals…

 

 

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Impressum

Cover: selfARTwork

Text: Bleistift

© by Louis 2013/3   last Update: 2022/7

Impressum

Texte: © by Louis 2013/3 Update: 2020/9
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2020

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