Diese Geschichte ist rein aus meiner eigenen Fantasie enstanden. Jegliche Übereinstimmungen zu wahren Ereignissen sind Zufälle.
„Es bringt nichts, pass auf dich auf!“
„NEIN! Lass nicht los!“
„Leb wohl!“ Und das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte.
***
Mein Bruder Christoph und ich waren auf dem Weg in einen Winterurlaub, zusammen mit einer Reisegruppe. Wir fuhren schon seit ein paar Stunden mit dem vollen Reisebus durch verschneite Gegenden.
„Du Catty?“, riss es mich aus meinen Gedanken.
„Ja?“ „Was hattest du eigentlich für Morgen geplant?“
„Ich hab gedacht, dass wir erst ausschlafen, dann frühstücken und dann Ski fahren gehen. Ist das in Ordnung?“
„Klar gute Idee, wir könnten uns ja vorher auch noch ein bisschen die Umgebung angucken.“
„Das können wir natürlich auch machen“, antwortete ich freudestrahlend. Chris ließ seinen Blick zum Fenster gleiten. Er saß mir gegenüber. Ich fing an, ihn von oben bis unten zu betrachten. Seine Haare waren blond und zerzaust. Mein Bruderherz trug einen grauen Pulli mit einer komischen Figur darauf und eine schwarze Jeanshose. Er trug weiße Sneakers. Hatten wir eigentlich Ähnlichkeit? Ich holte meinen Spiegel aus meinem schwarzen Beutel und betrachtete mich lange. Meine Haare waren sehr dünn, blond und ich trug einen Kurzhaarschnitt. Im Spiegel waren strahlend, blaue Augen zusehen und eine kleine Stupsnase. Ich trug eine weiße, dicke Winterjacke, eine hellblaue Jeans und schwarze Winterstiefel. Ja, ich glaube man sah, dass wir Geschwister waren. Da knallte es plötzlich an der Fensterscheibe.
„ AHHHHHHHHHH“, kam es plötzlich aus mir heraus, „Was war das für ein Krach?“
„Das war nur ein Vogel, der gegen die Scheibe geflogen ist“, beruhigte Chris mich. Aber ich sah, dass er sein Lachen kaum zurückhalten konnte. Und ehe man sich versah, brach er auch schon in schallendes Gelächter aus. Ich hätte ihm eine knallen können, aber stattdessen fing ich auch an zu kichern. Alle im Bus sahen uns ganz komisch an, doch wir konnten nicht mehr aufhören. Ein Fahrgast beschwerte sich vorne beim Busfahrer und auf einmal knackte der Lautsprecher an der Wand:
„Die blonde Dame und der Herr in der fünften Sitzreihe, bitte nehmen sie Rücksicht auf die anderen Fahrgäste hier im Bus.“ Wir hielten sofort den Atem an. Leider half die Methode nicht lange. Chris sah mich an und ich sah in an. Bums, war es auch schon wieder passiert, wir fingen wieder an zu lachen. Nach fünf Minuten ungefähr, war es wieder still. Ab und zu musste jemand zwar immer wieder schmunzeln, aber auch das hörte irgendwann auf. Schließlich wurde es langweilig im Bus, also nahm ich mir mein Buch zur Hand und fing an zu lesen, aber nach einiger Zeit nahm ich die Buchstaben überhaupt nicht mehr wahr.
Sonnenlicht. Ich öffnete die Augen und Chris glotzte mich lachend an: „Na? Haste gut geschlafen du Schnarchnase?“ Ich brauchte eine Weile, bis ich ihm antworten konnte:
„Ja! Sehr gut sogar“, ich lächelte zurück, „Wie lange hab ich denn geschlafen?“
„Keine Ahnung, ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir gelacht haben und dann hab ich noch kurz aus dem Fenster geschaut und dann war ich auch weg“, antwortete Chris.
„Sind wir immer noch nicht da?“, fragte ich weiter.
„Nein, ich habe erfahren, bevor du aufgewacht bist, dass wir im Stau gestanden haben und am späten Nachmittag erst in unserem Hotel sind.“
„Na super“, antwortete ich traurig. Von diesem langen Sitzen, tat mir mein Po schon weh, ich wusste gar nicht mehr, wie ich sitzen sollte.
Den Rest der Fahrt unterhielten wir uns über Schule, Ferien, Freunde und was es noch so gab. Ich ging in die 11. Klasse aufs Gymnasium, mein Bruder war schon in der 12. Klasse und es waren gerade Winterferien, also Februar. Wir hatten diese Fahrt von unseren Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen und hatten uns riesig über das Ticket gefreut. Mein Bruder und ich waren ein Herz und eine Seele, wir unternahmen viel gemeinsam, aber zusammen ohne Eltern im Urlaub waren wir noch nie.
***
Endlich kamen wir in unserem Urlaubsort an. Jeder im Bus konnte seinen Blick nicht vom Fenster wenden, denn draußen waren Schneemassen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Die ganze Landschaft glitzerte durch die weiße Decke. Berge ragten bis hoch in den Himmel, ebenfalls von der kalten Pracht bedeckt. Der Himmel war grau, es sah so aus, als würde es bald anfangen zu schneien.
Der Bus hielt auf einem Parkplatz, nur hier waren dunkle Steine zu sehen, da der Schnee geschoben wurde. Wir stiegen alle schnell aus dem Bus und liefen zu der Klappe zum Kofferraum. Der Fahrer öffnete die Tür und holte nacheinander unsere Koffer aus den Lücken. Ich fand, dass ich den hübschesten Koffer hatte, denn er war im Zebra-Look. Mein Bruder hatte eine, wie ich fand, geschmacklose Tragetasche, auf der Vorderseite war ein Aufdruck von diesem Spinnenmann, dem Supermann. Ich hasste diesen Film und die Figur, ich fand das der Film einfach nur totaler Unsinn war, aber Christoph stand auf diesen Wundermann im Faschingskostüm. Naja, so lange ich nicht mal den Film mit ansehen musste, war das okay.
Dann hatte endlich jeder seine Taschen, Rucksäcke, Koffer oder was auch immer in der Hand. Unser Reiseleiter trommelte alle zusammen. Die Gruppe bestand aus allen Altersgruppen, ältere Menschen, Eltern mit ihren Kinder und Jugendlichen.
Chris stupste mich am Arm an: „Na wenigstens sind wir nicht im Altenheim gelandet.“ Ich sah ihn nur an und verdrehte die Augen. Er grinste breit.
Langsam hörten die Menschen auf zu erzählen und lauschten Tom unseren Reiseleiter:
„So, die lange Fahrt haben wir hinter uns gebracht. Als nächstes werde ich Sie in ihr Hotel bringen. Dort werden Sie dann ihr Zimmer erhalten und können sich frisch machen oder was Sie auch immer wollen. Um 18:30 Uhr steht dann das Abendbrot für Sie bereit. Die erste Tour morgen durch die Berge beginnt um 8:00 Uhr. Diejenigen die nicht am Programm teilnehmen wollen, können ihren eigenen Tagesplan machen. Sie können sich Skier, Snowboards und anderes ausleihen. Den Skilift zeige ich Ihnen, wenn wir jetzt zum Hotel gehen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit und nun folgen Sie mir unauffällig.“ Als er sich umdrehte und los ging, streckte er ein Schild mit der Nummer 46 in die Luft, was auch die Nummer unseres Busses war.
Kaum waren wir beim Gehen, ging auch das Geschnatter wieder los.
„Ob die Zimmer sauber sind?“, fragte ich meinen Bruder. Er grinste:
„Na du hast doch die Bilder im Internet gesehen.“
„Na und? Die können da doch reinstellen was sie wollen. Muss ja nicht wirklich so aussehen.“
Er schüttelte seinen wuscheligen Kopf:
„Man hast du eine Fantasie.“
„Das hat doch nichts mit Fantasie zu tun. Das ist die Wahrheit.“
„Ach, guck nach vorn, da siehst du die Wahrheit.“ Ich stieß ihm mit den Ellenbogen in die Seite. Manchmal konnte er wirklich unausstehlich sein, aber dafür liebte ich ihn, weil er mich immer zum Lachen bringen konnte. Tja, ein großer Bruder war schon etwas Tolles.
Dann standen wir endlich vor dem Hotel. Es war ein riesiges Gebäude. Von außen war es hellgelb und unten am Eingang mit Steinen verziert. Viele Menschen gingen ein und aus durch eine gläserne, mit Gold verschönerte Drehtür. Tom wandte sich zu uns um, lies die Nummer sinken und streckte seinen linken Arm hinaus und zeigte auf einen Lift:
„Ja, wie versprochen dort ist der Lift. Wie auch in ihrem Informationsmaterial stand, ist der Eintritt für Hotelgäste kostenlos.“ Als er mit dem Reden fertig war, führte er uns in das Gebäude. Die Eingangshalle war mit Engeln und Säulen geschmückt. Für meinen Geschmack etwas kitschig, aber in den Gesichtern der anderen konnte man erkennen, dass es ihnen gefiel. Unser Reiseleiter stellte uns in der Mitte ab und besorgte die Zimmerschlüssel an der Rezeption.
Er kam zurück. „So. Ich werde jetzt jeden Einzelnen auf das Zimmer bringen, die anderen können es sich hier unten in den Sesseln und Couches bequem machen.“ Er holte eine Liste aus seiner Tasche:
„Als erstes bitte ich Frau und Herr Tandem mit mir zu kommen.“ Ein älteres Pärchen folgte ihm.
Wir und die anderen setzten sich wie vorgeschlagen hin. Nach einer viertel Stunde, wurden auch wir auf unser Zimmer gebracht. Es lag im fünften Stock des Hauses und es war ein Doppelzimmer. Chris stand schon im Zimmer, ich dagegen war noch dabei meinen Koffer hinein zu zerren. Als ich es dann endlich geschafft hatte, wurde ich auch schon von meinem Bruder zugelabert: „Boah! Ein riesen Bett für mich. A…Aber wo schläfst du? Hier steht nur eins!“ Er sah mich verwirrt an. Ich schaute nach:
„Alter! Das ist ein Ehebett, wir schlafen beide auf diesem Boot da.“
„Ne, ne, ne das kommt gar nicht in Frage, du schläfst auf dem Boden.“ Ich war vollkommen verwirrt:
„Was? Spinnst du jetzt? Kennst du jetzt kein Ehebett mehr oder was?“ Er hatte einen ernsten Ausdruck im Gesicht:
„Nein.“ Eine zeit lang sahen wir uns beide einfach nur an. War das etwa sein Ernst? Ich starrte ihn an und wurde wütend, aber dann? Er fing an zu lachen. Was sollte das jetzt wieder heißen? Er lachte weiter und laut:
„Man Schwesterherz. Das war doch nur ein Scherz, hast du mir den Käse etwa geglaubt?“ Er nahm mich in den Arm. Ich weis nicht wieso, aber ich musste mitlachen. Nach zehn Minuten der Freude nahm dann jeder seine Tasche und packte seine Klamotten in den Schrank. Natürlich hatte ich mehr Sachen als er, also bekam ich auch die größere Schrankhälfte.
Als wir unsere Klamotten verstaut hatten, probierte Chris den Fernseher aus, typisch Junge. Ich ging in der Zeit ins Badezimmer und duschte mich, machte meine Haare und zog mir etwas Ordentliches für das Abendessen an.
Die Uhr zeigte 18:00 Uhr an, wir hatten noch ungefähr zwanzig Minuten.
„Chris?“
„Ja?“
„Wir haben nicht mehr viel Zeit, willst du dich nicht auch noch fertig machen?“
„Ja, ja gleich.“ Der Typ war total in seine Sendung vertieft.
„Ja nicht gleich. Sonst schaffst du es nicht mehr. Willst du etwa stinkend zum Essen gehen?“
„Nein! Gleich!“ Ich war mir sicher, ich würde keinen stinkenden Mopp neben mir zu sitzen haben, also überlegte ich nicht weiter und ging zur Steckdose und zog den Stecker vom Fernseher. Die Folgen bekam ich sofort zu hören:
„Ey! Was soll denn das?“ Ich grinste nur und sah in meinem Schrank nach guten Schuhen nach. Dann hörte ich nur noch ein ergebenes Stöhnen und Schritte ins Bad. Kurz danach war leises Plätschern von Wasser zu hören, also duschte er endlich. Ich nutzte die Zeit für mich, steckte den Stecker vonm Fernseher wieder ein und schaute den Anfang meiner Lieblingssendung.
Irgendwann kam Christoph mit nassen Haaren wieder aus dem Badezimmer:
„So, zufrieden?“
„Jap.“
„Na super. Aha, und Madame darf ihre Schnulze gucken und ich nicht oder wie sehe ich das?“
„Ich war fertig und du hättest ja auch als erstes ins Bad gehen können.“
„Ach, ist doch okay, war doch nur ein Scherz.“
„Ja, ich merke es schon, du bist heute so ein richtiger Komiker.“ Wie schon zum hundertsten Mal an diesem Tag, grinste er sein freches Lächeln. Ich fand aber, das das Grinsen zu ihm passte, das ließ ihn richtig lässig aussehen, ein richtiger Frauenheld. Er schnappte sich sein Handy, steckte es in seine Hosentasche und zeigte mit seinem Daumen zur Tür:
„Wollen wir dann runter gehen?“
„Okay, können wir machen.“ Mit diesen Worten schnappte ich noch meine Tasche und die Zimmerschlüssel. Chris schaltete in der Zeit noch den Fernseher und die Lichter aus. Fünf vor halb sieben kamen wir dann im Speisesaal an. Die anderen unserer Reisegruppe waren auch schon anwesend, körperlich jedenfalls. Alle hatten sich an einzelne Tische verteilt. Wir setzten uns an einen, der am Fenster stand. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf die Berge und man konnte Menschen beim Ski- oder Snowboardfahren zusehen.
„Echt geil die Landschaft hier oben oder?“, fragte mich Christoph.
„Ja, irgendwie traumhaft.“
„Traumhaft? Geil!“
„Dann eben geil. Los, wir holen uns etwas zu Essen.“, ich klopfte dabei auf den Tisch und brachte so meinen Bruder zum Aufstehen.
Das Essen war auf einem Buffet in der Mitte des Raumes im Kreis aufgestellt. Ich schnappte mir ein Brötchen und Nutella. Chris nahm sich Pommes und Fleisch.
Gerade beim Essen, betrat Tom den Saal. Er ging an unserem Tisch vorbei und grüßte uns:
„Abend.“ Wir grüßten zurück. An einem Nachbartisch nahm er Platz. Ich wusste zwar nicht, wie alt er war, aber er sah gut aus. Seine Haare waren schwarz, außerdem hatte er strahlend grüne Augen und sein Lächeln war so schön. Ich musste jedesmal mitlachen, wenn er seine strahlend weißen Zähne zeigte. Und sein Klamottenstil war auch nicht schlecht, er ging mit der Mode und sie stand ihm sehr gut. Gedankenverloren biss ich in mein Brötchen. Wie ich bemerkte, sollte man wirklich bei der Sache sein, wenn man isst, denn die Schmerzen als ich mir auf die Zunge biss, waren extrem unangenehm. Schmeckte ich da etwa Blut? Super, der Aufenthalt fing ja gut an, hoffentlich würde ich das neue Loch in meiner Zunge bald wieder los sein.
Ich schaffte es mein Brötchen auf zu essen, ohne mich noch einmal selbst zu verletzen.
„Bist du fertig mit essen?“, fragte Chris.
„Ja, bin satt.“
"Das habe ich mir gedacht, sieht man nämlich."
"Bitte? Warum?"
"Weil dein Mund wahrscheinlich nicht ausgereicht hat und du deine Nase gleich mitbenutzt hast beim essen."
"Ach Gott, wo denn genau? Hilf mir doch! Mach das weg." Am hinteren Tisch scharrte der Stuhl auf dem Boden. Nein. Bitte nicht jetzt. Unser Reiseleiter stand auf und kam schön in unsere Richtung marschiert.
"Man, Tom kommt."
"Haha, der wird sich über deinen Anblick erfreuen. Aber mach dir nichts draus, du bist halt ein Genießer und zeigst das auch gerne den Leuten."
"Ha ha, ich lache mich tot." Tom war, wie es aussah, auf dem Weg zum Buffett, musste dabei aber natürlich genau an unserem Tisch vorbei. Wie sollte es auch anders sein. Was war denn das überhaupt für ein Restaurant? Hier lag nicht eine Serviette auf dem Tisch. Naja, es war ja eh schon zu Spät. Zu meinem Glück hielt Tom auch noch bei uns an:
"Na? Hat das Essen geschmeckt? Die meisten Gäste waren bis jetzt immer begeistert." Ich Idiot.
"Nicht ohne Grund, die Pommes waren echt klasse. Nicht zu knusprig, aber auch nicht zu labbrig. Und genau die richtige Menge an Salz." Warum konnte Chris nicht einfach die Klappe halten. Quaschte hier fröhlich weiter und laberte den Reiseführer zu, während ich hier mit brauner Kacke an der Nase saß. Tom freute sich:
"Das ist sehr schön zu hören. Und ganz unter uns." Er beugte sich zu mir runter und flüsterte leise weiter:
"Das Frühstück ist noch besser und übrigens Du....ich darf doch du sagen oder?" Ich nickte.
"Du hast da was. Ist nichts schlimmes, wollte nur so freundlich sein und dich damit nicht noch durch die Gegend rennen lassen. Obwohl ich denke, dass dein Bruder dir das auch noch gesagt hätte." Er richtete sich wieder auf und zwinkerte mir zu. Schlimmer gings nicht. Ich lief rot an und mein Kopf nahm gefühlte tausend Grad an. Tom verabschiedete sich und nahm seinen eigentlichen Weg wieder auf. Ich sah zu Chris und bereute es sofort, denn der feierte sich komplett einen ab. Einen regelrechten Lachanfall bekam er.
"Hier.", sagte er lachen und hielt mir ein gelbes Stück Stoff hin, eine Serviette. Oh man, die hatte ich für einen Teil der Tischdenke gehalten, weil die genau die gleiche Farbe hatte. Echt, blöder gings nicht.
„Wollen wir dann gehen?“, fragte Chris mit Lachtränen in den Augen.
"Ja ja, lass uns bloß von hier verschwinden." Ich wischte mir mit der Serviette über die Nase und zerknüllte diese, damit der fette Fleck nicht zu sehen war. Unaufällig sah ich in die Rückseite eines Teelöffels und checkte ab ob alles weg war, denn noch so eine Vorführung wollte ich nicht geben.
„Gleich aufs Zimmer oder noch woanders hin?“
„Gleich aufs Zimmer, ich bin müde, ich geh schlafen.“ Chris nickte:
„Jaah, ich auch.“
Nach einer Stunde lagen wir dann im Bett. Und ich konnte es nicht glauben: mein Bruder trug doch tatsächlich ein T-Shirt von Spiderman und einen Jogginghose. Na super, jetzt konnte ich mir dieses rote Spinnen-Vieh die ganze Woche noch angucken.
„Und, was wollen wir morgen machen?“, fragte ich, „Wollen wir uns die Landschaft angucken gehen und Fotos machen?“
„Ja, dann kommt meine neue Kamera endlich mal zum Einsatz.“ Er hatte diese zu Weihnachten bekommen und rannte nur noch mit diesem Ding umher, aber hatte noch nie ein Foto gemacht. Er sagte, er wartet immer auf den richtigen Moment. Ich fragte mich, wann der sein sollte.
„Wollen wir einen Pfad auf einen der Berge nehmen?“
Ich wollte antworten, aber ich nickte nur noch und schlief ein. Meine Umgebung verblasste und ich fiel in die Welt der Träume.
Christoph und ich gingen gerade einen Berg hinauf. Überall, wohin man auch sah, alles war weiß und an manchen Stellen war Eis zu sehen. Wir sahen zum Himmel auf. Ein Adler flog über unsere Köpfe hinweg, dann landete er weiter oben auf dem Berg. Chris wollte sich ihn ansehen und rannte los. Ich rief ihm noch hinterher, er solle vorsichtig sein. Da hörte ich auch schon ein Knacken und einen Schrei. Chris! Ich lief ihm hinterher. Er hielt sich mit den Händen am Rand einer Klippe fest. Ich wollte ihm gerade noch meine Hand geben und ihn wieder hinauf ziehen, da rutschte er ab und fiel in die Tiefe und nach einigen Sekunden konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich sah noch eine Weile in die Schlucht, dann fing ich an zu schreien, zu weinen und schlug auf den Schnee unter meinen Füßen ein.
„Catty! Wach auf!“ Oh Gott, ich öffnete die Augen und starrte mit verheulten Augen in das Gesicht meines Bruders:
„Was war denn los mit dir?“ Ich sah mich um. Ich hatte meine ganze Betthälfte zerwühlt und schwitzte furchtbar.
„Achje, das war ja grässlich. Aber zum Glück nur ein schlechter Traum.“ Ich fühlte, wie mein Herz immer noch raste. Mir war, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen.
„Was denn?“
„Ist egal, wie spät ist es?“
„Sieben Uhr, ab jetzt gibt es Frühstück.“
„Okay, ich mach mich fertig. Warst du schon im Bad?“
„Jap, konnte nicht mehr schlafen.“
„Achso, okay ich gehe jetzt duschen. Und wehe, du kommst rein." Da war es wieder, dieses breite Grinsen, aber mittlerweile war er über diese kleine-Jungen-Streiche hinweg.
***
Zum Frühstück war wieder ein Buffet aufgebaut worden. Ich holte mir eine Schale Schokocornflakes und Chris Brötchen mit Marmelade. Mittlerweile war es viertel vor Acht und die Leute aus unserer Gruppe, die am Programm teilnahmen, versammelten sich vor dem Eingang des Hotels. Sie bekamen eine Führung durch die Berge. Chris und ich hätten auch daran teilnehmen können, aber die Tour musste man extra bezahlen und das wären pro Person fünfzig Euro gewesen. Da haben wir gesagt, das Geld können wir sparen und uns die Gegend selber angucken. Aber den Traum den ich die Nacht hatte, war wirklich komisch gewesen. Er machte mir Angst:
„Wollen wir nicht lieber heute Ski fahren gehen?“ Christoph sah mich verwundert an.
„Wieso?“
„Weiß nicht, nur so.“ Ich zuckte mit den Schultern und Chris schüttelte den Kopf.
„Ach ne, lass lieber morgen fahren. Außerdem müssten wir uns ja auch erst Skier besorgen.“
„Stimmt. Hast recht.“
„Wo wir schon dabei sind, also beim Tagesplan. Ich bin fertig.“
„Ich auch.“ Wir standen beide auf vom Tisch und gingen noch einmal kurz in unser Zimmer. Dort packten wir ein paar Sachen die wir brauchten, in einen Rucksack, zogen uns dick an und gingen dann los. Vorher wollten wir uns noch einen Plan von der Umgebung holen. Christoph wartete schon am Eingang, während ich zur Rezeption ging und die dahinter stehende Frau begrüßte:
"Guten Tag." Sie sah mich einfach nur genervt an. Die Frau war klein und pummelig, ihre Haare hatte sie streng nach hinten weg gesteckt und hatte eine grüne Brille auf der Nase. Dass ihre Mundwinkel nach unten hingen, verdeutlichte nur noch ihre brilliante Stimmung. Na toll. Wenn sie am Morgen schon mit so einer Laune hier rum saß, dann wollte ich gar nicht wissen, wie sie heute Abend drauf war. Ich war ein Frühaufsteher und immer sofort gut drauf.
Eigentlich war mir sofort bei ihrem Anblick das Fragen nach der Karte vergangen, aber wir brauchten nun mal eine:
"Ich hab mal eine Frage." Sie machte eine schnelle Kopfbewegung, die ich nicht ganz deuten konnte und sagte:
"Ja Mädchen, dann frag." Mädchen? hatte ich mich verhört? Aus welchem Loch hatten sie die denn gebuddelt? Sowas konnten sie doch nicht an den Empfang stellen. Ich bemühte mich trotzdem, freundlich zu bleiben:
"Haben sie einen Plan von der Umgebung hier? Mit Wanderruten und sowas?"
"Ja. Moment." Sie beugte sich mit einem Stöhnen nach unten und fing an, herumzukramen. Zwanzig Sekunden später kam sie wieder hoch und wedelte mit einem Flyer umher:
"Hier." Ich nahm ihn und wollte einfach nur noch schnell von dieser Person weg:
"Danke." Eigentlich müsste man sich beim Chef beschweren, aber vielleicht hatte ich sie auch einfach nur an einem schlechten Tag erwischt. Ich drehte mich auf dem Hacken um und ging zu Chris. Der nahm mir das Papier schnell aus der Hand und steckte sie in seine Tasche. Was sollte das denn? Ich dachte, wir wollten uns einen Pfad aussuchen. Ich blickte ihn fragen an. Er zog seine Augenbrauen hoch und sagte:
"Die brauchen wir jetzt noch nicht." Wie jetzt? Hatte ich mich jetzt ganz umsonst mit der Dame dort drüben abgequält? Chris griff nach meinem Arm und zerrte mich mit nach draußen:
"Ich habe da gerade was gelesen. Das wird dir gefallen." Ich lief ihm hinterher, irgendwann lies er auch meinen Arm los, als er wahrscheinlich merkte, dass ich auch alleine gehen konnte.
"Aha, und was?" Er öffnete den Mund, als wollte er was sagen, aber schließlich zuckte er nur mit den Schultern und flüsterte:
"Lass dich einfach überraschen." Wir gingen am Lift vorbei und einen schmalen Weg entlang. Bei jedem Schritt den ich tat, knirschte der Schnee unter meinen teuren Winterstiefeln, die ich mir extra für den Urlaub gekauft hatte und als wenn der Schnee, der hier lag, noch nicht reichen würde, fielen langsam dicke Flocken vom Himmel. Alles hier sah aus wie in einem Märchen, wie bei Väterchen Frost oder wie auch immer der hieß. Plötzlich fing Christoph wieder an zu schnattern:
"Weißt du, ich finde das richtig geil, dass wir mal ohne Mama und Papa im Urlaub sind. Also haben wir ja schon öfters gemacht, von der Schule aus oder so, aber ich meine das wir beide ganz alleine und zusammen hier sind. Bald könnten wir das bestimmt nicht mehr so oft machen, wenn wir dann erst mal arbeiten. Weißt du, was ich komisch finde?" Ich blinzelte, weil eine Schneeflocke sich in meinen Wimpern verfangen hatte:
"Was denn?"
"Ich höre von den meisten meiner Freunde, dass sie sich mit ihren Geschwistern immer nur zoffen, aber bei uns ist das überhaupt nicht so, ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass man sich so anblarren kann, ich meine was bringt das denn?"
"Liegt bestimmt daran, dass bei uns der Altersunterschied nicht so groß ist." Chris nickte:
"Bestimmt." Darüber hatte ich eigentlich noch nie so wirklich nachgedacht, aber es stimmte, mein Bruder und ich stritten uns wirklich selten. Ich hörte auch täglich aus meinem Freundeskreis, wie sehr sie ihre Schwestern oder ihre Brüder hassten und was sie sich gegenseitig doch für böse Streiche spielten, damit der andere Ärger mit den Eltern bekam. Ich konnte über so etwas eigentlich nur lachen.
Chris legte mir seinen Arm um die Schultern und schlenderte lässig den Weg entlang. Mir war ziemlich kalt und ich wollte jetzt auch nicht weiter darüber nachdenken was meine Freunde so taten und wollte endlich wissen wo wir hin gingen:
"Nun sag doch, wo gehen wir denn jetzt hin?" Er lachte:
"Ey, sei mal nicht so ungeduldig, aber wir sind gleich da. Wir müssen nur noch da vorne um die Ecke." Er zeigte mit seinem linken Arm auf ein weißes Haus. An der angezeigten Stelle bogen wir ab und befanden und plötzlich auf einer gepflasterten Straße. Man konnte die Steine zwar nicht sehen, aber fühlen. Das weiße Haus enpuppte sich als eine riesen Halle, die einen ganzen Hof einnahm. Sie hatte die Form eines L´s und war ziemlich hoch. Der Eingang bestand aus Glastüren, jedoch konnte ich nicht erkennen, was dort drin war, weil sich alles in dem Glas spiegelte, aber das musste ich auch gar nicht, weil sich über dem Eingang ein großes Schild befand, darauf stand: Eishalle. Die Schrift war so groß, dass man die schon von weiß ich nicht wo sehen konnte. Ich freute mich, immerhin war ich schon ewig kein Schlittschuh mehr gelaufen. Als ich klein war, bin ich jedesmal mit Freunden über den See geschlittert. Wir hatten am Ende zwar immer alle blaue Flecken, aber die störten uns auch nicht weiter.
Chris musste meine Freude bemerkt haben und sagte:
"Na? Überraschung gelungen?" Ich fiel ihm um den Hals:
"UND WIE!" Diesmal war ich diejenige, die seinen Arm griff und ihn hinter mir her zog. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mir nachzustolpern.
Innen sah die Halle noch größer aus, als es von draußen den Anschein hatte. Eine Menge Leute sausten über die weiße, glatte Fläche oder hielten sich an der Bande fest, um nicht hinzuknallen. Chris und ich gingen zur Kasse und liehen uns Schlittschuhe aus. Der ganze Spaß kostete zwanzig Euro, was aber ein angenehmer Preis war.
Ich konnte mein Lachen einfach nicht verkneifen als die Ausleihtante Christoph pinke Schuhe in die Hand drückte. Er hasste diese Farbe schon immer und sie stand ihm auch nicht wirklich. Ein großer Mann mit Muskeln und pinken Schuhen. Schick. Wieso hatten die solche Schuhe überhaupt für Männer oder hatte sie sich in der Frauenabteilung vergriffen? Sein Blick als er die Dinger anzog war einfach nur köstlich, man konnte förmlich seine Freude sehen. Mit scharfen Blick sah er mich an und muffelte:
"Hör auf zu lachen. Warum hast du schwarze bekommen? Hat sie unsere Schuhe vertauscht?"
"Nein garantiert nicht, aber was meckerst du denn so? Die Dinger stehen dir doch perfekt." Ich zwinkerte ihm zu, worauf ein Augendreher folgte. Wackelig stand er auf und schlurfte in Richtung Eisfläche. Immer noch lachend, dackelte ich ihm vorsichtig hinterher.
Nach einer Stunde auf der Bahn war jegliches Schamgefühl weg und wir hatten so viel Spaß, dass wir gar nicht mehr wussten, wohin damit. Aus gemütlichem Laufen entwickelte sich nach einiger Zeit ein Rennen und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich fliegen würde und am Liebsten hätte ich nie mehr aufgehört. Einmal wäre Chris fast gegen die Wand geknallt, weil die Kurve zu scharf war, bekam es aber doch noch in der letzten Sekunde hin. Nach seinem Beinahe-Crash probierte er seine 'Überredungskünste' bei mir aus:
"Guck mal. Hast du schon gesehen, wie die eine sich da hinten immer dreht? Das sieht einfach hammermäßig aus. Kannst du das eigentlich auch?" Ich sah ihn mit hochgezoger Augenbraue an:
"Nein. Seh ich so aus?" Er grinste verschmitzt.
"Probier doch mal." Ich schüttelte daraufhin heftig den Kopf.
"Bestimmt nicht." Aber er bettelte weiter:
"Bitte bitte bitte bitteee!" Na gut, mehr als hinfallen und mir irgendetwas brechen konnte ich ja nicht, also warum eigentlich nicht? Ich zeigte mit meinem Finger auf meine Schuhe:
"Pass auf!" Ich fuhr ein bisschen weiter zur Bande hin, damit ich mehr Anlauf nehmen konnte und startete dann mit ein bisschen Schwung. Als ich dann versuchte mich herum zu drehen, flog ich voll hin und meine Drehung wurde zu einer rutschigen Rolle auf dem Boden und ich landete direkt bei Chris, den ich auch gleich noch zu meiner kleinen Rutschpartie mitnahm. Zusammen flogen wir dann beide noch ein bisschen übers Eis und waren am Ende klitschnass. Das hatte ich nun davon, obwohl ich es ziemlich witzig fand. Ich spürte zum Glück keine Schmerzen und Chris sah auch nicht gerade so aus, als wenn er welche hätte. Er lag lachend neben mir und die Lachtränen standen schon in seinen Augen zum Auslaufen bereit. Die Leute um uns herum starrten uns alle ängstlich an, aber als sie merkten, dass wir uns nicht verletzt hatten, fuhren sie grinsend weiter. Chris fand nach einigen Lachkrämpfen endlich seine Sprache wieder:
"Ich hab aufgepasst, aber so schnell konnte nicht mal ich ausweichen. Sah echt toll und vor allem so... elegant aus, kannst damit zum Supertalent gehen." Ich stieß ihm in die Seite:
"Ha ha." Mein Versuch, aufzustehen, gelang mir erst beim fünften Versuch und bei meinem Bruder sah es auch nicht anders aus. Er starrte mich an:
"Deine Klamotten sind ganz schön nass." Ich nickte.
"Meinst du, deine sehen besser aus?" Er sah an sich herunter.
"Ups."
"Willst du noch weiter fahren oder zurück ins Hotel? Mir ist nämlich ziemlich kalt."
"Wir können gehen, wenn du willst. So nass weiter zu fahren, macht eh keinen Sinn. Komm." Zusammen fuhren wir zum Ausgang und gaben die geliehenen Schlittschuhe wieder ab. Chris überreichte seine pinken Schönheiten der Frau und sagte frech zu ihr:
"Das nächste mal möchte ich bitte Kens Schuhe haben, nicht Barbies. Trotzdem danke." Bei den Wörten reichte sein Grinsen von einem Ohr bis zum anderen. Ich konnte nicht mehr, mir taten meine Lachmuskeln sowieso schon total weh, aber ich konnte trotzdem nicht aufhören.
Der Weg zurück zum Hotel verging wesentlich schneller als auf der Hintour, aber wir hatten auch ein ganz schönes Tempo. Fröhlich und mit freiem Kopf ging ich neben Christoph her:
"Danke. Das war cool. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass hier in der Gegend sowas existiert."
"Kein Problem. Naja ich hatte es auch vorhin erst zufällig gelesen."
"Achja...sowas sollten wir öfter machen." Er schubste mich leicht.
"Das kannst du laut sagen."
"Hab ich doch." Er stubste mich in die Rippen, worauf er einen Boxer gegen den Oberarm erntete. Mit purem Glück erfüllt kamen wir endlich beim Hotel an. An der Rezeption saß immer noch der Gute-Laune-Bär. Ohne auch nur einen Blick zu ihr, liefen wir an vorbei und fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben.
Ich nahm gleich ein heißes Bad, weil meinen Füße, so hatte ich das Gefühl, Eisklumpen waren. Chris chillte auf dem Bett und zog sich seine Serien rein.
Den Rest des Tagen verbrachten wir auf dem Zimmer und gingen nur noch zum Essen nach unten.
Irgendwann war der wunderschöne Tag vorbei und ich freute mich schon riesig auf den nächsten.
Wir standen wieder einmal vor dem Hotel und sahen auf die Karte, die ich gestern hart erkämpft hatte.
Ein Weile starrten wir darauf und dann entdeckte ich einen Pfad:
„Da! Der Weg sieht doch gut aus und der ist auch gar nicht so lang.“, ich zeigt mit meinem Finger auf einen rot gekennzeichneten Weg.
„Stimmt, der ist nicht schlecht. Abstimmung!" ich verdrehte die Augen. "Zwei zu null, den nehmen wir.“
„Okay, dann mal los." Wir gingen am Lift vorbei und dann auf einen fest getrampelten Schneeweg, der sich leicht einen Berg hinauf schlängelte. Auf der rechten und linken Seite standen immer mal wieder einzelne Bäume, sonst konnte man die ganze Zeit die Aussicht genießen. Umso höher wir kamen, desto besser und kälter wurde die Luft.
„Schön hier oben oder?“, fragte Chris.
„Die Luft ist grandios.“
„Schade, dass man die nicht einpacken und dann mitnehmen kann.“
„Pfff… du hast Ideen.“ Wir lachten beide.
"Wie findest du eigentlich unseren Reiseleiter?", fragte Chris mich plötzlich. Ich suchte nach passenden Wörtern:
"Ähem..nett?" Mein Bruder schnalzte mit der Zunge:
"Einfach nur nett? Oder noch ein bisschen mehr?"
"Er ist nett.", beteuerte ich. Er schüttelte den Kopf:
"Ach komm schon, ich hab doch mit bekommen, wie du ihn immer anstarrst. Du stehst doch auf den." Mir blieb die Luft weg:
"Gar nicht." Chris grinste siegessicher:
"Na klar. Das merkt doch jedes Kleinkind." Ich wusste, dass es sinnlos war, dagegen zu sprechen:
"Nagut. Ja. Ich mag ihn halt. Ist das so offensichtlich?"
"Ne, aber ich kenn dich einfach. Und ich hab deine Blicke schon verstanden."
"Toll."
"Tja Schwesterchen, ich kenn dich einfach zu gut." Ich nickte:
"Das tust du wohl, das kann ich nicht leugnen."
"Der ist wenigstens ordentlich."
"Aha, hast ihn schon durch gecheckt, oder was?"
"Genau. Na glaubst du, ich lass dich ins offene Messer laufen?"
"Offenes Messer, ach Gott. Er ist doch kein Schwerverbrecher."
"Ist er ja auch nicht, sag ich doch." Achje.....mein großer Bruder als Beschützer, das hatte mir gerade noch gefehlt. Chris machte auf einmal einen Gedankensprung:
„Ob wir hier oben Tiere sehen?“ Ich erschrak, weil mir sofort mein Traum wieder einfiel, antwortete aber trotzdem:
„Kann schon sein.“ Er bekam meine Reaktion zum Glück nicht mit. Es dauerte ungefähr eineinhalb Stunden, bis wir langsam oben ankamen. Der Luft war kühl und meine Nase fühlte sich wie eingefroren an, aber das störte mich nicht weiter. Auch die Sonne ließ sich ab und an mal wieder blicken. Könnte ich zeichnen, würde ich mir jetzt sofort einen Block und einen Bleistift herausholen und anfangen die Landschaft hier abzumalen. Leider konnte ich das nicht. Normalweise konnte ich gar nicht mal so schlecht zeichnen, aber Landschaften bekam ich einfach nie hin und Tiere erst recht nicht.
Über uns kreischte etwas. Wir sahen beide zum Himmel hinauf.
„Ein Adler!“, freute sich Christoph. Es war ein riesen Vieh von Vogel. Erst kreiste er über uns, dann flog er davon. Chris machte Anstalten, ihm hinterher zu rennen, doch ich hielt ihn gerade noch auf.
„Nicht! Lauf ihm nicht nach!“, ich bekam ihm am Ärmel zu fassen.
„Warum nicht?“
„Na, weil der sowieso schon weg ist und außerdem ist es rutschig.“
„Naja, hast recht. Aber war ein schönes Tier oder?“
„Ja, sehr schön und vor allem groß.“
„Stimmt. Der war ziemlich riesig.“ Wir wollten gerade weitergehen, da kam der Adler wieder zurück.
„Guck mal, da ist er wieder!“, lachte mein Bruder. Erst drehte der Vogel wieder ein paar Runden über uns, dann landete er ein bisschen weiter oben auf dem Weg. Christoph rannte los:
„Da! Er sitzt! Jetzt kann ich ein Foto von ihm machen und das dann zur Zeitung schicken!“ Dabei wedelte er mit seiner Kamera in der Luft umher.
„Nein! Bleib hier!“ Mein Traum holte mich ein, die Gefühle aus der Nacht überfielen mich wieder. Ich hatte Angst, bekam einen Schweißausbruch und nahm die Beine in die Hand und rannte los.
„Chris! Bleib stehen! Sofort! CHRIS!“ Aber er blieb nicht stehen, er rannte weiter. Die Panik in mir stieg immer weiter, Tränen schossen mir in die Augen. Ich hätte es verhindern können!
Ich sah ihn schon fallen. Doch da blieb er plötzlich stehen. Direkt am Rand einer Klippe und schaute dem inzwischen weggeflogenen Adler nach. Chris. Er lebte noch, er stand vor mir, er war nicht gefallen. Ich sah ihn verheult an und fing vor Freude und Verzweiflung an zu lachen. Wie konnte ich nur glauben, dass das wirklich passieren würde? Chris drehte sich zu mir um und sah mich verwundert an:
„Was ist denn mit dir? Hast du etwa geweint?“
„Ja, hab ich, aber ist schon gut.“
„Nein, sag mal.“ Ich schwitzte am ganzen Körper. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Angst gehabt. Ich liebte meinen Bruder, was sollte ich ohne ihn machen? Ich glaube das würde ich selbst nicht überleben. Ich sah ihn immer noch schockiert an. Ja, ich wollte es ihm erzählen, den Traum und von meiner Panik eben:
„Also, mein Traum heute…..“
„Ja?“, er wollte gerade einen Schritt auf mich zu machen, da rutschte er mit dem hinteren Bein ab und fiel.
„Nein!“, ich lief auf ihn zu. Er konnte sich noch mit den Händen am Rand festhalten. Ich sah ihm in die Augen, nun konnte man auch bei ihm die Angst sehen.
„Hilfe! Hilf mir! Bitte!“, jetzt hatte sogar er Tränen in den Augen.
„Hier! Halt meine Hand fest!“, ich streckte sie ihm entgegen.
„Oh mein Gott, ich will nicht abrutschen.“, er weinte und ich mit ihm. Er bekam meine Hand zu fassen, aber ich konnte ihn nicht hochziehen, unter mir war Eis und es war zu rutschig, sodass ich ebenfalls immer weiter an den Rand rutschte. Aber ich gab nicht auf, ich versuchte meine ganze Kraft zu sammeln und ihn hoch zu ziehen. Wir weinten beide. Ich zitterte am ganzen Körper und schwitzte immer mehr und von Sekunde zu Sekunde rutschte ich weiter an die Klippe. Er schrie panisch:
„ Ich ziehe dich mit runter! Du musst loslassen!“
„Nein!“ Meine Stimme wurde immer schriller und mein Blick vom Tränenwasser verschwommen. „Nein! Ich lass dich nicht los!“
„Du musst! Sonst sterben wir beide!“
„Nein!“
Ein letztes Mal sah ich in seine Augen und seinen verängstigten Blick.
„Ich bekomme das hin! Ich versuche es!“, aber ich rutschte immer wieder zurück, war hier denn niemand der uns helfen konnte? Ich sah nach rechts und links, aber nirgends war eine Person zu sehen. Die ganze Zeit liefen Menschen umher, aber dann, wenn man sie mal brauchte, waren sie nicht da.
„Es bringt nichts, pass auf dich auf!“
„NEIN! Lass nicht los!“
„Leb wohl!“ , da ließ er los, das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte.
Als er fiel, schrie er! Er schrie schrecklich! Es war so furchtbar! Ich griff ihm hinterher in die Luft und hatte immer noch das Gefühl, seine Hand in meiner zu spüren.
„NEIN! CHRIS!“, ich schrie immer und immer wieder. Doch sein Schrei wurde leiser, bis er schließlich ganz verstummte. Ich heulte, ich weinte, ich schrie. Ich konnte nicht in die Schlucht sehen, Nebel versperrte mir die Sicht. Dieser Schmerz, es tat so weh. Die Gefühle in mir überschlugen sich, ich bekam einen kompletten Nervenzusammenbruch. Ich konnte nicht mehr. Mein Bruder, er war tot und ich war Schuld. Ich hätte es verhindern können. Alles verschwamm, ich nahm nichts mehr wahr und blieb in Schnee und Eis liegen.
Irgendwann kam ich zu mir und nahm meine Umgebung wieder war. Mir war kalt, ich zitterte und mein Gesicht tat von der Kälte weh. Ich robbte bis zu Klippe vor und sah nach unten, in der Hoffnung, Christoph zu entdecken. Ihn lebend zu sehen, zu sehen, dass es ihm gut ging, aber ich sah nichts, nur den Nebel, der bedrohlich vorbeizog. Und die Klippen und die Tiefe.
Mir schossen sofort wieder Tränen in die Augen. Dieser furchtbare Schmerz war wieder da. Ich bekam Panik, also stand ich blitzschnell auf und rannte los, den Weg hinunter, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der mir helfen konnte. Ich rannte und rannte und heulte. Ich spürte meinen Körper nicht mehr, sah fast nicht mehr, es war alles verschwommen. Ich bekam meine Beine kaum angehoben, die Konsequenz dafür bekam ich sofort zu spüren. Ich stolperte und landete zwischen Steinen und Schnee, neben dem Weg. Da! Dieses Geräusch! Das war doch der dämliche Adler. Er flog direkt über mir. Ich wurde wütend, griff nach den Steinen neben mir und warf sie nach diesem dummen Vieh, heulend, kreischend und voller Wut schrie ich ihn dabei an:
„Du verdammtes Federvieh! Ich hasse dich! Du hast mir meinen Bruder genommen! Verzieh dich!“ Ich warf weiter, obwohl die Steine ihn nicht einmal ansatzweise trafen. Nach einigen Würfen konnte ich nicht mehr. Der Adler flog davon, der Sonne entgegen. Ich fühlte mich furchtbar, mein Kopf dröhnte. Solche Kopfschmerzen hatte ich noch nie, aber ich konnte nicht einfach stehen bleiben und lief weiter den Berg hinab.
„Hilfe!“ Nichts. „Ich brauche Hilfe!“ Immer noch nichts. „Ist hier jemand?“ Nachdem ich ein paar Mal gerufen hatte, meldete sich endlich jemand:
„Hallo?“ Ein Mann kam mir entgegen gelaufen. Es war Tom!
„Catty, was ist denn passiert? Du siehst ja furchtbar aus!“
„Chris!“, ich musste mich bemühen, um den Namen auszusprechen.
„Was ist mit ihm?“
„Er ist tot!“ Ich wusste es ja, aber nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, war mir, als müsste ich explodieren.
„Wie jetzt? Was sagst du da?“ Ich rannte auf ihn zu, stolperte wieder und flog ihm weinend ihn die Arme. Er stieß mich nicht weg, sondern versuchte mich zu beruhigen.
„Catty. Du bist ja total kalt. Was ist passiert?“, fragte er mich noch einmal. Ich befreite mich aus seiner Umarmung und versuchte es ihm zu erklären:
„Dort vorne. Am Ende des Berges. Und Chris. Er wollte ein Foto von einem Adler machen, der ist aber davon geflogen. Er stand am Rand des Berges und wollte gerade auf mich zukommen. Da rutschte er ab und fiel in die Tiefe. Ich wollte ihm helfen, ich wollte ihn retten, aber er hat meine Hände losgelassen, weil er mich sonst mit hinunter gezogen hätte. Er ist tot und ich bin verdammt nochmal Schuld.“ Tom sagte nichts, er sah mich nur schockiert an. Er nahm sein Handy und rief jemanden an. Ich wusste nicht wen, aber es war mir auch egal. Das Einzige, was ich wollte, war meinen Bruder zurück. Dann hörte er auf zu telefonieren, legte mir seinen Arm um die Schulter und ging mit mir den Berg hinab. Ein paar mal kamen uns Leute entgegen. Es waren Feuerwehrmänner, der Rettungsdienst war dabei und die Polizei. Jetzt konnte ich mir denken, wen Tom angerufen hatte. Wir waren ungefähr die Hälfte des Berges hinunter, da kam auch noch ein Krankenwagen, jedoch fuhr dieser nicht vorbei, sondern hielt genau vor uns an. Ärzte stiegen aus und wollten mich mit in den Krankenwagen nehmen.
„Nein!“, ich rastete vollkommen aus. „Mein Bruder! Was ist mit ihm?!“, ich werte mich gehen die helfenden Hände des Rettungsdienstes. Diese versuchten mich in den Griff zu bekommen:
„Nun beruhige dich doch! Die Polizei und die Feuerwehr kümmern sich um ihn!“ Meine Gefühle drehten total durch. Ich merkte, wie jetzt noch mehr Hände versuchten, mich in den Krankenwagen zu bekommen, dann schafften sie es auch und ich bekam ein Beruhigungsmittel. Nach kaum zehn Minuten nahm mein ausgelaugter und geschundener Körper überhand, ich wurde müde und schlief ein.
Klappern, rascheln und andere Geräusche weckten mich. Ich öffnete die Augen, meine Sicht war noch etwas verschwommen. Wo war ich? Ich sah an die Decke und in andere Ecken des Raumes. Es war alles weiß, die Wände, die Möbel und der Boden. Das deutete unumgänglich auf ein Krankenhaus hin. Da fiel mir der gestrige Tag wieder ein. Mein Bruder war tot. Da war ich mir hundertprozentig sicher, denn solch einen Sturz kann kein normaler Mensch überleben. Ich fühlte, wie meine Augen wieder anfingen zu brennen und mir Tränen in die Augen stiegen. Es klopfte an die Tür. Ich antwortete nicht, aber sie öffnete sich trotzdem.
„Ah, wir sind ja wach geworden“, eine etwas kleinere Frau kam durch die Tür, gefolgt von einem großen, braunhaarigen Mann. Die Frau verschwand im Badezimmer. Der Arzt kam zu mir und sah mich an:
„Hallo, ich bin Herr Taller, dein Arzt. Wie geht es dir?“
Mit großer Ironie fielen die Wörter aus meinem Mund: „Sehr schön. Mir ging es noch nie besser.“ Mir ging diese Fragerei jetzt schon auf die Nerven. Ich meine, wie sollte es mir schon gehen? Ich will ihn mal sehen, wie er über einer Schlucht hängt, total am Boden zerstört und verheult. Da würde der bestimmt auch keine Fragen haben wollen. Doch er quatschte weiter:
„Ich weiß, dass es schwer sein muss für dich, doch...“
„Was wissen sie denn schon? Nichts! Rein gar nichts!“
„Nun gut. Hast du Schmerzen?“
„Außer das mein Kopf brummt, nein.“ Ich wischte mir die Tränen aus den Augen.
„Da hattest du ja noch einmal Glück gehabt.“ Ich sah ihn fragend an:
„Wieso?“
„Du warst stark unter deiner normalen Körpertemperatur. Völlig ausgekühlt. Noch ein paar Stunden länger dort draußen und du wärst erfroren.“
Ich wurde leiser:
„Hab ich gar nicht mitbekommen.“
„Du standest ja auch unter Schock, was verständlich ist.“ Das war alles schön und gut, aber dann wollte ich weg von mir und zu Chris:
„Wissen Sie was mit meinem Bruder ist?“
„Nein, ich weiß nichts. Es tut mir Leid.“ Ich merkte, dass das hier alles nichts brachte, also kam ich zur folgenden Frage:
„Darf ich aus dem Krankenhaus?“
„Nicht alleine.“
„Aber meine Eltern sind tausende von Kilometern von hier entfernt. Und ich glaube auch nicht, dass sie in der Lage wären zu fahren. Keiner aus meiner Familie.“
„Da hast du recht, aber alleine darf ich dich nicht gehen lassen, es wäre zur gefährlich.“ Ich war enttäuscht. Ob meine Eltern schon informiert worden sind? Ich hatte furchtbare Angst vor ihren Reaktionen. Ob sie mir die Schuld geben würden? Herr Taller musste meinen Blick bemerkt haben, denn er sagte:
„Naja, ich werde dich nachher noch einmal untersuchen und dann werde ich mal sehen, was sich machen lässt.“ Ich nickte.
Dann verließ er den Raum und die Frau mit ihm.
***
Mensch! In diesem Krankenhaus hatte man aber auch gar keine Ruhe! Andauernd kam Jemand rein, um irgendeinen Quatsch zumachen, den sie für wichtig hielten, dabei aber total unnötig war. Es hatte schon wieder an die Tür gehämmert. Diesmal kam eine Krankenschwester mit einem Tablett voller Essen. Da niemand mit mir in diesem Zimmer war, konnte es nur für mich sein. Ich wollte aber kein gematschtes Krankenhausfutter, sondern meine Ruhe! Die Frau grinste mich gruselig an:
„So, Frühstück.“
„Ich möchte nichts.“
„Doch du musst etwas essen.“
„Ich will nichts. Ich möchte einfach nur alleine sein. Ist denn das so schwer?“
„Tja Schätzchen. Tut mir Leid, aber alle machen hier nur ihre Arbeit und meine ist es im Moment, dir dein Essen zu bringen.“ Ich hasste es, wenn man mich Schätzchen nannte.
„Oooch maaan!“ Ich ließ meinen Kopf wieder zurück in das weiche Kopfkissen fallen.
„Naja, ich stelle es hier ab, iss etwas.“ Sie stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch am Fenster ab. Sie wollte gerade raus gehen, da lief sie fast mit Tom zusammen, der so aussah als wolle er gerade mit der rechten Hand an die Tür klopfen. In der linken hielt er einen bunten Blumenstrauß.
„Oh, entschuldigen Sie, junger Mann“, sie lachte und ging weiter. Tom kam ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich:
„Hey.“
„Hallo.“ Endlich gab es mal eine angenehme Störung, ich empfand sogar ein kleines bisschen Freude.
„Wie geht’s dir?“, er stellte sich vor mein Bett.
„Naja, geht so. Der Arzt will mich nicht gehen lassen, dabei muss ich doch meine Eltern anrufen und ihnen erzählen, was passiert ist. Mein Handy ist ja weg.“
„Sie wissen schon bescheid, die Polizei hat sie informiert."
„Haben sie ihn gefunden? Also Chris meine ich?“ Tom antwortete nicht sondern sah sich im Zimmer um:
„Hast du irgendwo eine Vase?“
„Ich glaub nicht, leg sie ins Waschbecken und danke, die sind schön.“
„Nicht dafür.“ Er verschwand kurz im Bad, auf seinem Weg zurück zu mir nahm er einen Stuhl, der am Fenster stand und setzte sich neben mein Bett. Auch ich setzte mich aufrecht hin. Ich hatte mir, nachdem der Arzt vorhin gegangen war, einen Bademantel angezogen, der hier im Schrank gehangen hatte.
„Tom, bitte sag mir was mit Chris ist. Lebt er noch? Haben sie ihn gefunden?“ Mein Gegenüber sah zu Boden:
„Sie haben ihn nicht gefunden. Die Polizei sucht noch, aber sie haben gesagt, dass sie nur noch ein paar Stunden suchen werden." Ich konnte es nicht fassen und brachte nur noch ein stottern heraus:
"A...ab..aber die ha...ha...haben doch noch gar nicht lange gesucht! Ich meine, die können doch nicht einfach aufgeben. Er muss doch da irgendwo sein!" Ich sah Tom mit feuchten Augen an.
"Catty, ich weiß, es ist schwer."
"Es ist nicht schwer, es ist scheiße." Mir liefen salzige Tränen in den Mund. Er nickte zustimmend:
"Aber vielleicht heitert dich das ein bisschen auf: Ich habe mit deinem Arzt gesprochen und wenn ich dabei bin, dann darfst du gehen." Dies war die erste gute Nachricht an diesem bescheuerten Tag. Ich versuchte ein gequältes Lächeln und sagte:
"Danke und auch danke, dass du gestern für mich da warst. Warum warst du überhaupt dort? Bist du nicht mit den anderen unserer Reisegruppe in die Berge gefahren?"
"Ich wollte erst, aber dann hab ich euch zu dem Wanderweg gehen sehen und hab mir gedacht, dass ich euch vielleicht ein bisschen was zeigen könnte. Außerdem hatte ich keine Lust mehr, mitzufahren und wollte lieber die Schicht am Hotel machen und hab mit meinem Kollegen getauscht. Naja, aber ihr wart zu schnell, deshalb hatte ich es nicht geschafft, euch einzuholen. Wäre ich ein bisschen schneller gewesen, wäre es vielleicht nicht passiert. Es tut mir so leid." Er sah zu Boden und ich sah Tränen in seinen Augen stehen.
"Ich bin daran Schuld, dass das ganze passiert ist."
"Quatsch, hör auf, dir das einzureden."
"Doch, ich hätte es verhindern können."
"Aha, und wie?"
"Ich hätte sagen können, komm wir gehen woanders hin oder so."
"Woher wolltest du denn wissen, dass so etwas passiert?" Ich überlegte kurz, ob ich ihm von meinem Traum erzählen sollte und entschied mich dann dafür:
"Ich hab es geträumt."
"Wie jetzt?"
"Ich habe in der Nacht zuvor geträumt, dass etwas passieren wird. In dem Traum ist Chris genau wie gestern auch einem Adler hinterher gerannt und abgestürzt."
"Verarscht du mich gerade?"
"Nein." Ich schluchtste.
"Okay, aber du konntest ja nicht wissen, dass das wahr wird. Dich trifft keine Schuld." Er nahm mich in den Arm. Ich war froh, dass er da war und ich fühlte mich in seiner Umarmung so sicher. Ich spürte seine Wärme und wie sie meinen ganzen Körper erfüllte. Dieses schöne Gefühl wurde zerstört, als die Tür zu meinem Zimmer schon wieder einmal mit einem Schwung aufflog. Mein Arzt stand vor uns:
"Ah. Hallo, entschuldigt das ich störe, aber Catty, ich möchte dich noch einmal untersuchen, damit wir dich entlassen können." Er zwinkerte mir zu und Tom stand auf:
"Ich warte vor der Tür." Ihm hinterher starrend sagte ich:
"Okay." Herr Taller untersuchte mich noch einmal gründlich, er maß Fieber, meinen Blutdruck, hörte mein Herz ab und so weiter. Er fand nichts Auffälliges und ich war erleichtert, denn das bedeutete, dass ich endlich hier raus konnte. Zum Glück, denn hier drinnen hätte ich ja noch Depressionen bekommen. Als der Arzt mich endlich befreit hatte, ging ich ins Bad und zog mir meine Klamotten von gestern an. Die Schwester, die heute Morgen hier drin war, muss sie gewaschen und getrocknet haben, denn sie waren nicht schmutzig oder nass. Ich verließ mein Krankenzimmer. Tom hatte es sich, soweit man das konnte, auf einem der Stühle im Flur gemütlich gemacht. Als er mich bemerkte, stand er auf:
"Und? Alles in Ordung?"
"Ja, ich darf gehen."
"Das ist schön."
"Wo gehen wir jetzt hin?"
"Naja, erstmal müssen wir ins Hotel zurück und deine Sachen und....." Er stoppte. Ich wusste warum. Chris' Klamotten mussten wir auch holen. Dann sprach er weiter:
"Wenn du willst und mir vertraust, gehe ich in euer Zimmer und hole die Sachen. Du musst mir nur sagen, wo sich alles befindet." Ich schüttelte den Kopf:
"Nein, nein. Ich möchte das selber machen."
"Okay, wenn du meinst." Wir gingen aus dem Krankenhaus und fuhren danach mit einem Bus zum Hotel zurück. Es sah noch genauso aus, wie vor zwei Tagen, dabei hatte sich für mich so viel geändert. Sogar die fröhliche Frau saß wieder am Empfang. Na super, die hatte mir gerade noch gefehlt. Ich musste leider Gottes ja noch unseren Zimmerschlüssel holen. Ich ging zu ihr und die sah mich genauso genervt wie vorgestern an:
"Ach, da sind wir ja wieder." Ich lächelte schief und sagte stur:
"Ich will den Zimmerschlüssel. 284."
"Das geht auch freundlicher." Pah! Das sagte die Richtige, aber ich ließ es dabei. Sie nahm den Schlüssel vom Haken und gab ihn mir.
"Danke." Danach durchquerten wir das Treppenhaus und standen schließlich vor der Tür. Mit zitternder Hand drehte ich den Schlüssel zweimal um. Ich wollte hinein gehen, zögerte jedoch. Mein Blick schweifte zu Tom, der traurig hinter mir stand. Er nickte und ich öffnete die Tür, wir traten ein. Es sah alles noch so aus, wie mein Bruder und ich es gestern früh verlassen hatten. Nur dass die Betten gemacht waren. Mein Beine trugen mich zum Schrank. Ich hatte mir vorgenommen, erst Chris' Sachen einzupacken, also holte ich seine Reisetasche aus dem Schrank und seine Klamotten aus den Fächern. Sie rochen nach ihm. Seine Sachen, alles roch nach ihm, was mir ein bisschen das Gefühl gab, ihn wieder bei mir zu haben. Meine Augen füllten sich, wie schon so oft an diesem Tag, mit Tränen. Meine Umgebung verschwand, das Zimmer, Tom und alles andere mit. Doch wie von irgendwem gelenkt, rannte ich umher und packte alles, was ich von Christoph fand, in die Tasche. Nach fünf Minuten hatte ich fast alles verstaut. Es fehlte nur noch sein Schlafzeug. Mit langsamen Schritten ging ich zum Bett, zog die Decke zur Seite und starrte Spiderman an. Nun ging gar nichts mehr, ich fing explosionsartig an zu weinen und ließ mich auf das Bett fallen. Ich konnte es nicht verstehen, wieso mein Bruder? Warum gerade er? Genauso wenig konnte ich mir vorstellen, dass er für immer weg war. Dass niemand von uns ihn jemals wiedersehen würde.
Wer war denn nur so grausam und ließ so etwas zu?
***
Irgendwann kam ich langsam wieder zu mir. Mein ganzes Gesicht klebte und meine Lippen schmeckten nach Salz. Ich griff nach dem T-shirt und der Hose, hob die fallen gelassene Tasche wieder auf und stopfte die beiden Teile hinein. Als letztens machte ich nur noch die Reißverschlüsse zu. Es war so still, ich sah mich im Zimmer um, außer mir war hier niemand mehr. Wo war Tom? Ich stand vom Fußboden auf und ging durch den Raum. Er war nirgends. Sogar auf dem Flur sah ich nach, aber er war weg. Ich entschied mich dafür, einfach weiter zu packen. Innerhalb von zehn Minuten war das Zimmer leer. Nach einem letzten Blick zerrten meine Arme die Koffer hinaus und runter in die Lobby. So hatte ich mir das Ende des schönsten Urlaubs nicht vorgestellt. Manchmal entschied das Schicksal einfach anders, egal ob es einem gefiel oder nicht.
An der Rezeption entdeckte ich Tom. Er stand dort neben einem anderen Mann, der ungefähr in dem selben Alter war. Der Typ hatte blonde Haare (links und rechts an den Seiten abrasiert), braune Augen und war ein ganzes Stück größer als Tom. Die beiden unterhielten sich angeregt, aber ich hatte keine Lust, weiter hier herum zustehen, also platzte ich mitten in das Gespräch, indem ich mich zu ihnen stellte. Tom lächelte mich an:
"Oh, hey. Alles gepackt?" Ich nickte nur. Er machte eine Kopfbewegung Richtung Blondi.
"Das ist Denniz. Er wird die Reisegruppe während meiner Abwesenheit übernehmen." Der Typ grinste mich an:
"Hey." Ich erwiderte seinen Gruß:
"Hallo. Tom du musst nicht mitkommen, ich schaff es schon alleine, nach Hause zu kommen. Ich meine, es ist ja nicht besonders schwer, sich in einen Bus zu setzen."
"Wir fahren aber auch nicht mit dem Bus."
"Womit denn?"
"Denniz ist mit unserem Dienstauto hierher gekommen, mit dem werden wir jetzt fahren, weil er ja dann mit der Reisegruppe im Bus zurück fahren wird."
"Achso." Tom wandte sich wieder Denniz zu:
"So. Hab ich dir jetzt alles erzählt?"
"Ich denke schon, ich hab keine Fragen mehr."
"Gut, dann werden wir mal. Wir haben ja noch eine lange Fahrt vor uns."
"Okay, kommt gut an." Ich verabschiedete mich auch noch von ihm und dann gingen wir. Tom hatte sich meinen Zebrakoffer geschnappt und ich umklammerte die Tasche meines Bruders. Das war er also, unser super Urlaub, beendet mit einer Katastrophe. Ich versuchte, nicht schon wieder zu heulen und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Aber das, was folgen würde, machte mir Angst. Die Unterhaltung mit meinen Eltern.
Ich trottete Tom bis zum Parkplatz vom Anreisetag hinterher. Er blieb bei einem großen, weißen Auto stehen:
"Da wären wir. Gib mir mal die Tasche." Er nahm sie mir aus der Hand und verstaute sie im Kofferraum, dann stiegen wir beide ins Auto ein, ich auf der Beifahrerseite. Erst unterhielten wir uns eine Zeit lang, doch dann gab Tom mir seinen I-Pod und Kopfhörer. Die Musik und das sachte Schaukeln des Autos brachten mich in den Schlaf.
***
"Catty!" Tom weckte mich. "Ich muss tanken, soll ich dir was mitbringen? Essen oder Trinken?" Meine Stimmer war heiser und klang total verschlafen:
"Kekse? Und einen Eistee? Das wäre echt lieb."
"Wird gemacht."
"Warte! Ich muss schnell mein Portemonnaie finden."
"Ach, lass stecken."
"Nein, ich will dir das Geld geben."
"Nee, vergiss es!" Er rannte los. Toll. Aber das war voll nett von ihm. Ich sah aus dem Fenster Richung Tankstelle. Ein ekliger Benzingestank stieg mir in die Nase, aber ich musste ihn nicht lange aushalten, denn schon nach einigen Minuten öffneten sich die Türen und Tom kam zurück. Er hielt Zeitschriften, Kekse, Getränke, Brötchen und Süßigkeiten in der Hand. Was hatte er denn alles gekauft? Er kam zu meiner Seite des Wagens und bedeutete mir, die Tür zu öffnen.
"Kannst du mal bitte aus dem Handfach den gelben Beutel rausholen? Danke." Ich musste erst ein bisschen kramen, bis ich den Beutel fand, aber schließlich hielt ich ihn in der Hand. Tom lächelte und ließ die Sachen in die Stofftasche rutschen.
"Hier." Er legte mir den Beutel in den Schoß, dann schmiss er meine Tür zu, ging um das Auto und stieg ein.
"Was hast du denn alles gekauft?"
"Weiß nicht. Alles, wovon ich gedacht habe, das dir das vielleicht schmecken könnte. Ich meine, wir fahren noch mindestens einen halben Tag lang. Iss einfach was du willst.
"Okaaaaay, danke."
Wir fuhren wieder los und je weiter wir kamen, desto höher wurde die Temperatur, die das Thermometer anzeigte.
"Tom?"
"Ja?"
"Ich hab Angst."
"Wovor denn?"
"Vor meinen Eltern. Ich meine, wie zum Teufel soll ich ihnen gegenübertreten? Sie werden mich doch mit Sicherheit verantwortlich für das Ganze machen."
"Aber die wissen doch bescheid."
"Auch wie es passiert ist?"
"Ja. Die Polizei hat sie über alles informiert."
"Aber ich wurde doch gar nicht befragt." Das fiel mir gerade erst ein. Woher sollten die das alles wissen?
"Naja, der Arzt hielt dich eben noch nicht in der Lage dazu und..."
"Hast du es ihnen erzählt?"
"Ja, du hattest mir ja berichtet, was passiert war und dann hat mich die Polizei gefragt, ob ich auch aussagen könnte. Naja und ich hab es getan."
"Achso."
"Ich hoffe das ist in Ordnung für dich."
"Klar. Ich bin froh, dass ich nicht befragt wurde."
"Gut." Er lächelte.
"Dann muss ich ihnen das wenigstens nicht erklären...also meinen Eltern." Mein Blick schweifte zum Boden.
"Das wird schon, sie werden dir nicht die Schuld geben. Im Gegenteil."
"Ich hoffe es." Ja, ich hoffte es wirklich. Ich hatte eine solche Angst davor, meinen Eltern in die Augen zu sehen. Ich hatte keine Ahnung was ich ihnen sagen sollte. Wie würden sie auf mich reagieren? Und die Tatsache, dass sie noch nicht einmal angerufen oder eine SMS geschrieben hatte, beunruhigte mich noch mehr.
"Du wohnst doch in Berlin oder? Nur damit ich auch richtig fahre."
"Ja."
"Okay, du musst mich dann nur noch in das richtige Viertel lotsen."
"Mach ich." Es brachte mir überhaupt nichts, weiter über meine Eltern nachzudenken und mich wuschig zu machen. Ich nahm den Beutel mit dem Essenszeug und suchte mir eine Tafel Schokolade heraus. Der süße Geschmack brachte mich wenigstens ein bisschen auf andere Gedanken.
Am Ende der Fahrt war der Beutel fast leer. Ich hatte bis auf ein paar Kekse, die ich zum Dank für Tom übrig gelassen hatte, alles aufgegessen. Die ganze Fahrt über hatte ich das Zeug in mich hinein gestopft, nur damit ich nicht nachdenken musste. Am frühen Nachmittag waren wir dann endlich in Berlin angekommen und nun standen wir vor meinem Haus. Es war groß und außer uns lebten noch zwei weitere Familien darin. Tom und ich holten die Koffer aus dem Auto und gingen dann zu Haustür. Am liebsten hätte ich gar nicht geklingelt und wäre wieder gegangen. Besonders Angst hatte ich vor meinem Vater, denn er war ziemlich streng. Meine Mutter, naja, sie konnte auch streng sein, wenn sie wollte, aber meistens war sie immer nett und einfühlsam gewesen. Ich hatte mich gerade entschieden zu klingeln, da ging die Tür schon von alleine auf und beide standen plötzlich vor mir.
Meine Mutter und mein Vater starrten uns an. In ihren Gesichtern regte sich nichts, nicht einmal ein Mundwinkel zuckte. Die Augen meiner Mutter waren rot geschwollen. Sie muss ziemlich lange geweint haben und es glitzerten sogar jetzt noch Tränen in ihnen. Ich fühlte, wie auch mir Wasser in die Augen stieg.
Warum sagten sie denn nichts? Warum machten sie nichts? Ich war verzweifelt und überfordert, doch ich bekam zum Glück doch noch ein leises Wort über die Lippen:
"Hallo." Dabei ließ ich meinen Kopf langsam zu Boden sinken und meine Kehle schnürte sich zusammen, was mir das Gefühl gab, nie wieder sprechen zu können. Ich sah, wie der rechte Fuß meiner Mutter sich auf mich zubewegte und zwei Sekunden später spürte ich auch schon ihre Wärme, sie umarmte mich fest. Also nahm ich an, dass sie nicht sauer auf mich war. Mir fiel ein ganzer Berg vom Herzen.
Mein Vater hingegen drehte sich um und ging wieder mit gesenktem Kopf ins Haus. Dass er ziemlich fertig mit den Nerven war, war nicht zu übersehen.
Meine Ma löste ihre Umarmung und sah mir in die Augen. Ihre Schminke war übers ganze Gesicht verlaufen und die blonden, langen Haare fielen ihr zottelig über die Schultern. Nach einem kuren Augenblick öffnete sie ihren Mund und sagte:
"Es ist schön, dass du da bist." Ich konnte sie kaum ansehen:
"Es ... es tut mir leid." Sie nickte nur, dann sah sie an mir vorbei in Richtung Tom:
"Und wer ist das?"
"Das ist Tom, unser Reiseleiter." Das Gesicht meiner Mutter änderte sich von total traurig zu brennender Wut. Sie schob mich zur Seite und ging auf Tom zu. Dieser stand einfach nur da. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah, meine Ma ging auf ihn los:
"Warum haben Sie nicht auf meinen Sohn aufgepasst?" Sie schlug ihm gegen den Brustkorb. Immer und immer wieder schlug sie auf ihn ein.
"Sie Schwein! Es war ihre verdammte Aufgabe! Sie hätten auf ihn aufpassen müssen!" Sie verlor komplett die Kontrolle und mein Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Hals. Und Tom? Der tat gar nichts, er ließ es einfach so über sich ergehen und was mich echt verwunderte, war, dass auch er weinte. Ich konnte die Szene nicht weiter mit ansehen und ging dazwischen. Ich griff meiner Mutter an den Schulter und zog sie mit voller Kraft (davon brauchte ich reichlich) von ihm weg:
"Mama! Hör auf!"
"Nein! Er ist schuld daran, dass Chris tot ist!"
"Ist er nicht!"
"Wer denn, wenn nicht er?!?" Am liebsten hätte ich gesagt 'ich bin es', aber ich ließ es für den Augenblick sein und sagte stattdessen einfach nur:
"Niemand."
Meine Ma starrte mich an und brach plötzlich zusammen. Sie sackte auf den Boden, schlug die Hände vors Gesicht und bekam einen Heulanfall. Ich drehte mich um und Tom machte einen Schritt auf mich zu:
"Es tut mir Leid. Es tut mir so unendlich Leid."
"Ist okay." In diesem Moment auch nur annäherungsweise stark zu sein, erforderte unendlich viel Kraft für mich, aber zum Glück bekam ich es einigermaßen hin. Er schüttelte den Kopf:
"Nein. Deine Mutter hat recht: ich hätte es verhindern sollen ... ich hätte einfach nur schneller sein müssen ... ich ..." Ich unterbrach ihn:
"Du hättest es auch nicht ändern können. Er wäre trotzdem gefallen, weil er ja unbedingt diesen bescheuerten Adler, oder was auch immer das war, sehen wollte. Wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann der."
Plötzlich stand mein Vater wieder in der Tür. Er ging zu meiner Mutter, die immer noch heulend auf dem Pflaster saß. Sie tat mir so Leid. Papa legte einfühlsam seine Hände auf ihre Schultern:
"Komm, komm rein." Mama folgte seiner Bitte und stand auf, doch bevor sie im Haus verschwand, sagte sie noch einmal zu Tom:
"Entschuldigen Sie bitte, ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich bin einfach total fertig." In Toms Gesicht zuckte die Andeutung eines leichten Lächelns:
"Schon gut."
"Wollen sie mit hinein kommen und einen Tee oder Kaffee trinken?", fragte mein Vater.
Tom ließ sein Blick zu mir schleifen und sah mich fragend an. Ich nickte.
"Ja, gerne", antwortete er dann.
Wir betraten alle das Haus und setzten uns in der Stube auf die Couch. Es war ein komisches Gefühl. Überall, auf den Schränken und an den Wänden standen oder hingen Bilder wo ich und Chris zu sehen waren. Ab und zu wo nur Chris drauf war, dann mal eines, wo wir zwei Geschwister in die Kamera grinsten und einige Familien-Fotos. Er war einfach überall. Es fühlte sich so an, als wäre er eigentlich noch da, nur im Moment unterwegs oder so.
Mutter fragte noch einmal, was wir trinken wollten. Kurz darauf kam sie mit zwei großen Tassen Kaffee aus der Küche zurück. Mein Vater hatte in der Zwischenzeit den TV eingeschaltet und setzte sich wieder hin. Mama wandte sich an Tom:
"Danke, dass Sie Catty herbegleitet haben."
"Ist doch klar, aber bitte nennen Sie mich einfach Tom."
"Okay, Tom", auf ihrem Gesicht bildete sich ein kleines Lächeln.
Das Schweigen richtete sich erneut ein. Wieder hatte niemand etwas zu sagen, diese Ruhe war einfach schlimm und kaum auszuhalten. Ich brach die Stille:
"Fährst du jetzt wieder zurück?", fragte ich Tom. Dieser dachte kurz nach:
"Nein, ich werde auch nach Hause fahren."
"Wo wohnst du eigentlich?"
"Auch hier in Berlin."
"Welches Viertel?"
"Friedrichshain."
"Achso. Cool, die Gegend ist echt schön, ich bin da öfter mal."
"Ja, das stimmt. Wir können uns ja mal treffen, wenn du Lust hast."
"Also, ich würde mich freuen." Ich lächelte ihn an, weil ich endlich mal für einen kurzen Augenblick abgelenkt war. Er erwiderte mein Grinsen:
"Ich mich auch." Meine Eltern verfolgten das Gespräch einfach lautlos und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und nach einigen oberflächlicheren Unterhaltungen zwischen ihnen und Tom waren alle Tassen leer und er verabschiedete sich:
"Na gut, ich werde dann mal gehen. Vielen Dank für den Kaffee." Papa nickte ihm zu:
"Aber gerne doch. Du kannst uns immer mal wieder besuchen kommen, wenn du möchtest." Ich stand auf und begleitete ihn zur Tür:
"Danke das du mich nach Hause gebracht hast."
"Kein Problem. Kann ich vielleicht deine Handynummer haben?", fragte er vorsichtig.
"Klar." Ich holte mein Handy aus meinem Beutel und sagte ihm die Nummer an.
"Gut. Ich ruf dich an." Ich freute mich:
"Okay." Er lächelte und kam auf mich zu, um mich zu umarmen. Ich ließ es geschehen. Danach drehte er sich um und ging zu seinem Auto, welches er an der Straße geparkt hatte.
"Bis dann", rief ich ihm noch hinterher. Er winkte und fuhr dann los. Trotz der Trauer um Christoph spürte ich auf einmal wieder ein bisschen Freude. Plötzlich stand meine Mutter hinter mir.
"Er ist nett."
"Ja, ist er."
"Es ist mir richtig peinlich, dass ich ihn vorhin so angeschrien habe."
"Das ist doch verständlich ... ich meine, dass du deine Gefühle nicht so richtig unter Kontrolle hast und er nimmt es dir ja nicht übel."
"Meinst du?", fragte sie mit verkniffener Miene.
"Ja klar, außerdem hast du dich doch entschuldigt."
"Das war ja auch angebracht. Möchtest du was essen?"
"Nein danke Mama, ich gehe nach oben in mein Zimmer. Ich möchte jetzt gerne wieder alleine sein."
"Aber wenn du etwas hast oder reden möchtest, dann kommst du zu mir, okay?"
"Mach ich." Ich stieg die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.
Meine Mutter wollte also, dass ich mit ihr über Chris reden sollte. Das würde doch gar nicht funktionieren, weil meine Mutter ja selbst nicht damit klar kam. Sie würde mit Sicherheit das ganze Gespräch über heulen. Dann wäre ich noch deprimierter als ohnehin schon. Da fiel mir ein: unsere ganzen Freunde und auch die Kumpels von Christoph wussten ja noch gar nicht, dass er nicht mehr da war. Naja, woher sollten sie das denn auch wissen? Ich hatte eine Idee. Ich fuhr den Computer hoch und loggte mich auf Facebook ein. Ich hatte mich gerade durch die ganzen Neuigkeiten gegraben, als sich ein Chatfenster öffnete. Es war der beste Kumpel von Chris, Steve. Er schrieb:
Steve: Na? Wie ist es in der Schneelandschaft so?
Catty: Ich bin nicht mehr da :(
Steve: Wie? Wo bist du denn?
Catty: zu Hause
Steve: Okaaaaay, sollte euer Urlaub nicht die ganze Woche gehen =?
Catty: Eigentlich ja, aber es ist was passiert
Steve: aha, und was?
Ich hatte echt Angst davor, ihm die Wahrheit zu sagen und ich wusste auch gar nicht wie. Ich konnte ja schlecht schreiben: hey, dein Kumpel ist tot, er ist von einem Berg gefallen. Ich überlegte noch ein paar Minuten, dann schrieb ich:
Catty: es geht um Chris...
In meinem Hals bildete sich schon wieder dieser eklige Kloß und meine Augen fingen an zu Tränen.
Steve: was ist mit ihm?
Catty: Er hatte einen Unfall
Steve: Scheiße. Ist ihm was passiert?
Catty: ja
Steve: Und was ? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen....=S hat er sich was gebrochen oder so?
Catty: nein ... er ist tot
Steve: Du verarscht mich doch gerade
Catty: nein
Es kam nichts mehr zurück. Im Gegenteil, das online-Zeichen hinter seinem Namen verschwand. Und ich wünschte, ich hätte es ihm nie gesagt, aber irgendwann hätte er es sowieso erfahren. Ich ging auch offline und legte mich heulend in mein Bett. Es vergingen ein paar Minuten, dann schlief ich ungewollt ein.
Ich stand auf dem Alexanderplatz, direkt neben der Weltzeituhr. Ich wartete und plötzlich bekam einen Schubs gegen die rechte Schulter:
"Na?" Meine beste Freundin Caro tauchte neben mir auf. Ich grüßte zurück:
"Hey." Sie umarmte mich und lächelte breit. Ich kannte Caro schon seit der ersten Klasse und wir waren unzertrennlich. Wir unternahmen immer viel zusammen, gingen shoppen, ins Kino und so weiter. Was beste Freunde halt immer machen. Caro sprach weiter:
"Gut, wir wollten jetzt also ins Alexa oder?"
"Genau."
"Okay, ich muss nur noch schnell meine Tasche aus dem Spind am Bahnhof holen, treffen wir uns vor Media Markt?"
"Ja ... bis gleich." Wir lösten uns von der Uhr und ich machte mich auf den Weg zum Kaufhaus. Kurz vor dem Eingang kam eine Gruppe von Jungs angelaufen. Der eine von ihnen rammte mich versehentlich und ich flog mit voller Wucht auf die Steine. Meine Taschen rutschte mir von der Schulter und schlitterte über den Boden. Die Jungs verschwanden lachend im Alexa, nur der Typ, der mich gerempelt hatte, blieb stehen. Er drehte sich zu mir um, hob meine Tasche auf, kam zu mir und half mir hoch.
"Entschuldige bitte. Wir haben ein Wettrennen gemacht."
"Schon gut." Ich klopfte mir den Dreck von den Klamotten und sah ihm dann direkt in die Augen. Ich erschrak. Diese blauen Augen, diese blonden Haare. Es war alles so verdammt vertraut! Mein Herz fing an zu rasen, dann flüsterte ich mit erstickter Stimme:
"Christoph?" Er sah mich verwirrt an.
"Was hast du gesagt?"
"Chris! Erkennst du mich denn nicht?"
"Ähh ... nein und wer ist Chris?"
"Mein Bruder. Ich bins doch: Catty! Und du bist mein Bruder."
"Was? Ich kenne dich doch gar nicht."
"Was redest du denn da für einen Unsinn? Willst du mich denn schon wieder ärgern oder was? Ich dachte, du wärst tot! Wo bist du gewesen und vor allem: Warum hast du dich nie gemeldet?"
"Was laberst du denn? Bist ein bisschen verwirrt was? Hast du eine Gehirnerschütterung?" Ich sah ihn mir genauer an und bemerkte die echte Verwirrung in seinem Blick. Nein, das spielte er garantiert nicht.
"Nein ... Chris!" Ich fing an zu heulen und das Bild von Chris fing an zu verschwimmen. Er verschwamm immer mehr, bis ich ihn nicht mehr erkannte. Schwärze.
Ich öffnete die Augen und wühlte mich unter der Bettdecke hervor. Ich lag in meinem Zimmer und es war schon richtig hell. Langsam bekam ich eine Krise: schon wieder so ein verrückter Traum! Konnte ich nicht einmal schlafen ohne immer gleich was träumen zu müssen? Echt mal.
Noch ganz benommen von dem Mist lag ich immer noch im Bett. Zitternd und mit feuchten Augen. Warum waren meine Träume immer so ein Dreck? Aber diesmal konnte er ja nicht wahr werden. Zum Glück. Denn nur der Gedanke daran, dass mein Bruder mich nicht mehr kennen könnte, ließ mich durchdrehen. Obwohl die Sache, dass er wieder da wäre, dass er doch nicht tot und zermalmt irgendwo im Gebirge lag, natürlich unglaublich schön wäre.
Es klopfte an der Tür und bevor ich auch noch irgendetwas sagen konnte, wie 'Bitte nicht stören' oder sowas, flog sie auch schon auf. Steve stand mit einmal mitten in meinem Zimmer und ich wusste, das würde jetzt nicht einfach werden.
Steve starrte mich gefühlte sieben Stunden an bis er endlich den Mund aufmachte:
"Deine Mutter hat mir gerade verheult die Tür aufgemacht und du siehst auch nicht unbedingt besser aus. Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist. Komm schon, sag mir, dass es nur ein dummer Spaß von dir war und Chris noch lebt und nicht tot ist!" Ich hatte mich in der Zwischenzeit in meinem Bett aufrecht hingesetzt. Ich schüttelte den Kopf:
"Kann ich leider nicht." Steve sackte auf dem Boden zusammen und starrte nun nicht mehr mich sondern meinen Teppich an:
"Wie...?" Ich verstand nicht ganz und fragte:
"Was wie?" Er hob seinen Kopf:
"Wie ist er ...?" Er brach ab und ließ seinen Blick wieder sinken. Ich stand von meinem Bett auf, setzte mich zu ihm auf den Boden und erzählte ihm die ganze Geschichte. Nach einer halben Stunde war er über alles informiert. Über die Ankunft im Hotel, das Eisslaufen, den Adler und den ganzen Rest. Schweigen. Keiner von uns sagte etwas. Mit Tränen in den Augen stand Steve auf und sagte leise, ich konnte es kaum verstehen:
"Es tut mir Leid. Ich geh dann mal."
"Bist du dir sicher, dass du so nach Hause kommst?"
"Ja." Er drehte sich um und öffnete meine Zimmertür. Ich rannte ihm hinterher. Unten an der Treppe tauchte plötzlich meine Mutter auf. Sie sah Steve erschrocken an:
"Was ...?" Dann sah sie zu mir:
"Du hast es ihm erzählt?" Ich nickte und Steve ging zu ihr und gab ihr die Hand:
"Es tut mir Leid." Nun war sie es, die nickte. Dann wollte er gehen, aber meine Mutter hielt ihn auf:
"Halt Steve, du bist völlig durch den Wind. So kannst du nicht nach Hause gehen, ich fahr dich schnell."
"NEIN!" Meine Mutter blieb abrupt stehen:
"Warum?"
"Sie haben doch selber damit zu tun, was verständlich ist, aber bitte tun Sie mir den Gefallen und spielen Sie nicht die Starke. Das hilft keinem. Außerdem brauche ich frische Luft." Mit fließenden Tränen drehte er sich um, verließ das Haus und verschwand in der immer dunkler werdenen Nacht.
Ich rannte zurück in mein Zimmer und schloss hinter mir ab. Das war grausam. Sein Gesicht, als er in meinem Zimmer stand, werde ich wirklich nie vergessen, diese glasigen grünen Augen und der lehre Ausdruck. Er war sein bester Kumpel gewesen.
Am Wochenende traf ich mich wie verabredet mit Tom. Er erzählte mir, dass unsere Reisegruppe am Boden zerstört war, als sie von allem erfahren hatten. Sie legten sogar eine Trauerminute für ihn ein. Dadurch fühlte ich mich irgendwie besser, ich merkte, dass ich nicht alleine war und dass noch mehr Leute um meinen Bruder trauerten.
Tom zeigte mir seine Wohnung und machte uns Tee und etwas zu essen. Seine Wohnung war sehr schön, mit vielen Details gemütlich eingeräumt und die ganze Zeit hüpfte ein niedlicher Dackel namens Lilli um meine Beine herum. Ich war noch den ganzen Abend bei ihm und wir saßen auf der Couch und erzählten. Er schaffte es mich abzulenken und ich fühlte mich in seiner Gegenwart ziemlich wohl. Doch da war noch ein anderes Gefühl, jedes Mal, wenn Tom mich anlächelte, machte sich ein kribbeliges Gefühl in meinem Magen breit. Seit langer Zeit verspürte ich zum ersten Mal wieder so etwas wie Glück.
-Zehn Jahre später-
Es heisst ja, die Zeit heilt alle Wunden, aber ich fand, es sollte lieber heißen: die Zeit lindert die Wunden, denn ganz verschwinden würden sie nie.
Ich habe wieder angefangen zu leben, doch vergessen habe ich meinen Bruder und all die schrecklichen Momente nie. Mittlerweile war ich 26 Jahre alt. Ich wohnte immer noch in Berlin in einer eigenen Wohnung und arbeitete als Mediendesignerin. Mein Abschlusszeugnis wurde damals noch erstaunlich gut. Ich hatte fast nur einsen und einige zweien, kaum zu glauben, denn nach unserem Urlaub war ich eigentlich nur noch Deko im Klassenraum gewesen. Körperlich anwesend, aber geistig nie. Ich hatte einfach nicht die Nerven dazu. Außerdem waren viel zu viele unangenehme Situationen gewesen, zum Beispiel allen sagen zu müssen, wo denn Christoph sei. Von den meisten meiner Freunde hatte ich mich abgewendet, außer von meiner besten Freundin Caro. Es war sogar eine erstaunlich feste Bindung zwischen uns entstanden und sie war es immer noch, aber nicht nur sie war zu einem wichtigen Teil in meinem Leben geworden, Tom auch. Wir hatten uns damals immer öfter getroffen und waren zusammen. Ich musste mich zwar erst an den Gedanken gewöhnen, einen festen Freund zu haben, aber es fühlte sich einfach nur gut an. Vor einer Woche hat er es dann endlich geschafft, zu mir zu ziehen.
Mit achtzehn war ich von zu Hause ausgezogen. Ich hatte es dort einfach nicht mehr ausgehalten und musste raus. Meine Eltern lebten nur noch wie Mumien vor sich hin, wollten die ganze Zeit von allen und jedem Mitleid. Schlimm. Ich glaube, das Zimmer von Chris sah immer noch so aus wie er es verlassen hatte. Beide hatten nie auch nur einen Schritt hinein gewagt. Meine Nase war gestrichen voll und ich suchte mir meine eigene Wohnung, was am Ende auch die richtige Entscheidung war.
Doch wenn ich gewusst hätte was noch alles auf mich zukam, dann ...
Endlich war es Herbst und ich bekam meinen lang ersehnten Urlaub. Ganze zwei Wochen lang. Toll. Ich liebte diese Jahreszeit, es war nicht mehr so heiß, alle Bäume sahen bunt aus und verloren ihre Bätter und so weiter. Schon bei dem Gedanken an den Herbst fühlte ich mich immer entspannt.
Was genau ich den Wochen machen sollte, wusste ich noch nicht. Nur eine Sache und das war, dass ich mit Caro im Alexa shoppen gehen wollte. Auf diesen Tag freute ich mich schon besonders. Endlich konnte ich mal wieder Geld für mich und meine DVD- und Spiele-Sucht ausgeben und natührlich für Klamotten. Mit Caro shoppen zu gehen war jedes Mal ein Highlight, es war wie eine Safari mit einem Jäger, einem Schnäppchenjäger. Meine Freundin rannte immer von Geschäft zu Geschäft und fand auch immer richtig geile Klamotten, die dann nicht einmal sehr teuer waren. Ja, sie war eindeutig die shopping Queen von Berlin. Aber nicht nur beim einkaufen war sie top, sondern auch so wenn man zusammen unterwegs war, weil sie so einen guten Humor hatte und wenn sie mal schlecht drauf war, dann konnte man sie ganz leicht aufheitern. Außerdem war sie immer für mich und ihre anderen Freunde da. Sie war hilfsbereit und einfühlsam. Die perfekte Freundin halt.
Ich hörte das Türschloss klappern, dies musste bedeuten, dass Tom von der Arbeit kam. Er arbeitete seit drei Jahren in einem Restaurant als Kellner. Ich hockte schon seit einer Stunde hier in der Stube und wartete auf ihn, weil wir essen gehen wollten. Tom steckte seinen Kopf durch die Zimmertür:
"Hallo, Hallo!" Ich lächelte und antwortete:
"Hey." Er ging wieder und kam kurz darauf erneut rein. Tom drückte mir einen Kuss auf den Mund, dann sah er mich mit seinen strahlenden Augen an:
"Wollen wir dann gleich los?" Ich nickte:
"Ja, hab mich schon den ganzen Tag drauf gefreut."
"Naja denn..." Er zwinkerte mir zu. Wir zogen uns beide um und machten uns frisch. Ich trug ein enges, schwarzes Kleid. Es ging mir bis zur Hüfte und darunter befand sich ein Rock aus Tüll. Ich liebte dieses Kleid einfach, ich hatte es mir erst vor einer Woche im Internet bestellt und es passte einfach perfekt. Ich ging zu Tom und drehte mich im Kreis:
"Na? Nimmst du mich so mit?" Er verzog das Gesicht:
"So willst du dahin gehen?" Ich schaute verwundert an mir herunter und stemmte die Arme in die Seiten:
"Wieso? Was ist denn?" Tom zog seine rechte Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Eigentlich war ich mir sicher gewesen, es würde ihm gefallen, aber da war ich wohl auf der falschen Spur gewesen.
"Nun sag schon. Was ist mit dem Kleid?" Er schüttelte mit dem Kopf, was mich noch mehr verunsicherte. Ich ließ die Arme wieder sinken und sah ihn hilfesuchend an. Nach einer halben Schweigeminute bewegte er sich endlich zu einer Antwort:
"Du stiehlst mir die Show, wenn du so gehst. Du siehst viel zu gut aus. Da gucken ja alle nur noch auf dich." Ich fing an zu grinsen:
"Aaaachsooo, na wenn das so ist. Was wäre denn so schlimm, wenn ich ein bisschen Aufmerksamkeit bekommen würde?"
"Das wäre weit aus mehr als nur ein BISSCHEN Aufmerksamkeit."
"Na und?" Er zog mich zu sich ran:
"Das ist kein Problem, so lange du weißt, das du zu mir gehörst." Ich tat, als wenn ich überlegen würde und kassierte einen bösen Blick und einen Boxer gegen die Schulter.
"Spaß, da kannst du dir sicher sein."
"Denn is ja gut", er küsste mich sanft.
Wir hatten einen Tisch in dem besten Restaurant der Gegend bestellt und nach einer halben Stunde waren wir auch endlich auf dem Weg dorthin. Der Abend war einfach perfekt gewesen, das Essen war super und die Atmosphäre dort richtig angenehm.
"Glaubst du, dass der Alexa heute sehr voll ist?", Caro ging neben mir und schmatzte an ihrem Vanillesofteis herum.
"Weiß nicht. Ich denke schon, weil es da drin schön kühl ist." Caro nickte:
"Glaub auch." Ich bekam bei dem Anblick von Caros Eis auch Lust auf etwas Kühles, aber ich war ja leider so dumm gewesen und hatte mir keins gekauft. Heute war es wirklich extrem heiß, die Sonne brannte schon richtig auf der Haut. Ich musste immer extrem aufpassen, keinen Sonnenbrand zu bekommen. Warum hatte ich nicht so eine Haut wie Caro, sie wurde immer richtig schön braun und nicht rot wie einen Tomate. Um die Hitze auszuhalten, waren wir gerade auf dem Weg zum Shoppingcenter. Das Alexa war der Hammer, einfach der perfekte Ort zum Einkaufen. Jetzt mussten wir nur noch über die Straße gehen und wir waren da. Caro schmatzte weiter:
"Wo gehen wir als erstes hin?" Ich zuckte mit den Schultern:
"Keine Ahnung, wo möchtest du denn hin?"
"New Yorker? Mal gucken was die heute alles Feines haben." Ich nickte nur. Dagegen zu reden brachte sowieso nichts, weil wenn sie so guckte wie jetzt gerade, dann war sie mehr als fest entschlossen.
Die Ampel wechselte auf grün und die Massen von Menschen stürmten über die Straße. Heute war es echt voll, als wären alle Menschen Berlins unterwegs und dann diese Hitze. Durch die Autos stand die Luft hier sowieso immer. Vor dem Alexa standen auch so viele Leute und die meisten mit einem dicken Eis in der Hand. Mittlerweile hatte ich das Gefühl, ich wäre die einzige Blöde gewesen, die sich keines gekauft hatte. Doch die ganzen Menschen sprangen plötzlich alle zur Seite, als eine Gruppe wild gewordener Jungs - oder junger Männer, was auch immer - Richtung Eingang Alexa stürmten. Auch Caro war beiseite gelaufen und war aus meinem Blickfeld verschwunden. Nur ich wurde leider nicht verschont und reagierte zu langsam, ich wurde von hinten von einem Typen gerammt und flog auf den Boden.
Nein... Ich bekam Panik, aber nicht weil ich hingefallen war, das nicht. Bitte nicht. Das hatte ich doch schon einmal geträumt. Genau das gleiche. Was war denn das? Es konnte doch nicht immer alles was ich träumte, in Erfüllung gehen. Wie damals, das Chris abgestürzt war. Das war gruselig.
Nun hoffte ich einfach, dass jetzt nicht das passieren würde, an was ich dachte.
Meine Tasche landete vorm Eingang des Kaufhauses. Mir tat mein Knie weh und ich war noch etwas schockiert. Ich sah mich nach dem Jungen um, aber der Typ war weiter gerannt. Puh, Erleichterung machte sich in mir breit. Es passierte also nicht. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich zu mir um. Ich fing an zu weinen. Diese blauen, eisblauen Augen und die blonden Haare würde ich immer wieder erkennen, egal wie viele Jahre vergangen waren. Er kam auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte:
"Tut mir Leid, ich konnte nicht so schnell ausweichen." Mein Körper zitterte und ich konnte nichts anderes tun, als ihn einfach nur anzustarren. Unentschlossen was er tun sollte, fing er unbeholfen an zu lächeln. Irgendwann legte sich meine Hand wie ferngesteuert auf seine und er half mir hoch. Ich sagte nichts, keinen Ton und mein Magen zog sich zusammen.
"Alles gut?", er sah mich mitfühlend an. Ich war wie hypnotisiert, es war furchtbar. Ich fühlte mich wie in einem meiner Albträume, wo ich vor etwas weglaufen wollte, aber nicht vorwärts kam. Das einzige was ich hinbekam, war den Kopf zu schütteln. Nein, NICHTS war gut. Die Schmerzen vom Sturz spürte ich kaum noch. Dafür quälte mich eine andere Frage: Erkannte er mich denn nicht? Er sah mir direkt in die Augen, aber gab keinen Laut von sich oder irgendeine andere Regung des Erkennens. Er fragte noch einmal:
"Alles in Ordnung?", diesmal mit ernsterem Gesicht. Ich schüttelte erneut den Kopf und meine Tränen flossen noch stärker. Er legte seine Hände auf meine Schultern:
"Hast du Schmerzen?" Eigentlich wollte ich nichts sagen, aber ohne seine Frage zu beantworten, fielen mir die Wörter einfach so aus dem Mund:
"Du lebst", hauchte ich und er grinste daraufhin und sagte:
"Natürlich lebe ich." Ich stotterte weiter:
"A ... A ... aber wie kannst du? Wie hast du...? Wie kann das sein?"
"Was genau kann wie sein?"
"Aber warum hast du dich denn nie gemeldet?" Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht:
"Hast du dir den Kopf angestoßen?" Mein Kopf schüttelte sich wie von selbst:
"Nein, hab ich nicht! Ich heule mir Jahr um Jahr die Augen aus dem Kopf, versuche damit klar zu kommen das du tot bist und du? Und du rennst hier wie ein Irrer ganz fröhlich umher!", aus meinem Schluchzen wurde ein Schreien. Er sah total erschrocken aus, als würde er in einer Geisterbahn sitzen und antwortete:
"Ich glaube doch, dass dein Kopf was abbekommen hat. Was redest du denn da?" Ich wurde wieder ruhiger, hörte auf so zu schluchzen. Wollte der mich verarschen oder war das gerade wirklich sein Ernst?
"Chris, du bist mein Bruder. Erkennst du mich denn nicht gar nicht mehr?"
"Chris? Wer ist denn bitte Chris?" Sein Blick blieb finster:
"Na du! Hör bitte auf so zu tun, als würdest du mich nicht mehr kennen." Er nahm die Hände von meinen Schultern:
"Aber ich kenne dich doch gar nicht und ich heiße auch nicht Chris! Mein Name ist Vince, du Verrückte."
"Vince?"
"Ja Vince. V-I-N-C-E", er sah mich durchdringend an. Ich konnte es aber nicht glauben und fragte einfach weiter:
"Bist du dir sicher? Du siehst nämlich GENAU aus wie mein gestorbener Bruder."
"Gestorben? Dann ist es doch noch verrückter, dass ich das sein soll und ja verdammt, ich bin mir sicher." Ich konnte es nicht glauben, mein Bruder stand vor mir und kannte mich nicht. Seine eigene Schwester. Ich glaubte ihm nicht und wie ein Vince sah er auch nicht aus, der Name passte überhaupt nicht zu ihm. Er musste meine fassungslose Miene bemerkt haben, denn er fügte hinzu:
"Es tut mir Leid, aber ich bin es wirklich nicht." Er war es. Das war ich mir ganz sicher, weil bis auf die kürzeren Haare hatte er sich überhaupt nicht verändert. Na gut, er sah älter aus, mehr aber auch nicht. Da fiel mir ein, dass ich immer ein Foto von ihm in meinem Portmonaie hatte, in meiner Tasche. Ich hielt nach ihr Ausschau, aber durch die ganzen Menschen hatte ich zu tun, sie zu finden. Da! Entdeckt. Bevor ich losrannte, um sie zu holen, sagte ich zu Chris - oder Vince - wie auch immer:
"Warte! Ich kann es dir beweisen. Ich muss nur schnell meine Tasche holen. Nicht weglaufen. Bitte!" Er sah mich komisch an und nickte:
"Ich warte." Caro hatte sich in der Zwischenzeit aus der Menschenmasse befreit und kam zu uns rüber. Sie blieb vor Vince stehen und reagierte genau wie ich:
"Christoph?", mit weit aufgerissenen Augen musterte sie ihn von oben bis unten. Er verdrehte die Augen:
"Nein!" Ich sagte noch einmal:
"Warte bitte hier", ging zum Eingang und hob meine schwarze Tasche auf. Caro lief mir hinterher. Anscheinend war es ihr zu gruselig mit ihm alleine zu bleiben:
"Ist das wirklich Chris?"
"Ich weiß es nicht, ich hab auch gedacht, dass er es ist, aber er streitet es ab und sagt, dass er Vince und nicht Christoph heißt."
"Aber er sieht genau aus wie er, aber das wäre doch unmöglich oder? Ich meine, wie soll er das damals überlebt haben?"
"Ich weiß es doch auch nicht. Weißt du, wie das gerade für mich ist? Hör bitte auf mich zu löchern", ich heulte wieder wie ein Wasserfall. Caro hob beschwichtigend die Hände und sagte:
"Klar, 'tschuldige. Was suchst du?" Ich kramte in meiner Tasche umher:
"Ich suche mein Portmonnaie, da ist ein Foto von ihm drin." Ich bekam tausend Dinge in die Hand: Spiegel, Handy, Taschentücher, mein Schlüssel und noch so einigen Quatsch, aber meine Geldbörse wollte einfach nicht auftauchen. Immer wenn man in Eile war und was suchte. Ha! Da war es ja.
"Ich habs gefunden." Caro freute sich:
"Na los dann. Boah, ich hab so ein Herzrasen." Da stimmte ich ihr zu, mein Herz fühlte sich ebenso an, wie eine tickende Bombe. Ich drehte mich um und sah zu Vince hinüber ... Wo war er denn bloß? Ich rannte los und suchte. Na toll, er rannte noch gerade um eine Ecke. Ihm hinterher zu laufen hätte nichts gebracht, dafür war er viel zu schnell und ich mit meiner drei in Sport konnte da nicht mithalten. Er war weg.
Meine Freundin hatte es dann auch endlich mitbekommen: "Wo ist er denn hin?" Ich war komplett verzweifelt und wusste nicht mehr, was ich jetzt machen soll. Da bin ich hier um zu shoppen und einen schönen Tag zu erleben und da treffe ich meinen toten Bruder (die Betonung liegt auf toten) Bruder wieder. Das war doch alles sowas von absurd. Hatte ich mir das nur eingebildet? Oder schlief ich schon wieder? Ich haute mir sicherheitshalber gegen den Kopf. Nein, ich schlief nicht und außerdem hatte Caro ihn ja auch gesehen und meine Fata Morgana bestätig. Langsam verwandelte sich meine Trauer in Wut um. Warum hatte er nicht gewartet? Ich hätte es ihm beweisen können. Aber nein. Ich merkte, wie mir Alles schon wieder zu viel wurde, mein Herz raste, mein Puls stieg an, alles drehte sich und Caros Stimme verschwamm in meinem Ohr: "Catty? Catty? Alles in Ordnung? ....."
Punkt. Aus. Ende.
Ich öffnete die Augen und sah in das Gesicht von Tom.
"Sie wacht auf", hörte ich ihn sagen.
"Zum Glück.", das war Caros Stimme. Es dauerte einige Minuten bis ich vollkommen zu mir kam.
***
"Was? Wo bin ich?", ich schrak auf. Tom drückte mich zurück auf die Couch, auf der ich lag.
"Ganz ruhig, du bist zu Hause. Alles gut." Ich brauchte ein Paar Sekunden bis mir die Geschehnisse wieder ins Gedächtnis kamen:
"Wo ist Chris? Und wie bin ich hier her gekommen?" Caro betrat gerade mit einem Glas Wasser die Stube:
"Du bist plötzlich in Ohnmacht gefallen, da hab ich Tom angerufen und er hat uns vom Alexanderplatz abgeholt."
"Okay und Chris?" Sie zuckte mit den Schultern:
"War weg." Tom sprache leise weiter:
"Caro hat mir schon erzählt was passiert ist. Ich glaube nicht das er es war. Ich habe ihn zwar nicht gesehen, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Wie soll das überhaupt möglich gewesen sein?" Ich wurde wütend, auch wenn ich nicht wusste warum:
"Wie das möglich sein sollte? Du hast ihn wohl ganz aufgegeben! Mich würde lieber mal interessieren warum er mich nicht erkannt hat und gesagt hat, er würde Vince heißen."
"Na, weil er es nicht war." Ich sprang von der Couch auf:
"Du hast ihn doch gar nicht gesehen! Natührlich war er es. Ich werde doch wohl noch meinen eigenen Bruder wieder erkennen!" Tom packte mich an den Armen und schüttelte mich wie einen Milchshake:
"Catty! Er ist tot! So hart wie das auch klingt, es ist nunmal so." Die Wut in mir stieg mehr und mehr. Mein Gesicht glühte und hatte mit Sicherheit die Farbe einer Tomate (War ja langsam nichts neues mehr). Das er es einfach nicht kapieren wollte machte mich fertig. Ich stieß ihn von mir:
"Nein! Ist er nicht. Ich weis was ich gesehen habe." Er senkte den Kopf:
"Es tut mir Leid, ich will dir doch nur helfen und mache mir Sorgen um dich.", dann machte er eine kleine Kunstpause und sprach weiter:
"Vielleicht sollten wir mal einen Termin bei einem Arzt machen." Hatte ich mich gerade verhört?
"Was hast du da eben gesagt?" Mir stiegen schon wieder Tränen in die Augen, langsam kam ich mir vor wie eine Heulsuse. Tom machte Anstalten mich in den Arm zu nehmen, ich stieß ihn aber immer wieder von mir weg.
"Mensch Catty! Ich will dir doch nur helfen, sowas schlimmes kann man halt nicht einfach so verarbeiten. Das ist doch nicht schlimm!" Ich kochte, ich konnte nicht glauben was ich da gerade gehört hatte, dachte der etwa ich wäre bekloppt?
"Ich bin doch nicht verrückt! Ich brauche keinen Psychologen, Mitleid oder sonst etwas! Und wenn du diesen Vorschlag gerade ernst gemeint hast, dann brauche ich dich auch nicht mehr.
"Meinst du das Ernst? Ich habe doch nie behauptet das du verrückt bist."
"Nein! Aber gedacht und das reicht. Du kannst mich mal!" Mit diesen Worten drehte ich mich auf dem Hacken um und ging aus dem Raum. Caro lief mir hinterher:
"Catty! Bleib doch hier. Tom hat es doch nur gut gemeint." Ich blieb stehen und drehte mich wie eine Furie zu ihr:
"Ich kanns nicht mehr hören! Gut? Daran war gar nichts gut! Du hast ihn doch auch gesehen!"
"Ja, er hatte wirklich Ähnlichkeit mit ihm, aber mehr auch nicht. Er wusste nichtmal von was oder wem wir geredet haben."
"Na toll. Na wenn das so ist, lassen wir ihn doch da draußen umher irren, auch wenn er vielleicht sein Gedächtnis verloren hat oder so. Ist ja nicht schlimm. Ich weis das er es war und da könnt ihr nichts dran ändern und für bekloppt erklären lasse ich mich auch nicht!" Ich stürmte aus der Wohnung und hatte mir nur noch meine Tasche geschnappt. Ich würde ihn finden und sein Geheimnis herraus bekommen, auch wenn es das letzte war was ich tue.
Ich saß im nahegelegenden Park auf einer Bank und träumte vor mich hin. Die frische Luft und ruhige Umgebung hatte meinen Puls wieder normalisiert. Die sponnen doch beide und dann fiel mir auch noch Caro in den Rücken, die Chris alias Vince ja selber gesehen hatte. Wie auch immer, ich versuchte die Gedanken zu verdrängen, ich wollte mir nicht noch mehr meinen Kopf darüber zerbrechen.
Der Park war voll mit Leuten und Hunden. Sie sahen alle glücklich aus und freuten sich über ihre vierbeinigen Freunde. Besonders gefiel mir ein kleiner, schwarzer Chihuahua, der fröhlich und mit wedelndem Schwanz über die Wiese hüpfte. An den Stellen wo, das Gras etwas höher wurde, war er kaum noch zu sehen.
Christoph und ich hatten uns auch immer einen Hund gewünscht, doch unsere Eltern waren grundlegend dagegen gewesen. Aber wir hatten mal einen Hamster. Wir hatten ihm den Namen Purzel gegeben und er war unser größter Schatz gewesen, bis Christoph den mal in der Badewanne schwimmen lassen wollte und er dann abgesoffen ist. Wir waren extrem traurig gewesen und Chris hatte noch ewig lange ein schlechtes Gewissen, doch ein paar Jahre später mussten wir drüber lachen. Der Hamster wurde von unseren Eltern auf dem Hof vergraben. Am Anfang sind wir beide immer noch dorthin gegangen und hatten kleine, selbst geflückte Blumen darauf gelegt. Das wurde aber immer seltener, bis wir ihn irgendwann beinahe vergessen hatten.
Ich war froh, dass es wenigstens Erinnerungen gab, denn die hielten mich immer noch ein bisschen vom durchdrehen fern. Die Zeit damals war so schön gewesen. Eine heile Welt ohne Probleme. Nagut, als Kind sah man die Welt sowieso noch viel bunter und lustiger. Ich fing an zu überlegen, was ich tun sollte. Chris in Berlin zu finden, dürfte ziemlich schwierig werden. Ich ging noch einmal im Gedanken durch was ich alles über ihn wusste:
Also:
1. Er hieß Christoph. Nein, stopp. Vince.
2. Er war jetzt 27 Jahre alt und ich wusste wie er aussah.
Toll, das war nun wirklich nicht besonders viel. Mit diesen paar Infos würde ich ihn nie finden und eine Vermisstenanzeige bei der Polizei würde auch nichts bringen, weil er für tot erklärt wurde und er selbst nicht wusste, wer er war. Warum eigentlich? Amnesie? Das wäre das einzige, was mir einfallen würde.
Ich nahm meine Tasche und holte mein Portmonaie heraus. Was? Wo war denn das Foto von ihm hin?! Ich suchte weiter in meiner Geldbörse, aber es war nicht drin. Ich kramte auch in meiner Tasche umher. Nichts. Es war weg. Ich musste es verloren haben, als ich Ohnmacht gefallen war. Mist. Vielleicht lag es noch vor dem Alexa, was sehr unwahrscheinlich wäre. Doch einen Versuch war es wert.
***
Die S-Bahnen waren heute zum Glück nicht besonders voll, denn das war das letzte was ich noch hätte gebrauchen können.
Der Ton der S-Bahn erklang und kurz darauf hörte ich die Stimme der Tram: Alexanderplatz, bitte steigen Sie in Fahrtrichtung rechts aus. Ich folgte der Anweisung und rannte zum Alexa. Immernoch tummelte sich ein Haufen Menschen vor dem Shoppingcenter und der Geruch von Bratwürsten stieg mir in die Nase. Am liebsten hätte ich mir eine gekauft, aber ich war leider nicht wegen dem guten Essen hier. Mein Blick huschte über den Boden, in alle Ecken und Ritzen. Nirgends war das Foto zu sehen. Das brachte doch alles nichts, war ich wirklich gerade am durchdrehen? Ich brauchte etwas Ruhe, also entschloss ich mich dazu, doch noch etwas zu Essen zu kaufen und dann zurück nach Hause zu fahren, aber nicht mit der Bahn. Ich rief mir ein Taxi, das mich abholen sollte.
Wenn man aus dem Fenster sah, konnte man schon die Dämmerung über der Stadt erkennen. Die Straßen füllten sich langsam, weil jetzt für viele das Nacht- und Partyleben begann. Eigentlich hatte ich auch vor gehabt, feiern zu gehen, aber das ließ ich in meinem Zustand wohl besser, ehrlich gesagt hatte ich auch gar keine Lust mehr. Der Taxifahrer sah über den Rückspiegel genau in meine müden und verheulten Augen:
"Geht es Ihnen gut?" Ich nickte und wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht:
"Alles gut." Der Fahrer sah mich immer noch mitleidig an:
"Nagut, wenn Sie das sagen, aber wenn sich etwas daran ändern sollte, dann sagen Sie bescheid, ja?"
"Mach ich. Danke." Er nickte und wendete sich wieder dem Verkehr zu. Es gab also doch noch hilfsbereite Menschen. Gut zu wissen. Schon bald hielt das Taxi vor meinem Haus und ließ mich aussteigen:
"Gute Nacht." Er winkte:
"Schlafen Sie gut!" Dann fuhr er los und verschwand in die Nacht und ich bewaffnete mich für die nachfolgende Situation, auch wenn ich eigentlich noch gar nicht bereit dafür war.
Ich stolperte in die Wohnung und das erste was ich sah: Tom. Ich hatte eigentlich gehofft, dass er schon schlief. Er stand mit trauriger Miene da und musterte mich von oben bis unten. Wahrscheinlich wollte er checken ob es mir gut ging. Ich stolzierte an ihm vorbei direkt ins Bad und eine viertel Stunde später lag ich im Bett und versuchte zu schlafen. Was mir erst nicht gelingen wollte, aber irgendwann siegte die Sucht nach Schlaf.
***
Gut. Mir wollte also niemand helfen oder glauben. Ich war ganz allein auf mich gestellt. Nicht, dass ich mich selbst bemitleiden wollte, aber ein bisschen war ja wohl erlaubt. Ich fühlte mich einsam und ich konnte wirklich nichts anderes tun als zu warten, aber ich konnte doch nicht Ewigkeiten irgendwo rumsitzen. Ich glaube nicht, dass Vince irgendwann einfach so zu mir kommen würde. Ich würde jetzt einfach jeden Tag zum Alex fahren, wenn ich konnte und dort auf ihn warten.
Ich saß gerade in einem Cafe um die Ecke und aß Frühstück. Ich hatte keine Lust die ganze Zeit diese Blicke von Tom ertragen zu müssen. Das Brötchen wollte gerade in meinen Mund wandern, als plötzlich Braune Flüssigkeit auf meinem Tisch landete. Kaffee. Na danke. Ein paar Tropfen waren auch auf meiner Leggin gelandet.
"Oh ... scheiße. Das tut mir Leid. Entschuldigen Sie bitte." Ein Typ mit braunen Haare tupfte, mit einer fast leeren Tasse in der linken Hand, mit einem Taschentuch auf meinem Tisch umher.
"Schon gut." Ich war nicht in der Stimmung mich aufzuregen.
"Haben Sie auch noch was abbekommen?" Ich hob den Kopf, sodass ich ihn genau ansehen konnte:
"Ein bisschen, aber nicht viel." Er hörte auf zu wischen und sah mich an. Er wirkte aufeinmal total nachdenklich:
"Catty? Bist du das?" Hä? Was war denn nun los? Woher wusste er meinen Namen? Ich glubschte ihn aus großen Augen an. Er kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht warum oder woher. Ich antwortete einfach:
"Ja?" Auf seinem Gesicht bildetet sich ein breites Grinsen. Ich sah ihn fragend an:
"Und wer bist du?"
"Ich bins, Steve." Mir fiel die Kinnlade runter.
"Steve?" Er nickte:
"Ja." Okay, das musste ich ersteinmal verarbeiten. Ich hätte ihn NIE erkannt. Aus dem dünnen, albernen Jungen war ein echt hübscher Mann geworden. Seine Arme protzten nur so von Muskeln und sein drei-Tagebart ließ ihn noch männlicher aussehen. Er hätte glatt als Model durchgehen können. Ich deutete auf den freien Stuhl mir gegenüber:
"Setz dich doch." Er folgte meiner Aufforderung.
"Was machst du hier?" fragte ich ihn mit immer noch verwirrter Miene.
"Ich bin für ein paar Wochen zu Besuch bei meiner Mutter und jetzt wollte ich ein bisschen die Sonne genießen." Ich nickte:
"Achso." Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und landete im verschütteten Kaffee. Ich wies ihn darauf hin:
"Ähm .. du hängst im.." Er sah auf den Tisch:
"Aw, scheiße ... naja." Er lachte, dann wandte er sich wieder mir zu:
"Wie gehts dir?"
"Geht so. Könnte besser sein."
"Mhh." Er dachte kurz nach und sprach weiter:
"Hast du alles so einigermaßen verkraftet. Mit damals und so?"
"Ja, eigentlich ganz gut sogar." Steve freute sich:
"Das ist schön zu hören." Ich nickte.
"Wohnst du immer noch in Berlin?", fragte er.
"Jap, genau hier um die Ecke."
"Cool alleine?"
"Mit meinem Freund."
"Achso ... das ist bestimmt schön. Ich wohne mit einer Horde Jungs in einer WG. Das reinste Chaos sag ich dir, aber ist manchmal auch ganz witzig."
"Das würde ich jetzt auch lieber."
"Warum? Läuft es mit deinem Freund nicht so gut?"
"Zur Zeit nicht."
"Mhh ... Das bekommt ihr schon wieder hin."
"Ja." Mehr bracht ich nicht raus, aber dann fiel mir noch etwas ein:
"Sag mal ... Könntest du dir vorstellen, dass Chris das damals überlebt haben könnte?" In seinem Gesicht erschien ein riesiges Fragezeichen:
"Wie meinst du das?"
"Naja, ob er es halt überlebt haben könnte, den Sturz vom Berg meine ich." Steve überlegte kurz:
"Naja, ich war damals ja nicht dabei gewesen, also weiß ich nicht wie weit oder so er gefallen ist, aber möglich ist glaub ich doch alles oder? Warum fragst du?" Ich wusste nicht genau, ob ich es ihm sagen sollte, aber ich entschied mich einfach dafür:
"Naja, weil ich ihn gesehen habe."
"Hä?" Er stützte sich nun noch mehr auf den Tisch.
"Am Alexanderplatz. Er hat mich angerempelt. Er war es. Da bin ich mir sicher, aber Tom und Caro haben mich für verrückt erklärt, obwohl Caro ihn selbst gesehen hat." Seine rechte Augenbraue wanderte nach oben:
"Bist du dir sicher?"
"Ganz sicher."
"Aber ... das wäre doch großartig und warum hast du ihn nicht gleich mitgenommen?"
"Weil er mich nicht erkannt hat und seinen Namen auf Vince geändert hat."
"Okaaay."
"Ich wollte ihm ja ein Foto zeigen, weil er mir nicht geglaubt hat, aber dann is er weggerannt."
"Einfach weg?"
"Ja." Er dachte schon wieder nach. Wir beide schwiegen. Steve trank den letzten übrig gebliebenden Schluck Kaffee aus seiner Tasse und ich biss von meinem Brötchen ab, was bisher immer noch unberührt dagelegen hatte, aber legte es sofort wieder beiseite, weil mir der Appetit vergangen war. Irgendwann brach Steve die Stille:
"Das ist echt krass. Da denkt man die ganze Zeit er ist tot, dabei rennt der ganz in der Nähe umher. Irgendwie unheimlich." Ich nickte, dann fiel es mir auf:
"Du glaubst mir?"
"Klar, warum sollte ich nicht? Ich meine, du hast zwei gesunde Augen und einen guten Menschenverstand und außerdem, wer wenn nicht du könnte Chris eher erkennen? Du kennst ihn am besten."
"Endlich mal jemand, der nicht an meinem Verstand zweifelt." Ich brachte ein kleines Lächeln über die Lippen.
"Wird schon." Er legte seine Hand auf meine und sprach weiter:
"Und was willst du jetzt machen?"
"Ich weiß es nicht, eigentlich hatte ich vor gehabt jeden Tag zum Alex zu gehen, aber das ist Mist."
"Schonmal ans Internet gedacht?"
"Nein, nicht wirklich." Er schnalzte kurz komisch mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
"Na dann lass doch mal auf Facebook gucken." Ich zuckte mit den Schultern:
"Wir könnens versuchen." Ich stand sofort auf:
"Wir gehen schnell zu mir. Tom ist zwar da, aber den beachten wir einfach gar nicht. Du kommst doch mit oder?" Er sprang auf:
"Klar, ich hab doch gesagt das WIR auf Facebook gucken." Zu meiner Überraschung fiel ich ihm um den Hals und quiekte ein leises:
"Danke."
Einige Minuten später ließ ich uns auch schon in die Wohnung hinein. Aus dem Wohnzimmer drang sofort Tom's Stimme hinaus:
"Catty! Endlich bist du..." Er brach ab, als er um die Ecke kam und Steve sah. Dieser sagte leise:
"Hallo." Tom grüßte verwirrt zurück. Ich griff Steve's T-shirt und zog ihn hinter mir her und platzierte ihn auf der Couch.
"Möchtest du was trinken?", fragte ich meinen alten Kumpel.
"Nein, danke."
"Okay, dann hol ich schnell meinen Laptop." Ich rannte los durch den Flur und vorbei an Tom, der immer noch verdattert in der Tür stand. Plötzlich spürte ich einen festen Griff an meinem Arm:
"Wie lange soll das jetzt noch so gehen? Wie alt sind wir denn?"
"Das geht noch so lange wie ich das will und das hat rein gar nichts mit dem Alter zutun." Ich spürte reine Wut in mir, aber in Tom´s Augen konnte man sie ebenso funkeln sehen:
"Aha, und wer ist der Typ da? Bringst du deine Lover jetzt schon mit hierher oder was?"
"Spinnst du jetzt total? Das hat doch nichts mit unserer Situation zu tun."
"Naja, so vertraut wie ihr miteinander umgeht? Dann sei doch bitte wenigstens ehrlich!"
"So. Okay. Falls du es genau wissen willst: das ist Steve, ein guter, alter Kumpel von Christoph und mir, so viel zu der Vertrautheit und er möchte mir helfen. Er glaubt mir wenigstens und denkt nicht ich wäre bekloppt. Falls du mich jetzt entschuldigst, ich werde jetzt meinen Laptop holen und zusammen mit Steve meinen Bruder suchen und jetzt lass mich los, du tust mir nämlich weh!" Sein Griff lockerte sich und ich schüttelte seine Hand ab und ging ins Schlafzimmer. Ich war von mir selbst überrascht, so eine Ansage hatte ich noch nie hinbekommen. Mit einem gestärktem Selbstbewusstsein baute ich den Computer vor mir und Steve auf. Tom hatte sich total benommen auf den Sessel fallen lassen und starrte die ganze Zeit in irgendeine Ecke. Wir gaben zuerst den Namen Vince in der Suchleiste ein. Eine Liste mit tausenden Leuten baute sich vor uns auf.
"Da brauchen wir ja ewig." sagte Steve, doch so lange dauerte es dann doch nicht. Nach einer halben Stunde hatten wir alle, die ein Foto besaßen durchgeguckt, aber er war leider nicht dabei gewesen. So konnten wir ihn also nicht finden.
"Nichts."
"Leider." antwortete ich. Er nickte:
"Aber ein Versuch war es Wert."
"Ja." Enttäuscht schwiegen wir uns wieder an und ich überlegte, was wir als nächstes tun konnten, aber mir fiel nichts ein. Es wäre auch zu schön gewesen.
"Wollen wir nochmal zum Alexa gehen?" Er zuckte mit den Schultern:
"Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass wir ihn dort treffen würden oder dass er uns hier überhaupt über den Weg läuft."
"Was dann?"
"Ich glaube wir können einfach nur weiter die Augen offen halten."
"Ihr seid doch bekloppt. Ihr glaubt doch nicht wirklich das er noch lebt."meldete sich Tom aus seinem Sessel. Ich verstand einfach nicht wie er nur so kaltherzig sein konnte, dass war nie seine Art gewesen. Ich erkannte ihn nicht wieder. Er quatschte weiter:
"Vielleicht war das ja eine Fata Morgana, die du da gesehen hast oder warte, vielleicht war es ja der Geist von Christoph, der jetzt hier in Berlin rumspukt. Eventuell solltet ihr mal in Berlin Dungeon nachsehen gehen, ob er da ist." Ich sprang auf:
"Hast du 'nen Knall oder so? Du führst dich auf wie ein alberner Teenager, du hast sie doch nicht mehr alle und ich soll die Verrückte sein?" Was dann passierte schockierte mich völlig. Bevor ich auch nur etwas tun konnte, hob Tom die Hand und verpasste mir eine fette Ohrfeige. Meine Gesichtshälfte glühte und nahm bestimmt gerade die Farbe einer roten Ampel an. Nach zwei Schrecksekunden kamen mir die Tränen. Steve trat neben mich und sah Tom fassungslos an:
"Alter! Hast du sie noch alle?" Ich stürmte aus dem Raum und hörte nur noch wie Tom zu Steve sagte:
"Verpiss dich lieber. Bevor du dir auch noch eine fängst."
"Ach ein Schläger bist du also, bravo. Ganz toll. Anstatt ihr beizustehen, prügelst du nur um dich. Ein toller Typ bist du. Echt." Damit wandte er sich von ihm ab und lief mir hinterher.
- 10 Jahre zuvor -
Okay, also wenn ich ehrlich war, hatte ich überhaupt keine Lust auf diesen Urlaub. Nicht, dass ich meine Schwester nicht liebte, aber zusammen mit ihr wegzufahren war nicht wirklich meine Traumreise. Naja, ihr zu Liebe habe ich zugestimmt und außerdem hatten unsere Eltern uns den ja geschenkt. Da konnte ich schlecht ablehnen. Besonders als ich das Leuchten in den Augen von Catty gesehen habe, während sie den Umschlag geöffnet und den Gutschein heraus gezogen hatte. Normalerweise wollte ich in den Ferien mit Steve feiern gehen und solche Sachen, aber das konnte ich auch noch nachholen. Doch jetzt mal ganz im Ernst. Warum schickten unsere Eltern uns in einen Winterurlaub? Und dann auch noch mit einem Reisebus? Hätte es nicht Mallorca oder Griechenland sein können und dann ganz bequem mit dem Flugzeug? Reisebusse waren für mich die unangehmste Art des Reisens. Ich meine, man sitzt tausend Stunden umher und der Arsch glüht einem von den Sitzen. Von Bewegungsfreiheit ist kaum zu sprechen. Ich bin nicht sehr groß, aber so klein, dass ich mich hinter einen Sitz klemmen konnte, war ich nun auch nicht. Die Beine lang machen konnte man vergessen und wenn es dann auch noch Stau gab (wie in unserem Fall), ist es noch unerträglicher. Nun ja.
Jedoch muss ich zugeben, dass, seitdem wir hier waren, mir der Urlaub ganz gut gefallen hatte. Besonders das Eislaufen war cool gewesen. Ein Paar blaue Flecke schmückten jetzt zwar meinen schlanken Körper, aber das war nicht weiter schlimm. Das Hotel war auch ganz in Ordnung.
Mein einziges Ziel war es jetzt nur noch, ein richtig gutes Foto zu machen. Das Motiv war mir eigentlich egal. Hauptsache geil.
Ich saß gerade im Hottelzimmer und wartete auf Catty, die nun schon seit gefühlten Stunden im Bad umher rannte. Ich weiß ja nicht wo sie hin wollte, dass sie sich so viel Zeug ins Gesicht klatschte oder was auch immer sie tat, aber ich war mir sicher: wir wollten eigentlich nur ein bisschen wandern gehen. Vielleicht lag es auch an unserem Reiseführer Tom. Catty sah den immer so sehnsüchtig an, ich glaub sie hatte sich verknallt. Wie auch immer,wenn sie nicht bald fertig werden würde, würde ich sie raustragen.
Wenn der Fernseher mir keine Gesellschaft geleistet hätte, wäre ich schon längst eingepennt, dann hätte mein liebes Schwesterchen ohne mich die Gegend erkunden können. Als ich mich gerade auf das Bett zurückfallen lassen wollte, ging die Tür zum Badezimmer auf und Catty stampfte heraus. Und wenn ich stampfen sagte, meinte ich das auch so. Ich sah sie fragend an:
"Was ist?" Catty schaute mich fassungslos an, als wenn ihr Problem offensichtlich wäre:
"Siehst du das denn nicht? Guck doch mal." Auf einmal schob sie ihr Gesicht so dicht an meins, dass ich kaum noch was erkennen konnte:
"Was denn?"
"Da!" Ihr Finger wanderte an ihr Auge.
"Was ist da?"
"Das ist da rot. Was ist denn das?" Ich wusste genau, was es war:
"Das ist ein Gerstenkorn oder wie auch immer das Ding heißt. Geht wieder weg. Wir wollen doch nur wandern gehen, komm endlich." Ich stand auf und zog sie mit.
"Muss ich da igendwas mit machen?" Ich musste einfach nur grinsen:
"Nein. Das geht von allein wieder weg. Komm."
"Naja, wenn du das sagst."
Sie war wirklich ein kleiner Angsthase. Aber ich liebte sie. Wäre ja auch schlimm, wenn nicht.
Da es ja nun endlich losgehen konnte, zogen wir uns beide unsere Jacken an und machten uns auf den Weg in die Lobby und ich hatte das Gefühl: Heute würde noch etwas Aufregendes passieren.
Unseren Wanderpfad hatten wir gefunden. Auf dem Weg dorthin kamen wir an einem echt coolen Klamottenladen vorbei. Ich konnte nicht widerstehen und zog Catty hinein. Doch sie musste den Laden nur zwei Sekunden auf sich wirken lassen und schon war sie hin und weg und rannte von Pullover zu Pullover. Sogar die Preise waren angenehm.
Um nicht gleich total verplant durch den Raum zu laufen, sah ich mich erst einmal um. Der Laden war ziemlich dunkel gehalten und mit farbigen Lichtern beleuchtet. Von der Decke und von überall hingen silberne Schneeflocken, die durch die Lichter in verschieden Farben glitzerten. Der Raum wurde in der von einer Weißen Trennwand geteilt. Auf der Rechten Hälfte waren die Klamotten für die Frauen und auf der linken die für Männer.
Ich erschrak als ich plötzlich von der Seite angesprochen wurde:
"Schöner Laden was?" Ich starrte einem Typen mit grünen Augen ins Gesicht.
"Ja, vorallem die Deko. Wenn die Klamotten jetzt noch genauso cool sind. Perfekt."
"Sind sie. Versprochen."
"Arbeitest du hier?"
"Ja. Der Laden hat mal meinem Vater gehört. Habe ihn übernommen und umgestaltet."
"Gute Arbeit." Ich nickte anerkennend.
"Bist du hier im Urlaub?"
"Ja. Mit meiner Schwester."
"Cool. Ich wohne hier schon seit ich denken kann. Wie heißt du, wenn ich fragen darf?"
"Ich heiße Christoph, aber Chris reicht."
"Achso. Ich bin Markus." Er streckte mir seine Hand entgegen. Ich nahm sie grinsend entgegen.
"Schöne Sache."
"Lass mich raten, du kommst aus ner Großstadt?"
"Berlin. Gut geraten. Woher weißt du...?" Er unterbrach mich:
"Dein Klamottenstil."
"Du musst dich ja auskennen."
"Kann man so sagen."
Während wir uns unterhalten hatten, hatte Catty schon einen riesen Klamottenberg über dem Arm zu hängen.
"Catty! Du weißt schon, dass wir wandern gehen wollen oder?" Sie lachte nur:
"Ja ja. Alles klar, kann ich doch trotzdem mal anprobieren." Ich zuckte mit den Schultern.
Markus lächelte:
"Wenn eine Frau was möchte, kannst du sie nicht davon abbringen."
"Besonders wenn es um Textilien geht." Diesmal zuckte er mit den Achseln.
"Ich geh mich auch mal umgucken" Er nickte:
"Mach das."
Catty verschwand in der Umkleide und ich betrat die Männerhälfte. Am liebsten hätte ich jeden zweiten Pullover mitgenommen, aber der Gedanke an unsere Wanderung stoppte mich. Stattdessen ging ich zurück zur Kasse.
"Nichts gefunden?" Markus sah mich erstaunt an.
"Doch. Zu viel." Wir lachten beide.
"Du kannst dir auch gerne was zurücklegen."
"Ne, ne. Ich glaube wenn meine Schwester fertig is, dann kostet das genug."
"Kann sein."
Wir unterhielten uns noch eine Zeit lang. Irgendwann kam Catty dann mit glücklichem Gesicht aus der Umkleide:
"Das passt alles perfekt!" Ich nickte:
"Ich habs geahnt. Willst du das alles mitnehmen?"
"Ja, ja, ja, JA!"
"Dann schleppst du das aber mit dir umher."
"Schaff ich." Total wribbelig kam sie zu uns.
Markus scannte jedes Teil ein und packte sie sorgfältig und dreifach ein, damit wir die Tüte mitnehmen konnten, ohne das der Schnee die Klamotten ruinierte.
Das Geld war wir uns eingepackt hatten war damit weg.
"Okay, das gehört euch und vielen Dank, dass ihr mich besucht habt." Markus streckte Catty den Beutel entgegen. Diese nahm den dankend an. Bevor wir gingen fragte ich noch:
"Achso, gibst du mir noch deine Nummer?"
"Ahja klar warte." Wir wollten gern die Nummern tauschen, weil Markus mir erzählt hatte, dass er bald mal nach Berlin kommen und wir uns dann vielleicht treffen wollten.
"Gut. Alles eingespeichert?"
"Klar, ich schick dir dann eine Nachricht über whatsapp und dann hast du meine Nummer auch." Markus grinste:
"Mach das."
Wir verabschiedeten uns und verließen den Laden. Ich bezweifelte stark das Catty den Beutel die ganze Zeit wirklich alleine schleppen würde. Egal, ich würde ihr am Ende sowieso wieder helfen. Hauptsache sie war glücklich.
Wir nahmen wieder unseren eigentlichen Weg auf und stampften durch den Schnee.
Komischer Weise hatte Catty sich noch nicht einmal über ihre Tüte beschwert. Wahrscheinlich war sie einfach nur über glücklich und wollte ihre neuen Klamotten gar nicht mehr loslassen. Ich nahm mir vor, morgen noch einmal in den Laden zu gehen, weil das eine paar Schuhe was da gestanden hatte mich nicht mehr los ließ. Eigentlich voll peinlich, jetzte dachte ich schon genauso wie ein Frau über Schuhe nach.
Leichter Schnee fiel vom grauen Himmel hinunter und verzierte uns mit kleinen Flocken. Noch nie hatte mich der Winter so begeistert wie hier. Ich verspürte auf einmal so eine ungeheure Lust Catty mit einem richtig schönen Schneeball abzuwerfen. Ich blieb kurz stehen und wartete bis sie ein paar Schritte vor mir ging. Sie bekam es nicht mal mit, sie musste ja total in Gedanken sein. Egal. Ich hockte mich hin und nahm eine ganze Hand voll Schnee. Ich matschte ihn fest zusammen und holte aus. BUMS! Ich traf sie voll an der Mütze, wo sich jetzt ein großer Schneeabdruck befand. Sie wirbelte herum und sah mich entsetzt an. Ihr Blick war einfach zu geil und brachte mich zum lachen. Ihr entsetzter Blick verschwand schnell, als sie begriff was ich getan hatte und holte tief Luft:
"Na Warte! Das bekommst du zurück!" Catty stellte den Beutel auf den Boden und griff sich ebenfalls eine Menge Schnee. Bevor ich auch nur reagieren konnte feuerte sie auch schon los. Daneben! Mit einer eleganten Drehung hatte ich mich aus der Schusslinie gewendet und rannte auf sie zu. Anstatt sich erneut was von der weißen Pracht zu nehmen, hob sie die Tüte wieder auf und rannte weg:
"Lass das! Ich weiß was du machen willst!"
"Achja? Was denn?"
"Du willst mich waschen!"
"Erraten!"
"Geh weg!" Durch das ganze gerenne wurde mir richtig warm. Zwischendurch nahm ich mir die Zeit um mir wieder einen Haufen zusammen zu kratzen, um anschließend mit dem Schnee in der Hand wieder weiter zu laufen.
"Chris! Wenn ich plitschnass bin, können wir unsere Wandertour sofort abbrechen!" Das stimmte.
"Mist. Hast recht. WAFFENSTILLSTAND!"
"Das glaub ich dir nicht!" Ich holte ein weißes Taschentuch aus meiner Jackentasch und wedelte damit umher:
"WEIßE FLAGGE!" Sie sah sich zu mir um, glaubte mir endlich und verlangsamte ihr Tempo:
"Ist gut! Jetzt frier ich wenigstens nicht mehr."
"Ich auch nicht! Ich schwitze."
"Na dann weiter."
"Hauptsache wie vertieft du warst." Ich hatte sie eingeholt.
"Wo war ich vertieft?"
"Weiß ich doch nicht. Du hast nicht mal mitbekommen wie ich stehen geblieben bin."
"Achso ja, keine Ahnung."
"Naja ich kann mir schon denken an was oder besser gesagt, an wen du gedacht hast."
"Hae?"
"Ist egal. Komm los. Wir wollen heute noch oben ankommen."
Im schritttempo gingen wir weiter und erreichten ein Schild wo drauf stand: Noch ein Paar Meter, dann haben sie es geschafft. Catty keuchte:
"Zum Glück. Ich kann nicht mehr."
"Jah, wird Zeit."
Plötzlich flog ein riesiger Schatten über uns und verdeckte kurzzeitig die Sonne. Ich sah nach oben. Ein Adler!
***
Ich hechtete weiter den Berg hinauf. Meine Schwester rief mir die ganze Zeit irgendwas zu, was ich aber nicht verstehen konnte, weil der Wind zu doll um meine Ohren pfiff. Ich hatte einen riesen Adler ins Vesier genommen. Ein Foto von diesem Tier und ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich stellte mir schon Steves große Augen vor, wenn er das Bild sehen würde und dann hätte ich auch gleich ein Tier für meinen Vortrag für die Schule, in Biologie.
Da der Weg ziemlich rutschig war, hatte ich zu tun mein Tempo zu halten und dabei nicht lang hinzufallen. Würde ich einen Schlitten bei mir haben, wäre das die perfekte Bahn um eine wilde Rutschpartie zu machen.
Ich konnte schon das Ende des Berges sehen, noch ein kleines Stück. Catty schlitterte immer noch hinter mir her und murmelte irgendein Zeug, aber warten war jetzt leider nicht drin.
Der Adler flog leider davon als ich mich endlich den Berg hinauf gekämpft hatte. So ein schöner Vogel. Das Bild konnte ich nun knicken.
Ich drehte mich um zu meiner Schwester, die total aus der Puste und mit Tränen in den Augen ankam und wo hatte sie ihren Beutel gelassen?
"Was ist denn?" Sie schluchzte nur.
"Hallo?"
"Ich....Ich..." Ich merkte, dass sie sich erst beruhigen musste, deshalb wollte ich einen Schritt auf sie zu machen. Mein rechter Fuß verlor jedoch den Halt und ich rutschte ab. Scheiße! Ich schaffte es noch gerade so mich am Rand fest zuhalten.
Ich wusste nicht wie ich mich fühlte. Mein Herz raste, es raste so schnell, dass ich das Gefühl hatte ich stünde kurz vor einem Herzinfakt. Langsam merkte ich was ich fühlte: Nach dem Schreck, kam nun die Angst. Ich hatte Höllenangst. Ich wollte noch nicht sterben. Der Wind blies um meinen Körper und die Flocken, die vorhin noch wie leichter Glitzer um mich wirbelten, wurden mir mit Kraft in mein Gesicht geschleudert, sodass sie zwiebelten und ich das Gefühl hatte, dass meine Haut jeden Moment aufriss. Meine Hände brannten vor kälte und wurden taub, ich konnte mich kaum noch festhalten. Zum ersten Mal in meinem Leben fing ich an zu weinen. Meine Augen füllten sich mit der salzigen Flüssigkeit und ließen mir die Tränen wie ein Wasserfall übers Gesicht laufen. Sie tropften unter mir in die Tiefe. Ich gab mir Mühe nicht nach untern zu sehen, schaffte es aber nicht. Ich baumelte keine Ahnung wie viele Meter über der Schlucht und mir wurde bei dem Anblick sofort schwindelig. Schnell wandte ich meinen Blick wieder ab. Mein Körper fing an zu schwitzen, viel stärker als vorhin. Reiner Angstschweiß. Keinen Boden unter den Füßen zu haben und keine Möglichkeit sich irgendwo abzustützen, war mit Abstand das schlimmste was ich jeh gefühlt hatte. Catty hatte sich auf den Boden fallen lassen und streckte mir ihre Hände entgegen. Ich griff nach ihnen. Sie versuchte mich wieder hinauf zu ziehen, aber stattdessen zog ich sie immer weiter an den Rand. Mir wurde schlecht. Mir wurde bewusst, dass ich sterben würde. Mein Leben war vorbei. Meine Schwester zog mit voller Kraft immer weiter, aber sie rutschte immer weiter zur Klippe. Sie sagte mir die ganze Zeit, ich solle nicht loslassen. Doch ich musste es tun, sonst würden wir beide sterben. Warum war ich nur so dumm gewesen? Ich versuchte an was schönes zu denken, was in dieser Situation aber ziemlich schwierig war. Ich war kurz vorm sterben und hatte keine Möglichkeit mich von meinen Eltern oder meinen Freunden zu verabschieden. Das schmerzverzogene Gesicht meiner Schwester trieb mir noch mehr Tränen in die Augen. Ich musste sie genau jetzt loslassen, sonst wäre es zu spät. Das war die schwerste Entscheidung die ich jeh getroffen habe. Mein Blick verschwamm. Ich sagte meiner Schwester lebewohl, was mir mein Herz zeriss und lockerte einen Finger nach dem anderen. Sie versuchte krampfhaft mich weiter festzuhalten, was ihr nicht gelang. Die letzte Berührung die uns verband verschwand und mit einem Ruck fiel ich in die Tiefe. Die Umgebung lief an mir vorbei, wie ein fahrender Autoreifen. Der Wind zog mit so einer Kraft an mir, dass ich meine Mütze verlor. Mehr merkte und spürte ich nicht, außer das mein eigener Schrei in meinen Ohren wiederhallte. Mein eigener Schrei kam mir so schrill und fremd vor. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht wie ich sterben würde, aber das es so früh und auf eine so schreckliche Art passieren würde, hatte ich NIE erwartet. Um mich herum wurde alles schwarz. Bewusstlosigkeit breitete sich aus. Zum Glück, denn so würde ich wenigstens ohne starke Schmerzen sterben. Mein Leben war vorbei.
"Leg ihm mal noch die zweite Decke um!"
"Meinst du nicht die anderen Decken und Wärmebeutel reichen?"
"Mensch. Der Junge ist völlig unterkühlt."
"Ich sag doch wir hätten ihn ins Krankenhaus bringen sollen! Aber du meintest ja, du bekommst alles alleine hin."
"Wozu habe ich denn Ärztin gelernt?"
"Um Menschen im Krankenhaus zu helfen?"
"Ich streite mich jetzt nicht mit dir vor dem Jungen."
"Ist ja gut. Bekommst du ihn wieder hin? Die Platzwunden sahen ganz schön schlimm aus und die restlichen blauen Flecken und Wunden auch nicht gerade besser."
"Ja. Die Wunde am Kopf habe ich schon genäht. Sie war zum Glück nicht sehr groß und innere Wunden kann ich ausschließen."
"Sehr gut. Was ihm wohl passiert ist?"
"Ich weiß es nicht, aber auf jedenfall muss es schrecklich für ihn gewesen sein."
"Als wir ihn gefunden haben, habe ich gedacht er ist nicht mehr zu retten."
"Er hat großes, sehr großes Glück gehabt. Er hat jetzt aber schon wieder eine höhere Körpertemperatur."
"Glaubst du er wird bald wach?"
"Ich denke schon."
"Ich werde ihm mal einen Tee machen, dann kann er den gleich trinken, falls er wach wird."
"Gute Idee."
***
Nachdem ich ihnen noch ein bisschen zu gehört hatte, öffnete ich die Augen. Sie brannten fürchterlich und ich konnte nur leichte Umrisse erkennen.
"Er wird wach!", hörte ich die Frauenstimme wieder. Über mir beugte eine junge Frau mit langen blonden Haaren. Jedenfalls glaubte ich das sie jung war, denn meine Augen spielten noch nicht so mit. Ich hörte Schritte und kurz darauf erschien auch der Mann in meinem Blickfeld. Ich kannte die Menschen nicht. Die Frau legte mir ihre Hände aufs Gesicht:
"Hallo. Kannst du mich hören?" Ich nickte.
"Wie sieht es mit dem Sehen aus?" Ich nickte wieder. Auf dem Gesicht der Frau erschien ein Lächeln:
"Das ist gut. Mein Name ist Sonja und das ist mein Mann Roy."
"Wo...bin...ich?", stockend fielen die drei Worte aus meinem Mund. Diesmal antwortete der Mann:
"Bei uns im Ferienhaus. Wir haben dich Gestern gefunden." Ich kapierte es nicht:
"Gefunden? Wie gefunden?"
Roy wollte gerade antworten, da stieß ihn seine Frau zur Seite und sagte:
"Das erklären wir dir später. Du bist hier in Sicherheit und in guten Händen. Ruh dich noch ein bisschen aus, bis du dich klarer fühlst."
Eigentlich wollte ich es wissen, aber Sonja hatte Recht. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er fünf Kilo schwer und brummte. Sobald ich die Augen schloss, wurde es ein wenig besser, jedoch nicht sehr viel. Mit dem ausruhen war ich also einverstanden, aber schlafen wollte ich trotzdem nicht, denn meiner Meinung nach hatte ich noch ein anderes Problem und zwar ein viel größeres, als einen brummenden Schädel. Denn so sehr ich meine Gehirnzellen auch anstrengte , ich konnte mich nicht daran erinnern, was vor den letzten fünfzehn Minuten passiert war. Aber es wurde noch schlimmer: ich wusste nicht einmal wer ich war oder Sonstige Informationen. Mein Gehirn musste mir einen Streich spielen. In ein paar Minuten würde es bestimmt wieder vorbei sein. Ich sah nach rechts in den Raum. Ich befand mich in einer Holzhütte . Den Möbeln nach zur Folge, in einer Küche. Auf dem Holzboden lag ein großer, roter, altmodischer Teppich. Darauf stand ein brauner Tisch mit vier Stühlen. Sonja stand an der Küchentheke und hantierte gerade mit einer Tasse umher. Ich ließ meinen Blick weiter gleiten. Dort waren zwei Fenster, ein Hirschgeweih an der Wand, ein kleiner Schrank und ich lag auf einer roten, rauen Couch, in einer Decke eingewickelt. Roy musste den Raum verlassen haben, da ich nur Sonja entdecken konnte. Ich sah wieder zu ihr und genau in diesem Moment, drehte sie sich um und kam mit der Tasse in der Hand auf mich zu. Als sie bei mir ankam setzte sie sich auf die Couch-Kante:
"Hier trink einen Schluck."
"Was ist das?"
"Einfacher Kräutertee." Ich setzte mich auf und nahm ihr die Tasse aus der Hand, wobei sie die nicht ganz los ließ. Zum Glück, denn so wie meine Hände zitterten und nicht viel Kraft in sich hatten, hätte ich die Tasse auf jedenfall fallen gelassen. Ich trank mehrere Schlücke, denn mein Hals fühlte sich ausgetrocknet an. Der Tee tat echt gut. Ich fühlte richtig wie er mich von Innen wärmte. Ich setzte die Tasse ab und nickte:
"Danke." Sonja lächelte:
"Nicht dafür. Fühlst du dich schon ein wenig besser?"
"Naja, noch ziemlich schlapp, aber sonst ganz gut." Sie freute sich und bevor ich noch etwas sagen konnte, fragte sie:
"Wie heißt du denn?" Ich wollte antworten, aber ich wusste es nicht. So sehr ich auch nachdachte, ich kam nicht darauf. Mein Gehirn war ein einziges schwarzes Loch. Sonja sah mich fragend und viel erwartet an.
"Ich. Ich weiß es nicht." Nun sah sie mehr erschrocken aus:
"Du weißt es nicht?" Ich schüttelte meinen Kopf und ließ mich wieder zurück ins Kissen fallen. Sie atmete einmal tief ein und aus und sagte:
"Okay. Das ist nicht schlimm. Kannst du dich an etwas anderes erinnern? Wohnort, Alter, Familie und vielleicht an das was mit dir passiert war, bevor wir dich gefunden hatten?" Ich kramte noch einmal mein Inneres durch, aber da war nichts. Völlige Leere und das sollte nicht schlimm sein? Nagut. Wahrscheinlich wollte sie mich nur beruhigen. Ich antwortet:
"Nein. Da ist NICHTS."
"Mhh. Okay. Dann leidest du wohl unter einer Amnesie. Gedächtnisverlust."
"Geht das wieder weg?"
"In vielen Fällen schon, aber leider nicht immer."
"Was mache ich denn, wenn es nicht so ist?"
"Warte erst einmal ab."
"Hatte ich irgendwas bei mir? Also ich meine einen Ausweis oder sonst was?"
"Leider nicht. In deinen Jackentaschen war nichts." Das war echt deprimierend. Was sollte ich denn machen? Wo sollte ich denn hin, wenn ich nicht weiß wer ich bin oder wohin ich gehörte? Ich sah Sonja flehend an:
"Und jetzt?"
"Bleibst du erstmal hier oder besser gesagt kommst mit uns nach Hause, weil unser Urlaub Morgen vorbei ist."
"Aber das kann ich doch nicht einfach. Ich muss doch irgendwo eine Familie haben zu der ich muss."
"Wir versuchen es heraus zufinden. Versprochen."
"Danke. Wo sind wir eigentlich?"
"In den Alpen." Was suchste ich denn in den Alpen? Verdammt. Auf einmal ging die schwere Holztür des Zimmers mit einem lauten quietschen auf und Roy trat durch die Tür.
"Oh ihr unterhaltet euch ja. Geht es dir gut?" Sonja grinste:
"Mir? Na klar." Roy rollte die Augen:
"Nicht du. Ich meine doch den Jungen."
"Weiß ich doch."
Ich schüttelte den Kopf und meine Augen füllten sich mit Tränen.
***
Ich wusste nicht wie lange ich so da saß, weinend in den Armen von Sonja. Ich weinte aus Verzweifelung. Die beiden schienen wirklich äußerst nett zu sein, aber der Gedanke woanders Menschen zu haben, die mich vielleicht vermissten machte mich traurig. Oder vielleicht war es auch ganz anders und ich hatte keine Familie mehr, was mich nicht wirklich glücklicher machte. Wenigstens konnte ich von Glück sprechen hier zu sein, dass Roy und Sonja mich gefunden und aufgenommen haben. Sie hätten mich auch liegen lassen können. Aber sie haben es nicht getan und darüber war ich wirklich froh.
Irgendwann kamen keine Tränen mehr. Ich hatte mich vollkommen ausgeheult. Jetzt war aber wenigstens die ganze Trauer aus mir raus. Naja. Jedenfalls ein bisschen. Sonja streichelte mir immer noch über meine Haare:
"Es wird alles wieder gut. Ich verspreche es dir." Ich nickte und richtete mich langsam wieder gerade auf, so dass ich ihr in die Augen sehen konnte. Ihre grünen Augen strahlten mich sympatisch an. Sie war wirklich noch sehr jung. Ich schätzte sie Anfang dreizig oder so und Roy musste ungefähr in dem gleichen Alter sein.
Roy kam zu und hinüber:
"Na? Gehts wieder?" Ich antwortete:
"Ja. Geht schon." Er grinste:
"Sehr gut." Dann wandte er sich an Sonja:
"Ich werde noch schnell zu den Läden fahren, bevor sie zu machen." Sonja stand auf:
"Alles klar. Hast du genug Geld oder soll ich dir noch..?"
"Nein hab genug.", unterbrach er sie.
"Sehr gut. Ich bereite dann das Abendbrot vor, dann können wir alle was essen, wenn du wieder zurück bist." Roy winkte und verließ den Raum:
"Alles klar. Dauert nicht lange. Bis gleich!"
"Jap. Bis dann."
Sonja drehte sich wieder mir zu:
"Ist du Tomatensuppe oder Kartoffelauflauf oder irgendwas anderes? Kannst auch noch selber was vorschlagen." Ich schüttelte meinen Kopf:
"Nein, nein. Kartoffelauflauf klingt echt gut." Sie freute sich:
"Sehr schön, dann mache ich den! Du ruh dich noch ein bisschen aus oder schlaf besser noch. Ich wecke dich dann wenn das Essen fertig ist."
"Okay." Ich tat was sie verlangte und legte mich wieder hin, zog mir die Decke über den Kopf und kuschelte mich so gut es ging ein. Es dauerte auch nicht wirklich lange und schon schlief ich ein.
***
Ich rannte und rannte. Meine Beine schmerzten. Ich befand mich in einem Wald und der Boden war mit grauen Schnee bedeckt. Die Bäume hatten kein Ende, wenn ich nach Oben sah, die Baumkronen verloren sich in der Dunkelheit. Ich wusste nicht wohin ich lief. Der Wald schien auch kein Ende zu haben, denn so weit meine Augen sehen konnten, sah ich nur Wald, Wald und noch einmal Wald. Plötzlich sah ich im Augenwinkel eine weiße Gestalt. Mit Sichherheit kein versteckter Schneemann. Ich drehte den Kopf zur Seite. Hörte aber trotzdem nicht auf zu laufen. Ich sah auch noch einmal zurück, da war niemand. Drehte ich jetzt schon durch? Ich schüttelte meinen Kopf, als wenn ich meine Halluzinationen so davon schütteln konnte. Es schien nicht zu helfen, denn auf einmal tauchte die Gestalt auf der linken Seite von mir auf. Ich sah wieder nach, aber wie erwartet war da nichts. Mit einem Ruck spürte ich plötzlich extreme Schmerzen in meinen Schultern. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Ich wagte einen Blick dorthin. Dicke, große Vogelkrallen gruben sich durch meine Jacke ins Fleisch. Ich versuchte mit den Armen das Vieh auf meinen Schultern weg zu schlagen. Schaffte es aber nicht. Der Vogel hatte seine Krallen so stark in meine Schultern geschoben, dass er sich nicht ein Zentimeter bewegte. Außerdem schmerzte es umso mehr, wenn ich anfing mich zu wehren. Ich schrie und kreischte. Er sollte da weg! Es tat weh! Angst breitete sich in meinem Körper aus und nahm mich unter Kontrolle. Mein Atem wurde unregelmäßig. Meine Stimme versagte. Was wollte das blöde Vieh?
Ich spürte wie ich den Boden unter den Füßer verlor. Ich flog höher und höher. Der Vogel schien mich in die Luft zu tragen. Die Schmerzen zogen weiter hinunter in meinen Rücken und nahm meinen ganzen Brustkorb ein. Langsam konnte ich doch ein Ende der Bäume erkennen. Der Vogel trug mich so hoch, bis wir über dem Wald im tiefen Nebel flogen. Jetzt hatte sich das Bild gewendet und ich konnte den Boden nicht mehr sehen. Es wurde kalt. Schneeflocken wirbelten mir wie Hagel ins Gesicht. Ich sah nach oben. Der Himmel war genauso grau wie der Schnee unten. Plötzlich konnte ich direkt in die Augen des Vogels sehen. Er hatte seinen Hals über meinen Kopf gebeugt so das er jetzt mit seinem Schnabel vor meinem Gesicht hang. Es war ein Adler. In seinen Augen standen Wut und Brutalität. Er sah gefährlich aus und hatte mit Sicherheit keinen Rundflug mit mir vor. Er öffnete seinen Schnabel und krächzte lautstark los. Ich schrie vor Angst mit ihm. Ich erwartete das er mir jeden Moment ins Gesicht hacken würden, aber stattdessen verschwand er wieder und zwei Meter vor mir erschien auf einmal ein Mädchen, in einem weißen Kleid, das um ihren Schlanken Körper wirbelte. Ihr Gesicht war verschwommen, so dass ich es nicht erkennen konnte. Plötzlich hörte ich eine Stimme. Sie kam von ihr.
Geh nicht. Geh nicht. Ich verstand nicht:
"Wohin soll ich nicht gehen? Was?"
Geh nicht. Geh nicht. Während sie sprach, bewegte sich ihr Mund kein Stück. Es schienen ihre Gedanken zu sein. Ich wollte noch einmal fragen, da ließ der Adler mich los. Ich spürte wie seine Krallen sich aus meinen Schultern zogen und wie ich in die Tiefe fiel. Ich schrie und wirbelte mit den Armen, in der Hoffnung ich könnte mich irgendwo festhalten. Doch da kam nichts. Ich fiel und fiel und ich spürte schon wie ich auf dem harten Boden aufschlug. Doch es passierte nicht.
***
Ich riss die Augen auf. Mein Körper war völlig aus der Puste. Ich sah in das schöne Gesicht von Sonja. Sie hatte beruhigend ihre Hände auf meine Schultern gelegt. An die Stelle wo vorher noch die Krallen des Adler waren. EinTraum. Es war einfach nur ein Traum. Ich atmete tief ein. Sonja sah besorgt aus:
"Alles gut. Du bist in Sicherheit." Um ihr zu zeigen, dass ich sie verstand und wusste wo ich war nickte ich.
"Ein schlechter Traum?"
"Ein sehr schlechter Traum." Sie zog mich hoch und nahm mich in den Arm. Dadurch ging es mir gleich besser.
Ich blieb noch eine Weile sitzen, bis sich mein Puls normalisiert hatte. Sonja hatte in der Zwischenzeit den Tisch gedeckt:
"Essen ist fertig, du kannst herkommen, wenn du magst. Kannst aber auch auf der Couch bleiben."
"Nein ich möchte am Tisch sitzen." Wenn ich noch weiter umher lag oder auch nur auf der Couch sitzen blieb würde ich noch durchdrehen.
Roy war auch wohl schon eine zeitlang wieder da. Er kam frisch geduscht und im Bademantel in die Küche und setzte sich neben Sonja und gegenüber von mir hin. Der Auflauf war echt lecker, aber leider bekam ich nicht sehr viel hinunter. Staunend sah ich Roy dabei zu, wie er Gabel für Gabel sich in den Mund schob und am Ende die ganze Schüssel aufgegessen hatte. Sonja hatte nur einen Teller abbekommen, obwohl er ihr anscheinend gereicht hatte. Ich war verblüfft:
"Man kannst du viel essen. Ich wäre geplatzt." Er musste lachen:
"Konnte ich schon immer. In meinem Magen ist halt viel platz." Ich nickte anerkennend:
"Dann scheinst du einen guten Stoffwechsel zu haben."
"Weil er nicht dick ist meinst du?", meldete sich Sonja.
"Genau."
"Das kann sein.", er war immer noch amüsiert.
Nach dem Essen wuschen die beiden das Geschirr ab. Einen Fernseher gab es hier nicht, deswegen sah ich ihnen dabei zu. Eigentlich wollte ich helfen, aber meine Beine wollten noch nicht ganz so.
Nachdem sie das erledigt hatten ging Roy nun schon zum vierten mal durch die Tür und kurz darauf wieder rein. Diesmal hielt er drei große Beutel in der Hand. Er setzte sich neben mich auf die Couch:
"Hier. Ich hab dir ein Paar Klamotten gekauft."
"Echt?"
"Ja. Hier hast du erstmal eine Jogginhose und eine Jeans. Einen Pullover. Ein T-shirt...." Ein Teil nach dem anderen holte er aus den Beuteln. Das musste üebelst teuer gewesen sein. Am Ende lagen fünf Pullover, sieben T-shirts, mehrere Hosen, Socken und noch andere Klamotten vor mir. Soagar Schuhe. Und das sah alles extrem cool aus. Roy hatte echt geschmack. Ich schüttelte den Kopf:
"Das kann ich doch nicht annehmen."
"Und wie du das kannst." Sonja kam auch zu uns:
"Musst du sogar!"
"Ein danke reicht gar nicht. DANKE. Tausend mal Danke."
"Nicht dafür. Hauptsache sie gefallen dir und passen auch.", sagte Roy.
"Ich werde sie gleich Morgen früh anprobieren. Jetzt fühle ich mich noch so dreckig. Möchte mich vorher gerne waschen. Nicht das ich die auch noch dreckig mache." Sonja stimmte mir zu:
"Na klar mach das. Du kannst ja Morgen duschen gehen, während wir unsere Sachen packen. Wir werden so gegen Mittag nach Berlin fahren."
"Okay. Cool. Und was ist, wenn meine Familie hier wohnt?" Diesmal antwortete Roy:
"Ich bin heute Morgen, bevor du aufgewacht bist, noch in die Stadt gefahren und habe mich umgehört und durch gefragt. Habe aber leider keine Anhaltspunkte gefunden. Ich habe aber meine Nummer in einem Amt gelassen und die wollen sich melden, falls sich jemand meldet."
"Okay." Das beruhigte mich ein wenig.
War das ein herrliches Gefühl. Frisch geduscht in sauberen Klamotten zu stecken. Dieser widerliche Blutgestank war endlich weg und vom Schweiß war auch nichts mehr zu finden. Wurde auch wirklich Zeit. Wir waren früh aufgestanden, denn um 12:00 Uhr mussten wir spätestens aus dem Haus sein. Sonja und Roy hatten endlich alles zusammen gepackt und hatten mir auch einen kleinen Rucksack gegeben, damit ich mein bisschen Hab und Gut ordentlich verstauen konnte.
"Soll ich noch was ins Auto tragen helfen?",fragte ich Roy, der gerade dabei war die ersten Sachen zu verstauen.
"Nein brauchst du nicht. So viel ist es ja nicht. Du kannst dich aber schon einmal hinten rein setzen. Wir kommen auch gleich."
"Okay." Also schnappte ich mir meine Tasche und marschierte Richtung Auto. Die Sonne schien und die oberste Schicht des Schnees fing an zu schmelzen. Ganz weg würde er aber eh nicht gehen, weil spätestens heute Abend schneite es wieder, das sah man schon am Himmel. Grauer konnte er nicht mehr werden.
Ich packte meine Tasche hinter den Beifahrersitz, damit ich auf der linken Seite sitzen konnte.
Während ich im Auto wartete, beobachtete ich ein paar kleine Kinder, die gerade dabei waren ihren selbstgebauten Schneemann auf einen Schlitten zu setzen. Die ganze Geschichte schien ziemlich wackelig zu sein, denn der Kopf sah nicht sehr stabil aus. Außerdem mussten sich die kleinen ziemlich anstrengen ihn auf das glatte Holz zu bekommen. Sie bekamen es nicht hin. Entweder viel der Kopf ab oder sie stießen immer mit dem Schneemann gegen den Schlitten, so dass er immer weg rutschte. Ich überlegte dorthin zu gehen und ihnen zu helfen. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich wollte endlich ein bisschen Glück spüren, indem ich jemanden eine Freude machen konnte. Ich öffnete also die Tür und stiegt letztendlich doch aus und wanderte zu ihnen. Als sie mich bemerkten setzten sie den Mann ab und starrten mich mit großen Augen an.
"Hallo.", ich winkte ihnen fröhlich zu und versuchte dabei so nett wie möglich zu wirken, weil wie man ja weiß, hatten Kinder normalerweise Angst vor fremden Leuten. Hatte ich damals jedenfalls immer.
Sie starrten mich immer noch an und beäugten mich von oben bis unten. Ich sprach schnell weiter, bevor sie noch auf die Idee kamen davon zu laufen:
"Ihr wollt den Schneemann darauf stellen setzen oder?", ich zeigte auf den Mann in weiß. Sie nickten alle ganz schnell.
"Soll ich euch helfen?" Wieder sah ich wackelnde Köpfe. Wenn man sie so als ganzes Bild betrachtete, alle zusammen, sahen sie aus wie diese Wackelköpfe, nur das der Kopf sich immer nur von oben nach unten bewegte und ein bisschen schneller. Ich setzte mich in Bewegung und griff den Schneemann an den "Füßen":
"So, dann alle zusammen." Die Kinder zögerten nicht lange und fassten schnell mit an. Innerhalb von 3 Sekunden stand der Schneemann auf dem Schlitten und rutschte hin und her, wenn man ihn nur leicht anstupste. Also sicher war das nicht. Ein Paar Meter und er würde runterfallen.
"Wo wollt ihr denn mit ihm hin?" Ein Junge mit schwarzen, kurzen Haaren antwortete:
"Zu mir nach Hause. Er braucht noch eine Nase und wir wollen das er in meinem Garten wohnt."
"Achso. Stimmt. Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass der gar keine Nase hat." Die Kinder mussten lachen.
"Wenn ihr jetzt mit ihm los fahrt, müsst ihr aber aufpassen das er nicht runter rutscht. Am Besten zieht einer oder zwei von euch den Schlitten und die anderen halten ihn gut fest." Sie sahen noch einmal kurz auf ihr Fahrzeug und dann wieder zu mir und sagten fast im Chor:
"Ja! Machen wir." Alles sahen sie jetzt total glücklich aus, was riesen Freude auch in mir weckte. Der schwarzhaarige Junge meldete sich sofort zum Schlitten ziehen. Ein anderer wollte auch noch, aber der Junge meinte, er würde das alleine schaffen, die anderen sollten ihn lieber festhalten. Sie diskutierten nicht lange und stellten sich alle ihn ihre Position. Ich bekam nacheinander noch ein nettes "Danke" und dann zogen sie ganz vorsichtig los. Ich blieb stehen und beobachtet sie noch, bis sie um eine Ecke bogen. Ab und zu drehte sich noch einmal einer von ihnen um und winkte mir, worauf ich gerne mit der selben Handbewegung antwortete.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, drehte ich mich mit einem strahlenden Gesicht um und sah sofort in die nächsten Gesichter. Sonja und Roy lehnten am Auto und beobachteten oder warteten auf mich. Sie schienen fertig zu sein mit dem packen, also wollte ich sie nicht noch länger stehen lassen und ging zu ihnen zurück. Roy grinste:
"Na? Ein Paar Kinderherzen glücklich gemacht." Ich nickte eifrig:
"Ja. Ich wollte etwas Glück spüren und es hat sehr gut geklappt."
"Das ist schön.",sagte Sonja. Ich wipte auf und ab:
"Und? Wollen wir dann los?"
"Na klar. Steigt ein.", Roy wirbelte mit den Händen Richtung Auto. Sonja und ich zögerten nicht lange und folgten seiner Anweisung.
Also ging es jetzt auf in eine neue Stadt und in ein vorübergehend neues Leben. Mit extrem schnell klopfendem Herzen brachte ich die Fahrt hinter mir.
Über uns ragten die ersten hohen Gebäude auf und man konnte endlich ein Ende erwarten, von diesem ganzen umher gegammel im Auto. Die meiste Zeit der Fahrt hatte ich Gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt und in Auto vorbei ziehende Autos geglotzt, die aber auch nicht wirklich spannend waren. Einmal hatte ich kurz versucht ein Buch von Sonja zu lesen, was aber leider Gottes so eine Schnulze war und überhaupt nicht mein Geschmack. Also hatte ich das sofort wieder weg gepackt und mich der Autobahn gewidmet. Kurzzeitig hatten wir jedoch auf einer Raststätte kurz Pause gemacht. Glücklicherweise war die ein bisschen größer gewesen, also mit Essensverkauf und und Kiosk und sowas. Roy hatte mir eine bisschen Geld für ein Comic geliehen, was zwar auch nicht der Burner war, aber immerhin besser als Romantik, Drama Pur. Das Comic hatte mich dann für eine ganze halbe Stunde beschäftigt, danach hatte ich es durch gelesen oder geguckt, wie mans nimmt. Die gesamte Reiserei war also nicht überaus amüsant gewesen und deswegen war ich jetzt froh endlich mal ein wenig interessantere Dinge an zusehen. Der Verkehr wurde immer schlimmer, umso mehr wir ins Berlin Innere kamen. Ganz kurz konnte ich einmal einen ersten Blick auf den Fernsehturm erhaschen, der einmal zwischen zwei Gebäuden aufgetaucht war. Es dämmerte bereits, weshalb die Lichter am Turm schon in vollem Gange waren und ihn noch ansehnlicher machten. Berlin war echt eine schöne Stadt. Hier und da sah man zwar mal ganz schön verkommende Ecken, aber Großteils war es schon extrem geil. Ich glaube ich würde demnächst mal eine Stadtrundfahrt machen. Irgendwie bekam ich aber immer mehr das Gefühl, dass ich das hier alles schon ewig kannte und mir total vertraut war. Nagut, war vielleicht auch eine Wunschvorstellung oder sowas. Ich schüttelte dieses Gefühl bei Seite und konzentrierte mich wieder auf meine Umgebung. Da fiel mir ein was ich Sonja und Roy noch gar nicht gefragt hatte:
"In welchem Viertel wohnt ihr eigentlicht?" Sonja drehte sich vom Beifahrersitz zu mir um:
"Lichtenberg."
"Ah, okay."
Lichtenberg. Klang eigentlich ganz gut, meiner Meinung nach.
Ich war froh als wir endlich an kamen und ich meinen Hintern aus dem Auto schieben konnte, weil mir der von dem ganzen gesesse echt weh tat. Roy hatte das Auto vor einem großen, klotzigen (man kann es nicht anders sagen), grauen Wohnblock geparkt. Die Umgebung mit einem kleinen Park war ja in Ordnung, aber dieser Klotz da? Das Haus sah wirklich nicht ansprechend aus, aber naja. Die Inneren Werte zählten ja bekanntlich. Sonja und ich gingen schon vor und stiegen die tausend Stufen, bis zur fünften und damit letzten, Etage auf. Na super. Kein Fahrstuhl.
Der Flur des Gebäudes sah auch nicht wirklich anders aus, genauso trist wie von Draußen. Alles grau. Boden, Wände, Decken, einfach ALLES. Ein neuer Anstrich wäre mal nicht schlecht. Sonja musste meinen misstrauischen Blick bemerkt haben:
"Keine Angst, die Wohnung sieht um einiges besser aus, als der Flur hier. Auch, wenn man es nicht glauben konnte was?"
"Irgendwie nicht, nein." Sie lachte:
"Das dachte ich mir." Irgendwann blieb sie dann endlich vor einer Tür stehen und kramte in ihrer übermäßig großen Handtasche umher. Es war wirklich kein Wunder, dass sie so lange brauchte bis sie ihn fand. Als sie ihn im Schloss umdrehte, kam von innen auf einmal ein leises, hohes bellen. Ein Hund? Tatsache. Die Tür war gerade einmal zehn Zentimeter geöffnet, da steckte schon ein kleiner, mega süßer Mops den Kopf durch den Spalt und fing sofort an Sonja die Schuhe zu lecken, dabei wedelete er fröhlich mit seinem Kringelschwanz. Als er mich bemerkte starrte er mich ängstlich an und versteckte sich hinter ihrem Bein.
"Hahaha, du kleiner Schisser. Das ist Gonzo unser Mops. Er wird eine Weile brauchen bis er vollkommen zutraulich ist."
"Okay." Der Hund sorgte dafür, dass ich mich sofort ein bisschen wohler in meiner Haut fühlte. In seinen Augen sah ich Liebe und Treue, zwei Dinge die man in einem zu Hause brauchte. Ich hockte mich auf den Boden und hielt ihm vorsichtig die Hand entgegen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er zurück schrecken und davon laufen würde, aber im Gegenteil. Nachdem er meine Hand eine Weile betrachtet hatte, kam er ganz langsam hinter Sonjas Bein hervor und hielt erst wieder inne, als er an meinen Fingerspitzen ankam. Es kitzelte leicht, als er sie sorgfältig beschnupperte. Ich wagte es und streichelte ihm den Kopf, anstatt sich dagegen zu währen kam er dadurch noch dichter. Sonja fielen die Augen fast aus dem Kopf:
"Gonzo. Was ist denn mit dir los? Es scheint, als hättest du ein glückliches Händchen mit Hunden. Obwohl du ja auch nichts anders gemacht hastl, als all die anderen die irgendwann mal versucht haben ihn zu streicheln."
"Tja....Ich habs halt drauf." Ich wunderte mich über meine eigene Lockerheit die mir plötzlich über die Lippen floss. Wie es aussah, hatte ich nicht nur eine gute Wirkung auf Gonzo, sondern er auf mich auch. Ich fühlte mich tatsächlich viel wohler.
"So, dann komm erst einmal rein.", sagte Sonja.
"Soll ich nicht Roy beim tragen helfen?"
"Ach quatsch. Sind doch nur zwei Koffer und ein Paar Taschen, das schafft er schon. Wenn nicht geht er eben zweimal."
"Okaaaaay, auch nicht schlecht." Sonja grinste:
"Erstens bist du unser Gast und zweitens möchte ich nicht, dass du schon zu schwer hebst."
"Ich denke nicht, dass das ein Problem wäre."
"Ich möchte es trotzdem nicht. Komm mit ich zeig dir dein Zimmer." Ich nahm meine Tasche, die ich abgestellt hatte und folgte ihr durch den Flur. Der Flur war ein halber Laufsteg, total lang und hell erleuchtet durch zwei große Kronleuchter. "Mein Zimmer" gefiel mir extrem gut. Groß, hell, Laminatboden, ein Fernseher und was mir am besten gefiel: ein riesen Hochbett indem locker drei Personen platz hatten. Als wir mit der Wohnungsbesichtigung fertig waren und ich nun alle Zimmer kannte, war Roy endlich damit fertig alle Sachen hoch zu tragen. Er wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn und wandte sich an mich:
"Und? Wie gefällt dir die Wohnung."
"Die ist echt schön. Besonders das Zimmer indem ich schlafe ist total cool. Obwohl das Bad mit der ganzen Deko auch nicht schlecht ist." Deko war untertrieben, über die gesamte Decke, war ein Fischernetz mit Muscheln und Seesternen drin gespannt. Die Tapete sah aus wie die Holzwand eines Strandhauses und über der Badewanne hing ein riesen Palmenblatt. Also in Sachen schön wohnen, lagen Sonja und Roy ganz weit vorne. So schön wie das Bad, war die ganze Wohnung eingerichtet, aber natürlich nicht im Fischerstil. Roy freute sich:
"Das freut mich. Es wird ja schließlich erstma dein zu Hause sein." Zu Hause, hörte ich komisch an. Konnte eine Fremde Wohnung mit Fremden Menschen wirklich zu einem zu Hause werden? Zu MEINEM zu Hause werden? Ich entschloss mich dazu, diese Entscheidung einfach mit der Zeit zu treffen, vielleicht tat mir mein Gedächtnis ja auch den Gefallen und kam zurück, was natürlich die schönste Variante wäre.
Für den Rest des Tages ließ ich es mit dem Nachdenken. Zum Abendbrot hatte Sonja Spaghetti Bolognese gekocht und wir hatten alle zusammen am Tisch gesessen und uns unterhalten. Irgendwann waren wir an dem Punkt angelangt, dass wir über meine Identität sprachen.
"Du brauchst einen neuen Ausweis. Sonst bekommst du und wir nur Schwierigkeiten.", sagte Roy.
"Ja. Und wie soll ich das bitte machen? Die brauchen doch alle Daten. Wohnort, Geburtsdatum, Namen, einfach Alles. Geburtsdatum zum Beispiel, soll ich mir da etwas ausdenken? Sowas wie 13.09.2001 oder was? Nur mit dem Problem das ich westentlich älter erscheine. Oder beim Namen, wie soll ich heißen? Alfred oder was ? Oder Coca Cola. "
"Nun erzähl mal nicht so einen Quatsch.", sagte Sonja. "Aber so wirklich kenne ich mich auch nicht damit aus.", fügte Sonja noch hinzu.
"Wir gehen Morgen einfach mal zum Einwohnermeldeamt. Und zur Polizei vielleicht, falls eine Fandung nach einem Jungen Mann ausgegeben wurde, außerdem werde ich noch einmal am Urlaubsort anrufen, ob es das etwas neues gibt. Aber wie gesagt, dass machen wir alle Morgen und wenn das alles nichts bringt, dann können wir immer noch über einen Namen für dich nachdenken." Damit war ich einverstanden, was ich mit einem leichten Kopfnicken zur geltung brachte. Bis ich schlafen ging, nutzte ich ein wenig das Fernsehprogramm, was aber total für den ***** war. Mal ganz ehrlich! Wen interessierte denn schon, ob die Lippen einer viel zu aufgetackelten Frau aufgespritzt waren? Selbst wenn, warum sollte man sowas wissen wollen, sollen die doch alle machen. Ich meine ich saß hier mit richtigen Problemen rum und die diskutieten über die LIPPEN dieser Frau. Wo blieb da der Sinn? Für mich fehlte er. Selbst die ganzen Serien waren nicht wirklich unterhaltsam. Die einzige Sendung die mir ab und zu ein Lachen auf meine Lippen brachte, hieß "Two and ..." Keine Ahnung wie der Titel weiterging. Irgendwann hatte ich darauf aber auch keine Lust mehr und schaltete den TV aus und setzte mich auf das extra breite Fensterbrett und starrte in den dunklen Himmel und beobachtete die Sterne. Es klopfte an meine Tür: Sonja:
"Hallo. Wir gehen jetzt schlafen. Ich wollte nur fragen ob alles in Ordnung ist."
"Klar. Alles gut. Danke."
"Okay, dann schlaf gut und wenn was ist, du weißt ja wo wir sind, kannst jeder Zeit reinkommen."
"Danke."
"Gut, dann Gute Nacht."
"Gute Nacht." Sie war echt fürsorglich. Ich mochte Sonja und Roy wirklich gerne. Ich hätte wirklich schlimmer irgendwo landen können. Glück im Unglück würde ich Mal sagen.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich um 22:00 Uhr im Bett lag und langsam einschlief. Leider ziemlich unruhig und viel zu aufgeregt auf den morgigen Tag.
Da saß ich nun. Im Flur des Polizeigebäudes, nervös und völlig durcheinander. Sonja, Roy und ich warteten jetzt schon mindestens eine halbe Stunde. Wir wurden hier abgesetzt, weil die netten Beamten erst an einem anderen Fall arbeiten mussten. Komischer Weise schienen nur zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann im Dienst zu sein, also hier auf der Wache jedenfalls. Sonja musste meine Laune bemerkt haben:
"Ganz ruhig, wird schon alles werden."
"Warum brauchen die denn so lange? Was machen die denn da?"
"Mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Arbeit."
"Können die mich nicht vornehmen?"
"Wir sind ja leider nicht beim Arzt." Super. Ich wischte meine Schweißgebadeten Hände an meiner Hose ab. War das wirklich so warm hier drin oder kam nur mir das so vor? Sonja und Roy jedenfalls sahen ganz normal aus. Die hätten hier ja wenigstens Zeitschriften hinlegen können, damit man sich ablenken konnte, aber vielleicht war es auch nur heute so, dass man warten musste. Ich kannte mich mit der Polizei genauso viel aus, wie mit Barbies, also gar nicht. Außer das sie als Freund und Helfer bekannt waren. Oder war das die Feuerwehr? Ach, keine Ahung. Endlich öffnete sich leise die Tür des Büros. Der Mann sah uns an und bat uns herein. Ich hatte die ganze Zeit darauf gewartet, aber jetzt saß ich wie angewurzelt auf dem Stuhl und klammerte mich mit den Beinen fest. Roy, der schon aufgesrpungen war, sah mich mitleidig an:
"Nun komm schon." Ja, ja....nun komm schon. Sehr gut. Er wusste ja nicht was gerade in meinem Kopf vorging. Was, wenn wirklich eine Fahndung heraus gegeben wurde, mit einem Bild oder einer genauen Beschreibung von mir? Dann würde ich wieder zu meiner Familie kommen, zu meiner eigentlichen Familie, nur mit dem Problem, dass ich keinen von ihnen kannte. Mein richtiger Name würde mit Sicherheit auch dabei sein und mein Geburtsdatum, was wenn ich mit meinem Alter vollkommen falsch lag? Ich musste doch schon mindestens achtzehn sein oder so. Und bitte lieber Gott, wenn es eine Vermisstenmeldung geben sollte, bitte lass mich nicht Joel oder so heißen. So hieß gestern Abend nämlich einer im Fernseh und jedes Mal, wenn jemand diesen Namen sagte konnte ich nicht wirklich ernst bleiben. Ich weiß nicht warum, aber der Name war einfach witzig, besonders wenn man den auch noch so scharf betonte, wie die Frau die ihn immer gerufen hatte. JOOEEEEEEEEEEEEEEEL. Nein, danke.
Als Roy merkte, dass ich mich kein Stück bewegte, hielt er mir seine Hand hin und lächelte mir ermunternt zu. Ich nickte einmal heftig und folgte seiner Einladung. Jetzt oder nie, wenn ich jetzt nicht da hinein gehen würde, würde ich nie erfahren ob mich Jemand vermisste oder wer ich war. Der Polizist hielt und freundlich die Tür auf und deutete auf zwei Stühle.
"Setz dich", sagte Roy zu mir.
"Nein, nein, du kannst ruhig sitzen, ich stehe lieber."
"Setz dich jetzt hin." Nagut, dann setzte ich mich eben. War vielleicht keine schlechte Idee, denn meine Beine zitterten extrem stark, nein sie bebten förmlich. Der Polizist stützte sich auf den Tisch:
"Also, was haben Sie denn für ein Anliegen?" Sonja erzählte ihm die ganze Geschichte, wie sie mich gefunden hatten, wie sich mitgenommen hatte und bla bla bla. Wirklich jedes einzelne Detail. Musste das sein?
"Okay, nur noch einmal zusammfassend. Sie haben den jungen Mann hier gefunden, er hat sein Gedächtnisverloren und weiß nicht einen Fakt über sich?"
"Genau", sagte Sonja.
"Okay, ich schaue mal im Computer nach, ob eine Vermisstenmeldung eingangen ist. Einen kleinen Moment bitte."
"Danke." Nun war es also so weit, nun würde ich alles erfahren. Es musste einfach eine geben. Es musste doch Menschen geben die mich vermissten. Oder was, wenn ich gar keine Familie hatte und ich total verzweifelt war und meinem Leben deswegen ein Ende setzen wollte und das leider nicht funktioniert hatte? Nein, nein, nein ermahnte ich mich selber. Sowas durfte ich mir jetzt nicht einreden. Ich kam mir auch nicht wirklich vor, wie ein Selbstmörder. Dann wäre ich doch jetzt vom Charakter her ganz anders oder? Oh Gott, hör bitte auf zu denken.
"So.....", brummte der Beamte. Ich fing noch mehr an zu zittern. Er stützte sich wieder vor auf den Tisch und sah uns, besonders mir ganz fest in die Augen, holte Luft und sagte:
"Es tut mir Leid. Es gibt zwar einige Vermisstenmeldungen, aber leider keine die auf sie passen würde. Vom Aussehen und auch vom Alter nicht. Ich wünschte, ich hätte dir was anderes sagen können." Wieso konnte man nicht einmal Glück haben? Ich wollte nicht, aber ich konnte die Tränen einfach nicht aufhalten und so kullerten die ersten Tropfen über mein Gesicht. Damit es nicht gleich jeder sah, was eigentlich unmöglich war, ließ ich meinen Kopf sinken und ließ mir meine Haare ins Gesicht fallen. Ich spürte wie langsam eine Hand über meinen Rück fuhr, Sonjas. Da sie es eh schon bemerkt hatte, hob ich den Kopf und sah ihr tief in die Augen.
"Wir bekommen das schon hin.", sagte sie zu mir. Ich nickte. Roy hatte sich von seinem Platz an der Wand entfernt und kam zu uns hinüber:
"Na los, wir gehen. Wir haben hier dann nichts mehr zu suchen." Schweigend folgten wir seiner Aufforderung und zusammen und mit Sonjas Arm um meine Schultern, verließen wir das Polizeipräsidium. Ich hörte noch wie der Polizist irgendwas murmelte von "Es tut mir leid", aber ich drehte mich nicht mehr um. Roy führte uns zu einer Eisdiele, die sich in der Nähe befand. Eigentlich hatte ich keinen Hunger auf Eis, aber die beiden meinten, dass würde mir jetzt gut tun, also bestellte ich mir ein fetten Bananensplit mit extra viel Bananen und Sahne. Roy hatte sich Nudeleis gewünscht und Sonja einen Kronkantbecher. Und sie hatten Recht behalten, mit jedem Haps wurde meine Laune etwas besser. Naja, es gab ja viele Menschen die ihren Frust in sich rein fraßen. Normalerweise war ich glaub ich nicht der Typ dafür, aber nun ja, heute durfte ich das. Ich war froh, dass Sonja und Roy bei mir waren. Es war einfach ein schönes Gefühl zu wissen, dass es Jemanden gab der für mich da war und dem ich mich anvertrauen konnte.
***
In den nächsten Wochen versuchten wir immer noch heraus zu finden wer ich war, aber leider ohne Erfolg. Im Internet, in den Zeitungen, im TV oder sonst wo, waren keine Spuren über mich und mein Leben zu finden. Für mich war das nicht sehr überaschend, weil wenn meine Familie schon keine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, dann würden die erst recht nicht zum Fernsehen oder weiß ich wohin gehen. Deshalb hielt sich meine Enttäuschung in Grenzen. Wahrscheinlich hatte ich einfach keine Familie. Ich blieb noch kurz bei dem Gedanken hängen, was mir eine Gänsehaut verursachte. Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich ab zulenken indem ich auf stand und in die Küche ging. Ich brauchte jetzt irgendwas Warmes. Ich öffnete das Kühlfach und suchte nach was Essbarem was sich schnell im Ofen machen lies. Nichts. War ja klar. Sonja und Roy vergaßen jedesmal einzukaufen. Erst wenn der Kühlschrank komplett leer war und auch das letzte Ei verschwunden war kamen sie auf die Idee mal einen Supermarkt zu besuchen. Ich meine, ist ja nicht so das ich nicht auch gehen könnte, aber ich kaufte am Ende immer das Falsche, so dass die beiden doch noch einmal einkaufen gingen.
Ich tastete meine Hosentaschen nach Geld ab, fand aber leider nichts. Da fiel mir das kleine Sparschwein in der Stube ein. Bingo...ich klaute mir fünf Euro und verließ die Wohnung. Den würde ich mir eben einen Döner holen müssen, wenn hier alles alle war. Der Dönerladen war heute erstaunig leer, bis auf zwei Tische an denen ein paar Jugendliche saßen. Ich bestellte mir einen Döner mit extra viel Fleisch und setzte mich an einen Tisch in der hintersten Ecke. Ich musste nicht besonders lange warten und bekam meinen Teller. Hinter dem Mitarbeiter der mir mein Essen brachte tauchte plötzlich ein Junge auf. Ich kannte ihn vom sehen und vermutete ihn in meinem Alter.
"Hey, kann ich mich setzen?", fragte er.
"Klar....warum nicht." Ich deutete mit dem Zeigefinger auf den Stuhl mir gegenüber.
"Ich bin Sascha und du?"
"Gute Frage..." Ich wusste wirklich nicht was ich darauf antworten sollte. Also Sonja und Roy nannten mich seit neuesten immer "Hero". Warum auch immer. Ich hatte einmal nachgefragt wieso sie das taten, aber sie gaben mir keine Antwort. Hero war echt ein dummer Name, wenn man bedachte was er übersetzt ins Deutsche hieß. Wenn ich wenigstens ein Superheld wäre, aber so. Sascha sah mich fragend an:
"Warum eine Gute Frage? Ist doch ganz normal." Ich kannte ihn zwar nicht, entschied mich aber dazu ihm die Wahrheit zu sagen. Viel passieren konnte ja nicht, außer das er mich für verrückt erklärte, weil er mir nicht glaubte:
"Ja, die Frage ist total normal. Jedenfalls für alle anderen Menschen hier im Raum, aber ich kann sie dir leider nicht beantworten." Ich zuckte stumm mit den Schultern.
"Darf ich fragen warum?"
"...aehm klar. Ich hab mein Gedächtnis verloren und weiß es einfach nicht. Im Grunde genommen weiß ich nichts über mich. " Im ersten Moment sah mich Sascha streng an und betrachtete mich von unten bis oben:
"Kein Witz?"
"Nein.", ich schüttelte den Kopf.
"Mhhh. Wie ist das passiert?"
"Du glaubst mir?"
"Sollte ich nicht?"
"Doch. Doch. Klar..." Bevor ich antworten konnte fiel er mir ins Wort:
"Wenn du lügst bekomme ich das schon mit. Ich habe eine gute Menschenkenntnis und merke wenn jemand lügt und wenn nicht. Also....wie ist das passiert?"
"Ich bin gestürzt. Von einem Berg, um genau zu sein....also, dass denke ich zumindest, weil mir das erzählt wurde."
"Von wem?"
"Von einem Pärchen was mich gefunden hat. Bei denen lebe ich zur Zeit auch, weill sie mich mitgenommen haben."
"Wie lange ist das schon her?"
"Ein paar Monate."
"...okay." Sascha sah plötzlich total bedrückt aus und das schiefe Lächeln vom Anfang war verschwunden.
"Möchtest du auch was essen?", fragte ich ihn also.
"Ja gerne." Ich bestellte ihm ebenfalls einen Döner und ließ ihm einen Moment Zeit darüber nach zudenken was ich ihm gerade erzählt hatte. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, aßen wir unsere Döner auf und guckten uns manchmal in die Augen. Nach meinem letztens Biss fand Sascha seine Stimme wieder:
"Also...du fragst dich bestimmt warum ich dich angequatscht habe." Ich nickte einfach nur.
"Ich hab dich schon öfter jetzt hier gesehen, also nicht direkt im Dönerladen, sondern in der Gegend hier und du warst immer nur in Begleitung von den beiden...die dich dann wohl gefunden haben. Richtig?"
"Ja, sie heißen Sonja und Roy."
"Oh okay, naja...jedenfalls sahst du immer so unglücklich aus und warst nie mit Freunden unterwegs. Da hab ich mir gedacht...ich quatsch dich einfach mal an. Und ja, jetzt war die perfekte Gelgenheit. Jetzt weiß ich auch warum du immer so traurig aussahst."
"Okay." Ich wusste nicht so recht was ich darauf antworten sollte. Sascha musste das bermekt haben und plapperte weiter, diesmal etwas freundlicher und mir einem Lächeln im Gesicht:
"Also, wenn du mich fragst. Siehst du aus wie ein....ein..."
"Penner?"
"...ach nein...Blödsinn. Wie ein...."
"Wie ein?"
"..wie ein..."
"Was denn nun?"
"Lass mich, ich muss nachdenken." Er hob seine Hände und hielt sie sich an den Kopf als wenn er sein Gehirn damit anfeuern würde, noch scharfer nach zu denken. Ich sah ihn mit großen Augen an und hatte keine Ahnung worauf er hinaus wollte.
"Torsten!"
"Was? Wer ist denn Torsten?"
"Na du....du siehst aus wie ein Torsten!"
"Ernsthaft?", ich sah ihn skeptisch an.
"Ja! Total!"
"Bist du dir sicher? Ich hoffe nämlich nicht das ich so heiße." Er musterte mich noch einmal:
"Ne. Gut, hast Recht. Wie wäre es mit Björn?"
"Äh,....nein!" Ich schüttelte so heftig meinen Kopf, dass mein Hals knackte. Sascha hob beschwichtigend die Hände:
"Schon gut. Schon gut. Pass auf das dein Kopf nicht abfällt." Ich zeigte ihm einen Vogel. Der Typ war echt schräg. Ich kannte ihn seit einer knappen Stunde und schon spielte er mit mir: "Wer bin ich?"
"Jetzt hab ichs!" Ich übertrieb ein bisschen mit meiner Spannung und schlug mir symbolisch die Hände über den Kopf:
"Echt jetzt?" Ich rechnete nicht mit einem vernünftigen Vorschlag.
"Wie wäre es mit Vince?" Vince? Klang gar nicht so schlecht oder? Ich zuckte mit den Schultern, nickte aber anerkennend.
"Ja...der Name passt jetzt aber wirklich zu dir."
"Wenn du das sagst." Er nickte:
"Lust mit zu mir zu kommen...VINCE?"
"Willst du mich abschleppen?"
"Genau das habe ich vor...ich brauche noch einen "Smash Bros"-Gegner den ich besiegen kann.
"Smash ..was?"
"Komm einfach mit und ich zeigs dir."
"Okay."
***
Dieses "Smash Bros" war einfach der Hammer! Sascha und ich spielten mehrere Stunden und hatten die Zeit komplett vergessen. Das erste Mal seit Wochen, fühlte ich mich endlich wieder wohl und vergaß meine Sorgen. Und wieder starteten wir eine neue Runde und "vermöbelten" uns auf dem TV Bildschirm. Wir bemerkten nicht einmal das Klopfen an Saschas Zimmertür und ignorierten es einfach. Eine Frauenstimmer klang durch den Raum:
"Sascha...ich bin..." Sie brach ab.
"Ja ist gut Mama. Keine Zeit." Seine Mutter also. Höflichkeitshalber stand ich auf und ging zu ihr hinüber. Ich wollte nicht gleich einen schlechten Eindruck machen. Sascha war dadurch gezwungen auf Pause zu drücken und stöhnte laut, als er mir folgte:
"Mama, das ist Vince. Ein Kumpel von mir und bitte fang jetzt nicht wieder mit einem Verhör wie bei jeden meiner neuen Freunde an." Er brubbelte noch kurz was in sich hinein, was sich anhörte wie Die ich jetzt alle nicht mehr habe. Ich musste grinsen und gab seiner Mutter die Hand.
"Dich hab ich ja noch nie hier gesehen, bist du erst neu hier hergezogen?"
"Ja ist er.", antwortete Sascha an meiner Stelle.
"Ich glaube er ist alt genug um mir selbst zu antworten."
"Klar ist er das. Ich bewahre ihn nur vor deiner Neugier."
"Ach, jetzt übertreibst du aber!"
"Ne ne...ich denke nicht."
"Egal....es war nett dich kennenzulernen Vince", sie nickte mir zu und wandte sich wieder an ihren Sohn:
" Es ist jetzt aber schon spät. Morgen ist Schule...also."
"Mama...dein Ernst? Geh einfach raus!"
"Nein..Vince muss sich jetzt leider verabschieden." Damit drehte sie sich um und verließ das Zimmer, brüllte dann aber doch noch einmal in unsere Richtung:
"Sascha! Du hast zehn Minuten!"
Sascha räusperte sich und sagte:
"Tut mir Leid. Meine Mutter ist viel zu fürsorglich. Man sollte meinen das ich in meinem Alter selbst entscheiden könnte, was ich wann was mache." Ich hob nur die Schultern und freute mich:
"Ich find sie nett."
"Du findest wahrscheinlich auch Godzilla nett."
"Godzilla?"
"Ach ist egal. Ich bring dich noch zur Tür"
"Jop." Wir verabschiedeten uns und Sascha gab mir seine Nummer. Bevor ich ganz ging sagte ich noch:
"Danke."
"Wofür?"
"Dafür das du mir Hoffnung gegeben hast, dass doch noch alles gut wird. Und für meinen Namen..."
Sascha nickte und lächelte mir zu.
***
Ich rannte durch den Regen nach Hause. Die Sonne war schon längst gesunken über Berlin und nur die Lichter der Stadt hielten alles am Leben. Der Regen prasselte kalt hinab und der Wind peitschte mir alles ins Gesicht. Doch mich störte in diesem Moment gar nichts mehr. Kein ekliges Wetter, keine nervenden Menschen oder eine aufgespritzte Wasserfontäne von einem vorbei fahrenden Auto. Ich hatte das Gefühl, als wäre die gesamte Pfütze auf mich geschwemmt worden. Plitschnass von oben bis unten. Normalerweise hätte ich dem Idioten in dem Auto schwere Wörter an den Kopf geschmissen, aber jetzt freute ich mich und fühlte mich befreit. Ich drehte und hüpfte über den Gehweg. Jeder der mich sah, musste denken, dass ich gerade frisch aus der Psychatrie ausgebrochen wäre. Doch das konnte ich endlich verneinen, denn ich kam mir endlich ein bisschen normal vor. Ein bisschen wenigstens.
Total durchnässt schloss ich die Tür zur Wohnung von Sonja und Roy auf. Es dauerte nicht lange, da kamen auch schon aufgeregte Füße auf mich zu gerannt: Sonja.
"Hero! Wo warst du? Gehts dir gut?" Ich lächelte als ich sie sah. Am liebsten hätte ich sie umarmt, ließ es aber lieber. Sie stemmte die Hände in die Hüften:
"Hallo! Ich rede mit dir!"
"Was?"
"Hero...wo warst du? Gehts dir gut?"
"Mir ging es nie besser. Ich bin irgendwie....jah ich würde sogar sagen: Ich bin glücklich." Sofort wurde Sonjas Gesicht weicher, musterte mich aber trotzdem noch aus besorgten Augen.
"Und wo warst du? Du bist ja Plitschnass."
"Ja.", sagte ich abwesend und dachte die ganze Zeit an den wunderschönen Tag. Sonjas winkte mit der rechten Hand und schob mich mit der linken den Flur entlang:
"Komm, zieh dir ersteinmal was warmes an. Dann erzählst du wo du warst und was passiert ist."
"Okay." Ich folgte ihrer Aufforderung und ging in mein Zimmer. Die nassen Sachen entsorgte ich in der Badewanne und ich zog mir mein Schlafzeug an und einen Bademantel drüber. Als ich in die Stube kam, warteten Sonja und Roy bereits auf der Couch auf mich und für jeden stand eine Tasse Tee auf dem Tisch. Ich setzte mich in die Mitte von den beiden, was mich gleich noch glücklicher machte, weil mir das ein Gefühl von Familie und zusammenhalt gab. Roy fing an:
"Also dann...erzähl doch mal was du erlebt hast."
"Ich mache es kurz: Ich habe einen neuen Freund namens Sascha. Ich habe alle meine Probleme für einen Tag vergessen und was das beste ist, Sascha hat mir eine neue Identität gegeben, die mir gefällt. Ich fühle mich gerade total wohl." Sonja machte große Augen:
"Wo hast du ihn denn getroffen?"
"Dönerladen."
"Und was meinst du mit einer neuen Identität?"
"Achso, ich hab fünf Euro aus dem Sparschwein genommen.", lenkte ich ungewollt ab. Roy grinste:
"Das ist in Ordnung und jetzt gar nicht wichtig. Du hast Sonjas Frage nicht beantwortet."
"Was? Was hast du nochmal gefragt?"
"Was du mit neuer Identität meinst."
"Ihr müsst mich nicht mehr Hero nennen. Sascha hat mir einen neuen Namen gegeben und so möchte ich auch genannt werden." Entschlossen sah ich die Beiden und Beide glotzten mich aus weit aufgerissenen Augen an. Roy fragte:
"Und der wäre?" Mit stolzer und fröhlicher Stimme sagte ich:
"ICH SEH AUS WIE EIN VINCE."
- zehn Jahre später -
Manchmal ist das Leben wie ein Haufen Dreck. Hart ausgedrückt, aber leider wahr. Doch man kann auch dem Leben in den Hintern treten und sagen: fick dich. Einfach alles in die eigene Hand nehmen und was für sein Glück tun, anstatt zu warten das einem das Glück in die Hände fällt.
War sie verwirrt? Oder hatte sie eine Gehirnerschütterung? Oder hatte sie einfach nur einen zu viel zu sitzen? Egal was es war, sie ging mir tierisch auf die Nerven. Einfach so zu behaupten ich seie ihr Bruder. Vor zehn Jahren hätte ich mich gefreut, wenn jemand so auf mich zu gekommen wäre, aber heute....nein. Ich habe so lange auf meine Familie gewartet und nie hat sich jemand auch nur im geringsten für mich interessiert. Wie auch immer meine Familie war, ich habe für sie einen Dreck bedeutet, denn sonst hätten sie alles Mögliche dafür getan mich zu finden, aber nein, sie taten gar nichts.
Sie sah so verzweifelt und so hilflos aus. Ich bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn ich an ihr tränenverströmtes Gesicht dachte. Genau wie mir, musste ihr was schreckliches wiederfahren sein.
Ich holte das Foto aus meiner Hosentasche. Ich hatte gesehen wie sie das Bild verloren hatte, deswegen war ich noch einmal zurück und hatte es mitgenommen. Der Junge darauf hatte hellblonde Haare, wie ich. Blaue Augen, wie ich und einen schmalen Mund, wie ich. Nagut, ich musste zu geben das dieser Junge auf dem Foto sehr viel Gemeinsamtkeit mit mir hatte, aber viele Leute sehen sich ähnlich. Außerdem war der Typ viel jünger als ich. Wenn ich seinAlter schätzen sollte, würde ich sagen das er so um die 18 Jahre alt war. Ich war jetzt 29 nach meinem Ausweis, als ich damals meine neue Identität bekam wurde mein Alter auf 19 Jahre berechnet und Vince als mein Neuer Name eingetragen. Sonja und Roy hatten nicht mehr lange damit gewartet, weil ich ja nicht ewig ohne Pass umher laufen konnte. Und mein Gedächtnis kam auch nie wieder zurück, also war das die richtige Entscheidung gewesen.
Theoretisch würde das Alter von dem Jungen passen. Ich starrte den Jungen weiter an.
"Hey, na Alter? Was hast du da?" Ich blickte auf und entdeckte Sascha, meinen besten Kumpel am Tisch stehen. Wie jeden Freitag hatte ich mich mit ihm zu Abendessen im Dönerladen um die Ecke verabredet.
"Ein Bild." Er setzte sich.
"Wem haste denn das geklaut? Wer soll das sein?.....zeig mal." Ich reichte ihm das Foto.
"Ey krass, der sieht aus wie du. Bis auf die Frisur und das Alter natürlich. Ist das ein altes Bild von dir?"
"Echt? Findest du wirklich der sieht aus wie ich?"
"Ähm ja, bist du doch oder nicht?"
"Nicht wirklich?"
"Echt nicht? Dann hast du nen Zwillingsbruder." Erstaunt riss er die Augen auf.
"Und wer ist das jetzt?"
"Ein Kerl."
"Das sehe ich auch..."
"Ach man, ich weiß nich wer das ist. Das Bild hatte eine Frau verloren, als..."
"Als?"
"...als sie mir heulend erzählt hat das ich ihr Bruder bin."
"Wie jetzt? Kannst du mir bitte gleich die ganze Geschichte erzählen, bevor ich nach jedem einzelnen Detail frage?"
"Schon gut, schon gut." Ich fing also ganz von vorne an und erzählte ihm von der Hetzjagt mit den Jungs, von dem Zusammenstoß mit der Frau und den ganzen weiteren verlauf.
"Krass....das ja....das ja krass." Er sah mich an wie ein Auto.
"Aha."
"Und hälst du es für möglich?", fragte er mich vorsichtig.
"Ich halte es für seeeeehhhhrr unwahrscheinlich."
"Mhh....kann ich das Foto noch einmal sehen?"
"Klar."
"Also die Ähnlichkeit kannst du nicht leugnen. Ich meine, vielleicht war sie verrückt, aber vielleicht auch nicht."
"Keine Ahnung.", verzweifelt stützte ich meinen Kopf auf den Tisch.
"Wie auch immer, sie hätte bestimmt das Bild gerne wieder, denn ihr Bruder scheint ihr richtig wichtig zu sein."
"Was willst du damit sagen?"
"Das du zu ihr gehen sollte und ihr das wiedergeben sollst."
"WAS? Nein! Nicht noch einmal. Ich habe keine Lust schon wieder eine aufgelöste Frau vor mir stehen zu haben, die mich angeblich für ihren Bruder hält. Weißt du wie komisch das ist?"
"Klar ist es das. Aber du kannst ihr doch wenigstens mal zu hören was sie zu sagen hat. Du fühlst dich schrecklich, aber ich will nicht wissen wie es ihr geht. Überleg doch mal, sie denkt das ihr toter Bruder noch lebt. Was meinst du was sie für Gefühle haben muss. Bitte geh zu ihr und kläre das. Mehr als dazu gewinnen kannst du nicht."
"Meinst du wirklich?"
"Sonst hätte ich das nicht gesagt. Sie muss ja denken das ein Geist vor ihr gestanden hat."
"Mh....vielleicht hast du recht. So hab ich das noch garnicht gesehen."
"Siehste."
"Würdest du mitkommen?"
"Weiß nicht so genau, ich glaube es wäre besser wenn du alleine hingehst."
"Du würdest mir aber echt einen riesen Gefallen damit tun. Weil die Situation echt scheiße wird, da kann ich einen guten Freund gebrauchen."
"Nagut....ich komme mit."
"Danke......Aber ein Problem hätten wir da noch."
"Und das wäre?"
"Ich habe doch keine Ahnung wo sie wohnt."
"ÄHHHÄÄÄÄÄ. stimmt."
"Wir können ja nicht mal ins Telefonbuch gucken...."
"Hat sie dir einen Namen gesagt?"
"Warte....ich glaube das war was mit K."
"Katrin? Karla? Kathleen? Katja?"
"Ne...das war das alles nicht, aber was mit Ka war es."
"Mhh..."
"Katti!"
"Katti? Sicher? Klingt ja wie eine Katze. Wer hat denn so einen Namen?"
"Doch...das war der."
"Gut....dann lass mal zu dir nach Hause und ins Telefonbuch gucken."
"Und Sonja und Roy bescheid sagen."
"Jo..."
"Meinst du echt?", fragte ich Sascha flehend.
"Nun mach!"
"Die ist das bestimmt eh wieder nicht."
"Wenn du nicht klingelst kannst du es nicht wissen."
"Ach, das hat doch keinen Sinn." Ich drehte mich um und ging die Stufen zu dem Haus wieder hinunter. Leider kam ich nicht weit, denn Sascha packte mich am Oberarm und zog mich wieder zurück, woraufhin ich stolperte und ihm mit dem Kopf gegen die Schulter fiel.
"Aua. Sag mal." Ich blitzte ihn böse an und rieb mir die Stirn.
"Hahaha.....nun hab dich nicht so."
"Hast du eine spitze Schulter. Donnerwetter. Das wird bestimmt eine Beule."
"Quatsch. Hör jetzt auf zu jammern du Memme."
"Ja ja. Nerv nicht. Kann ich jetzt bitte gehen, ohne das du mir Schmerzen zu fügst?"
"Nein, du gehst jetzt nicht! Hör mir mal zu: Ich bin jetzt nicht den ganzen Tag hier mit dir umher gelaufen und habe fremde Leute raus geklingelt, nur damit du jetzt kurz vorm Ziel weiche Knie bekommst. Klingel jetzt! Sonst mach ich es."
"Schon gut." Also tat ich halt was er sagte.
"Außerdem so viele Möglichkeiten gibt es jetzt nicht mehr. Wir haben ja schon fast alle hinter uns."
"Auf jedenfall sind alle Kattys mit dem Anfangsbuchstaben K weg."
"Ja, dann heißt sie eben Catty."
"Macht keiner auf."
"Sei nicht so ungeduldig." Wir warteten noch weitere Minuten, aber es schien wirklich niemand da zu sein. So ein Pech aber auch. So traurig war ich darüber jetzt wirklich nicht. Hinzu kam, dass ich keine Lust mehr hatte von Haus zu Haus zu rennen und alle Leute wach zu machen, nur weil ich auf der Suche nach einer Person war. Wir hatten mindestens 40 Kattys bzw. Cattys gefunden, da war es unmöglich diese eine Frau zu finden.
"Klingel noch mal. Vielleicht hat sie es nicht gehört.", spekulierte Sascha. Ich drückte noch mal auf den Schalter.
"Da geht eh niemand...."
"PSCHT! Sei still....", unterbrach mich Sascha. Fragend guckte ich ihn an, als plötzlich eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher drang.
Hallo?
"Ja ähm Hallo. Sind Sie Catty?", fragte ich.
Ja. Und wer ist da?
"Könnten sie vielleicht auf machen? Dann erkläre ich was ich möchte."
Mhhh....in Ordnung.
Das Summen erklang und Sascha und ich betraten das Haus. Wir mussten bis in den vierten Stock latschen, kein Fahrstuhl. Praktisch. Keuchend und völlig außer Atem kam ich oben an.
"Haha...du bist echt so ein Weichei. Du solltest mal Sport machen.", spottete Sascha, der schon vor der Tür stand.
"Ja, mach dich ruhig lustig." Sascha klopfte noch einmal gegen die Tür, weil die Frau sie nicht öffnete.
"MOMENT!", drang von drinnen.
"Hui, schreien kann sie schonmal."
"Tolle Eigenschaft." Lachend warteten wir das was passierte. Nach gefühlten fünf Minuten ging die Tür endlich auf. Eine Frau mit dunkelbraunen Haaren und grünen Augen öffnete die Tür. Das war sie nicht. Ich sah Sascha enttäuscht an und schüttele den Kopf. Die Frau sah und verwirrt an und fragte:
"Was gibt es denn?" Ich räusperte mich und sagte:
"Tut mir Leid. Ich suche eine Frau namens Catty, aber sie sind leider nicht die die ich suche."
"Achso. Aber Frauen mit dem Namen Catty gibt es doch haufenweise hier in Berlin oder?"
"Ja, wir haben auch schon so einige Leute abgeklappert, aber nie war meine Catty dabei."
"Warum suchen sie sie denn?"
"Private Angelegenheit."
"Mhh....tut mir Leid, dass ich es nicht bin."
"Ist nicht schlimm. Müssen wir halt weiter suchen." Wir wollten uns gerade zum gehen bewegen, als sie uns plötzlich noch mal aufhielt.
"Hey Jungs!, eine Straße weiter wohnt noch eine Catty. Ungefähr dein Alter. Vielleicht hast du bei ihr Glück."
"Echt? Auf unserer Liste haben wir nur eine Catty die hier in der Gegend wohnt und das waren sie.", fragte Sascha.
"Ja, vielleicht habt ihr sie übersehen. Ihr geht einfach die Straße weiter runter und in einem orangen Haus, wohnt noch eine."
"Alles klar. Vielen dank.", sagte ich. Als wir das Haus verlassen hatte freute sich Sascha:
"Na dann mal los."
"Dein Ernst jetzt? Ich hab keine Lust mehr.", maulte ich ihn voll.
"Komm jetzt." Wieder packte er mich am Arm und zog mich die Straße entlang. Ich sah bestimmt aus wie ein bockiges kleines Kind, was seinen Lieblingsball nicht bekommen hatte. Nach der Hälfte der Straße gab ich nach:
"Ist ja gut, lass mich los. Ich kann auch alleine gehen!"
"Seh zu! Ich sehe das Haus nämlich schon."
"Wo?"
"Da!", er zeigte mit dem Finger geradeaus.
"Achso."
"Ich versprech dir das ist das letzte Haus zu dem wir heute gehen, weil es hier in der Nähe ist. Ich hab auch keine Lust mehr in den nächsten Bezirk zu fahren."
"Gut. Nach diesem Haus hätte ich nämlich auch einen Sitzstreik gemacht.
"He he, dann hätte ich dich sitzen lassen."
"Dein Pech."
"Wieso meins?" Ich boxte ihm gegen den Arm. Ich hatte mittlerweile zwar schon einige Freunde, aber Sascha war immer noch mein Bester. Mit dem konnte man Pferde stehlen. Ich hoffte das ich ihm genauso ein guter Freund war.
Das Haus sah total verlassen aus. Bis auf die knallige Farbe ganz schön trostlos.
"Ich glaub nicht das sie hier wohnt. Ich mach mir keine Hoffnung mehr."
"Nicht aufgeben. Wird schon." Ich starrte hoch in die Fenster ob ich irgendwo jemanden entdeckte, aber da war niemand. Nur paar kleine Pflanzen.
"Ich hab ein komisches Gefühl."
"Und ich ein gutes. Diesmal glaube ich an einen Treffer, besonders weil wir sie nicht auf unserer Liste hatten."
Wir suchten alle Etagen nach einem Anfangsbuchstaben "C" ab. Erst fast ganz oben wurden wir fündig.
"Dafür das das Haus von Außen so verlassen aussah, wohnen hier ziemlich viele Leute."
"War hier überhaupt eine Wohnung leer?", fragte ich Sascha.
"Ne. Naja, wenigstens sieht das Treppenhaus schon etwas besser aus. Zwar alt, aber gepflegt."
"Mhh."
"Soll ich klingeln?"
"Nein, lass mal. Das mach ich schon.", antwortete ich. Ohne weiter zu zögern tat ich es auch schon. Da meine Hoffnung eh schon verflogen war, war mir das vollkommen egal. Sofort waren leise Schritte zu hören.
"Also da ist schon mal Jemand.", sagte meine Kumpel.
"Scheint so." Plötzlich hörten die Schritte dicht vor der Tür auf und doch öffnete sie sich nicht. Sascha sah mich fragend an:
"Was denn nun?" Ich zuckte mit den Schultern und starrte das Guckloch in der Tür an.
"Er beobachtet uns." Ohne das ich auch nur eine Chance hatte ihn aufzuhalten, hob Sascha die Hand und winkte breit grinsend der Tür zu. Ich schüttelte den Kopf.
"Meinst du das lässt dich netter wirken oder was?" Kaum hatte ich es ausgesprochen ging die Tür auf. Sascha lächelte mich triumphierend an.
"Wer seid ihr?", fragte der Mann, der plötzlich vor uns stand. Ich räusperte mich:
"Wir suchen nach Catty, wohnt sie hier?"
"Du hast meine frage nicht beantwortet."
"Bitte beantworten Sie erst unsere. Es ist sehr wichtig", unterstützte Sascha mich.
"Ja sie wohnt hier. Und nun?" Ich streckte ihm freundlich die Hand entgegen:
"Mein Name ist Chris und ich müsste sie dringend sehen."
"Chris?" Erstaunt riss der Mann die Augen auf.
"Kommen Sie doch rein." Überrascht sah ich meinen Kumpel an, dieser freute sich und war schneller in der Wohnung verschwunden, als ich gucken konnte. Ich folgte seinem Beispiel.
"Gehen Sie geradeaus durch und setzen Sie sich auf die Couch. Wollt ihr...ähem...ich meine Sie was trinken?"
"Nein danke.", antwortete ich verwirrt.
"Okay. Ich komme gleich nach."
"Der Typ ist komisch.", sagte ich zu Sascha. Er winkte ab:
"Der ist einfach nur freundlich. Sowas nennt man auch Gastfreundschaft."
"Aha. Aber warum? Als ich ihm meinen Namen gesagt habe, war er gleich ganz anders."
"Vielleicht...psst er kommt."
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2013
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