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Lavendel

 

 

 Kapitel 1

 

Die Reise nach Arles…

 

Der Sommer in Paris in jenem für mich so ereignisreichen Jahr 1888 war ungewöhnlich heiß, wenngleich es zwischendurch auch immer wieder ziemlich heftig, ja geradezu sintflutartig regnete.

Deshalb saß ich während der oftmals tagelang anhaltenden Schwüle meist im kühleren Schatten der Kathedrale von Notre-Dame und malte hübsche kleine Stadtansichten in Form von handlichen, postkartengroßen Aquarellen vom Seineufer. In erster Linie mehr für die flanierenden Bürger und jene Reisenden, die bereit waren einige Centime für ein kleines Erinnerungsbild an Paris auszugeben. Oder auch hin und wieder für ein paar kleine aufreizende Aktbilder in Ölfarbe von Suzanne und Colette, den beiden süßen Amüsiermädchen vom Quai de la Tournelle, die ich dafür mit einem heißen Kaffee und einem frischen, knusprigen Croissant bezahlen konnte. Während sie ansonsten für ein paar Centime unterhalb von Notre-Dame für ein anderwärtiges und sehr individuelles Vergnügen ihrer Verehrer sorgten. So schlug ich mich denn mehr schlecht, als recht durchs Leben. Diese direkt verkauften Bildchen verschafften mir immerhin ein, wenn auch recht bescheidenes Einkommen um mich damit wenigstens über Wasser halten zu können. Obwohl es mitunter sogar nicht einmal mehr für Farben, Pinsel oder auch nur einen halben Fetzen Leinwand gereichte. Größere Aufträge waren dagegen eher die seltenere Ausnahme und mich darauf verlassen, das konnte ich gleich gar nicht.

Ich musste plötzlich wieder an Vincent denken, für den das alles jedoch nicht in Frage kam. Er, Vincent van Gogh, hatte noch ganz andere ehrgeizige Pläne, auch wenn er bislang noch immer keines seiner zugegeben ziemlich ausdrucksstarken Bilder verkaufen konnte. Zwar dümpelte auch er stets am Rande seiner Existenz, aber im Gegensatz zu mir hatte er einen überaus treusorgenden jüngeren Bruder, der in Paris eine kleine renommierte Bildergalerie führte. Somit konnte Theo van Gogh seinem älteren, allerdings etwas finanzschwachen Bruder mit ein paar zusätzlichen Franc gelegentlich sehr hilfreich unter die Arme greifen, damit der wenigstens an seinen opulenten Bildern weitermalen durfte.

Erneut nahm ich nun Vincents letzten Brief zur Hand und las ihn noch einmal durch, obwohl ich ihn gewiss schon zum hundertsten Male gelesen hatte und seine begeisterten Zeilen daher bereits beinahe schon auswendig kannte. Ein Satz blieb mir jedoch besonders in der Erinnerung haften, in welchem er nicht müde wurde zu betonen, wie schön es doch zu dieser Jahreszeit im Süden der Provence wäre und vor allem, was das Licht hier mit einem mache. Auch, dass die nassen Ölfarben auf seiner Palette geradezu von selbst zu leuchten begannen, wenn nur die Sonne im richtigen Winkel darauf schien. Außerdem blühe gerade jetzt der Lavendel und mit seinem bezaubernden Duft überflutete er derart gewaltig die ganze Gegend, dass dieser Lavendelduft sogar wie betörend auf ihn wirke. Auch sei das Blau der Blüten dieser lieblich duftenden Pflanze in diesem südlichen Licht wohl eher nicht von dieser Welt, teilte er mir in seinen begeisterten Zeilen, wie stets in überschwänglicher Freude mit. Ich glaube, er hat seinen sehnlichsten Wunsch, in Arles eine große Künstlerkolonie zu gründen, noch immer nicht aufgeben können.

Ich wusste, dass Vincent ein Mensch mit unglaublich enormen Leidenschaften und überaus starken Emotionen war, auch dass es ihm manchmal recht schwer fiel, sie gelegentlich sogar im Zaume zu halten. Als ich mir aber seinen letzten Brief erneut durchgelesen hatte dachte ich sogleich an die flirrende Hitze über den Dächern von Paris. Ebenso an den penetranten Gestank in der Marktgasse, dort wo ich eine der zahllosen, winzig kleinen Mansarden bewohnte und wo die laut schreienden Marktfrauen ständig ihre stinkenden Fischabfälle direkt in die Gosse warfen, nachdem sie die Tiere entschuppt und filetiert hatten. Die Aussicht auf eine frische Brise vom Meer und der betörende Duft von blühendem Lavendel schien mir dagegen geradezu wie der lieblichste Odem einer bezaubernden Göttin aus dem Paradies zu sein.

Eigentlich nur ein weiterer Grund mehr, um sofort den nächstbesten Eisenbahnzug in den Süden zu nehmen, Paris zu verlassen und in Windeseile nach Arles, ans nahe Mittelmeer zu entfliehen. Dieser Gedanke hatte geradezu etwas Faszinierendes und gewann angesichts dieser unerträglich zunehmenden Schwüle immer mehr mein Interesse, zumal Vincents persönliche Einladung und mein gegebenes Versprechen, ihn unbedingt einmal in Arles besuchen zu wollen, immer noch ausstanden.

Kurz entschlossen packte ich also am selbigen Abend noch meine Siebensachen, sowie sämtliche Malutensilien zusammen und da ich rein gar nichts zu versorgen hatte, reiste ich sogleich am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe mit der Dampfeisenbahn vom Bahnhof Paris-Gare-de-Lyon direkt nach Marseille und von dort aus weiter nach Arles. Das Geld reichte gerade so für das preiswerteste Billet in der Holzklasse. Den Rest meiner Barschaft musste ich ohnehin für die erste Miete aufheben, um des nachts wenigstens irgendwo mein müdes Haupt betten zu können.

In Arles hoffte ich darauf, günstig ein paar kleinere Stadtansichten von Paris, nebst einiger dieser entzückenden frivolen Bildchen von Suzanne und Colette zu verkaufen, die ich zuhause in der Mansarde für schlechte Zeiten bereits auf Vorrat gemalt hatte.

 

Als ich dann todmüde und abgekämpft spät in der Nacht auf dem Bahnhof in Arles eintraf, erkundigte ich mich zunächst nach Vincents derzeitiger Adresse, der Pension von Madame Lefevre. Ein alter Rollkutscher ließ mich für ein paar Schlucke Absinth großzügig auf seinem klapprigen Gefährt aufsitzen, denn Gäste aus dem fernen Paris beförderte auch er nicht allzu oft durch Arles und so rumpelten wir tief in der Nacht dem südlichen Stadtrand entgegen.

Vincents Wirtin, eine korpulente, ältere Dame von Ende Fünfzig, empfing mich trotz der späten Abendstunde zwar recht freundlich, wartete aber gleich mit einer schlechten Nachricht auf, indem sie mir bedauernd mitteilte, dass Vincent ausgerechnet gestern nach Paris gefahren sei, um von seinem Bruder etwas Geld zu erbitten. Aber auch, um die vielen neu gemalten Bilder nach Paris zu schaffen, die er in einem Nebengelass in der Galerie seines Bruders auszustellen gedachte, damit Theo van Gogh sie dann an mögliche Kunstinteressenten verkaufen könnte.

So hatten wir uns also um einen Tag nur knapp verfehlt, der Vincent und ich. Nun stand ich plötzlich mitten in der Provence vor Vincents Quartier und hatte nicht einmal ein Dach über dem Kopf.

Die mitleidige Seele von Madame Lefevre erkannte aber sofort meine trostlose Situation und nickte verstehend,

»So kommen Sie doch schon herein. Der Vincent hat mir inzwischen schon so viel von Ihnen erzählt und sich auch so sehr darauf gefreut, dass Sie ihn in Arles besuchen kommen würden. Jeden Tag hatte er nachgefragt, ob Post von Ihnen eingetroffen sei. Und nun ist er selber nicht einmal da, um Sie persönlich begrüßen zu können. Er hatte immer drauf gehofft, dass Sie eines Tages hier in Arles aufkreuzen und mit ihm gemeinsam den Beginn einer Art Künstlerkolonie ins Leben rufen würden. Aber jetzt sind Sie zum Glück endlich da und binnen einer Woche, so hatte der Vincent es versprochen, wollte er ja auch wieder zurück sein. Wenn Sie nur für heute Nacht erst einmal mit seinem bescheidenen Zimmer Vorlieb nehmen möchten, bis ich Ihnen morgen ein eigenes hergerichtet haben werde. Aber bitte, fassen Sie mir um Himmels Willen nichts von seinen persönlichen Sachen an, darin ist er sehr penibel und äußerst empfindlich. Ich lege Ihnen nur eben rasch noch neues Bettzeug auf und ich glaube, für diese eine Nacht wird es sicherlich schon mal gehen. Sie können aber auch gern in einer anderen Pension übernachten, so Sie es denn vorziehen sollten, lieber anderswo...«

»Oh‘ nein, nein, ich bin Ihnen überaus dankbar für alles und würde sehr gern hier bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Madame Lefevre«, erwiderte ich angenehm überrascht. »Sagen Sie, Madame, gibt es hier in der Nähe nicht auch ein nettes kleines Bistro, wo man morgens schon etwas Kräftiges zu essen bekommen kann? Oder könnte ich vielleicht sogar bei Ihnen ein kleines Frühstück…?«

»Aber Monsieur Paul, selbstverständlich bereite ich meinen Pensionsgästen auch ein kleines Frühstück zu. Vincent mochte in der Früh auch nicht gern mit leerem Magen losziehen, um seine Bilder zu malen. Haben Sie bezüglich des Frühstücks noch einen besonderen Wunsch, Paul?«

Ich griente,

»Wenn es möglich wäre, hätte ich morgens gern ein frisches Baguette, eine Omelette, bestehend aus zwei Eiern, richtig schön mit Speck und Zwiebeln angebraten, dazu ein wenig Schnittlauch. Sowie einen starken, rabenschwarzen Kaffee. So einen kräftigen Muntermacher, der auch Tote wieder lebendig machen kann. Wenn Sie verstehen, was ich meine, Madame Lefevre.«

Sie nickte lächelnd,

»Ich denke, das sollte gewiss doch ohne größere Schwierigkeiten zu bewerkstelligen sein, Monsieur Paul«, meinte sie zufrieden und erklärte mir noch den Weg zu dem Nachtcafé, in welchem Vincent abends immer sein obligatorisches Quantum Absinth zu trinken pflegte. Nachdem ich ihr als Zimmermiete für die nächsten zwei Wochen meine gesamte restliche Barschaft überlassen hatte, drückte sie mir einen eisernen Schlüssel in die Hand. »Dieser ist für Sie, Monsieur, und nur für heut‘ Nacht, erste Kammertür oben links. Die Haustür ist auch in der Nacht stets unverschlossen, denn hier in Arles bestiehlt niemand einen anderen. Und bitte, keine Gelagen und auch keinen nächtlichen Damenbesuch, wenn ich bitten darf. Denn ich führe hier in Arles ein ehrbares Haus, Monsieur Paul und ich wünsche, dass dies auch so bleibt.«

Wieder musste ich schmunzeln,

»Aber das versteht sich doch von selbst, Madame«, bestätigte ich sie in ihrem Ansinnen. Innerlich fragte ich mich allerdings schon, ob der gutgläubige Vincent über mich und meine ganz persönlichen Vorlieben für einen guten Schluck, wie auch für das schöne Geschlecht, womöglich nicht doch etwas zu viel aus dem Nähkästchen geplaudert hatte.

 

Schließlich wurden es an diesem Abend im Nachtkaffee doch noch ein paar Absinth mehr, als ich mir ursprünglich genehmigen wollte. Und so kam es, dass ich dem verführerischen Amüsiermädchen Angelique, welches die wenigen Fremden in dem Nachtcafé nicht nur mit ihrem reizenden Augenaufschlag umwarb, leider eine Absage erteilen musste, weil mich mit einem Schlag die Müdigkeit geradezu übermannt hatte. Am Ende forderte die lange und ziemlich anstrengende Bahnreise von Paris bis nach Arles, in Verbindung mit dem Genuss von ein paar Gläsern von diesem kräftigen Absinth ihren unweigerlichen Tribut.

Erst als ich dem Wirt auch den markanten Zimmerschlüssel von Vincents Zimmer zeigte und dabei wohl auch ziemlich lallend argumentierte, dass ich wahrhaftig ein neuer Pensionsgast von Madam Lefevre sei, dort aber nur meine Börse vergessen hätte, war er auch bereit für mich anschreiben zu lassen. Ich will mir darin aber auch wirklich nichts vormachen, denn sicherlich überzeugte ihn sehr wahrscheinlich doch nur jener eiserne Zimmerschlüssel in meiner Hand, den er irgendwie zu erkennen glaubte und eher weniger mein geheiligtes Versprechen, sobald als möglich, meine Schulden bei ihm zu begleichen.

 

Am nächsten Morgen, nachdem ich in aller Ruhe das wundervolle Frühstück von Madame Lefevre genossen hatte, zog ich mit meinen Malutensilien in der alten Ledertasche und der großen Staffelei auf dem Rücken hinaus in die Landschaft, die Vincent so gepriesen hatte. Ich erkundigte mich bei einem emsigen Gemüsehändler, der gerade sein frisches Gemüse in der Auslage vor seinem Geschäft präsentierte, nach dem Weg zu den großen Lavendelfeldern. Er wies nur mit einem unverständlichen Kopfschütteln in Richtung des südlichen Stadtrandes und murmelte,

»Nur der Nase nach, Monsieur, immer nur der Nase nach...«

Je näher ich diesen in einem herrlichen Blau blühenden Lavendelfeldern kam, umso mehr verschwendeten diese Pflanzen ihr köstliches Duftaroma kostenlos an die Umgebung. Vincent hatte also völlig recht, die ganze Gegend duftete so unglaublich intensiv nach Lavendel, dass ich anfangs auch gar nicht genug davon bekommen konnte. Die wenigen Leute, die mir entgegen kamen, gingen allerdings ziemlich gelassen ihrem gewohnten Tagewerk nach und niemand schien sich sonderlich an diesem außergewöhnlichen Wohlgeruch zu erfreuen, der von einem lauen Winde getragen durch die engen, kopfsteingepflasterten Gassen von Arles strich.

Ich verließ die Stadt als sobald über einen schmalen staubigen Weg, welcher an ein paar gepflegten, üppig grünenden Gemüsegärten vorbeiführte. Als ich nach etwa zweieinhalb Meilen außer Sichtweite der letzten Vorstadthäuser war, entdeckte ich in der Ferne zwei Olivenbäume, die unmittelbar am Wegesrand neben den Lavendelfeldern standen. Es waren die einzigen beiden schattenspenden Bäume weit und breit in all den Lavendelfeldern ringsherum. Dort wollte ich ein wenig rasten, auch einen kräftigen Schluck Wasser aus meiner Aluminiumflasche trinken, denn die Sonne brannte mir schon am frühen Morgen tüchtig ins Gesicht. Vielleicht konnte ich die beiden Olivenbäume sogar in das Motiv der Lavendelfelder integrieren, so wie Vincent es gemacht hätte, denn ich hatte natürlich sogleich sein wunderbares Motiv mit den Olivenhainen vor Augen. Die Idee dazu gefiel mir immer besser und ich schritt kräftiger aus, um noch rascher zu den beiden einzeln stehenden Olivenbäumen zu gelangen.

Als ich nur noch wenige Schritte von den reichlich früchtetragenden Olivenbäumen entfernt war, blieb ich wie vom Donner gerührt stehen, denn ich glaubte im Schatten jener Bäume einen Menschen zu erkennen, der dort im Grase lag und zu schlafen schien. Diese Person war mutmaßlich eine Frau und was noch viel merkwürdiger war, sie trug keinen einzigen Fetzen irgendeiner Kleidung an ihrem ungewöhnlich schlanken Körper. Der zu alledem auch noch schwarz, wie die Nacht zu sein schien. Außerdem lag sie einfach nur so im Gras auf dem blanken Boden, ohne eine Decke und sie trug absolut nichts bei sich. Als ich näher kam bemerkte ich, dass diese dunkelhäutige Frau auch tatsächlich schlief.

Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass sie keine Afrikanerin war, sondern sie schien mir ihrem Gesichtsschnitt nach, eher eine Europäerin zu sein. Eine recht hübsche gar obendrein, denn sie hatte ein sehr schmales, feminines Gesicht mit fein geschnittenen und sehr ebenmäßigen Zügen, die fast beinahe noch ein wenig mädchenhaft wirkten und auch wieder nicht. Ihre dichten schwarzen Wimpern an den geschlossenen Augen hätten auch die einer Giraffe sein können. Ihre seidig glänzende Haut war auch nicht etwa nur dunkelbraun, oder kaffeebraun, sondern von einer so unglaublich tiefschwarzen Farbe, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sogar ihr krauses Haar, welches mir nebenbei bemerkt, ebenfalls sehr merkwürdig frisiert schien, war von ebendieser Farbe. Die Pigmentierung an den Innenseiten ihrer schmalgliedrigen Hände und ihren unwahrscheinlich langen gepflegten Fingern, wie auch an ihren schlanken Füßen ließ keinerlei Rückschluss auf ihre Herkunft zu, denn auch dort war sie, wie an allen anderen Stellen ihres schmalen, venushaften Körpers geradezu von einem unglaublichen tintentiefen Schwarz, wie ich es noch niemals je zuvor gesehen hatte. Nein, diese zierliche Frau gehörte offenkundig ganz sicher keiner negroiden Rasse an und sie war definitiv auch keine Afrikanerin. Ich wusste nicht, wer sie war und woher sie kam, konnte sie allerdings auch keiner anderen, mir bekannten Rasse zuordnen. Mir war nur sofort klar, dass ich einer so bezaubernd schönen Frau noch nie in meinem Leben jemals begegnet war.

Diese einmalige Gelegenheit wollte ich sogleich beim Schopfe packen und sie rasch mit ein paar Pinselstrichen auf die Leinwand bannen, solange sie jedenfalls noch schlief. Ich stellte also umgehend meine Staffelei auf und verteilte eilig meine Ölfarben auf der hölzernen Palette.

Aber noch bevor ich überhaupt den allerersten Pinselstrich setzten konnte, schien die tiefschwarze Schönheit zu erwachen. Sie schlug die Augen auf und zwei wunderschöne, in einem unglaublichen Türkis leuchtende Augen schauten mich verwundert und zugleich überrascht an. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit, die ich ihr nie zugetraut hätte setzte sich auf und zeigte mit ihrem langen, ausgestreckten Zeigefinger auf mich.

»Wer bist du?«, fragte sie mich im reinsten Französisch und das mit einer so glasklaren femininen Stimme, mit der sie mich sofort verzauberte. Allein, wenn ich nur das Timbre ihrer Stimme vernommen hätte, selbst ohne diese Frau von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben, wäre es gewiss um mich geschehen gewesen, denn ich hätte mich sehr wahrscheinlich umgehend in ihre Besitzerin verliebt. Ich beugte mich also etwas vor und zeigte auf mich,

»Wer, ich?« Die rabenschwarze Schöne nickte überzeugend.

»Ich bin Paul«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Und wer bist du?« gab ich die Frage zurück und zeigte mit der Hand auf sie.

»Ichbinpaul...?«, fragte sie nun etwas schneller zurück und zeigte wieder auf mich.

»Nein, nein, nur Paul«, beeilte ich mich sie rasch zu korrigieren.

»Neinneinnurpaul?«, lachte sie nun laut und zeigte mir für einen Moment ihr perlweißes Gebiss mit den ebenmäßigsten Zähnen, die ich je sah.

Dann schüttelte ich den Kopf und machte mit meinen Händen eine deutlich verneinende Geste. Anschließend wies ich langsam mit meinem Zeigefinger wieder auf mich.

»Paul«, sagte ich nun betont langsam und auch sehr deutlich artikuliert, indem ich zugleich meine Hand auf meine Brust legte. Dann wies ich mit dem Zeigefinger auf sie.

Jetzt blitzten ihre Augen auf und ihr langer Zeigefinger zeigte auf sich. Ich nickte.

»Oula‘Ra«, antwortete sie mir ebenso langsam und deutlich.

»Oula’Ra, was für ein schöner Name für eine so bezaubernde Frau, wie dich. Ra, etwa wie der Sonnengott der alten Ägypter?«

Sie lächelte ein hinreißendes Lächeln,

»Du kennst die großen Götter der alten Ägypter?«, fragte sie mich überrascht.

»Nun, als Schiffsoffizier war ich früher schon einige Male in Ägypten und da hört man so einiges. Aber kennen, das wäre wohl etwas zu viel gesagt«, betonte ich nachdrücklich.

»Paul ist auch ein schöner Name«, versicherte sie mir. Ich lächelte nun ebenfalls.

»Wie man es nimmt, Oula’Ra. Wo kommst du her? Ich habe noch nie so jemand, wie dich gesehen.« Sie schwieg eine Weile, dann streckte sie ihren Arm aus und zeigte in Richtung Süden.

»Vom Meer…«

»Mit einem Schiff?«, fragte ich schnell.

Wie zur Bestätigung nickte sie erneut,

»Mit einem Schiff, von weither«, antwortete sie leise und lächelte wieder ihr gewinnendes Lächeln. »Und nun muss ich auch wieder nach dorthin zurück, zum Meer, Paul.«

Ich überlegte, wie weit es wohl von Arles bis an die Mittelmeerküste der Camargue war. Es mussten mindestens so an die fünfzehn Meilen sein und die konnte sie unmöglich so in ihrem Evaskostüm zurückgelegt haben. »Ich komme morgen wieder, aber einmal nur noch, Paul«, sagte sie leise und erhob sich mühelos in einer einzigen, unglaublich eleganten und anmutig fließenden Bewegung, als hätte sie überhaupt kein Skelett, kein inneres Knochengerüst. Sie war so bezaubernd wunderschön und schaute mich noch einmal aus ihren türkisfarbenen Augen lächelnd an.

Dann begann sie sich innerhalb von wenigen Augenblicken vor meinen Augen quasi in Nichts aufzulösen…

 

**

 

 Kapitel 2

 

Die Wiederbegegnung

 

Wie vom Donner gerührt stand ich da, lauschte mit angehaltenem Atem in die Natur hinein, rieb mir ungläubig die Augen. Ich begriff die Welt nicht mehr. Denn außer dem unentwegten Summen der Insekten war ringsherum praktisch überhaupt kein Laut zu vernehmen, so sehr ich mich dabei auch anstrengte mich auf irgendein anderes Geräusch zu konzentrieren. Oula’Ra, diese wunderschöne, tiefschwarze Frau hatte sich praktisch lautlos vor meinen Augen irgendwie vollständig aufgelöst und war dann plötzlich spurlos verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Das alles konnte doch eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen und grenzte für einen Laien schon fast an Hexerei. Als ehemaliger Schiffsoffizier war ich zwar an so einiges gewöhnt, aber dieses hier überstieg doch meine Vorstellungskraft bei weitem. Das Schlimmste daran war jedoch, dass ich langsam an mir selbst zu zweifeln begann. Hatte mir der Absinth vom Abend zuvor noch immer den Geist vernebelt, oder hatte mir die gnadenlos brütende Sonne von Arles mein Gehirn jetzt schon so sehr ausgedörrt, dass ich bereits höchst seltsame Halluzinationen wahrzunehmen glaubte? Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte sie doch eindeutig sehen können, sogar auch mit ihr gesprochen. So viel schien schon mal sicher. Oder etwa nicht? Jedenfalls konnte ich mich noch sehr lebhaft in allen Einzelheiten an sie erinnern und sie natürlich auch bestens beschreiben. Auch hatte sie mir doch wohl nicht ganz umsonst ihren melodisch klingenden Namen genannt, Oula’Ra. Himmel noch eins, das alles konnte ich doch nicht nur geträumt haben und spätestens nach dem Genuss des opulenten Frühstücks von Madame Lefevre war ich meiner Meinung nach, nur mal rein menschlich betrachtet, gewissermaßen auch wieder problemlos herzeigbar.

Dennoch, diese ungewöhnlich schöne Frau blieb einfach spurlos verschwunden und ich hatte überhaupt keine Ahnung auf welche Weise sie mir quasi vor meinen eigenen Augen abhandengekommen war. Ein schier unglaubliches Phänomen, mit welchem ich gefühlsmäßig und auch sonst überhaupt nicht klar kam, denn dergleichen ist mir noch niemals je zuvor zugestoßen.

Selbst der beste Magier auf der Varietébühne vom Moulin Rouge am Place Pigalle in Paris hätte einen solchen, beinahe schon phantastisch anmutenden Zaubertrick vermutlich nicht besser inszenieren können.

So starrte ich wie gebannt, ja, geradezu verblüfft auf meine frisch aufgelegte Palette und die leere Leinwand, die immer noch im jungfräulichen Weiß auf der Staffelei stand.

Ich wünschte, ich hätte im entscheidenden Augenblick einen von diesen neumodischen amerikanischen photographischen Apparaten dabeigehabt und damit das Abbild dieser Frau auf einen lichtempfindlichen Eastman-Rollfilm gebannt. Dann hätte ich jetzt wenigstens ein mit Licht gezeichnetes, unbestechliches Portrait von ihr gehabt. So beschloss ich nach reiflicher Überlegung jedoch diese ganze obskure Geschichte für mich zu behalten und gegenüber niemanden auch nur ein einziges Sterbenswörtchen zu verlieren. Auch Vincent gegenüber nicht. Denn ohne einen wahrhaft schlüssigen Beweis ihrer Existenz würde ich hinterher sehr wahrscheinlich nur als ein elender Lügner, oder bestenfalls als ein hirnrissiger Phantast dastehen. Beides war für mich jedoch gleichermaßen inakzeptabel.

In meinem Kopf geisterte nur noch ein Satz, dass sie noch einmal wiederkommen würde, ein einziges Mal nur. Wann und warum nur noch einmal? Morgen. Und wohin zum Teufel ging sie zwischenzeitlich? Zu einem Schiff im Mittelmeer vor der Küste der Provence? Nackt, ohne ein einziges Kleidungsstück? All das waren Fragen, die mich beschäftigten und zu denen es nach ihrem ungewöhnlichen Verschwinden natürlich keine logische Antwort geben konnte. Ihr Bildnis, ihre charmante Art und ihre ungezwungene Natürlichkeit hatten sich im Bruchteil einer Sekunde in mein Herz gefressen und ließen mich nicht mehr los. Malen konnte ich an diesem Tag natürlich nichts mehr, dafür war mir jegliche Stimmung verflogen. Auch wagte ich nicht das Antlitz dieser schönen Frau aus dem Gedächtnis auf die Leinwand zu übertragen, einfach aus Angst, ich träfe sie womöglich nicht richtig und würde sie mir im Nachhinein anders malen, als ich sie in der Erinnerung hatte. Ich beschloss morgen Vormittag um die gleiche Zeit noch einmal zu diesen beiden Olivenbäumen zurückzukehren, in der Hoffnung jene Oula’Ra dort erneut anzutreffen. Eine andere Alternative sah ich nicht, denn es gab keinerlei Vereinbarung zwischen uns, die einen Ort, geschweige denn irgendeine Zeit benannt hätte. Es gab nur diesen einen vagen Hinweis von ihr selbst und der musste mir genügen, wollte ich die schöne Schwarze noch einmal wiedersehen. So machte ich mich gleichsam unverrichteter Dinge und mit grüblerischen Gedanken im Kopf wieder auf den Heimweg. Angeschlagen schlich ich mich zurück in die Pension der Madame Lefevre und legte mich ins in Vincents Bett, wo ich sogleich in einen totenähnlichen Schlaf versank…

 

Am nächsten Morgen erwachte ich frühzeitig bei Sonnenaufgang und die angenehm frische Nachtkühle strömte durch die weit geöffneten Fensterflügel in Vincents kärglich eingerichtetes Zimmer. Ich hatte den ganzen restlichen Tag, wie die darauffolgende Nacht, komplett durchgeschlafen und ich fühlte mich bei meinem Erwachen so stocknüchtern, wie schon seit Jahren nicht mehr. Mir war, als hätte ich in der Nacht von ihr geträumt. Sie, deren Name sich mir schon ins Gedächtnis eingebrannt zu haben schien. Oula’Ra... Er klang wie Musik in meinen Ohren und ich wäre am liebsten wie ein frisch verliebter Narr sofort losgelaufen, nur um sie unter den Olivenbäumen möglichst bald wiederzusehen.

Madame Lefevre hatte längst mitbekommen, dass ich bereits wach war und mir inzwischen wieder ein treffliches Frühstück zubereitet. Sie stellte mir wortlos einen frisch aufgebrühten Pott schwarzen Kaffees auf den Tisch, dessen aromatisch dampfender Inhalt die gleiche schwärzliche Tiefe aufwies, wie die sinnliche Haut jener jungen Frau, der ich gestern in den üppig blühenden Lavendelfeldern begegnet war.

Während ich mich mit einem entsprechenden Heißhunger über die köstlich duftende Omelette hermachte, setzte sich Madame Lefevre mir gegenüber an das andere Ende ihres alten Küchentisches.

Sie schaute mir mit aufgestützten Ellenbogen ohne auch nur eine Regung zu zeigen, stumm beim Essen zu. Als ich ihr opulent zubereitetes Mahl verzehrt hatte, schien meine erneuerte Welt grundsätzlich wieder in Ordnung zu sein und mein abenteuerlicher Tatendrang war mit einem Schlage wiederhergestellt.

»Ich werde heute den ganzen Tag in den Lavendelfeldern da draußen bei diesen beiden Olivenbäumen malen. Dieses Motiv hatte ich mir gestern bereits schon einmal angesehen. Das wird bestimmt phantastisch.«

Sie nickte nur stumm.

»Werden Sie auch wiederkommen, Paul?«, fragte sie mich plötzlich nach einer Weile völlig unvermittelt und sah mich dabei so seltsam an.

»Ja, selbstverständlich, Madame Lefevre, warum sollte ich denn auch nicht wieder zurückkommen?«, fragte ich völlig verblüfft.

»Ach, es war nur so ein törichter Gedanke«, meinte sie nachsinnend, erhob sich und füllte mir geschäftig meine Aluminiumflasche mit frischem Wasser auf. »Passen Sie aber trotzdem gut auf sich auf, Monsieur Gauguin, denn nicht immer ist alles auch tatsächlich so, wie es uns gelegentlich erscheinen mag…«

»Was meinen Sie damit, Madame, wie soll ich Ihre Worte verstehen?«

»Vergessen Sie es einfach, Paul, ich rede manchmal nur zu viel mit mir selbst, seit mein Mann tot ist…« Sie schwieg abermals eine Weile und fuhr dann fort, »Er war zwar kein Maler, aber es zog auch ihn damals genau zur Hochzeit der Lavendelblüte ebenso magisch wie Sie heute, mit Macht zu diesen beiden Olivenbäumen hin. Und... er kam nicht wieder. Am nächsten Tag fand man ihn dann tot, in der Nähe der beiden Olivenbäume, mitten im Lavendelfeld… Es sei wohl ein bedauerliches Herzversagen gewesen, meinte der Monsieur, Docteur Moreau, denn man hatte keinerlei äußeren Verletzungen an seinem Leichnam feststellen können.«

»Das tut mir wirklich leid, Madame, ich wollte nicht…«

Sie winkte ab,

»Schon gut, Monsieur Paul, passen Sie nur auf sich auf…«, sagte sie leise und wischte sich mit ihrem weißen Taschentuch eine Träne aus dem Auge.

Ich nickte ihr noch einmal zu und verließ das Haus wie am Vortag in Richtung der südlichen Stadtgrenze, ebendort wo ich jene beiden Olivenbäume inmitten der üppig blühenden Lavendelfelder wusste.

Mir ging das ungewöhnliche Verhalten der Madame Lefevre nicht aus dem Sinn. Je mehr ich aber darüber nachdachte, umso mehr gewann ich den Eindruck, dass dieser Monsieur Lefevre damals in den Lavendelfeldern durchaus auch etwas gesehen, oder erlebt haben könnte, was ihn letztlich das Leben gekostet hatte. Noch zumal, wenn ich dabei an das ominöse Verschwinden dieser seltsamen schwarzen Frau dachte, die sich selbst Oula’Ra nannte.

Da mir aber die ganze Grübelei in diesem Fall leider auch nicht weiterhalf, schritt ich umso entschlossener denn je aus, nur um die Zeit nicht zu verpassen, zu welcher ich gestern an diesen beiden Olivenbäumen eingetroffen war.

Wieder brannte die Sonne bereits am frühen Vormittag erbarmungslos auf die duftenden Lavendelfelder nieder und die irrsinnige hochsommerliche Hitze nahm rasch zu, als endlich die beiden Olivenbäume in Sichtweite gerieten. Ich blieb kurz stehen und schirmte mit der Hand meine Augen gegen das grelle Licht der Sonne ab. Aber außer den beiden Olivenbäumen und den abertausenden von blau blühenden Lavendelpflanzen, die weiterhin permanent einen betörenden Duft verströmten, war weit und breit nichts zu sehen. Schließlich erreichte ich diese beiden einzigen Schattenspender in dem Meer voller duftender Pflanzen. Von jener schwarzen Frau allerdings fehlte jede Spur. Ich zog meine silberne Taschenuhr, dem einzigen Geschenk meiner Ex-Frau, aus dem Revers und ließ den Sprungdeckel über dem Uhrglas aufspringen. Nach einem Blick auf das Zifferblatt war ich mir sicher, zur nämlichen Zeit an Ort und Stelle zu sein, als ich hier am Vortag auf diese ungewöhnlich schöne, tiefschwarze Frau getroffen war.

Ziemlich enttäuscht stellte ich die Staffelei und meinen Rucksack mit den Malutensilien neben den Olivenbäumen ab und setzte mich mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, auf den grasbewachsenen Boden. Das Atmen fiel schon schwerer und ringsherum flimmerte die Luft bereits wegen der übermächtigen Hitze. Aber außer dem permanenten Summen jener emsigen Insekten war auch sonst wieder nichts zu hören. Ich wischte mir mit einem Linnentuch den brennenden Schweiß aus Gesicht und Nacken und beschloss geduldig noch eine geraume Weile auf ein Wunder zu warten.

Ich musste dabei wohl ein wenig eingenickt sein, denn als ich kurz darauf wieder erwachte saß diese vollkommen schwarze Frau, nackt mit gekreuzten Beinen, unmittelbar vis-à-vis vor mir im Gras und starrte mich unentwegt aus ihren leuchtend blauen Augen heraus an. In diesem Moment wechselte innerhalb eines Wimpernschlages ihre Augenfarbe in ein intensives Türkis hinüber, was mir anfangs jedoch kaum auffiel. Nur im Nachhinein kehrte die Erinnerung daran bruchstückhaft zurück. Im Nu war ich jedoch hellwach…

»Oula’Ra…«, rief ich völlig überrascht aus. Sie sah mich wieder mit ihrem gewinnenden Lächeln an und sagte,

»Ich bemerkte dich längst, Paul. Es ist schön, dass du noch einmal hierher an diesen Ort zurückgekehrt bist, denn heute werde ich dein Land wieder für lange Zeit verlassen.«

»Wohin wirst du fahren, Oula’Ra?«

»Ich werde mit dem Schiff wieder fortfahren und wir werden uns bestimmt niemals wiedersehen, Paul«, sagte sie und ihre bezaubernde Stimme nahm dabei ein deutlich dunkleres Timbre an.

»Wo bist du zuhause, Oula’Ra?«, fragte ich sie, ebenfalls ein wenig betrübt, da ich sie heute wohl zum letzten Mal sehen sollte. Sie sah mich lange an und schwieg, als hätte sie meine Frage nicht verstanden. Doch dann begann sie ohne Umschweife von sich heraus zu erzählen an. Dabei bemerkte ich nun auch zum ersten Mal, dass sie zu mir sprach, ohne jedoch dabei ihre Lippen zu bewegen. Ihre Worte entstanden einfach in meinem Kopf und es bedurfte keinerlei Hilfsmittel, um sie originalgetreu verstehen zu können, denn jedes einzelne ihrer an mich gerichteten Worte konnte ich, vorgetragen im reinsten akzentfreien Französisch, klar und deutlich wahrnehmen. So saß ich denn in der Glut der Mittagshitze an den Stamm des Olivenbaums gelehnt und lauschte schier atemlos mit geschlossenen Augen dem Beginn ihrer unglaublichen Geschichte, welche immer phantastischer wurde, je mehr sie mir darüber berichtete…

 

**

 

 

 Kapitel 3

 

Das Geheimnis der Oula’Ra

 

Die Worte, welche Oula’Ra an mich richtete, drangen mir ins Hirn, wie Wasser in einen trockenen Schwamm und ich saugte sie sogleich ebenso gierig in mich auf, wie dieser.

»Ich erzähle dir jetzt meine Geschichte, Paul, weil ich euch und eure ewigliche Neugier seit vielen Jahrhunderten bereits kenne. Nun, es soll mir ein besonderes Vergnügen sein, dir von uns zu berichten, auch wenn du dabei vielleicht gelegentlich in Ohnmacht fallen solltest, aber auch das ist schon anderen vor dir passiert. Sogar jenen, die sich einst selbst das starke Geschlecht und furchtlose Krieger nannten, die es zu ihrer Zeit mit jedem Gegner aufnahmen…

Zunächst, das was du von mir zu sehen glaubst, das bin leider nicht ich. Was du siehst und von mir wahrnimmst, ist das, was du selbst sehen und wahrnehmen willst. Dein Hirn sagt dir, dass ich so aussehe, wie du mich jetzt glaubst zu sehen. In Wahrheit ist dies aber nur das Ergebnis deiner eigenen Phantasie. Hättest du von Anfang an eine andere Vorstellung von mir gehabt, als du mich gestern zum ersten Mal bemerkt hattest, dann säße jetzt ganz sicher ein völlig anderes Wesen vor dir. Du allein wolltest, dass ich genauso aussehe, so wie du jetzt diesen Eindruck von mir wahrnimmst. Und damit auch genau das passiert, ist dies unsere genetische Fähigkeit sich sekundenschnell auf jeden x-beliebigen, jagdbaren Riss einzustellen. Wir suggerieren unserem designierten Fang über unser Hirn etwas, das er selbst zu sehen wünscht, um ihm dann im entscheidenden Moment möglichst nahe zu sein. Dabei ist der Sexualtrieb eine unserer stärksten Waffen. Welches lebendige Wesen wünscht sich nicht den idealen Partner, oder die ideale Partnerin an seiner Seite. Wir waren damit dereinst die besten Jäger im gesamten Universum, jedenfalls solange wir uns ausschließlich von der Jagd ernährten. Heutzutage jagen wir nicht mehr, aber die Fähigkeit sich ideal anzupassen, die ist uns in jeder Hinsicht erhalten geblieben. Dein Bild von mir bleibt übrigens im meinem Hirn gespeichert, bis wir uns irgendwann vielleicht einmal wiedersehen sollten. Sodann wird mein Äußeres umgehend wieder deiner alten Vorstellung von mir angepasst und es wird sogleich wieder dem vollkommenen Ideal entsprechen, welches du von mir hattest, als wir uns das letzte Mal sahen. Ich selbst kann dieses Bild, welches du von mir in dir trägst persönlich leider nicht wahrnehmen, aber unsere Ingenieure und Wissenschaftler an Bord unseres Schiffes haben die Möglichkeit dieses Bild in meinem Kopf mittels einer fortgeschrittenen Technologie auszulesen und nur daher weiß ich, wie du dich mir vorstellst. Und frage mich bitte nicht, wie ich bin, oder wäre, wenn ich nicht den Gedanken in deiner Vorstellung folgen müsste.

Ich fürchte, du würdest dich sehr wahrscheinlich zu Tode erschrecken, denn wir sind definitiv so völlig anders, als dass du dir dies je in deinen kühnsten Träumen nur denken könntest. Außerdem bin ich nach deinen Maßstäben gemessen uralt, denn deine zu erwartende gesamte Lebenszeit ist nur der winzigste Bruchteil eines halben Wimpernschlags in meinem bisherigen Leben und dabei habe ich sehr wahrscheinlich erst das Mittelalter meiner voraussichtlichen Lebenszeit erreicht. Vielleicht genügt es dir ja als Vergleich, dass ich einst die Lieblingsfrau eines ganz Großen, lange vor deiner Zeit war. Er nannte sich Ramses II. und wirkte sechsundsechzig Jahre lang als einer der mächtigsten Pharaonen im alten Ägypten am Nil. Mein Name war damals Nefertari'Ra und wir lebten ein gutes Viertel Jahrhundert seines Lebens glücklich miteinander, indem ich ihm als die menschlich biologische Form seiner Lieblingsfrau, neun seiner Kinder gebar. Für ihn war ich immer nur die Sonnengöttin Ra aus einer anderen Welt, mehr wollte er nicht wissen und er hat sich auch bis zu seinem Tode mit einundneunzig Erdenjahren, nicht für meine wahre Identität interessiert. Deswegen fragte ich dich gestern, ob du dich in den alten ägyptischen Göttern auskennst. Wir Ra sind übrigens zweigeschlechtlich und benötigen zu unserer eigenen Fortpflanzung keinen Partner. Allerdings bin ich etwas stärker feminin orientiert, wie übrigens ein jeder Ra etwas mehr zu der einen oder anderen Seite eines Geschlechts tendiert. Aber es genügt uns vollkommen, wenn ein Ra, oder eine andere Spezies in uns das Gefühl des innigen Begehrt Werdens wachruft, so wie du es getan hast. Und ich fürchte, du warst gestern sehr überzeugend in deinen intimen Gefühlen mir gegenüber und in etwa zweihundert Jahren nach deiner Zeitrechnung werde ich mich völlig erneuert und dabei alles Wissen aller meiner Vorfahren bis in kleinste Detail in mir verinnerlicht haben. Nur wenn wir auserwählt werden und einen neuen Ra zeugen dürfen, finden wir uns in einem vom Großen Rat unseres Heimatplaneten vorgegebenen und höchst komplizierten Ritual zusammen, um ein neues Leben nach unserem Ebenbild zu erschaffen. Allerdings wurde mir diese Ehre noch nicht zuteil, denn ich bin dafür einfach noch viel zu jung und es muss auch immer erst ein Ra sterben, damit ein neuer Ra entstehen darf. So will es seit Äonen von Generationen das Gesetz unserer Altvorderen. Aber das Erschaffen eines neuen Ra ist stets auch ein Freudenfest auf unserem Planeten, an dem nach Möglichkeit alle Ra teilnehmen, denn es kommt in der Realität allerdings nur sehr selten vor…«

 

 Damit endete die lautlos vorgetragene Erklärung von Oula’Ra, deren Sinn ich aber dennoch vollständig erfasst hatte. Nachdem ich ihrem Vortrag mit äußerster Anspannung gefolgt war, wusste ich meine bisherigen Gefühle gegenüber diesem schönen schwarzen Wesen nicht mehr richtig einzuordnen und schwankte zwischen Furcht und Unglaube auf der einen, sowie zwischen Neugier und Sympathie auf der anderen Seite.

»Und was tust du dann hier, allein inmitten all dieser Lavendelfelder?«, stellte ich nach einer Weile des Verarbeitens dieser Offenbarung die Frage an die Frau aus der anderen Welt.

Sie lächelte noch immer ihr bezauberndes Lächeln und war auch hierin um eine absolut überzeugende Antwort nicht verlegen.

»Diese blaublühenden Lebewesen, die ihr Lavendelpflanzen nennt, die haben wir vor einigen Jahrtausenden zufällig auf eurem Planeten entdeckt. Sie entwickeln während ihrer Blütezeit extrem starke Moleküle, die sie großzügig an ihre Umwelt verteilen. Es ist das, was ihr den Lavendelduft nennt. Wir Ra können diese Moleküle mit unserer gesamten Hautoberfläche aufnehmen und sie in unserem Körper zur Regenerierung von erkrankten und verschlissenen Zellen verwenden. Sie heilen und verschönern uns so auf diese natürliche Weise ganz selbstlos. Leider können diese Lebewesen außerhalb eures Planeten nicht existieren, obwohl wir ihnen auf unserem Schiff exakt die gleichen physischen Bedingungen wie auf der Erde bieten können. Sobald sie aber den Kontakt zu ihrem Heimatplaneten verloren haben, trinken sie kein Wasser mehr und sterben ab. Es ist selbst uns bislang noch ein Rätsel und unsere Wissenschaftler arbeiten seit einigen Jahrhunderten permanent daran, dieses Phänomen zu lösen. So sind wir aber nach wie vor immer noch gezwungen, den direkten Kontakt mit diesen einzigartigen Lebewesen auf eurer Erde zu suchen und uns unmittelbar vor Ort von ihnen behandeln zu lassen. Und deshalb ist auch meine Regenerierungsphase hier auf eurem heilenden Planeten jetzt schon wieder beendet und ich kann meine Tätigkeit als eine der obersten Wissens-Sammlerin für unser Volk im Universum wieder aufnehmen.«

Ich war von Oula’Ra‘s Erklärung mehr als nur fasziniert, wenngleich ich von nun an, da ich die Wahrheit über die Ra und ihre fremde Lebensform kannte, mich nicht mehr nur ausschließlich erotisch von ihr angezogen fühlte, sondern sie mit weitaus mehr Ehrfurcht und Respekt betrachtete. Sie schien es aber dennoch sofort zu bemerken und versuchte mit einem Lächeln beruhigend auf mich einzuwirken.

»Lieber Paul, mach' dir darüber keine trüben Gedanken, ich sagte bereits, dass andere vor dir an dieser Stelle sogar schon in Ohnmacht gefallen sind, als sie von unserer Geschichte erfuhren. Vor einigen Jahren war ein Mann aus der nahegelegenen Stadt, der eine erholungssuchende Ra an ebendiesen Ort überraschend gegen ihren Willen küssen wollte, ganz kurz nur mit ihrem natürlichen Abbild konfrontiert worden. Worauf dieser Mann einen schweren lebensbedrohlichen Schock erlitten hatte und auch die eilig herbeigerufene lebenserhaltende Hilfe von unserem Schiff konnte ihn leider nicht mehr in sein Leben zurückführen. Von da an dürfen wir unser natürliches Äußeres auf diesem Planeten seinen Bewohnern definitiv nicht mehr offenbaren, so hatte es der Große Rat damals beschlossen. Du siehst, selbst wenn ich wollte, ich dürfte dich auch gar nicht mit meiner wahren Identität konfrontieren.«

Ich nickte und mir fiel schlagartig ein, was mir Madame Lefevre zum Tode ihres Mannes heute Morgen erst darüber berichtet hatte.

»Ich glaube, ich weiß, wer jener Mann war, der sich damals zu Tode erschrocken hatte. Ich denke, es war der Ehemann meiner Pensionswirtin, Madame Lefevre«, sagte ich und schaute Oula’Ra an. Ich bemerkte, wie sich sogleich das Lächeln aus ihrem schönen Gesicht fortstahl und ihre Augen einen Schimmer von blauer Dunkelheit annahmen.

»Er hätte nicht versuchen sollen, sich mit Gewalt etwas zu nehmen, was ihm sehr wahrscheinlich mit Freundlichkeit und entsprechendem Charme sicher ohnehin gewährt worden wäre. Aber diese Ra war einfach zu jung und noch zu unerfahren. Sie selber war darüber mehr erschrocken, als jener Mann, was daraufhin zu dieser ungewollten Konfrontation führte. Es tut mir sogar im Nachhinein noch leid, aber es war ganz sicher nicht die Absicht dieser jungen Ra, diesen Menschen töten zu wollen.«

Ich glaubte ihr unbesehen und beschloss aber im gleichen Moment, Madame Lefevre auch nichts über diese Geschichte zu erzählen, denn es hätte ihr womöglich auch noch viele Jahre danach einen unsäglichen Kummer bereitet und das wollte ich ihr ersparen.

»Nun Paul, dies ist der Punkt, an welchen wir Abschied voneinander nehmen müssen, denn man hatte mich schon vor einiger Zeit gerufen. Ich wünschte, wir hätten unter anderen Umständen mehr Zeit miteinander verbringen können. Es wäre bestimmt auch sehr interessant geworden ein längeres Leben an deiner Seite zu führen, denn ich empfinde deine warmherzigen Gefühle für mich als außerordentlich anregend und inspirierend.«

»Fürchtest du nicht, ich könnte aber dennoch jemanden von unserer Begegnung berichten?« Oula‘Ra lachte leise. Amüsiert fragte sie mich,

»Du bist selbst ein kluger Mann, Paul, und kennst die Antwort auf deine Frage. Und außerdem, wen solltest du worüber etwas berichten wollen? Allerdings kennen schon einige Menschen aus der Historie eurer Vergangenheit unsere Spezies. Aber hast du schon jemals aus euren Geschichtsbüchern etwas über uns Ra erfahren, außer dass der große Ramses dem Sonnengott Ra gedient hat? Du siehst, es ist also gar nicht so einfach vor aller Welt überzeugend und vor allem glaubwürdig zu erscheinen. Besonders, wenn man nicht mehr hat, als nur eine Geschichte. Aber ich will dir gerne auch einen materiellen Beweis geben, so er dir denn genügt. Jedoch in erster Linie, damit du dich auch später noch gern an mich erinnerst, wenn ich schon längst viele hunderte von Lichtjahre von deinem Heimatplaneten entfernt sein werde.«

Oula’Ra griff seitlich neben sich in die Luft und für einen kurzen Moment sah es so aus, als wäre ihre schlanke Hand wie von einem Säbelhieb abgetrennt worden. Dann zog sie ihre Hand schnell wieder aus dem Luftspalt zurück und hielt darinnen einen dunklen Gegenstand verborgen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das angestellt hatte, aber in ihrer Hand befand sich plötzlich eine etwa fünfzehn Zentimeter große, vollkommen schwarze Halbstatuette. Das absolute Ebenbild von ihr selbst. Dieses originalgetreue Abbild von Oula‘Ra als eine Art dreidimensionaler Plastik, gefertigt aus einem unbekannten Material. Sie hielt mir die Statuette hin und schaute mich wieder lächelnd an...

 

»Damit du unsere Begegnung nicht vergisst, ein kleines Andenken an mich. Die Wissenschaftler an Bord unseres Schiffes haben es aus meinem Gehirn herausgefiltert und ein Künstler aus unserer Crew hat diese Skulptur noch in dieser Nacht nach dem Originalbild aus schwarzem Eisenholz vom Planeten der Ra extra für mich angefertigt«, sagte sie und überreichte mir die schwere Plastik. Fasziniert betrachtete ich diese kleine Statuette und befühlte mit den Händen die fein bearbeitete Oberfläche des Kunstwerkes.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, antwortete ich, »außer vielleicht, dass ich sehr glücklich über dein Geschenk bin, vielen herzlichen Dank dafür.«

Sie neigte mit einem bezaubernden Lächeln ihren Kopf. Und während ich noch damit beschäftigt war das Kunstwerk zu bestaunen, hatte sich Oula’Ra inzwischen wieder elegant aus ihrem Schneidersitz erhoben und sich in die Senkrechte begeben. Ihre schöne Gestalt und ihr betörendes Lächeln blieben erneut nicht ohne Wirkung auf mich und noch bevor ich sie mit offen ausgesprochenen Worten etwas fragen konnte, antwortete sie mir,

»Nein Paul, es ist unmöglich, ich kann nicht bleiben, diesmal leider nicht, weil andere wichtigere Dinge, die in absehbarer Zeit unbedingt ihrer Erledigung harren, keinen weiteren zeitlichen Aufschub dulden, denn das Ziel unserer Reise ist selbst für unsere Maßstäbe auch sehr weit von hier entfernt.«

»Ich verstehe«, sagte ich aufgeregt und erhob mich ebenfalls, »darf ich denn aber wenigstens darauf hoffen, dass du nach Erledigung dieser besonders wichtigen Aufgaben wieder hier her auf die Erde zurückkehren wirst, Oula’Ra?«

Sie schüttelte traurig ihren Kopf,

»Ich bedaure, lieber Paul, aber ich befürchte, dass du schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen wirst, wenn ich dereinst auf deinen Planeten zurückkehren werde. Ich bin mir aber dessen sehr sicher, dass sich dann meine bereits vollständig erneuerte Lebensform, dankbar an dich erinnern wird, denn du warst schließlich das auslösende Element zu meiner nächsten Lebensphase. Und so diese Statur nicht zerstört wird, werde ich sie dann auch wieder auffinden, egal wo sie sich zu diesem Zeitpunkt auf deinem Planeten befinden wird.«

Dann kam sie auf mich zu, umarmte mich und gab mir dabei einen langen Kuss, der alles erotische Feuer dieser Welt in sich zu vereinen schien und mir die zugleich überzeugendste Erklärung dafür lieferte, warum jener mächtige Pharao Ramses II., die Nerfertari zu seiner Lieblingsfrau auserkoren hatte. Mein Herz krampfte sich zusammen, als sie sich von mir löste und zurücktrat.

Sie hob noch einmal ihre Hand zu einem letzten Gruß,

»So lebe denn wohl, du Bildermaler Paul, wiedersehen werden wir uns nicht mehr, aber vergessen werden wir uns auch nicht, denn ein jeder hat nun etwas, was ihn an den anderen erinnern wird«, sagte sie mit einem wunderschönen Lächeln aus ihren türkisfarben leuchtenden Augen und trat seitlich neben sich in eine Art unsichtbaren Luftspalt, der sie erst zu halbieren schien, sie dann aber auch kurz darauf vollständig verschluckt hatte…

Ich starrte noch wie benommen eine ganze Weile auf den Punkt, wo Oula’Ra bis eben noch gestanden war und konnte mit meinen Gedanken immer noch nicht ganz erfassen, was sich hier inmitten der duftenden Lavendelfelder von Arles gerade abgespielt hatte. Ungewollt liefen mir die Tränen über das Gesicht und benetzten die Skulptur von Oula’Ra, die ich immer noch in meinen Händen hielt. Dann wickelte ich die Plastik liebevoll in das Linnen und verstaute sie vorsichtig in meiner Ledertasche. Schwankenden Schrittes wankte ich in der Glut der Mittagshitze zurück nach Arles und gab mir auf dem Weg dorthin selbst das geheiligte Versprechen, keiner Menschenseele jemals etwas über meine verlorene Liebe aus einer anderen Welt preiszugeben.

 

 

 

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Impressum

Cover: selfARTwork

Text: Bleistift

Picture Inside: Oula'Ra_selfARTwork

© by Louis 2017/3   last Update: 2021/6

Impressum

Texte: © by Louis 2017/3 last Update : 2021/6
Bildmaterialien: selfARTwork
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2020

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