Cover

Prolog

 

Sie blickte noch einmal zurück auf das kleine Dorf hinter ihnen, strich sich das Haar hinter ihr rechtes Ohr und seufzte. „War das wirklich eine gute Idee? Ich komme mir so schlecht vor. Hätten wir sie nicht einfach bei uns lassen können?“

Der große Mann neben ihr wandte sich zu ihr um, packte sie an den Schultern und zwang sie, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Ich bitte dich, mach es nicht noch schlimmer, als es sowieso schon ist. Glaubst du etwa, mir fällt es leicht, sie einfach so zurückzulassen? Aber du weißt doch, was sie gesagt hat: Unsere Tochter hat ein großes Schicksal zu erfüllen und – “

„Und sie muss lernen, mit allem Schlechten umzugehen und sich davon nicht zum Aufgeben zwingen zu lassen. Ja, ich weiß. Aber es ist doch wirklich grausam von mir. Ich bin ihre Mutter!“

„Ich bin auch nicht begeistert davon, Liebes, ich auch nicht. Aber bei uns wäre sie nicht mehr länger sicher.“ Traurig blickte er zu Boden und sie erahnte, dass es ihn mehr Kraft gekostet hatte, als er vorgab. Plötzlich strauchelte er und wäre hingefallen, wenn sie nicht schnell seinen Arm gegriffen hätte.

„Averin! Du solltest dich erstmal ausruhen. Ich hätte wissen müssen, dass es dich so schwächt.“ Sanft drückte sie ihn auf den Boden und er setzte sich auf das weiche Gras zu ihren Füßen. Direkt vor ihnen lag der Wald. Mitten in der Nacht sah er sogar noch düsterer aus als am Tage, doch sie wusste, dass keiner von ihnen etwas zu befürchten hatte. Mit zittrigen Fingern strich sie über das kühle Holz ihres Langbogens und schloss für einen Moment die Augen. Es war ihr mehr als schwer gefallen, ihre kleine Tochter bei solch schrecklichen Menschen zurückzulassen, doch das grausamste war, dass diese sich dank Averin nicht einmal an ihre Mutter erinnern würde. Und dieser grobe, engstirnige Mann und seine oberflächliche, dumme Frau würden denken, dass sie noch eine zweite Tochter hätten. Niemand würde sich an die arme Mutter erinnern, die nur die große Angst um ihre einzige Tochter zu diesem Schritt gezwungen hatte.

„Woran denkst du gerade, Talia?“

„Als wenn das so schwer zu erraten wäre.“ Sie blickte ihn an und dann fiel sie schluchzend in seine Arme. Er drückte sie fest an sich, dann strich er ihr über die rabenschwarzen Haare, das einzige, was ihre Tochter von der Mutter unterschied. Ansonsten war sie ihr selbst mit ihren eineinhalb Jahren schon wie aus dem Gesicht geschnitten, dieselben blauen Augen, das gleiche Gesicht, sogar die helle Haut hatte sie ihr vererbt. Von Averin hatte sie nur die blonden Haare.

Nach einigen Minuten richtete Talia sich wieder auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und blickte ihn an. Er sah, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.

„Wir werden sie zurücklassen. So wie Gazahlia es gesagt hat. Doch niemand wird mich daran hindern können, über sie zu wachen. Nicht einmal du, falls du das vorhaben solltest.“ Sie sah ihn fest an und er schüttelte schnell den Kopf.

„Warum sollte ich dich abhalten wollen? Gazahlia hat nur gesagt, dass wir keinen Kontakt zu ihr haben sollen. Aber ich kenne dich doch. Du könntest mitten in ihrem Zimmer stehen und sie würde dich nicht bemerken.“ Dankbar lächelte sie ihn an und dachte bei sich, wie viel Glück sie hatte, mit ihm verbunden zu sein. Obwohl sie erst achtzehn Jahre alt war, hatte sie schon erheblich viel durchgemacht und immer war ihr der zwei Jahre ältere Averin eine unverzichtbare Stütze gewesen, die kein Sturm zerstören konnte. Auf ihn konnte sie sich glücklicherweise immer verlassen, selbst in einer Gegend, in dem er als Todfeind des Landes galt.

"Du weißt, dass sie irgendwann kommen wird, oder? Von ganz alleine." Averin blickte sie ernst an. Ja, sie wusste es. "Erinner dich, wie es mich gezogen hat. Auch in ihr wird es irgendwann anfangen."

Talia nickte nachdenklich. "Sie wird kommen und wir werden sie dann erwarten. Und du wirst ihr ihre Erinnerungen wiedergeben."

Averin erhob sich und zog auch sie auf die Beine. Dann, nach einem letzten Blick auf das schäbige kleine Haus, das nun das neue Zuhause ihrer Tochter war, schritten sie Hand in Hand in den riesigen Wald hinein und wurden von der endlosen Dunkelheit verschluckt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel eins

 

Er freute sich, endlich mal aus dem zwar geräumigen, aber so luftigen Schloss seiner Familie herauszukommen. Man konnte dort nämlich überhaupt nichts anderes tun, als mit irgendwelchen scheinheiligen Adligen über unsinnige Geschäfte zu reden, zum eintausendsten Mal durch die Stadt zu schlendern und sich dabei von jedem Geschäftsbesitzer einladen und irgendetwas aufschwatzen zu lassen oder sich tagein, tagaus im Waffenhandwerk zu üben. Was im Gesamten betrachtet bedeutete, dass es nicht gerade interessant war. Also hatte er beschlossen, im Süden in der Nähe des Lozei-Waldes auf die Jagd zu gehen. Zusammen mit seinem guten Freund und Kampfpartner Eldar, zwei Rittern aus der königlichen Leibwache, einem aufstrebenden Hauptmann und acht von dessen besten Leuten war er vor einigen Tagen von der Hauptstadt aus aufgebrochen. Sie würden wie so viele andere vor ihnen, die dort unten in einer der wildreichsten Gegenden jagen wollten, durch einen breiteren Ausläufer des Lozei durchmüssen. Natürlich gab es auch einen Weg herum, doch war dieser noch drei Tage länger und er hatte einfach keine Lust darauf. Er wollte nur zusammen mit seiner wundervollen, weißen Stute durch die Gegend reiten und mit ihr ein paar Tieren hinterherjagen. Außerdem liebte er es, auf ihr die anderen weit hinter sich zu lassen, da ihre Pferde es mit seinem bei weitem nicht aufnehmen konnten. Er hatte sie damals von seinem Vater, König Minas VI, geschenkt bekommen, als dieser von einem Kampf gegen einige aufständische Rebellen heimkehrte, die die Grenze zu ihrem Nachbarland Ganidia unsicher machten.

Er erinnerte sich noch sehr gut an den Tag, an dem ein Bote berichtete, dass der König zurückkam, und zwar unverletzt und siegreich. Der Prinz war mit seiner Mutter Ianna und seinen beiden Schwestern Kalira und Selle hinausgerannt, um ihn zu begrüßen und seine Mutter hatte die Köche und Mägde angestachelt und sich um all das gekümmert, was getan werden musste, um des Königs Rückkehr so angenehm wie möglich zu gestalten. Doch anstatt sich in dem Schloss und der Umarmung seiner Frau auszuruhen, hatte Minas seinen vierzehnjährigen Sohn zu sich gerufen und ihm mitgeteilt, dass er ein kostbares Geschenk für ihn habe. Neugierig geworden war er seinem Vater zur Weide gefolgt, wo ein armer Stallknecht sich damit abmühte, eine schneeweiße junge Stute am Zaum zu halten.

„Sie ist zwar etwas feurig und besitzt ihren eigenen Willen, aber wir werden schon einen tüchtigen Ritter finden, der sie für dich zureiten kann. Wenn ich nicht schon so viele Pferde hätte und noch besser reiten könnte, wäre sie meine Stute gewesen, aber ich denke, du hast eher Verwendung für sie. Sie ist das beste Pferd, das wir finden konnten und eines Prinzen vollkommen würdig“, hatte der König voller Stolz gesagt.

Doch ihm selbst war gar nicht so wohl bei dem Gedanken gewesen, dieses Pferd reiten zu müssen, zumal sie jetzt den Stallknecht hart getreten und dieser sich sicherlich einen riesigen blauen Flecken am Bein geholt hatte. Zwar war sie ohne Frage das schönste Pferd, das er je gesehen hatte - er war von ihrer Ausstrahlung so gut wie geblendet - dennoch war er von dieser Idee nicht so begeistert wie sein Vater.

Plötzlich drehte die Stute ihren eleganten Kopf und sah ihm direkt in seine leicht grünen Augen. Ihn durchlief ein eisiges Schaudern. Sie schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren und nur mit äußerster Mühe konnte er standhalten.

Cairdric...

Er erstarrte.

Die Stimme war ganz deutlich zu hören gewesen. Cairdric sah sich um. Doch da war niemand, der ihn gerufen haben könnte.

Cairdric...

Es war sie!?

Er schüttelte den Kopf. Pferde können nicht sprechen. Selbst wenn sie es getan hätte, müssten sein Vater und die anderen es mitbekommen haben.

Ich rede nur mit dir, nicht mit ihnen, also wundere dich nicht über deren Unwissenheit.

„Was ... “, Cairdric runzelte die Stirn und wollte etwas sagen, wurde dann aber von ihr unterbrochen.

Sei ruhig und komm her zu mir.

Es schienen ihre Gedanken zu sein, die er empfangen hatte, anders konnte er sich die gesamte Situation nicht erklären. Er hatte von Magiern gehört, die so etwas in der Art vermochten, doch ein Pferd? Aller Vernunft zum Trotz, folgte er dann plötzlich beinahe ohne eigenes Zutun ihrer Aufforderung und bewegte sich zu ihr hin.

„Cairdric ... ? Cairdric bleib stehen! Sie ist zu gefährlich für dich“, rief sein Vater und versuchte ihn aufzuhalten, doch Cairdric wich geschickt seinem Griff aus und stieg über den Zaun. Mit zitternden Beinen ging er zu der Stute hin. Hinter ihm hielten sein Vater und die anderen Adligen den Atem an. Auf einmal fragte er sich, was er da eigentlich tat. Er hatte sich die Stimme doch nur eingebildet.

Sie würde ihn wahrscheinlich mit ihren harten Hufen treten, sodass er danach einige blaue Flecken hatte, genauso wie der bemitleidenswerte Mann, der sie festgehalten hatte. Er wollte umdrehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Die Stute stand momentan ganz still und der Stallknecht, der verzweifelt das Halfter losgelassen hatte, näherte sich ihr wieder und versuchte sie zu fassen zu kriegen. Doch anscheinend war sie immer noch dagegen. Sie drehte ihren Kopf in dessen Richtung und schnaubte ihn an, woraufhin der Knecht erneut die Flucht ergriff.

Indes machten Cairdrics Beine nicht die geringsten Anstalten, ihm die Kontrolle zurückzugeben. Doch als er nur noch zwei Schritte von der Stute entfernt war, hatte er plötzlich wieder Gewalt über sie und blieb unsicher stehen. Mensch und Pferd sahen sich sekundenlang in die Augen. Auf einmal kam die Stute auf ihn zu und berührte mit ihrer Nase seine Stirn.

Du bist ein mutiger Junge, Cairdric. Also hab auch keine Angst vor mir, sagte die Stimme sanft wieder in seinem Kopf.

„Warum kannst du reden? Und –“

Sei ruhig! Sprich in deinen Gedanken mit mir, sonst können auch die anderen dich hören, sagte sie und beantwortete dann seine erste Frage. Und ich kann reden, weil ich eben reden kann.

Das ... ich ... verstehe ... ich ... nicht, wie ... reden ... meinst du ... das ... Pferd?, machte Cairdric den Versuch einer Antwort. Es war wirklich weit mehr als kompliziert, einen klaren Gedanken zu formulieren, sodass er sich gewiss sein konnte, dass sie ihn verstand, denn in seinem Kopf herrschte ein heilloses Gewusel.

Musst du auch noch nicht. Mach dir lieber Gedanken darüber, was du den anderen sagst. Sie sehen uns nämlich sehr irritiert an. Cairdric drehte sich um und sah, dass sie vollkommen Recht hatte. Im Übrigen musst du dir meinetwegen keine Gedanken machen. Ich werde so tun, als wäre ich das, was ihr von einem Pferd erwartet. Still und folgsam. Aber ich werde keinen anderen auf mir reiten lassen. Nur dich. Sieh das als Privileg an.

Ähh … in ... Ordnung, antwortete er verwirrt.

Jetzt mach doch den Mund zu und geh zu ihnen zurück, schalt sie ihn.

Cairdric gehorchte und sagte mit fester Stimme und dennoch völlig verwirrten Gedanken zu Minas: „Ihr hattet Recht Vater, sie ist ein wundervolles Pferd.“ Nach einer geradeso noch gelungenen Verbeugung ging er wieder ins Schloss. Der König und die anderen Herren von Stand sahen dem künftigen Thronerben perplex nach.

„Mein Sohn ... “, flüsterte Minas mit einem leicht irritierten Kopfschütteln.

Nachdem Cairdric einige Schritte gegangen war, hielt er inne und versuchte die Stute zu fragen:

Wie heißt du eigentlich?

Erst nach Momenten der Stille, in denen er schon dachte, sie könne ihn nicht mehr hören oder hätte ihn nicht verstanden, kam die Antwort:

Mein Name ist Gazahlia.

 

In den nächsten Tagen beschäftigte Cairdric sich nur mit seiner neuen, wunderschönen Stute. Sie war einfach perfekt. Genau das Pferd, das er sich seit seiner Kindheit immer gewünscht hatte. Schon als er auf dem Rücken einer ruhigen, alten Stute das Reiten gelernt oder als er das erste Mal die Schnelligkeit einer kleinen, feurigen Fuchsstute kennen gelernt hatte. Sein größter Wunsch war es seit jeher gewesen, ein Pferd zu haben, mit dem er alles tun konnte, eines, mit dem er die anderen vor Neid erblassen lassen konnte, aber auch eines, das ihn verstand.

Er ritt mit ihr durch den kleinen Wald, der neben der Stadt lag, über Felder und die Straßen entlang und sie ermüdete nicht. Er maß sich mit den Rittern seines Vaters im Springen und er konnte sich darauf verlassen, dass er mit ihr gewann. Wenn es regnete, hielt er sich im Stall auf, redete mit ihr, striegelte und versorgte sie. Und ließ sich von ihr Vieles beibringen. Mit der Zeit wurde er immer sicherer darin, Gedanken auszutauschen. Es fiel ihm leichter, sich auf etwas zu konzentrieren, um es ihr zu sagen. Sie erklärte ihm, wie diese Art der Kommunikation funktionierte. Ihre Einleitung war der Aufbau der Gedanken gewesen. Sie sagte, dass jeder Kopf so etwas wie eine eigene, kleine Festung wäre, man konnte jemanden hineinlassen, sich aber auch verteidigen. Denn auf eine Festung gab es auch Angriffe. Und da er der Sohn des Königs war, fand Gazahlia, dass er ebenfalls gegen Angriffe von dieser Seite gewappnet sein müsste.

Und genau solch eine Festung herzustellen, wollte sie ihm beibringen. Was sich allerdings als sehr viel schwieriger gestaltete, als sie anfangs gedacht hatte. Es hatte den Anschein, als wenn Cairdric völlig unfähig dazu wäre, nicht einmal dem leichtesten von Gazahlias Übungsangriffen konnte er standhalten.

Aber es gab etwas, was die intelligente Stute besonders interessierte, während sie trainierten. Sie stellte fest, dass seine Gedanken und die Gassen seiner Gedankenfestung total verschlungen waren, viel zu verschlungen für normale menschliche Verhältnisse. Sie hatte einen Verdacht, der sich mehr und mehr festigte und bestätigte, je länger sie sich in seinem Geist befand. Doch davon wusste Cairdric noch nichts und Gazahlia hatte nicht vor, das demnächst zu ändern.

 

Und so hatte er seine Stute bekommen. Sie war auch nicht nur sehr schnell und ausdauernd, sondern ebenfalls eine der intelligentesten Persönlichkeiten, die er kannte. Die Menschen mit eingeschlossen. Sie gab ihm oft Hinweise, die immer ausgesprochen hilfreich bei seinen Übungskämpfen waren. Durch ihre professionellen Tipps hatte er sogar schon einmal seinen Lehrer besiegt. Und der war Meister seines Faches. Bis Cairdric ihn, mit Gazahlias Hilfe, besiegt hatte, war Schwertmeister Hargo der unumstößliche Sieger bei allen Wettbewerben, Turnieren und Übungskämpfen und Gewinner unzähliger Preise gewesen. Und als Cairdric ihm sein Schwert an die Kehle gehalten hatte, waren Hargo, sein Vater, die Adligen und vor allem er überrascht gewesen, bloß Gazahlia hatte gesagt:

Sagte ich dir doch. Mit nur ein kleines bisschen besserer Beinarbeit schaffst du es, jeden beliebigen Mann zu besiegen.

 

 

 

Kapitel zwei

 

Doch er, nein, besser gesagt sie, kam ihr so verdammt bekannt vor. War es denn möglich...? Nein, garantiert nicht, niemals würde sie so etwas tun.

Oder vielleicht doch?

...

 

„Ari, jetzt steh endlich auf!“

Sie öffnete die Augen und heftete ihren Blick kurz auf die schwarzen Holzbalken, welche dazu gedacht waren, das kleine Haus ihrer Familie zu stabilisieren. Seufzend bemerkte sie, dass der Gedanke oder besser gesagt das Bild, das sie eben gehabt hatte, verschwunden war und sie sich leider nicht mehr genau daran erinnern konnte, bis darauf, dass es um einen jungen Mann, einen Bogen und eine andere Person ging. Diese Person gab vor, ein Mann zu sein, doch Ari hatte erkannt, dass es eigentlich eine Frau war. Woran? Wusste sie nicht, doch sie kam ihr so seltsam bekannt vor...

Schade, aber ein neuer Tag hatte angefangen und das bedeutete für ihre Eltern und ihre Schwester wieder hunderte von Möglichkeiten mehr, ihr das Leben zu vermiesen. Sie zog sich ihr schmuckloses, leicht tailliertes Kleid über das beigefarbene Unterhemd, trat aus ihrer kleinen Kammer und ging durch die offen stehende Holztür hinaus auf den Hof.

Sie nahm sich einen Eimer und schlurfte zu den Kühen, die mitunter das Wertvollste waren, was ihre Familie besaß. Ihre Eltern konnte sie nirgends entdecken, nahm aber an, dass ihre Mutter in der Küche beim Räuchern des gestern gekauften Rindfleisches war und ihr Vater bereits wieder auf dem Feld eines Freundes ackerte, der wegen seines gebrochenen Beines Unmengen an Hilfe benötigte.

Sie ging zu den zwei dunkelbraunen Milchkühen, die sich ihren einfachen Stall mit vier Ziegen und etwa zehn Hühnern und einem stolzen Hahn teilen mussten. Außerdem gehörten noch ein kleines Feld, auf dem ihr Vater zurzeit Mais anbaute, und ein Gemüsegarten zu ihrem Besitz. Damit waren sie zwar nicht die reichsten Leute ihres Dorfes, aber auch nicht die ärmsten.

Ihre verhältnismäßig kleine Familie bestand aus ihrem Vater Karn, ihrer Mutter Mara, ihrer Schwester Marja und ihr, Ari. Die anderen Familien bestanden zumeist aus mindestens sechs oder sieben Personen. Das Dorf Neiva selbst bildete sich aus elf verschiedenen Familien, also ungefähr siebzig Personen, jedoch mindestens zehnmal so vielen Tieren. Es war ein sehr abgelegener Ort, ganz am unteren Rande von Azela, auf der nördlichen Seite floss in einiger Entfernung ein kleinerer Fluss entlang und südlich grenzte es an den Lozei-Wald an, den größten Wald des ganzen Königreiches. Niemand war jemals an sein Ende gelangt und über das, was dahinter lag, kursierten nur die wildesten Spekulationen.

Auch wagte es niemand, mehr als hundert Meter hinein zu gehen, es hieß viele unangenehme Gestalten bevölkerten den Wald, Ausgestoßene, Räuber und ähnliches. Schon mehrmals bekamen sie morgens zu hören, dass irgendjemand aus dem Dorf überfallen worden war, zum Glück gab es nur sehr selten Verletzte oder Tote. Obwohl man von Aris Haus aus direkt auf den Wald blicken konnte, waren sie noch nie Opfer eines Raubes geworden. Die Räuber schienen zu wissen, dass es bei ihnen nichts zu holen gab. Die einzigen Wertsachen ihrer Familie waren die Tiere und vielleicht die eingelagerten Nahrungsmittel. Und Aris Kette ... aber von der wusste niemand, außer ihr selbst.

Was sonst noch niemand wusste, war, dass sie ungefähr seit ihrem zwölften Lebensjahr fast jeden Abend und den Anfang der Nacht im Wald verbrachte. Sie war schon sehr weit gewesen, mehrere Stunden war sie einfach nur gelaufen und hatte alles aus Neiva hinter sich gelassen. Die Versuchung, nicht mehr zurückzukehren war oftmals unendlich groß, doch bisher war sie noch stark genug gewesen, nicht nachzugeben. Sie hasste ihr Leben hier. Sie hasste die Menschen hier, ihre Eltern, ein unverständiges und engstirniges Paar von unwissenden Leuten und ihre Schwester, die auch nicht gerade besser als ihre Eltern war. Es war schwer zu beschreiben, welche Gründe sie für ihren Hass hatte, andere Menschen würden sie wahrscheinlich gar nicht erkennen, doch für Ari waren sie mehr als niederschmetternd. Das Einzige, was sie zurückhielt, war ihre Angst. Nicht die Angst vor dem Wald oder dem Ungewissen, sondern einfach die Angst davor, dass sie nicht vorbereitet war. Sie wollte das Ungewisse kennenlernen, sie wollte den Wald erkunden, doch sie wollte nicht unvorbereitet losziehen. Deshalb sammelte sie Wissen, wo immer sie nur konnte. Sie hörte ihren Eltern zu, wenn sie sich über Saatgut, Saatpflege und Ernte sowie Haltbarmachung unterhielten, sie lauschte aufmerksam den Gesprächen von den anderen im Dorf, die eher über das Schmieden, Gerben, Nähen, Schneiden oder Heilen fachsimpelten und kristallisierte sich all das heraus, was sie vielleicht irgendwann einmal brauchen würde. Vielleicht war sie verrückt, dass sie sich über so etwas Gedanken machte, doch unter keinen Umständen würde sie länger in Neiva bleiben als sie unbedingt musste. Das stand fest.

In solche Überlegungen versunken holte sie sich eine Schale und füllte sie in der Scheune mit Mais. Dann ging sie hinaus und verstreute die Körner auf der Erde. Augenblicklich kamen die Hühner angerannt, von denen eines wahrscheinlich Ari beobachtet und dann die anderen informiert hatte. Diese Vögel waren extrem gut darin, Informationen zu verteilen, das wusste Ari mittlerweile. Nach wenigen Minuten, die sie einfach nur mit geschlossenen Augen in der Sonne stehend verbrachte, ließ sie die Schafe auf die Weide und ging dann gemächlich ins Haus zurück. Dort saß schon der Rest der Familie und unterhielt sich angeregt. Ari hörte gerade noch, wie ihr Vater sagte:

 „…-was natürlich sehr viel Aufregung in unser Dorf bringen würde.“

Als sie eintrat, verstummte er.

„Was ist denn los?“, wollte sie wissen.

„Na, bist du endlich fertig geworden?“, fragte Mara anstatt einer Antwort. Auf Aris Nicken hin sagte Karn: „Ein königlicher Bote ist vorhin eingetroffen und hat berichtet, dass Prinz Cairdric in etwa einem Tag kommt, um in unserem Dorf für einige Tage zu lagern. Sie haben wahrscheinlich gerade erst den Ausläufer erreicht, also müssten wir noch genügend Zeit für einige Vorbereitungen haben. Er ist nämlich auf dem Weg zur Jagd in den umliegenden Gegenden wie so viele andere Leute aus der Stadt.“

Ari war erstaunt. Wie ihr Vater angedeutet hatte, kamen öfter irgendwelche Stadtleute her, um hier zu jagen. Das war inzwischen nichts Neues mehr für sie. Doch der Prinz! Das kam nun wirklich nicht so oft vor. Man hörte hier nicht viel aus der roten Stadt, dafür lagen sie zu sehr am Rand von dem Königreich Azela, deshalb wusste sie nicht, was er für ein Mensch war. Die wenigen Adligen, denen sie bisher begegnet war, waren alle irgendwie unterschiedlich gewesen; sie war welchen begegnet, die sich wahrscheinlich selbst für den König hielten und ihre Stellung überaus missbrauchten und auch jenen, die edel und höflich um alles gebeten hatten, was andere sich wie selbstverständlich nahmen.

Wie mochte er wohl sein?

 

 

Kapitel drei

 

Woher weißt du eigentlich so viel über die Schwertkunst? Ich meine, sei mir bitte nicht böse, aber auch wenn du reden kannst, du bist ein Pferd und kannst noch nicht einmal ein Schwert halten.

Das hatte er sie zwar schon mehrmals gefragt, aber sie hatte immer so getan, als wenn sie ihn nicht gehört hätte und er wollte es unbedingt wissen. Sie ritten gerade in den Ausläufer des Lozei-Waldes hinein und er hatte sogar schon einen Boten geschickt, um die Bewohner des nächsten Dorfes von seiner Ankunft in knapp einem Tag zu unterrichten.

Ich hatte eben viele Gelegenheiten zum Beobachten. Und da Beobachten die beste Methode nach Ausprobieren ist, weiß ich so viel. Darüber solltest du froh sein. Ich hätte auch so tun können, als wenn ich ein ganz normales Pferd wäre und du wüsstest immer noch nicht, wie man seine Beine bewegt. Also hör endlich mit der Fragerei auf!

Doch Cairdric ließ sich nicht davon beeindrucken.

Bei wem warst du, bevor du zu mir gekommen bist?

Pfft.

Das war ihre einzige Antwort und endlich ließ er sie in Ruhe.

 

Am Abend stellten seine Ritter die Zelte auf, während er seine Stute versorgte. Sie war jetzt richtig schlechter Laune und beschwerte sich bei jedem noch so kleinen Fehler, den er machte. Insgesamt betrachtet war ihr eigentlich nur überall viel zu wenig Gras und sie seufzte:

Ach, wenn man Gras wachsen lassen könnte! An so etwas praktisches hat aber natürlich niemand gedacht.

Tja, leider kann das hier sowieso keiner von uns, sonst bräuchten wir uns auch nicht um die Viehweiden zu kümmern, erwiderte er.

Er lachte in sich hinein. Ja, wenn man Gras wachsen lassen könnte. Das wäre hilfreich. Dann bemerkte er, dass seine Stute ihn ernst und nachdenklich ansah.

Was ist?

Nichts, sagte sie mit einem sehr merkwürdigen Unterton.

 

Nachdem er mit seinen Rittern gegessen hatte, ging er noch einmal zu ihr, um zu sehen, ob sie jetzt endlich bessere Laune hatte. Sie stand an dem Baum, an dem er sie gelassen hatte und blickte ihm entgegen.

Geht es dir jetzt besser?

Mir ging es nie schlecht, gab sie pikiert zurück.

Ich meine nur, weil du vorhin so schlechter Laune warst. Das ist so ungewöhnlich für dich, dass ich mir gedacht hatte, dass vielleicht irgendetwas Schwerwiegendes dich bedrückt und du es mir möglicherweise mitteilen möchtest.

Eine Zeit lang erwiderte sie nichts, doch dann meinte sie:

Ist doch egal.

Irgendwie klang sie traurig und er wünschte, sie könne ihm sagen, was mit ihr los war. Als sie nichts weiter hinzufügte, wünschte er ihr eine gute Nacht.

Ich dir auch.

Er drehte sich um und ging wieder zu seinen Leuten zurück ans Feuer. Er redete noch mit Ranald, dem Hauptmann seiner Wachleute, darüber, wann sie am nächsten Morgen aufbrechen würden und noch über einige andere organisatorische und teilweise auch ziemlich, in seinen Augen, sinnlose Sachen, wie die Formation, in der sie ins Dorf reiten würden. Nach fast einer ganzen Stunde legte er sich endlich in sein Zelt. Doch an Schlaf war erst einmal überhaupt nicht zu denken.

Eine seltsame Anspannung hatte ihn gepackt.

 

***

 

Am Abend ging Ari gleich in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Aber sie konnte nicht einschlafen. Eine unerklärliches inneres Zittern hatte sich in ihr ausgebreitet und sie glaubte nicht, dass dies mit der Ankunft des Prinzen zusammenhing. Jedenfalls nicht nur.

Als sie hörte, wie auch ihre Eltern ins Bett gingen, war ihre Unruhe so weit gewachsen, dass sie den Entschluss fasste, in den Wald zu gehen. Sie schlich sich leise aus ihrem Zimmer heraus, vorbei an den Räumen Marjas und ihrer Eltern, raus aus dem Haus und über die Wiese, die sie vom Lozei abgrenzte, bis in die dunklen Schatten des Waldes hinein. Der helle Mond war zwar die einzige Lichtquelle, doch Ari sah genug. Da es eine warme Sommernacht war, hatte sie sich nichts übergezogen, nun aber fror sie ein wenig und ein kleiner Hauch von Gänsehaut zog sich über ihre Arme. Geübt schlich sie fast lautlos über den lockeren Waldboden wie schon so viele Male bevor. Keiner konnte sie sehen oder hätte auch nur erahnen können, dass sie sich dort befand. Fast wie ein Raubtier auf Beutejagt …

Sie lief immer weiter. Ohne auch nur einmal irgendwo zu stolpern oder gegenzurennen, jagte sie wie ein Reh zwischen den Bäumen hindurch. Niemand sonst wäre dazu in der Lage gewesen, doch Ari kannte den Weg so gut, sie hätte die Augen schließen können, ohne sich etwas zu tun.

Seltsamerweise hörte sie jedoch nicht wieder auf zu rennen, auch nicht, als sie schon lange an ihrem üblichen Punkt vorbei war. Sie wollte einfach nur weiter. Erst seit beinahe einer halben Stunde lief sie ununterbrochen, ohne zu ermüden oder außer Atem zu kommen und war schon weiter gekommen, als jemals zuvor. Ihr war, als wenn ihr ein Geist den Weg wies und sicherstellen wollte, dass sie auch ans Ziel kam.

Doch wer war der Geist?

 

Und vor allem ... wo war das Ziel?

 

 

Kapitel vier

 

Cairdric konnte einfach keine Ruhe finden. Warum konnte er nicht sagen. Es war vollständig seltsam und irgendwie absurd, doch er hatte das Gefühl, auf etwas zu warten. Lange lag er so wach, den Kopf auf seine Arme gestützt und grübelte vor sich hin, bis er bemerkte, dass er plötzlich auf einen Schlag müde wurde. Es gelang ihm dann auch schnell, in den Schlaf zu gleiten, doch selbst da fand er keine vollständige Entspannung.

Denn er hatte einen seltsamen Traum. Es war eine warme Nacht und der helle Mond schien gespenstisch durch die Baumkronen auf den weichen Boden. Er lief durch Bäume hindurch, die viel größer und dunkler schienen als die des Waldteiles, in dem sie gerade lagerten. Zunächst lief er langsam, doch dann wurde er immer schneller. Er fühlte sich leicht. Leicht und sonderbar beschwingt. Doch irgendwie kam ihm das überhaupt nicht wie ein Traum vor, vor allem nicht, weil er sich genau dessen bewusst war. Er hatte noch nie im Traum gewusst, dass er träumte, noch von jemandem so etwas gehört. Wann immer er sich mit anderen Leuten über Träume unterhalten hatte, war er der Meinung gewesen, jedem erginge es so wie ihm selbst. Man träumte und manchmal kam einem alles sehr real vor und wenn man dann wieder erwachte, war man erstaunt, dass das nur ein Traum gewesen war.

Er wollte wissen, wo er war und warum.

Denn wenn das wirklich ein Traum ist, dann müsste auch irgendwann mal etwas passieren, dachte er bei sich.

Also rannte er einfach ziellos durch die Bäume. Alte, knorrige Äste ließen hoch oben an den Stämmen ihre dunklen Blätter rascheln, irgendwo in der Ferne riefen vereinzelte Nachtvögel durch den Wald und der sanfte Wind ließ das spärliche Gras unter ihm wehen.

Noch etwas, das ihm sagte, dass er sich in einem Traum befand, war die Tatsache, dass er überhaupt nichts spürte, nicht einmal den feucht aussehenden Waldboden unter seinen Füßen oder den Wind, der die Blätter tanzen ließ. Er nahm überhaupt nichts wahr, nichts außer den Geräuschen und dem, was er sah.

Und dann hörte er auch endlich etwas. Er wurde langsamer und konzentrierte sich ganz darauf. Das Geräusch näherte sich. Es klang wie Schritte. Sehr, sehr schnelle Schritte. Cairdric hielt an und drehte sich um. In diesem Moment rauschte irgendetwas in einer unglaublichen Geschwindigkeit an ihm hinüber, schneller als ein gewöhnlicher Mensch und doch langsamer als ein Tier des Waldes. Da er wissen wollte, was oder besser wer sich hinter dem schnellen Läufer verbarg, rannte er hinterher. Doch er war bei weitem nicht so geschickt. Gerade als er enttäuscht aufgeben wollte, hielt der Läufer an und Cairdric erkannte ein Mädchen. Er ging ein Stück näher heran, um sie genauer erkennen zu können. Nach einer oberflächlichen Betrachtung stellte er fest, dass sie ihm völlig unbekannt war.

Sie stand nur da und sah sich um.

Sie muss ungefähr so alt sein wie ich, dachte er, als er in ihr Gesicht blickte.

Sie war äußerst hübsch mit ihren brustlangen, hellen Haaren, die liebevoll ihr Gesicht umrahmten. Als er kurz vor ihr stand, bemerkte er, dass sie nur ein kleines Stück kleiner war als er selbst, etwas, was er nicht oft erlebte, da er in den letzten Jahren so schnell in die Höhe geschossen war und auch seinen Vater um einen halben Kopf überragte.

Er erweiterte seine Beobachtungen. Sie trug nur schlichte, einfache Kleidung, ein schmuckloses, leicht tailliertes Kleid und keine Schuhe, doch das tat ihrer Anmut keinen Abbruch.

Erhobenen Hauptes sah sie sich um, hielt nach etwas Ausschau, entdeckte es aber anscheinend nicht. Als ihr forschender Blick ihn kurz streifte, runzelte sie die Stirn, als wenn sie etwas Sonderbares bemerkt hätte, doch dann drehte sie sich nach links und ging auf eine Erhebung zu. Cairdric folgte ihr.

Oben angekommen hielt sie an, duckte sich und sah hinunter. Cairdric, der vorsichtig hinter ihr gegangen war, umrundete sie und blickte ebenfalls gespannt hinab. Was er sah, erstaunte ihn sehr. Dort waren mehrere, einen Kreis bildende Zelte aufgeschlagen. Er zählte genau zwölf Pferde, die in der Nähe an Bäume gebunden waren. Anscheinend war es ein Lager.

In der Mitte stand ein Zelt, was sich von den anderen durch seine Größe hervorhob. Unverkennbar das Zelt des Anführers. Er fragte sich, wer das wohl war? Davor saßen drei bewaffnete Leute an einem Feuer und unterhielten sich wild gestikulierend. Er fragte sich, warum ihm das alles so bekannt vorkam, doch erst als er in einiger Entfernung das selbst in der Nacht strahlende, weiße Fell von Gazahlia sah, wusste er, auf wessen Lager sie gerade hinabblickten.

 

***

 

Ari sah auf das Lager am Fuße des kleinen Hügels. Die Leute, die dort am Feuer saßen, waren eindeutig Soldaten. Keine Deserteure oder Söldner, sondern richtige, ausgebildete Kämpfer, Ritter vermutlich.

Sie trugen Rüstungen, die verrieten, dass ihre Besitzer Geld besaßen und an der Seite von dem Größten konnte sie den Griff eines Langschwertes erkennen, das in einer breiten Scheide am Gürtel seines Trägers steckte. Die beiden anderen hatten jeweils einen Bogen auf dem Schoß und gefüllte Köcher hinter sich zu stehen.

Sie unterhielten sich zu leise, als dass sie etwas verstehen könnte, doch deren Gebärden nach zu urteilen, ging es um Kämpfe. Der Große hatte sich inzwischen erhoben und zeigte den beiden anderen mit seiner Waffe einige weit ausholende Bewegungen. Er machte einen Schritt nach vorne, schlug zu, drehte sich, schlug einem imaginären Feind den Kopf ab, vollführte nochmals eine Drehung, duckte sich wie unter einem entgegenkommenden Schwerthieb und trieb dem Angreifer sein Schwert in die Brust. Dann sah er sich nach weiteren Feinden um, stellte fest, dass keine mehr übrig waren und verbeugte sich vor den beiden, vor Lachen am Boden liegenden Bogenschützen und wartete mit einem unterdrückten Grinsen auf deren Anerkennung. Aber wie es aussah, würde er auf die wohl noch lange warten müssen, da keiner der beiden nach Luft Japsenden in der Lage zu sein schien, ein vernünftiges Wort herauszubringen.

Nachdem sie fand, dass die drei Männer genug von ihrer Aufmerksamkeit bekommen hatten, ließ sie ihren Blick weiter schweifen und erkannte einige Pferde, die nahe am Lager an Bäume gebunden worden waren. Es waren fast nur dunkle Tiere, die offensichtlich aus einer guten Zucht stammten. Der Herr und Anführer dieser Leute musste ein einflussreicher Mann sein, um sich solch gute Pferde zu halten, vielleicht war er ein Ritter oder sehr reicher Kaufmann. Die Tiere sahen edel aus mit ihren langen gebogenen Hälsen, den großen Nüstern und den muskulösen Rücken und Beinen. Auf solchen Pferden wäre sie gerne einmal geritten, doch es hatte sich noch nie eine Gelegenheit dazu ergeben und Ari war sich sicher, dass es auch nie eine geben würde. Dazu war ihre Familie viel zu arm und unbedeutend.

Sie drehte den Kopf weiter und plötzlich entdeckte sie etwas, das die zuvor bewunderten Pferde fast wie alte Ackergäule aussehen ließ.

 

***

 

Cairdric hatte genau wie das Mädchen neben ihm die drei Soldaten beobachtet, in denen er seinen Freund Eldar und die zwei angehenden Ritter Hal und Kildar erkannte, und auch die verdächtigen Flaschen gesehen. Er ärgerte sich ein wenig über das Verhalten seiner immerhin ritterlichen Wächter, doch solange nichts passierte, war es ihm nicht sehr wichtig.

Ein leises Rascheln an seiner Seite verriet, dass sie sich bewegt hatte. Sie hatte sich von den Männern abgewandt und betrachtete eine Weile die Pferde. Dabei schlich sich ein leicht verträumter Ausdruck auf ihr Gesicht und er war sich sicher, dass er ihre Gedanken erraten konnte. Für ein einfaches Bauernmädchen mussten dies die edelsten und schönsten Pferde sein, da sie ja nie andere als die Ackergäule mit den schweren Pflügen hinter sich gesehen hatte.

Er musste grinsen. Er erinnerte sich noch genau an das Gefühl, das ihn durchflutet hatte, als er zum ersten Mal auf dem Rücken eines dieser reinrassig gezüchteten Pferdes gesessen hatte. Es war fantastisch gewesen. Das Pferd, eine kleine fuchsfarbene Stute, hatte ihn in einem so schnellen Galopp über die Wiese getragen, dass er dachte, er würde fliegen.

Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was er mit Gazahlia erlebt hatte.

Plötzlich schnappte sie nach Luft. Erstaunt, was sie dazu gebracht haben könnte, folgte er ihrem Blick und musste lächeln.

Das Mädchen hatte den weißen Schimmer, der von seiner Stute ausging, gesehen und war wahrscheinlich von ihrer grenzenlosen Anmut, dem edlen Kopf und ihrer Ausstrahlung so überwältigt, wie er es bei ihrem ersten Zusammentreffen gewesen war.

Ein leichter Anflug von Stolz befiel ihn, als er ihr Staunen sah und wärmte seinen ganzen Körper - das konnte er merkwürdigerweise spüren, anders als den Wind oder den Boden unter seinen Füßen, wie er nebenbei feststellte. In diesem Moment wünschte er sich mehr als alles andere, dass sie ihn bemerken würde, dass sie ihn sehen könnte, dass er wirklich da wäre.

Dann fragte er sich, was passierte, wenn er etwas sagen würde. Er haderte mit sich selbst, ob er es versuchen sollte oder nicht. Cairdric kam zu dem Entschluss, dass es den Versuch wert war. Sehr viel konnte ja nicht passieren, oder? Doch er wusste nicht, was er am Besten sagen konnte. Er überlegte, ob eine Frage oder nur ein einfaches ’Hallo’ besser war.

Doch dann wurde ihm diese schwere Entscheidung brutal genommen, denn in diesem Augenblick hörte er Lärm. Und ein lautes, unangenehmes Kracken durchzog seinen Kopf. Plötzlich kam auch noch Wind auf. Doch dieser Wind schob nicht, er zog. Wie ein Strudel.

Cairdric versuchte sich zu wehren, aber dann zog der Strudel ihn mit einem Mal ganz kräftig und er sah nur noch Dunkelheit. Dann spürte er sein Bett unter sich.

Er öffnete die Augen und war zuerst ein wenig froh, dann aber doch eher traurig darüber, dass das alles nicht real gewesen war. Er hätte gerne noch gewusst, was passiert wäre, wenn er das seltsame Mädchen aus seinem Traum angesprochen hätte.

Von draußen drang ein leises Psst! zu ihm herein und er beschloss, sich anzuziehen und nachzusehen, was seine Wachen dort angestellt hatten.

Eine halbe Minute später war er angezogen, eine braune, weite Hose unten und oben seine hellbraune Lederweste über einem dunkelgrünen Hemd. Er ging zum Zelteingang, lugte durch einen kleinen Spalt hinaus und sah die drei Männer, um Ruhe bemüht, ums Feuer herumstehen. Einer hatte anscheinend die einzige noch vorhandene Flasche mit Inhalt ausgekippt und sich somit den Ärger der anderen eingehandelt.

Cairdric interessierte sich dafür jedoch überhaupt nicht. Er blickte den Hügel hinauf und bemerkte eine Bewegung.

Das Mädchen! Es war also kein Traum gewesen.

Schnell hatte er, der Meister der Pläne, einen Plan geschmiedet. Er ging zur Rückwand seines Zeltes und kroch unter dem Stoff hindurch. Dann rannte er in aller Schnelligkeit und doch leise hinter die Bäume und versuchte, ganz unbemerkt von den Soldaten und vor allem von dem Mädchen, das Lager zu umrunden. Doch einer war immer wachsam.

Was machst du denn da?

Meine Güte, Gazahlia! Hast du mich erschreckt!

Ich würde trotzdem gerne wissen, warum du dich mitten in der Nacht durch die Rückwand deines Zeltes nach draußen schleichst. Und so, wie du zusammengezuckt bist, garantiert nicht, um zu mir zu kommen. Gazahlia klang ein wenig vorwurfsvoll und er schüttelte den Kopf.

Jetzt sag nicht, dass du sie nicht bemerkt hast.

Natürlich habe ich sie bemerkt. Aber die interessantere Frage ist doch, warum hast du sie bemerkt?

Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Naja eigentlich schon. Doch das kann warten, ich werde es dir später erklären. Ich will wenigstens sehen, ob sie noch da ist.

Mit diesen Worten schlich Cairdric, sich immer im Schatten der Bäume haltend, weiter an den Punkt heran, wo sie sich befinden müsste. Behutsam krabbelte er den Hügel hinauf, die Soldaten konnte er immer noch fluchen hören, besonders aufmerksam oder leise waren sie ja nicht gerade. Den Blick immer nach vorne haltend, bewegte er sich über den feuchten Waldboden, er wollte nicht riskieren, dass er es nicht mitbekam, falls sie sich bewegen oder sogar davonlaufen sollte. Ein leichter Wind strich um seinen langen, trotz der vielen Muskeln dünnen Körper und ließ ihn ein wenig frösteln, irgendwie war es ihm im Traum ganz anders vorgekommen, wärmer und auch heller. Der Mond spendete ihm zwar genug Licht, sodass er nicht über einen Ast stolperte oder auf einem Stein ausrutschte, aber mehr auch nicht. Immerhin verdeckten die Baumkronen einen großen Teil der Helligkeit.

Hinter einem großen Baum, direkt vor der Stelle, an der sie im Traum gestanden hatten, hielt er an und lauschte höchst konzentriert. Zunächst hörte er nicht sehr viel, nur die normalen Nachtgeräusche, doch allmählich drang ein leises, kaum wahrnehmbares Atmen zu ihm hinüber. Sie hatte sich also noch nicht davongestohlen. Er wollte sie wenigstens einmal sehen.

Genau genommen hatte er das ja schon, jedoch war es ihm im Moment total egal.

Dann spähte er um den Baum herum und sah ...

... nichts?

 

 

Kapitel fünf

 

Ari stand dort oben und sog das Bild dieser wunderschönen, einzigartigen Stute in sich hinein.

Es war wahrscheinlich das erste und letzte Mal, dass sie sie sehen würde, also nahm sie sich vor, den Augenblick zu genießen. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich abgelenkt. Sie sah einen schmalen Körper, der sich an der Rückwand des mittigen, großen Zeltes bewegte. Langsam und darauf bedacht, kein noch so kleines Geräusch zu bewirken, schlich dieser am Rande des Feuerscheines entlang. Eigentlich hätten die Wachen ihn bemerken müssen, aber in deren angetrunkenen Zustand war das sicherlich zu viel verlangt, sie selbst konnte ihn jedenfalls ganz deutlich mit ihren Blicken verfolgen.

Wie es schien, kam er direkt auf sie zu. Unsicher fragte sie sich, ob er sie doch entdeckt hatte, trotz aller ihrer Vorsichtsmaßnahmen, kam dann aber zu dem Schluss, dass er nur zufällig den Weg gewählt hatte, der ihn an ihr vorbei führte.

War er vielleicht ein Dieb?

Nein, so sah er ganz und gar nicht aus, eher edel, mit stolzen Bewegungen, wie einer, der garantiert wusste, wo er herkam und wohin er wollte. Ein Adliger.

Sie schlüpfte schnell hinter einen Baum, kletterte sogar fast zwei Meter ins Geäst hoch und dann bewegte sie sich nicht mehr. Ihr rascher Atem war das Einzige, was er vielleicht hören könnte, wenn er unter ihr vorbei ging, doch oben auf dem Hügel angekommen würde er sowieso weitergehen und gar nicht erst stehen bleiben und lauschen. Doch da lag sie falsch. Ari beobachtete, wie er sich elegant hinter den Bäumen bewegte und immer höher kam, aber dann ging er nicht weiter, sondern blieb hinter einem großen, weit ausladenden Baum stehen und verhielt sich ruhig.

Sie konnte praktisch spüren, wie er seine Ohren in dem Versuch spitzte, einen Laut zu ergattern.

Dann plötzlich spähte er um den Stamm herum und war doch tatsächlich überrascht. Anscheinend hatte er jemanden dort erwartet. Also entweder wollte er sich hier mit jemandem treffen oder er hatte sie doch bemerkt und wollte sie überrumpeln oder ähnliches.

Jetzt ging er langsam vorwärts bis er direkt unter ihr stand. Hoffentlich machte sie jetzt kein verräterisches Geräusch. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass er sie fand. Denn irgendwie machte er ihr Angst.

Ein junger Adliger, etwa einige Jahre älter als sie selbst, der sich mitten in der Nacht aus dem Zelt schlich und auch noch wusste, dass sie sein Lager beobachtet hatte. Und wahrscheinlich das schönste Pferd der Welt ritt. Jede Menge Gründe zum Fürchten.

 

***

 

Sie war weg! Aber das konnte doch nicht sein, er hatte schließlich genauestens darauf geachtet, ob sie abgehauen war oder nicht. Doch sie musste ihm wohl in einem Moment der Unachtsamkeit entwischt sein.

Es sei denn, sie hatte sich hier irgendwo versteckt.

Wieder horchte er ganz still in den Wald hinein und immer noch glaubte er, leise Atemgeräusche zu hören. Vielleicht verbarg sie sich hinter einem Baum oder saß auf einem drauf. Er wollte sie nicht erschrecken und ihr einen Grund zum Weglaufen geben, also konnte er nicht einfach suchend umher rennen.

Geschick und Vorsicht erfordert diese Situation, also bau jetzt keinen Blödsinn, Cairdric, sagte er sich in Gedanken. Aber eine Lösung hatte er trotzdem noch nicht.

Sollte er den Kopf heben und sich umsehen? Oder eher darauf hoffen, dass sie freiwillig herauskam? Beides kam ihm nicht richtig vor.

Doch dann hatte er eine Idee.

Er machte zwei vorsichtige Schritte nach vorne, einen zur Seite und dann stand er direkt mit dem Rücken zum Baum und konnte alles in der Umgebung beobachten. Natürlich außer das, was hinter ihm lag, doch er vertraute auf seinen Instinkt, der ihm sagte, dass sie vor ihm war. Und dann:

„He, du. Bitte zeig dich.“

 

***

 

Sie erstarrte.

„Ich weiß doch, dass du da bist. Bitte zeig dich und lauf um Himmels Willen nicht weg!“

Er wusste es! Er hatte es gewusst! Aber woher?

Langsam glitt sie am kühlen Stamm des Baumes herunter, auf dem sie gesessen hatte, hielt sich aber weiterhin im Schatten verborgen. Kein Geräusch war zu ihm hinüber gedrungen.

 

***

 

Wo war sie bloß?

Nicht einmal den kleinsten Beweis für ihre Anwesenheit hatte er hören können, nur wie gehabt die Atemgeräusche. Mittlerweile dachte er aber auch schon, dass er sich diese nur einbildete.

„Komm schon! Ich hab dich doch schon gesehen. Du hast helle Haare, trägst ein einfaches Kleid und hast vorhin das Lager beobachtet. Zeig dich!“, leider konnte er nicht verhindern, dass sein Ausruf etwas Befehlendes an sich hatte.

Er seufzte schon ergeben, als ihre Stimme erklang. Leise aber dennoch deutlich sagte sie etwas. In einem Ton, der ihm einige Schauer über den Rücken jagte. Ob wohlige oder eisige war er sich noch nicht sicher.

"Wer bist du?"

 

 

Kapitel sechs

 

Sein Kopf ruckte nach links, von wo aus er ihre Stimme vernommen hatte. Dort befand sich jetzt neben einem Baum eine dünne Gestalt, die er dank des Mondlichtes, welches ihr geradewegs ins Gesicht schien, sehr gut erkennen konnte. Unverwechselbar sie.

Die langen, blonden Haare spielten im seichten Wind um ihren schlanken Hals herum und ihr Kleid vollführte einen ästhetischen Tanz zu einer stillen, unhörbaren Melodie, ganz allein, um ihr zu gefallen und sie zu umschmeicheln. Sie stand keine fünf Meter vor ihm, aufrecht, stolz und gebieterisch wie eine der altvorderen Königinnen. Ihn überfiel der Gedanke, dass diese junge Frau seine Herrin sein sollte. Sie sollte auf dem Thron der roten Stadt sitzen und ihm Befehle erteilen. Er würde bedingungslos und ohne zu zögern gehorchen, dessen war er sich sicher. Doch dann schüttelte er den Kopf und wunderte sich, woher diese abwegigen und nahezu lächerlich dummen Gedanken kamen. Er war der Prinz, der einzige und rechtmäßige Thronerbe des Landes, also baldiger König und sie nur ein ärmlich gekleidetes Mädchen aus dem untersten Stand. Jedoch mit einer Anmut, die königlicher war als alles, was er jemals gesehen hatte.

Sie blickte ihn aus klaren, von dichten Wimpern umrahmten Augen an und wartete mit einem verschlossenen und auch ein wenig misstrauischen Gesichtsausdruck auf seine Antwort. Dann trat sie noch einen Schritt vom Baum weg und auf ihn zu und wiederholte ihre Frage.

„Wer bist du?“ Er wusste nicht, was er erwidern sollte und so, nach einer kurzen, von Stille erfüllten Pause, setzte sie hinzu: „Antworte mir!“

Cairdric konnte das Misstrauen hören, meinte aber, dass ebenfalls etwas Angst enthalten war. Er fragte sich, wovor sie sich fürchtete. Vielleicht vor ihm?

Er wollte gerade erwidern, er sei der Prinz und der Sohn des Herrschers dieses Landes, aber zum Glück zögerte er und bewahrte sich vor dieser Äußerung, die garantiert ein Fehler wäre. Das Mädchen hätte ja nur noch mehr Furcht, wenn sie wüsste, wer er war und das wollte er nicht. Also antwortete er etwas anderes und war selbst von den Worten überrascht: „Ich bin der Anführer des Trupps, den du gerade beobachtet hast, also meinst du nicht auch, ich sollte eher dich fragen, was du hier zu suchen hast und welcher Umstand dich dazu bringt, uns auszuspionieren?!“ Da war er schon wieder. Dieser blöde Befehlston, der sich unweigerlich immer öfter in seine Stimme schlich. Schlagen könnte er sich dafür. Wahrscheinlich fand sie ihn sowieso nicht gerade sympathisch und er gab sich ja nicht unbedingt viel Mühe, das zu ändern.

„Der Anführer also. Dann solltest du deinen Wachen vielleicht mal etwas Aufmerksamkeit beibringen. Sie haben weder mich noch dich bemerkt und das hier in einem Wald, wo jederzeit Halunken und Diebe durch die Gegend streifen.“ Lag da tatsächlich Spott in ihrer Stimme?

Er runzelte verärgert die Stirn. Zum Teil, weil sie Recht hatte, aber auch, weil sie ihn tatsächlich gesehen hatte, trotz all seiner Vorsicht.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt“, erinnerte Cairdric sie.

„Nenne mir zuerst deinen Namen, dann wirst du eventuell auch meinen erfahren ... Anführer.“

Sie war wieder einen Schritt zurückgegangen und Cairdric wusste, dass sie bald verschwinden würde, egal was er versuchte. Also tat er, was sie von ihm wollte, um ihr Verschwinden wenigstens ein ganz kleines bisschen hinauszuzögern.

„Mein Name ist Cairdric.“ Blöderweise erkannte er jetzt den Fehler erst, nachdem er ihn schon ganz ausgesprochen hatte.

 

***

 

Er war es also tatsächlich. Ari hatte es zwar die ganze Zeit vermutet, allein schon wegen seines Befehlstones und seiner Haltung, aber erst jetzt war sie sich ganz sicher. Sie stand wirklich nur einige Meter von dem Prinzen entfernt, der vorhatte, morgen in ihr Dorf zu kommen. Wie sollte sie aus dieser vertrackten Situation denn jetzt noch halbwegs schadenfrei wieder heraus kommen? Wieso, verdammt noch mal, hatte sie sich nur so unverschämt aufgeführt? Sie musste unbedingt von hier fort, bevor sie etwas noch dümmeres anstellte. Also wagte sie sich noch einen vorsichtigen Schritt zurück. „Der Cairdric?“

Er nickte und Ari sah, dass er seine Offenheit bereute. „Ja, genau der bin ich. Und nun mach dein Versprechen wahr und nenne mir deinen Namen.“

„Ich habe dir gar nichts versprochen, erinnerst du dich nicht?“

Er wollte gerade etwas erwidern, doch er wurde jäh unterbrochen: „Mylord! Wo seid Ihr?“

Das war einer seiner Männer gewesen. Anscheinend hatten sie jetzt mitbekommen, dass ihr Prinz sich nicht mehr wohlbehütet und selig schlafend in seinem Zelt befand und suchten auf die dümmste Art und Weise der Welt nach ihm: durch lautes Rufen.

Doch ohne es zu wissen, beschafften sie Ari genau das, was sie in diesem Moment unbedingt gebraucht hatte: Eine wirkungsvolle Ablenkung. Cairdric drehte sich nämlich um, damit er ins Lager sehen konnte und sie verschwand restlos im Schatten und schlich sich leise an den Bäumen vorbei, sodass sie jetzt genau gegenüber von dem Punkt stand, an dem sie vorhin gewesen war. Wie erwartet, sah sich Cairdric zuerst suchend nach ihr um als er ihre Abwesenheit bemerkte und rief dann:

„He, wo bist du hin?! Du hast mir deinen Namen doch noch nicht verraten!“

Sie schickte sich an, einfach wegzulaufen, um so schnell wie möglich wieder Zuhause zu sein, doch da ihm ihr Name so wichtig schien, entschied sie sich anders.

 

***

 

Ehrlich gesagt war er nicht sonderlich überrascht gewesen, sie nicht mehr zu sehen. Es war nur sehr schade, dass sie ihm seine Frage nicht beantwortet hatte. Cairdric hatte aus tiefstem Herzen gehofft, dass sie doch noch einlenken würde, jetzt sah er ein, dass es vergeblich gewesen war. Vom ersten Augenblick an. Er spürte es schon kommen, dass er nun Tag und Nacht immer darüber nachdachte, solange, bis er es irgendwann herausgefunden hatte oder diese Grübelei mit ins Feuer nahm. Ähnlich sehen würde es ihm auf jeden Fall. Wie nur sollte er ihren Namen herausfinden? Es gab viel zu viele Menschen im Königreich, wie sollte er gerade sie wieder finden. Er hatte jetzt zwar eine ungefähre Ahnung, wo sie wohnen müsste, doch wer sagte ihm, dass sie nicht zu den „Wandernden“ gehörte?

Die Wandernden waren Menschen, die keine wirkliche Heimat hatten, sie gehörten nirgendwo hin und durchstreiften die drei Königreiche ihr ganzes Leben lang. Und sie ließen sich von niemandem etwas sagen, denn sie befolgten ihre eigenen Gesetze. Aber dennoch waren sie keine Gruppe, die sich zusammenschloss, viele lebten allein. Ganz allein. Nur manchmal traf man sie in größeren Gruppen an. Wenn man sie überhaupt traf. Cairdric hatte selbst noch nie welche gesehen, doch sein Vater hatte sie ihm ausführlich beschrieben. Und das Mädchen passte perfekt in das Bild, welches er sich von ihnen gemacht hatte.

Frech. Leise. Vorsichtig. Undurchschaubar. Und verschwiegen. Nichts bekam man aus ihnen heraus, wenn sie es nicht wollten. Und er hatte es noch nicht einmal geschafft, ihren Namen zu erfahren!

Wenn sie wirklich zu denen gehören sollte, dann müsste er schon mit mächtig viel Glück aufwarten können, um sie je wieder zu sehen. Er wusste ja noch einmal genau, warum ihm eigentlich so verdammt viel daran lag. Ein Seufzer entfuhr ihm.

Doch dann hörte er ein Flüstern hinter sich und obwohl er sofort herumschnellte, sah er niemanden mehr. Ein leiser Schauder lief ihm über den Rücken, dann ging Cairdric langsam den Hügel hinunter und versuchte Eldar und den beiden Jungen in wenigen Sätzen zu erklären, warum er nicht mehr im Zelt gewesen war, damit sie ihn schnellstmöglich in Ruhe ließen. Cairdric wartete auf einen Kommentar von seiner Stute, doch merkwürdigerweise verhielt Gazahlia sich ganz still und fragte nichts und wollte auch nichts wissen. Er überlegte, ob sie vielleicht zugehört hatte und sowieso alles schon wusste.

Kurz darauf legte er sich wieder ins Bett und versuchte erneut zu schlafen, obwohl ihm das unmöglich schien. Noch immer hörte er ihr leises Flüstern, als stünde sie direkt an seiner Seite. Es war nur ein einziges kleines Wort gewesen und dennoch füllte es all seine Gedanken aus.

Morgen.

 

 

 

 

 

Kapitel sieben

 

Irgendwie musste sie ein wenig über sich selbst lachen, als sie sich umdrehte und wieder nach Osten in Richtung Dorf lief. Wo kam denn auf einmal diese Dramatik her? Sie war doch sonst nicht so. Was wahrscheinlich aber auch daran lag, dass sie nie die Gelegenheit dafür bekommen hatte. Schade eigentlich, denn es war irgendwie beinahe befriedigend gewesen, das überraschte und zutiefst verstörte Gesicht des Prinzen zu sehen.

Dann erinnerte Ari sich daran, dass sie ihn ja morgen bereits schon wieder sehen würde. Und das vor den Augen des gesamten Dorfes. Wie er wohl reagieren würde? Plötzlich fielen ihr all die bösen Wörter und Verwünschungen ein, mit denen sie sich jetzt am liebsten überschüttet hätte. Doch erstmal musste sie zusehen, rechtzeitig vor Sonnenaufgang wieder im Bett zu liegen. Und dummerweise waren ihre Eltern überzeugte Frühaufsteher, das hieß, sie sollte am besten beten und sprinten.

Jedoch, anders als auf dem Hinweg, leitete sie diesmal kein geheimnisvoller Geist und sie war schon bald völlig außer Atem. Stolpernd hastete sie zwischen dicken, dunklen Stämmen durch und bückte sich unter Ästen hinweg, holte sich Schrammen an den Ästen, unter denen sie sich nicht schnell genug hinwegducken konnte, nur um nach einer Weile zu bemerken, dass sie jetzt viel mehr sah. Ein überaus schlechtes Zeichen, weil es bedeutete, dass die Nacht zu Ende ging. Und immer noch kam ihr die Umgebung nicht übermäßig vertraut vor.

Sie war gerade am Verzweifeln und ging in Gedanken schon all die unzähligen, unnützen Lügen durch, die sie ihren Eltern erzählen würde, als sie auf einmal etwas rechts vor sich aufblitzen sah. Neugierig geworden, folgte sie dem Schillern und kam an den Rand eines Flusses. Besonders breit war er nicht, aber die Strömung war stark und wegen seiner Klarheit konnte Ari sehen, dass ihr das Wasser ungefähr bis zur Hüfte reichen müsste. Ausprobieren wollte sie es nicht, dafür war es viel zu kalt.

Sie war höchstgradig erstaunt, da sie nie etwas von einem Fluss gehört hatte, der durch den Lozei-Wald floss. Wo der wohl herkommen mochte? Leider hatte sie jetzt keine Zeit, das herauszufinden, aber irgendwann würde sie wiederkommen. Dann drehte sie sich nach links und folgte dem Fluss, froh, dass er sie direkt dahin führen musste, wo sie hin wollte. Denn anscheinend war sie auf dem Rückweg von Cairdrics Lager ein wenig vom Weg abgekommen und ihrer Berechnung nach führte der Fluss, wenigstens für eine Weile, nach Osten. Sie hatte nicht einen Augenblick lang Angst, sich zu verirren, Orientierung war schon immer eine ihrer Stärken gewesen, Sorgen machte sie sich eher über die schwindende Dunkelheit. Die Dämmerung begann. 

Sie beeilte sich und achtete weniger auf die sie umgebende Schönheit als auf den Boden, damit sie auch ja nicht stolperte und etwas von ihrer kostbaren Zeit vergeudete. So übersah sie vollkommen die Spuren am Flussrand, die eindeutig nicht von Tieren stammten, ebenso wie einen garantiert nicht von selbst entstandenen Hügel am anderen Ufer - der wahrscheinlich nur rein zufällig die Form eines umgedrehten Bootes hatte, welches mit Laub und Erde getarnt worden war - oder die vielen Augenpaare, darunter eines, welches von ihr selbst stammen könnte, die ihr von überall folgten und alles registrierten. Von den hastigen, wohlplatzierten Schritten bis hin zu der Tatsache, dass der Schweiß auf ihrer Stirn zu verschwinden schien und einige, von Ästen stammende Schrammen an ihrem Arm ein wenig zu schnell für die herrschenden Naturgesetze verblassten.

 

***

 

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen die Möglichkeit hatten, Cairdric aus dem Schlaf zu reißen, erwachte er plötzlich und setzte sich ruckartig im Bett auf. Noch war es mehr oder weniger dunkel, doch er zog sich die Sachen an, die er gestern - oder war es schon heute gewesen? - einfach so auf den Boden geworfen hatte. Dann schlug er die Eingangsplane zurück und stapfte nach draußen. Überaus verärgert bedachte er die drei Wachleute mit einem vernichtenden Blick, die offensichtlich vom Trinken müde geworden waren und jetzt laut schnarchend am Feuer lagen. Oder besser dem, was noch davon übrig war und sich eher ’Sterbende Glut’ bezeichnete als ’Feuer’. Frustriert grunzend steckte er ein Stück von dem in der Nähe liegenden Holz in die Glut und quittierte das leise Aufflammen einige Momente später mit einem zufriedenen Seufzer.

Bist du jetzt schon so mies gelaunt, dass dich eine kleine Flamme erfreut? Gazahlias Stimme klang keineswegs so amüsiert, wie es ihre Worte vielleicht vermuten ließen. Sie war wahrscheinlich eher überrascht, Cairdric so früh schon zu sehen und er glaubte, einen Hauch von Neugierde wahr zu nehmen.

Hast du gestern eigentlich gelauscht oder nicht? Als sie ihm nicht antwortete, ging er zu ihr hin und stellte sich genau vor ihren Kopf. Gazahlia. Hast du uns belauscht oder nicht?

Sie sah kurz weg, doch dann überlegte sie es sich doch wieder anders. Nicht die ganze Zeit. Also eigentlich nur zum Schluss. Als dieser dumme Eldar unbedingt nach dir rufen musste.

Aha, also war es Eldar, der mich dazu gebracht hat, das Mädchen einfach wieder laufen zu lassen?! Er war eine Zeit lang still, dann fragte er eigentlich mehr sich als sie: Was sie wohl meinte mit diesem ’Morgen’?

Du wirst sie anscheinend heute noch einmal treffen und dann wird sie dir ihren Namen verraten. Was sollte sie sonst meinen?

Aber wie kannst du dir da so sicher sein? Fast verzweifelt sah er sie an.

Aus ihren folgenden Gedanken konnte er nicht viel mehr entnehmen, als dass sie sich nicht im Geringsten sicher war, man es jedoch nicht anders deuten konnte. Dann drehten sich ihre Überlegungen nur noch um das Gras zu ihren Hufen und schließlich schloss Gazahlia die Tore zu ihrer gedanklichen Festung und sperrte ihn aus. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder zum Zelt zu gehen, wo er erst einmal dafür sorgte, dass sich seine Begleiter auch aus den Betten schwangen und dann, dass Eldar, obwohl er einer seiner besten Freunde war, und die beiden anderen Wachen, Hal und Kildar, zur Strafe fürs ungebührliche Trinken nachher das Lager ganz alleine abbauen mussten.

Einige Stunden später ritt die Gruppe schweigend durch den Wald, nur hin und wieder unterhielten sich die Männer und selbst dann fast nur im Flüsterton. Irgendwie schienen die großen, dunklen Bäume einen beängstigenden Eindruck auf sie zu machen, doch Cairdric spürte davon gar nichts. Er hatte sich schon seit frühester Kindheit immer zwischen Bäumen wohler und behaglicher gefühlt als im Schoß seiner Mutter.

Cairdric ritt in der Mitte zwischen seinen Soldaten, ganz an der Spitze saß der Hauptmann Ranald auf seinem grauen Pferd und den Schluss bildeten Hal und Kildar. Die übrigen neun Reiter hatten einen Kreis um ihren Anführer gebildet und schützten ihn so vor etwaigen Angriffen. Zum Glück.

Er spürte das heransausende Gerät noch bevor er es hörte oder sah. Was er dann aber hörte war allerdings etwas ganz anderes: Zuerst vernahm er ein ekelhaftes Kreischen von Metall auf (oder besser durch) Metall, daraufhin ein Schmatzen und zum Schluss das dumpfe Aufprallen eines schweren Körpers auf den Boden zu seiner rechten. Sein Kopf und die derjenigen, denen der Vorfall ebenfalls nicht verborgen geblieben war, ruckten in die entsprechende Richtung. Kurz registrierte er die rote Pfütze und den darin liegenden leblosen Mann, dem ein Speer oder etwas ähnliches Holzartiges im Bauch steckte, dann schon erforderte etwas anderes seine ganze, ungeteilte Aufmerksamkeit.

Denn plötzlich stürmten aus dem Unterholz laut schreiende Männer heraus und stürzten sich auf die erschreckten Pferde. Die Reiter bekamen kaum die Gelegenheit, ihre Schwerter zu ziehen, als auch schon die ersten durch Keulen oder lange Speere aus den Sätteln gerissen wurden. Cairdric beobachtete, wie sich gleich mehrere Angreifer auf den verzweifelt kämpfenden Ranald stürzten und es dann auch tatsächlich schafften, ihn vom Pferd zu ziehen und zu überwältigen. Er drehte den Kopf und sah die beiden jüngsten Soldaten, Hal und Kildar, in einer immer größer werdenden Blutlache auf dem Boden liegen, zu ihren zermalmten Köpfen standen heruntergekommene Kreaturen, abgemagert und die eingefallenen Gesichter grausig bemalt.

Er selbst verdankte es nur Gazahlias unübertroffenen Reflexen, dass er nicht von einem heranfliegenden Speer getroffen wurde. Sie trat einen großen Schritt beiseite, sprang über mehrere Banditen, die einen am Boden liegenden Soldaten zerhackten und verpasste einigen von denen harte Tritte mit ihren Hufen. Dann war auch er wieder so weit zu sich gekommen, dass er sein Schwert hob und es in irgendeinem Körper versenkte. Das darauf folgende laute Stöhnen versuchte er aus seinen Gedanken zu verbannen und konzentrierte sich weiter auf den Kampf. Doch als Kampf konnte man das hier nun gar nicht mehr bezeichnen. Es war ein brutales und blutiges Gemetzel. Banditen hieben ihre Keulen auf diverse Körperteile von seinen Rittern, Ritter hackten Banditen ihre Gliedmaßen ab, Pferde trampelten panisch Menschen über und Menschen trampelten auf anderen Menschen herum, nur um dafür zu sorgen, dass weitere Menschen auf dem Boden lagen, verletzt, verstümmelt, röchelnd, sterbend, tot.

Cairdric entdeckte zu seiner linken das Blitzen eines Helmes und wies Gazahlia an, dorthin zu gehen, um dem bedrängten Kämpfer beizustehen. Kurz darauf krümmten sich vier Kreaturen vor den Hufen seiner Stute und andere Unglückliche fielen unter seinen Schwerthieben. Er drehte sich im Sattel zur Seite, wich somit dem Hieb eines Banditen aus und schlitzte dessen Brust auf. Langsam wurde er wütend: wie viele waren denn hier noch?

Nach und nach fielen die Banditen, denn nun machte sich die jahrelange Ausbildung der Ritter bemerkbar. Unzählige Male hatten sie mit anderen die Klingen gekreuzt und sich immer neuen Herausforderungen gestellt. Dagegen waren diese ungeübten, verzweifelten, abgemagerten und schwachen Kreaturen gar nichts. Obwohl nur noch wenige Soldaten auf den Beinen waren und nur Cairdric im Sattel saß, lichtete sich allmählich die Zahl der Angreifer. Er sah wie Garsiv und Angar, die beiden aus der königlichen Leibwache, zusammen mit Eldar und zwei weiteren Rittern Rücken an Rücken standen und gekonnt die Angreifer abwehrten, die wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nichts von Taktik gehört hatten. Plötzlich tauchte irgendwo hinten Ranald wieder auf, eine lange Schramme verlief quer über sein Gesicht, doch ansonsten schien er ganz in Ordnung zu sein, im Gegensatz zu dem hinter ihm liegenden Sandor, einem guten Freund von Ranald, der mit geschlossenen Augen am Boden lag und nur durch Ranalds Schwert vorm Zerstückeln gerettet wurde. Cairdric schlug sich mit Gazahlias Hilfe eine Bresche durch die Banditen und kam den beiden zu Hilfe.

Es dauerte nicht mehr wirklich lange und dann war alles auch schon wieder vorbei. Die Räuber hatten sich eindeutig vollkommen überschätzt: mit Speeren und Keulen konnte man nicht gegen Schwerter und Rüstungen ankommen und selbst ihre enorme Überzahl hatte sich nicht ausgezahlt. Alle waren tot, die wenigen, die es noch nicht waren, wurden erlöst. Dann konnte Cairdric sich einen ersten Überblick verschaffen.

Es waren knapp fünfundzwanzig bis dreißig Angreifer gewesen, schlecht ernährt, abgewetzte Kleidung, beinahe jeder von ihnen trug ein Brandzeichen auf dem rechten und dem linken Handrücken, ein Kreis und darin ein großes ’A’. Dies war das Symbol für Diebe, Verräter und andere Verbrecher, die bei ihren Straftaten erwischt worden waren. Das ’A’ stand für Aussätzige. Er hatte selbst schon einmal solch einer Bestrafung zugesehen. Die Hände der Männer wurden auf einen Balken gebunden, dann wurde ihnen ein glühendes Eisen mit diesem Zeichen darauf gedrückt. Er hatte zwar gewusst, dass sich viele dieser Verurteilten in den Wald geflüchtet hatten, wäre jedoch nie im Leben auf die Idee gekommen, ihnen hier und jetzt zu begegnen. Mit einem Male war die relativ gute oder wenigstens angespannt positive Laune verschwunden und räumte den Platz frei für ein klein wenig Furcht zusammen mit Erschrecken und noch etwas anderem, was er gerade nicht genau erklären konnte. War es vielleicht Vorahnung?

Von seinen Männern waren sechs tot, anscheinend nur Sandor schwer verletzt und die restlichen sechs, er inklusive, mäßig verletzt. Ein flacher Schnitt an seinem Unterarm und eine Prellung an der Hüfte, wo ihm einer seine Keule gegengehauen hatte, waren sehr wenig im Gegensatz zu den Wunden der übrigen. Hal und Kildar waren beide tot, von den Keulen erschlagen und danach brutal zerhackt. Bei den anderen waren die Angreifer nicht weniger bestialisch vorgegangen. Eldar kam zu ihm, schon einen Verband um den Arm geschlungen und fragte: "Was sollen wir jetzt tun? Wir können sie nicht dem Feuer übergeben, nicht ohne die Zeremonie und mitnehmen auch nicht."

"Ihr könnt sie doch nicht vergraben wollen?!", mischte sich Angar ein, einen erschrockenen Ausdruck im Gesicht. Der Ritter hing fest an vielen Traditionen und empfand das Begraben genau wie alle anderen als eine unverzeihliche Gräueltat. "Mylord, wir können es nicht wagen, sie zu binden!"

"Aber mit einem Feuer könnten wir andere hierherlocken und dann ist vielleicht niemand mehr übrig um den Rest von uns den Flammen zu geben. Wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden." Eldar blickte den Prinzen auffordernd an. Er wusste, dass der große Kerl Recht hatte, doch die Vorstellung, sie hier einfach zu vergraben als wenn sie jemand wären, der es nicht einmal verdient hätte, in die Flammen zu gehen, war abscheulich. Er blickte eine Weile verzweifelt von einem zum anderen, doch dann musste er Eldar beipflichten. "Auch wenn das Feuer niemanden anlocken würde, können wir sie nicht ohne ihre sechs Tage mit dem Feuer gehen lassen. Das wisst Ihr doch oder?" Er sah Angar an, der unentschlossen die Leichen seiner ehemaligen Freunde anblickte. Da er nichts mehr sagte, ordnete Cairdric an, die Toten zu beerdigen. Nachdem sie sie etwas tiefer im Wald vergraben und die Verwundeten notdürftig verarztet waren, fingen sie die verstreuten Pferde wieder ein und ritten mühsam weiter, leiser und vorsichtiger diesmal. Es dauerte unendlich länger als geplant, da sie oft Pausen einlegten, um ihre Wunden zu versorgen und dem schwerverletzten Sandor so gut wie möglich zu helfen, doch endlich gelangten sie an den Rand des Waldes und ritten endlich wieder im Licht der wunderschönen, wärmenden Sonne an gut bearbeiteten Äckern entlang.

Dann wurden sie plötzlich von kleinen Kindern bemerkt, die im Maisfeld spielten, und zwischen den Häusern strömten ihnen knapp zwanzig Männer, Frauen und weitere Kinder entgegen. Entsetzte Ausrufe folgten, als man die Verwundeten sah, auf behelfsmäßigen Tragen wurden diese dann schnell in eine große Hütte gebracht. Daraufhin trat ein etwas älterer Mann zu ihm und sprach ihn an: „Mylord, es ist uns eine große Ehre, Euch, den Prinzen, in unserem kleinen Dorf zu begrüßen und trotz dieser unerfreulichen Umstände möchte ich anmerken, wie sehr Euer Besuch uns erfreut.“ Nach einer kurzen Pause fügte er mit einem Blick auf seine Gefährten hinzu: „Wir werden uns sofort um Euch und Eure verletzten Männer kümmern, doch erst einmal bitte ich darum, dass Ihr in mein Haus kommt, um Euch auszuruhen.“

Cairdric, der diesen Mann für den Dorfobersten hielt, willigte ein und gab seinen Begleitern das Zeichen, ihm zu folgen. Noch bevor er eine dementsprechende Frage stellen konnte, kam ein junger Mann, der sich als Yannic vorstellte, herangeeilt und bat darum, seine Stute wegführen zu dürfen. Er erklärte, dass er sie auf seine Wiese bringen wollte, zusammen mit den anderen erschöpften Pferden.

Erhol dich ein wenig. Ich werde nachher nach dir sehen, bedeutete er Gazahlia, bevor sie um eine Häuserecke verschwand.

Lass dir Zeit, mir geht es gut, kam es zurück.

 

Kapitel acht

 

Iskander, der Dorfoberste, geleitete ihn zügig durch das Dorf. Cairdric bemerkte in beinahe jedem Fenster ein junges, neugieriges Gesicht, doch jedes Mal verschwand es schnell wieder, wenn er genauer hineinsah. Auch die vielen Frauen, die sich um die fast frei umherlaufenden Tiere kümmerten, betrachteten ihn mit unverhohlener Neugier und selbst die meist älteren Männer bildeten keine Ausnahme. Jedoch wurde nicht nur er beäugt, auch seine Begleiter sahen sich den unbekannten Menschen gegenüber, der einzige Unterschied war, dass sich die Bewohner des Dorfes näher an sie heranwagten. Ein Blick zurück zeigte ihm, wie die Männer meist einzeln in verschiedene Häuser gebracht wurden, emsig umringt von Hilfsbereiten und Schaulustigen. Er sah vier Dörfler, die Sandor auf eine behelfsmäßige Trage legten und in Begleitung einer alten Frau um eine Hausecke trugen.

Vor einem nicht ganz so ärmlichen Haus wie den anderen machte Iskander Halt und führte Cairdric durch die Tür. Innen befand sich ein großer Raum, links an der Wand stand ein grob gezimmerter Holztisch mit vier Stühlen, etwas weiter daneben war die Feuerstelle, die selbst am helllichten Tag ununterbrochen Feuer führte. An der gegenüberliegenden Wand sah er drei Türen, wohl die Zimmer der Hausbewohner und an der rechten Seite ging es anscheinend zum Abtritt. Eben trat eine Frau im mittleren Alter durch die ganz linke Tür der gegenüberliegenden Wand und hielt eine Schale mit Getreide in der Hand. Als sie Cairdric bemerkte, versuchte sie sich rasch an einer ziemlich unbeholfenen Verbeugung und er sah, dass ihre Finger leicht zitterten. Sie hatte Angst vor ihm. Doch aus welchem Grund? Er hatte ja nicht vor, ihnen irgendetwas zu tun oder - wie einige Adlige, denen er manchmal begegnete - seine hohe Position auszunutzen und sie ungestraft zu berauben oder zu schikanieren.

Ein erneutes Türöffnen, diesmal die rechte, brachte die Antwort. Jedenfalls war er sich sicher, dass dies die Antwort war. Eine kleine brünette Schönheit stürmte ohne aufzusehen in den Raum und brabbelte gleich drauf los:

„Sag mal Mutter, was soll ich denn jetzt tragen, wenn der – “ Cairdric erfuhr nicht mehr, was sie eigentlich sagen wollte, denn nun sah sie zu ihrem Vater hin und realisierte, dass dieser nicht alleine dastand. „Huch, wer ist denn das da? Doch nicht etwa mein lieber Cousin Sivan? Ach du meine Güte, hast du dich stark verändert. Aber du siehst ja doch besser aus, als ich gedacht hatten.“ Als sie ihren Blick kurz über seine von der Reise und vom Kampf schmutzige, zerrissene Kleidung huschen ließ, verzog sie angewidert das Gesicht. „Ja wie siehst du denn nur aus? Zerrissene Hose, dreckiges Hemd und auch noch Blutspuren! Hast du dich etwa im Schlamm gewühlt und mit anderen Jungen gebalgt?“ Bei dieser Vorstellung kicherte sie leise und mädchenhaft. „Komm doch mal her und lass dich umarmen, Siv.“ Sie ließ sich in ihrem Redeschwall nicht einmal unterbrechen, weder vom Vater, noch von der Mutter und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Cairdric hob zwar abwehrend die Arme, doch sie hatte ihn schon an sich gedrückt. Dann trat sie einen kleinen Schritt zurück, nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte ihm zwei flüchtige Küsse auf die Wangen. „Wieso bist du denn überhaupt schon so früh hier, ich dachte, dein Vater wollte dich erst nächste Woche herschicken? Aber egal, Hauptsache du bist endlich da. Was meinst du, wie meine ganzen Freundinnen gucken werden, wenn ich dich ihnen vorstelle. Aber dass du mir bloß nicht mit ihnen anbändelst.“

Sie hob tadelnd den Finger und zwinkerte ihm zu. Cairdric machte erneut einen Versuch, sie abzuwehren und diesmal gelang es ihm. Bevor er das Wort ergreifen konnte, begann auch schon der Vater: „Mirana! Komm sofort her!“ Die Angesprochene sah ihn verblüfft wegen der Grobheit seiner Worte an und wollte schon widersprechen, doch Iskander wischte die aufkommenden Worte mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. Gleichzeitig sah er Cairdric entschuldigend und auch ängstlich ob der folgenden Reaktionen an. „Mirana das ist doch nicht Sivan, das – “

„Nicht? Aber wer sollte das denn sonst sein, lieber Vater?“ Verwirrt blickte sie erst ihren Vater und dann Cairdric an und stemmte die Hände in die Hüften. Er wollte die Situation für die drei wirklich nicht noch schwerer machen, aber er konnte sich nur mit sehr großer Mühe das Lachen verkneifen.

„Mirana, das ist der Prinz, verdammt noch mal. Was du nur wieder angestellt hast!“, zischte Iskander ihr zu. Mirana schluckte schwer und sah ihn fassungslos an. Ob sie fassungslos war, weil der Prinz in ihrem Haus stand oder weil sie ihn gerade umarmt und sogar geküsst hatte, das konnte er nur raten.

„Ohh.“ Der Laut kam nur zögerlich über die schönen Lippen. Die Arme rutschten langsam die Taille hinab und baumelten dann hilflos hin und her. Da ihr der Schrecken jetzt so unübersehbar ins Gesicht geschrieben stand und er wusste, dass alle eigentlich nur auf seine Reaktion warteten, konnte er sich nicht länger halten und musste laut loslachen. Dabei überkam ihn ein so befreiendes Gefühl, wie er es schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt hatte.

„Ist in Ordnung. Es ist schon ganz nett, mal wieder umarmt zu werden und dann auch noch auf solch eine freundliche Art und Weise.“ Er grinste Mirana breit an und nach einigen erstaunten Sekunden gestattete sie es sich, schüchtern zurückzulächeln. Auch Iskander und seine Frau wirkten erleichtert. Cairdric glaubte, die Angst der Frau bestand darin, dass er Mirana vielleicht entehren oder sie zumindest unanständig berühren könnte. Doch da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, er achtete die Ehre der Frauen mindestens genauso sehr wie seine eigene.

"Danke, Mylord. Ich seid zu freundlich. Darf ich Euch trotzdem noch in aller Förmlichkeit meine Frauen vorstellen? Meine einzige Tochter und gleichzeitig die Jüngste des Hauses Mirana und meine Frau Moura, die Beste von allen. Meine übrigen Söhne sind alle schon ausgezogen, aber vielleicht werdet Ihr ihnen im Dorf noch über den Weg laufen. Kann ich jetzt irgendetwas für Euch tun?"

„Nun, werter Iskander, ich habe einen harten Tag hinter mir und würde mich gerne ausruhen. Wo werde ich nächtigen und meine Sachen abstellen können?“, fing er nach einiger Zeit wieder an. Schnell kam wieder Geschäftigkeit in die drei, Mirana huschte nach draußen und murmelte „Muss kurz weg“, die Frau stellte die Schale mit dem Getreide auf den Tisch und ging dann wieder zurück durch die Tür, durch die sie hineingekommen war, nicht ohne ihm vorher noch ein erleichtertes Lächeln zu schenken, und Iskander führte ihn durch die mittlere Tür in einen Raum. Dieser war um einiges kleiner als der vorige und beinhaltete nur ein einziges schlichtes Bett, eine wunderschön verzierte Kommode und einen vierbeinigen Hocker. Aufgrund der Einrichtung ging er davon aus, dass dieses Zimmer eigentlich Mirana gehörte und er fand es ein wenig schade, dass er allein durch das Zimmer leider nicht sehr viel über sie erfahren würde. Sie besaß keinerlei persönliche Sachen und wenn doch, dann hatte sie sie weggeräumt.

„Wo wird Mirana denn jetzt schlafen, wenn ich ihr Zimmer besetze?“, wandte er sich an Iskander.

„Bei einer Freundin aus dem Dorf, Mylord. Sie hat noch genug Platz und außerdem haben die beiden so etwas sowieso schon lange geplant. Ihr müsst Euch also keine Sorgen um sie machen, Mylord“, antwortete er.

„Wer sagt denn, dass ich mir Sorgen um sie mache?“, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln, welches sein Gastgeber nicht sehen konnte, weil er mit dem Rücken zu ihm stand. Der kam ins Stottern und versuchte sich zu retten.

„Na, Ihr ... Ihr ... es klang so ... so als wenn Ihr Euch ... hmm ... Gedanken um sie ... um Mirana machen würdet. Vergebt mir, Mylord, das war sehr dreist von mir.“

„Ist doch nicht schlimm, mein lieber Iskander, ich habe mir nur einen kleinen Spaß erlaubt. Das tue ich eigentlich immer, wenn ich geschafft und müde bin, also vergib bitte mir.“ Er drehte sich um und sah Iskander ganz freundlich an. Dieser verlor jetzt alle Vorbehalte gegen den Prinzen und fand ihn ausgesprochen freundlich und auch um einiges höflicher, als man sich von den höheren Adligen so erzählte.

Nachdem er hinausgegangen war und sich noch wegen der Kargheit der Einrichtung entschuldigt hatte, gürtete Cairdric sein Schwert ab, legte sich erschöpft aufs Bett und streckte alle seine Glieder. Er musste wohl geschlafen haben, denn als er sich das nächste Mal wieder umsah, entdeckte er seine Satteltaschen neben der Tür stehen und nutzte die Gelegenheit, sich gleich saubere Sachen anzuziehen. Er legte die dreckigen und zum Teil blutbesudelten Klamotten ab und schlüpfte in eine frische Hose und ein locker sitzendes, weißes Hemd. Er packte auch den Rest, der nur aus zwei Hosen, zwei Hemden, einem Paar Stiefel und seinen übrigen Waffen bestand, aus seinen Taschen aus und verstaute die Klamotten sorgfältig in der Kommode. Das Schwert, so nahm er sich vor, würde er später noch reinigen, jetzt wollte er erst einmal etwas anderes.

Im großen Vorraum traf er niemanden an und ging deshalb nach draußen, wo er nach Iskander Ausschau hielt. Doch statt seiner entdeckte er dessen Frau. Als er sie fragte, wo ihr Mann sei, zeigte sie auf eine mittelgroße Scheune, in die er gerade einen jungen Mann verschwinden sah, der garantiert nicht Iskander, sondern eher der Junge war, der Gazahlia weggeführt hatte. Dessen Namen hatte er schon wieder vergessen.

„Vielen Dank, verehrte Frau.“ Er drehte sich um und wollte schon gehen, doch dann sah er sie noch einmal an. „Warum sprichst du nicht, hast du etwa Angst vor mir? Du hast vorhin nichts gesagt, du redest jetzt nicht ...“

Die Frau drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht weg und unterdrückte sichtbar die Tränen. Dann zeigte sie mit der Hand auf ihren Mund und schüttelte den Kopf.

„Du kannst also gar nicht sprechen? Seit wann denn schon nicht? Seit deiner Geburt? - Nein. Also ist das nicht natürlich gekommen? Wurde dir das von jemandem angetan? Aber aus welchem Grund denn?“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und Cairdric nahm sich vor, Iskander sofort danach zu fragen, wenn er ihn traf. Er murmelte noch eine leise Entschuldigung und schenkte ihr einen mitleidigen Blick.

Cairdric ging zu der Scheune und durch die Tür, die auch der Junge vorhin benutzt hatte. Drinnen fand anscheinend gerade eine Versammlung der Dorfbewohner statt - jedenfalls aller Männer. Denn Frauen konnte er nicht erkennen. Die Männer standen im Halbkreis und hörten jemandem zu, der ganz vorne stand. Offenbar wurde gerade heftig diskutiert, denn er bemerkte, wie immer wieder Leute dazwischenredeten und die Männer immer lauter wurden. Trotzdem verstand er kein Wort von dem, was vorne gesagt wurde. Niemand hatte seine Ankunft bis jetzt mitbekommen.

 

Kapitel neun

 

Da war sie wieder. Diese wunderschöne Stute. Sie stand nur einige Meter von ihr entfernt auf der Wiese von Yannics Vater und graste friedlich. Ari hatte noch gesehen, wie der junge Mann sie auf die Koppel geführt hatte und dachte sich, dass es der Stute gar nicht gefiel, wenn Yannic ihr so nah war. Ständig war sie zur Seite gewichen, immer auf möglichst viel Abstand und als er sie endlich mit großer Mühe abgesattelt und losgemacht hatte, war sie schleunigst ans andere Ende der Umzäunung galoppiert. Von dort aus hatte sie gewartet, bis sich der Junge kopfschüttelnd mit der Satteltasche davon gemacht hatte und dann hatte sie sich erst beruhigt. Ari selbst war eigentlich nur von ihrer Mutter hergeschickt worden um ein wenig Milch abzuliefern. Eine der Kühe hatte nämlich stark gelahmt und Jegor, Yannics Vater, hatte die Ursache, einen eingetretenen Stein, ausgesprochen schnell entfernt. Und als Gegenleistung dafür bekam er immer Milch von ihnen.

Dann hatte Ari die Rufe gehört, die die Ankunft des Prinzen bedeuteten und da ihr klar war, dass Yannic sich sogleich die Pferde holen würde, war sie einfach noch ein wenig dageblieben. Und es hatte sich gelohnt. Denn mochte die Stute im Mondlicht auch noch aussehen wie silberne Seide, die Sonne verwandelte ihr Fell in die strahlenste Schönheit, die ihr jemals zu Gesicht gekommen war. Und Ari war sich sicher, wenn die Stute noch sauber gewaschen wäre, wäre sie garantiert ein phänomenaler Anblick.

Sie stand jetzt hinter der Hausecke und beobachtete die Weide. Die Tiere der übrigen Männer, die den Prinzen begleitet hatten und die sechs Pferde, die entweder von Yannic oder von anderen Dorfbewohnern waren, vertrugen sich anscheinend relativ gut mit der Stute und standen nahe an ihrer Seite. Langsam begann sich in Aris Kopf eine Idee zu manifestieren. Sie duckte sich unter dem Zaun durch und schlich zum Pferd, das ihr am nächsten war. Sie gelangte weiter und weiter, immer dichter an die Stute heran, bis sie nur noch ein einziger Pferdekörper trennte. Sie spähte über den hellbraunen Rücken und bestaunte dieses wunderbare Tier nun aus der Nähe. Anscheinend hatte die Stute sie noch nicht bemerkt, auch wenn sie mit der Vorderseite zu ihr stand. Ari ging um die braune Stute herum und stand nun direkt vor ihr. Langsam, ganz gemächlich hob diese den Kopf und sah ihr dann kauend in die Augen. Ein Schauder durchfuhr Aris Körper und sie fühlte sich unter diesem Blick wie bloßgelegt, als wenn sie nackt zur Schau stehen und alle ihre tiefsten Geheimnisse laut verkündet würden.

Urplötzlich schoss ihr ein Bild durch den Kopf. Eine Festung. Eine Belagerung. Vordringende Angreifer. Verzweifelte Verteidiger. Viele einzelne Festungsringe, alle mit jeweils nur einem einzigen Tor verbunden. Dicke Mauern, die durch mächtige Geschosse verteidigt wurden. Starke Armeen, Soldaten, die auf den Zinnen umher rannten und den Angreifer abzuwehren versuchten. Das offene äußere Tor, durch das stetig Angreifer hineingelangten. Und Ari wusste plötzlich, wenn diese Festung halten wollte, musste das Tor geschlossen werden. Also tauchte sie hinab in das aufgeregte Gewimmel der Straßen, lenkte vier kleine Soldatentrupps in Richtung Tor, kämpfte dieses mit ihrer Hilfe frei und schloss die gigantischen Torflügel. Die restlichen Angreifer innerhalb der Festung wurden vollständig aufgespürt und vernichtet. Dann zogen sich die Belagerer auf einmal zurück und Ari stand schwer atmend wieder auf der Wiese.

„Was war denn das?“, entfuhr es ihr und sah keuchend in die ihr gegenüberstehenden Augen, die seltsamerweise ein wenig forschend zu blicken schienen. Doch dieser Eindruck verflog so schnell, dass er auch gar nicht existiert haben könnte.

Ein plötzlicher Schwindel überkam sie und sie fasste sich stöhnend an den Kopf. Als das auch nichts half, sackte sie auf den Boden. Direkt neben ihrem Bein befand sich ein Huf. Er war wunderschön, so wie alles an diesem Tier. Er glänzte schwarz, war perfekt abgerundet und wies weder Risse noch Bruchstellen auf. Ihr fiel auf, dass keine Fesselhaare vorhanden waren, anders als bei den Dorfpferden. Dadurch sah ihr Bein dünner aus und wirkte viel edler, doch sie bemerkte, dass auch die anderen solche Beine hatten. Wahrscheinlich lag es an den Züchtungen des Hofes, anders konnte sie es sich nicht erklären. Wozu brauchte man denn eigentlich Pferde ohne Fesselhaare? Im Leben der reichen Leute der roten Stadt und anderswo gab es doch auch mal Dreck und Nässe. Es war Ari schon immer zuwider gewesen, Tiere nur nach dem Äußerlichen zu züchten. Sie musste natürlich zugeben, dass diese wirklich besser aussahen und doch verabscheute sie es, vor allem, wenn die Tiere damit auch noch zu leiden hatten.

Plötzlich spürte sie einen sanften Schubs im Rücken und kurz darauf hatte sie den Kopf der Stute im Schoß und kraulte ihn. Überaus verwundert dachte sie daran, wie sie Yannic zugesetzt und permanent seine Nähe gemieden hatte und verglich das nun mit ihrer Situation. Schulterzuckend gestattete sie es sich, dass ein wenig Stolz in ihr hochkroch. Sie hatte es tatsächlich geschafft, das Pferd des Prinzen zu kraulen! Die Stute schnaubte liebevoll und Ari entfuhr ein freudiges Kichern. Dann wurde sie erneut angestubst und deutete dies als Zeichen zum Aufstehen. Langsam erhob sie sich, drehte sich um und kraulte das schneeweiße Fell auf der Stirn. Es war so unendlich weich, dass sie sich am liebsten reinlegen würde. Die Stute schob sie mit dem Kopf sanft Richtung Koppeltor und Ari hörte zwei überaus bekannte Stimmen. Hastig stürmte sie von der Wiese runter und versteckte sich im letzten Moment wieder hinter der Häuserecke.

Sie beobachtete Iskander dabei, wie er das Gatter aufschob und die Koppel betrat. Als sie die Person dahinter betrachtete, zog sich ungewollt ein breites Grinsen über ihr Gesicht. Irgendjemand müsste Cairdric doch gesagt haben, dass seine Haare auf der einen Seite mächtig abstanden. Er sah aus, als hätte er nicht nur falsch gelegen sondern auch noch versucht, die Haare mit irgendeinem Öl möglichst nach oben zu bekommen. Doch wahrscheinlich traute sich das niemand. Schließlich war er ja der Prinz.

Wenn sie bedachte wie sie gestern Abend mit ihm geredet hatte! Der Vorsatz, sich noch mal mit ihm zu unterhalten wankte stark und brach dann entzwei. Das würde sie niemals überleben. Ob er schon mit irgendjemandem darüber gesprochen hatte? Wahrscheinlich hatte er längst Iskander nach einer Person ihres Aussehens gefragt und sich genau beschreiben lassen, wie Ari war. Dann hatten er, Iskander und seine dummen, lauten Wachen sich über sie totgelacht und Cairdric würde sie vor allen Leuten bloßstellen, wenn er sie entdeckte. Also ließ sie es lieber dabei, ihn nur zu beobachten und seine Nähe am besten zu meiden. Schwer dürfte ihr das ja wohl nicht fallen, ihre Eltern wollten ja schließlich genau das selbe.

Die beiden schlenderten jetzt auf die Stute zu und unterhielten sich angeregt über irgendwas, was sie nicht verstehen konnte, weil es wegen des Windes und der Entfernung viel zu leise war. Cairdric schien Iskander eindringlich irgendetwas zu fragen und der wich aus. Sie sah ihn leider nur von der Seite, doch sie erkannte, dass der Prinz ein verärgertes Gesicht machte. Dann streichelte er seiner Stute über den Hals. Die stupste ihn liebevoll mit der Nase am Arm an, genau wie sie es vorhin auch bei Ari getan hatte und seine Miene hellte sich wieder auf. Iskander redete erneut auf ihn ein, doch der Prinz schien gar nicht hinzuhören. Ari registrierte verblüfft, dass es seltsamerweise so aussah, als wenn die Stute und er ein unhörbares Gespräch führten. Sie sahen sich beide in die Augen und allein das war für ein Pferd schon ungewöhnlich. Und jetzt schüttelte Cairdric sogar ein wenig seinen Kopf!

Dann jedoch wandte er sich wieder Iskander zu und die Stute widmete sich wieder dem Gras. Anhand der Gesten konnte sie erkennen, dass es diesmal um das Pferd ging. Plötzlich kam der Wind aus der Richtung der Koppel und sie konnte mit großer Anstrengung einiges verstehen.

"... Euer Vater hat sie also von den Magiern gestohlen? Habt Ihr denn dann keine Angst, dass sie irgendwie ... naja irgendwie magisch sein könnte?" Cairdric lachte laut auf.

"Ach lieber Iskander, sie ist doch bloß ein einfaches Pferd und innerhalb der Zeit, in der sie jetzt schon bei mir ist, ist mir wirklich nichts ungewöhnliches aufgefallen. Beruhigt dich das?"

Ja genau, nichts ungewöhnliches, außer dass ihr zwei euch für andere unhörbar miteinander unterhalten könnt!, dachte Ari und runzelte spöttisch die Stirn.

Auch Iskander war nicht ganz überzeugt, ließ es aber dabei und fragte nicht weiter nach. Stattdessen fiel ihm etwas anderes ein:

"Wie nennt Ihr sie? Es ist bestimmt schwer gewesen, für solch ein edles, schönes Tier einen passenden Namen zu finden."

An dieser Stelle konnte Ari ein leicht schelmisches Grinsen auf Cairdrics Gesicht erkennen und bemerkte, dass die Stute nun nicht mehr graste, sondern aufmerksam die Ohren gespitzt hatte und kurze Blicke mit dem Prinzen getauscht hatte. Wieder ein kurzer Wortwechsel? Anscheinend schon, denn er nickte leicht und antwortete dann:

"Nein, nicht unbedingt schwer. Sie hat den Namen praktisch selber mitgebracht. Sie heißt Gazahlia."

An dieser Stelle zuckte Ari zusammen und rutschte mit dem Rücken an der Wand hinab, an der sie lehnte. Nein es war nicht gerade so, dass sie vielleicht jemanden kannte, der diesen Namen trug oder dass sie sogar das Pferd kannte. Aber dieser Name hatte so tief in ihr drin etwas ausgelöst, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Irgendeine völlig fremde und überwältigende Empfindung. Ein Bild, nein eine Szene manifestierte sich in ihrem Kopf und sorgte dafür, dass sie nichts außer dieser wahrnehmen konnte.

 

Sie saß auf dem Boden und schrie. Schrie ohne Worte, denn die kannte sie noch nicht. Eine strahlende Frau kam hastig angerannt und nahm sie auf den Arm. Sie sah sich hektisch um und Ari konnte die Angst spüren, die diese Frau befallen hatte. Als sie sich zu Ari wandte und ihr beruhigend übers Gesicht streichen wollte, sah sie den Schweiß auf ihrer Stirn und die Angst in ihren Augen. Sie selbst wollte wieder schreien, doch etwas in ihr zwang sie dazu, ruhig zu sein und keinen Laut von sich zu geben. Plötzlich hörte sie einen Ruf, den Ruf eines Mannes, der unverständliche Sachen rief, doch die Frau hatte darin offenbar das Zeichen gesehen, loszurennen. Vorher bückte sie sich noch einmal und nahm ein langes Stück Holz auf. Ari nahm die Umgebung nur noch verschwommen war, doch die interessierte sie eh nicht. Alles worauf sie achtete, war das Gesicht der Frau und der laut hörbare, hektische Herzschlag.

Sie rannten schon eine ganze Weile so, Ari mit einer Hand an die Brust der Frau gedrückt, in der rechten Hand hielt diese den Holzstab, doch sie hatte keine Angst vorm Runterfallen. Sie wusste, das würde nicht geschehen. Nach einer Ewigkeit oder vielleicht auch nach kürzester Zeit, denn Zeit hatte für Ari keinerlei Bedeutung, blieb die Frau stehen. Sie waren auf einer breiten Lichtung. Sie drehten sich um und sahen, wie ein Mann aus dem Unterholz stürzte. Er sah gefährlich aus, doch keiner der beiden fürchtete sich, denn das brauchten sie auch nicht. Ari spürte das. Er kam an die Seite der Frau und warf einen gehetzten Blick auf Ari und versuchte sich sogar an einem Lächeln. Dann blickte er wieder in die Richtung aus der er gekommen war. Denn von dort kamen auf einmal viele Männer. Sehr viele Männer. Und im Gegensatz zu vorher fürchtete sie sich jetzt. Sie wusste instinktiv, dass sie sich fürchten musste und deshalb registrierte sie jetzt alles an ihnen. Sie waren alle ausnahmslos groß, genauso groß wie die Frau und der Mann. Alle hatten rote Sachen an und glänzten damit. Außerdem hielten sie lange, ebenfalls glänzende Sachen in der Hand und richteten sie in ihre Richtung. Dann gingen sie langsam vorwärts. Die Frau wurde unruhig, sie nahm das Holz fester in die Hand und drückte Ari mit ihrem Arm an sich. Der Mann, der auch so ein glänzendes Ding in der Hand hielt, sagte irgendetwas und was auch immer es war, es beruhigte die Frau ein wenig. Ari vernahm die vertraute Stimme und wurde ebenfalls etwas ruhiger. Doch die anderen Männer kamen trotzdem immer näher. Einige von ihnen riefen etwas und eine seltsame Bitterkeit ging von ihnen aus. Ari mochte sie nicht. Sie blickte wieder nach oben in die angespannten Gesichter und versuchte, ebenfalls etwas zur Beruhigung der Frau beizutragen. Sie gluckste ein wenig und zog damit die Aufmerksamkeit der beiden auf sich. Dann hörte sie wieder die Stimme des Mannes, doch diesmal bewegten sich die Lippen nicht. Und noch etwas war anders: sie konnte ihn verstehen!

Ruf sie! Dann antwortete nach einer Weile die Stimme der Frau: Wie? Wieder der Mann: Ich weiß es nicht. Versuch es einfach! Du musst es einfach versuchen!

Die Frau nickte und blickte konzentriert die Männer an, die nur noch wenige Schritte entfernt waren. Der Mann presste die Lippen aufeinander und sagte: Jetzt!

Beinahe hilfesuchend sah die Frau auf Ari hinunter und Ari machte ein Geräusch. Ein Geräusch ohne den Mund zu bewegen. Genau wie die anderen beiden vorher. Und sie wusste sogar was das Geräusch bedeutete. Die Frau anscheinend auch, denn sie riss die Augen auf und wich erschrocken einen Schritt zurück. Ari wiederholte das Geräusch: Ruf! Und die Frau tat endlich, was Ari ihr zu verstehen gegeben hatte. Sie rief.

GAZAHLIAAA!!!

 

"Gazahlia ...", hauchte Ari und vergaß dabei ganz, dass sie nicht gehört werden wollte. Doch Iskander und Cairdric hörten sie sowieso nicht.

Plötzlich lief ihr, ohne dass sie es wollte, eine einsame Träne über die Wange, denn in ihrem Kopf befand sich ein Wort. Nur ein einziges Wort, doch irgendwie brachte es ihre ganze Welt zum Einsturz.

Mutter.

 

 

 

Kapitel zehn

 

Mutter... Mutter... Mutter... Muttermuttermutter... Mutter.

Das Wort klang so vertraut, genau wie die Stimme, die sie eben gehört hatte, aber irgendwie schien das nicht zusammen zu passen. Und doch ergab alles einen Sinn.

Sie atmete tief durch und versuchte, das eben Geschehene irgendwo einzuordnen. Jetzt war das schon das zweite Mal innerhalb dieser kurzen Zeit, dass sie völlig verwirrt auf dem Boden saß. Was war in ihrer Vision gerade geschehen? Ihr wurde klar, dass die beiden Menschen dort ihre Eltern waren und sie wurden angegriffen von ... ja von wem? Sie rief sich das Aussehen der Soldaten noch einmal in den Sinn. Sie waren alle ausnahmslos groß und verwendeten gerade Schwerter. Also stammten sie aus ihrem Königreich Azela, denn die anderen aus Ganidia besaßen Krummsäbel und die aus Obidos kämpften mit leicht gebogenen und verzierten Kurzschwertern. Und die Magier aus Undamor? Die nahmen eigentlich alle immer verschiedene Waffen, jeder mit dem was er wollte. Aber das waren auch keine Magier gewesen, denn diese Soldaten trugen rote Rüstungen. Und das sprach nun mal für die Azela, genauer gesagt die aus Caracas, der roten Stadt. Aber warum sollten ihre Eltern von den Soldaten der roten Stadt gejagt werden? In einem Wald?

Und was genau hatten ihre Eltern und dann auch sie selbst gemacht? Hatten sie in Gedanken miteinander gesprochen, so wie Cairdric und Gazahlia? Gazahlia. Ihre Mutter sollte sie rufen, aber warum? Und das konnte doch nicht sein, dass es die selbe Gazahlia war, denn diese Szene musste vor knapp fünfzehn Jahren gewesen sein und die Stute, die gerade von Cairdric gestreichelt wurde, war augenscheinlich noch nicht einmal zehn Jahre alt. Sie gab ein verzweifeltes Stöhnen von sich und schlug die Hände ins Gesicht. Dann fuhr sie sich durch die Haare und schloss die Augen. Fragen über Fragen und keiner konnte eine Antwort darauf geben.

Doch, einer schon. Und das war dieses wunderschöne Pferd, das strahlend vor ihr in der Sonne auf der Weide stand und friedlich graste, als wenn alles Leid der Welt für sie unbekannt wäre. Jetzt blieb nur noch ein einziges Hindernis, nämlich, sie auch zu fragen und eine Antwort von ihr zu erhalten. Oder besser mehrere Antworten.

Sie öffnete wieder die Augen und bemühte sich daran zu erinnern, was genau sie gemacht hatte, als sie ihrer Mutter die Aufforderung zum Rufen gegeben hatte. Aber da war nichts Ungewöhnliches. Sie hatte nicht irgendwie ein Zeichen gemacht oder etwas besonderes gespürt oder sich konzentriert oder sich sogar angestrengt. Sie hatte es einfach nur ... gemacht. Also probierte Ari es auf diese Weise. Sie sah Gazahlia fest an und versuchte, alles andere auszublenden. Dann stellte sie sich vor, wie sie mit der Stute reden würde und konzentrierte sich ganz auf einen Satz: Wer bist du?

Doch weder kam eine Antwort noch machte Gazahlia irgendwelche Bewegungen, die verraten würden, dass sie sie hören konnte. Ari wartete noch ein paar Sekunden, dann fand sie sich damit ab, dass es nicht funktioniert hatte. Ihr war klar, dass sie alles andere als nur gemacht hatte, aber ihr fiel auch keine Alternative ein. Verdammt, wie könnte man das denn noch machen? Sie wusste es nicht.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie garantiert schon Zuhause vermisst wurde. Sie musste schnellstens zurück, sonst würde ihre Mutter rasend vor Wut sein. Nein, Mara würde rasen, nicht ihre Mutter. Das wusste sie jetzt. Und sie war wirklich mehr als froh darüber, denn Mara war sowieso nie das gewesen, was man als Mutter bezeichnen würde.

Ari war tatsächlich erleichtert, doch gab es jetzt noch einen Punkt, den sie auf die Liste der unbekannten Dinge setzen musste: ihre Eltern. Sie wusste, dass sie in nächster Zeit garantiert nicht dazu kommen würde, nach ihnen zu suchen. Doch sie schwor sich, zum ersten günstigen Zeitpunkt konnte sie nichts davon mehr abhalten, einfach davonzugehen, das alles hier hinter sich zu lassen und mehr zu erfahren.

Sie stand wieder auf und ging zu ihrem Hof. Wie erwartet stand Mara vor der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt und zornig. Ari hatte nicht wirklich große Lust, sich jetzt mit ihr zu streiten, doch anscheinend führte kein Weg daran vorbei. Noch bevor sie Luft holen und erklären konnte, wetterte Mara schon los.

"Wo kommst du denn jetzt her? Erst schleichst du dich heute morgen ganz früh hier rein und behauptest, du hättest nicht schlafen können und bist deshalb draußen rumgestreunert. Glaub ja nicht, ich hätte das geschluckt! Und nun bist du wieder so spät. Was hast du denn so lange gemacht?"

"Ähh ... ich habe die Milch weggebracht. Das hast du mir doch aufgetragen."

Mara verzog wütend das Gesicht.

"Ich habe gefragt, was du so lange gemacht hast, nicht was du gemacht hast! Und du tu bloß nicht so, als wenn dir das entgangen wäre. Du bist doch sonst immer so-" Ari unterbrach sie:

"Na was denkst du denn? Dass ich vielleicht zwischendurch die rote Stadt besucht oder mich mit Pferden unterhalten habe? Da brauche ich einmal ein bisschen länger und schon habe ich Elthaira in Brand gesetzt oder was?" Elthaira in Brand setzten, das war eine der gängigsten Redewendungen hier und spielte auf die Fehde mit den Magiern an, deren einzige Stadt und dann auch noch Hauptstadt Elthaira nun einmal war.

Für einen kurzen Moment schien Mara wirklich verblüfft zu sein, dass Ari ihr so unverblümt ins Wort fiel und sie dann dabei auch noch ein wenig angriff. Das war sie nicht gewohnt und genau diese Sekunde des Verblüffens nutzte Ari, um an Mara vorbei zu schlüpfen und ins Haus zu gelangen. Wo sie dann sofort über die am Boden liegenden Sachen stolperte.

"Was ...- ?" Nach genauerer Betrachtung stellte sie fest, dass dieser vorhin noch ordentlich aufgeschichtete Stapel aus braunen und hellgelben Kleidern bestand. Dem Geruch nach zu urteilen höchstwahrscheinlich von Marjas bester Freundin und zu allem Überfluss auch noch Cousine, der arroganten und oberflächlichen Mirana.

Natürlich hätte sie damit rechnen müssen. Der Prinz wohnte ja garantiert bei Iskander und dann hatte Mirana zu weichen und würde sich diese Gelegenheit, bei ihrer Freundin zu schlafen, niemals entgehen lassen. Was leider bedeutete, dass Ari es die ganze Zeit, bis der Prinz wieder abreiste, mit ihr aushalten musste. Mit ihr und Marja. Ganz spontan nahm sie sich vor, die meiste Zeit des Tages irgendwo dort zu verbringen, wo die beiden niemals hingehen würden.

Draußen hörte sie Mara vor sich hin schimpfen und konnte aus dem undeutlichen Gebrabbel nur Wörter wie "lästig", "ihre Mutter" oder auch "Butter" verstehen. Sie ließ sich in ihrem Zimmer auf das Bett fallen und überlegte eine ganze Weile, ob Mara und Karn wussten, dass Ari nicht ihre Tochter war. Einerseits traute sie sich zu, so viel schon in den Worten und Taten der sie umgebenen Menschen lesen zu können, dass sie erkannte, wenn jemand ihr etwas vorenthielt oder sie belog - und das war bisher im Bezug auf Mara und Karn nie der Fall gewesen - doch andererseits müssten die sich doch daran erinnern, ob sie sie geboren hatten oder nicht.

Was genau ging hier vor?

 

***

 

Jetzt war sie sich ganz sicher. Am gestrigen Abend hatte sie vielleicht noch Zweifel gehabt, doch die waren mittlerweile hinfort gefegt. Hätte sie es gekonnt, sie würde die Stirn runzeln. Sie war so oft in anderen Köpfen und Menschen gewesen, dass sie sich manchmal wirklich wunderte, wenn sie gewisse Angewohnheiten derer, wie nun einmal das Stirnrunzeln, nicht konnte. Denn einem Pferd war so etwas nun mal unmöglich.

Gazahlia schnaubte und dachte weiter über dieses begabte Mädchen nach. Sie war seit langem die einzige gewesen, die es überhaupt gemerkt hatte, dass Gazahlia in ihren Geist eingedrungen war und dann hatte sie sie auch noch so schnell abgewehrt. Das grenzte an ein Wunder.

Oder es war einfach sie.

Was sagst du?

Oh, nichts, verzeih mir, ich habe eigentlich nur nachgedacht. Ich wollte dich nicht stören, unterhalte dich nur weiter mit Iskander. Sie hatte ganz vergessen, Cairdric wieder auszuschließen. Sofort riegelte sie das Tor zum dritten und gleich auch zum zweiten Festungsring ihres Geistes ab. Jetzt hielt er sich nur noch im ersten Ring auf und konnte allerhöchstens ihre zu starken Gedanken und Gefühle wahrnehmen.

Solch eine Geistesfestung besaß von sich aus eigentlich jedes einzelne Wesen. Jeder Mensch, jedes Tier. Sie bestand aus fünf einzelnen Ringen, den verschiedenen Ebenen sozusagen, und dem Vorland. Wollte jemand in den Geist eines anderen eindringen, so musste er sich zuallererst über dieses Vorland bewegen. Dort bestand die Chance, dass der Besitzer des Geistes ihn entdeckte und als freundlich oder feindlich einstufen konnte. Dann musste der Angreifer das äußere Tor überwinden und gelangte in den ersten Ring. Hier nahm er die stärksten momentanen Gefühle, Gedanken und Regungen wahr und es gab ebenfalls die Möglichkeit, dass der Verteidiger Kontakt aufnehmen konnte. Im zweiten Ring waren die ganzen augenblicklichen Sinneseindrücke stationiert, also alles, was gerade gesehen, gerochen, gehört oder gefühlt wurde. Auf der dritten Ebene konnte der Eindringling alle momentanen Gedanken des Verteidigers hören und selber von sich aus Kontakt aufnehmen, falls der andere ihn zum Beispiel nicht entdeckt hatte. Dann musste er in den vierten Ring und nahm hier all das wahr, was jemals in seinem ganzen Leben gedacht, gesagt, gefühlt und erlebt worden war. Die Mauer und das Tor zu diesem Ring waren normalerweise die am schwersten zu überwindenden des Geistes, solange der Besitzer des Geistes nicht den Fehler gemacht hatte, das Tor offen zu lassen. Und dahinter, hinter diesem Ring, lag das Kernstück, das Herz des Geistes. Dieser war bei jedem Lebewesen unterschiedlich. Denn der Kern des Geistes bestand aus dem, was denjenigen antrieb, was ihn am Leben hielt, was ihm am Wichtigsten war. So nahm er bei einigen die Form ihres Partners oder bei primitiveren Wesen manchmal auch nur die Gestalt ihrer Nahrung oder ihres Schlafplatzes an. Wenn der Eindringling jemals bis dorthin vorstoßen sollte, so bekam er die völlige Kontrolle über den gesamten Körper und konnte ihn so leicht steuern, wie er seinen eigenen steuern würde.

Eigentlich bemerkte es jeder, wenn jemand anders in seinen Geist eindringen wollte und wenn nicht auf dem Vorland, so müsste es spätestens auffallen, wenn seine ersten Tore zerstört wurden. Doch im Laufe der Zeit fühlten sich die Menschen viel zu sicher, sie ignorierten die Tatsache, dass sie eine Festung im Kopf besaßen und somit geriet diese in Vergessenheit. Niemand erinnerte sich daran, es gab keine solchen Angriffe mehr und in der Folge davon lernte auch niemand mehr, sie zu verteidigen. Mittlerweile war es sogar schon so weit, dass nur noch wenige es überhaupt registrierten, wenn sich jemand ihrem Geist näherte. Geschweige denn, dass sich einer auch verteidigen konnte.

Und das war es, was Gazahlia davon überzeugte, dass dieses Mädchen, das innerhalb weniger Sekunden ihre Tore wieder geschlossen und Gazahlia ohne große Mühen ausgeschlossen hatte, einfach anders war. Am gestrigen Abend, als sie sich im Wald dem Lager genähert hatte, war Gazahlia nicht wach geworden, weil sie sie vielleicht gehört hatte. Nein, es war diese Präsenz gewesen. Diese leise Ahnung, dass jemand anwesend war, der ... der eben anders war. Jemand den sie kannte.

Kapitel elf

 

Yannic sprang, hastete und schlitterte den Hügel hinunter. Um die Hüfte hatte er wie immer seinen Lederbeutel gebunden, befestigt an dem dunkelbraunen Gürtel, den sein Vater ihm vor zwei Jahren geschenkt hatte. Man sah ihn kaum noch ohne diese beiden Sachen, nur zum Schlafen und Baden legte er sie ab. Jetzt befanden sich in dem Beutel aber nicht die üblichen Dinge, vielmehr trug er darin den Brief seines Vaters an Rako. Und der musste zusammen mit den anderen Informationen, die Yannic in seinem Kopf hatte, so schnell wie möglich bei ihm ankommen.

Er war schon so weit gelaufen, dass er nicht einmal mehr die Rauchsäulen der Häuser von Neiva ausmachen konnte und gleich müsste eigentlich der Wegweiser auftauchen, der ihm sagte, wann er in den Wald zu gehen hatte. Nach dem nächsten Hügel konnte er ihn auch schon sehen, es war ein prächtig gewachsener Holunderstrauch, der mit seinen vielen Blättern garantiert ein schöner, schattiger Ort zum ausruhen war, doch Yannic durfte nicht ruhen. Erst musste Rako Bescheid wissen. Es war dringend. Auf der Höhe des Strauches endlich wandte er sich nach links und schlüpfte unter den dichten, hängenden Zweigen der Bäume durch, hinein in den kühlen Wald. Obwohl er erst ein paar Mal diesen Weg gegangen war, kannte er ihn in und auswendig. Wenn es anders wäre, würde sein Vater dafür sorgen, dass er es bereute und das wollte er natürlich nicht. Jegor sollte sehen, dass Yannic es auch alleine schaffte. Er würde es sein, der die bedeutendste Rolle gespielt hatte, ohne den es nie funktioniert hätte. Immerhin war es auch fast ausschließlich seine Idee gewesen.

Der Weg war weit, normalerweise brauchte er immer fast drei Stunden, doch heute musste er sich beeilen und heute war er schneller. Er rannte fast durchgehend, nur hin und wieder machte er eine Gehpause. Ein paar mal hielt er an, um etwas zu trinken, essen konnte er beim Gehen.

Jetzt bald sollte der Stein in Sicht kommen und wie vorhin behielt er Recht. Der Stein mochte für einen Uneingeweihten nur ein einfacher Stein sein, gerademal kniehoch, ganz unspektakulär gefärbt und auch sonst war nichts interessantes daran zu erkennen. Doch jemandem wie Yannic verriet er noch ein wenig mehr als das. Er verriet, dass sein Ziel nur noch einige hundert Meter entfernt war. Und der unscheinbare kleinere Stein, der daneben lag und etwas heller als der große war, zeigte ihm die Richtung an, er musste seinen Kurs also ein wenig nach rechts abändern. Als wenn er diese Hilfe noch gebraucht hätte. Und außerdem wollte er ja sowieso nicht direkt von vorne kommen und auf all die anderen Leute treffen.

Und da er laut Stein nicht weit entfernt war, war Yannic schon seit einiger Zeit nicht mehr alleine hier. Er wusste, dass sie dort hinten in diesem Busch saßen, zuerst als sie die Schritte hörten, die Waffen gezogen hatten, doch dann erkannten sie ihn und wussten, warum er hier war. Ansonsten wäre er wahrscheinlich auch gar nicht mehr am Leben. Warum auch immer hob er kurz die Hand und grüßte den Busch, dann ging er weiter und vernahm schon bald die ersten Stimmen.

Yannic kam an der Nordwestseite des Lagers auf den vollgebauten Platz, das bedeutete, niemand von den vielen Menschen, die um das Lagerfeuer in der Mitte herumstanden, konnte ihn sehen, denn zwischen ihnen befand sich die Hütte von Rako. Leise klopfte er an die Rückseite, an die hintere Tür und nach wenigen Sekunden schon hörte er ein deutliches "Komm rein, Yannic!".

Er entdeckte den kleinen Mann sofort, denn er unterschied sich deutlich von dem dunklen Hintergrund. Weder Yannic, noch sein Vater oder irgendjemand sonst wusste, warum Rako immer dieses hässliche rote Hemd trug. Ein unachtsamer Mann soll Rako einmal gefragt haben, ob er sich noch so sehr an die rote Stadt klammerte, dass er ständig diese Farbe trug. Wenige Minuten danach schon konnte man seinen Leichnam abholen. Oder besser die vielen Stücke, die von ihm übriggeblieben waren. So wurde es erzählt.

"Hast du so dringende neue Informationen für mich, dass du heute schon wiederkommst? Wir hatten übermorgen ausgemacht."

"Tut mir wirklich sehr, sehr Leid dich zu stören, aber es ist ein Ereignis eingetreten, welches dich sicherlich interessieren wird."

Der kleine kräftige Mann ihm gegenüber lehnte sich an seinem Tisch, an dem er saß, weiter vor und lauschte gespannt. Yannic ging einen Schritt nach vorne, öffnete seinen Lederbeutel, holte den Brief heraus und legte ihn vor Rako auf den Tisch. Dann erst fuhr er mit seiner Erklärung weiter fort.

"Gleich nachdem ich gestern von hier wiederkam, erreichte uns ein Bote, der von der Ankunft des Prinzen in unserem Dorf berichtete. Heute Vormittag kam er bei uns an und beabsichtigt, noch eine ganze Weile zu bleiben. Er will hier jagen gehen, wahrscheinlich hat er ebenso wie viele andere Stadtleute von unserer wildreichen Gegend gehört. Wie auch immer. Er wurde auf dem Weg hierher von Räubern angegriffen, irgendwie kam er ja auf die Idee, durch den Ausläufer des Lozei reiten zu müssen, anstatt außen herum. Eigentlich müssten die Leute doch bald mal merken, dass es dieser kürzere Weg einfach nicht wert ist. Wie auch immer. Ein paar seiner Ritter starben bei dem Überfall, einer ist sehr schwer verletzt und ist gerade bei der alten Ela in Behandlung und alle anderen haben zumindest kleinere Verletzungen davongetragen, die sie jetzt auskurieren. Das würde bedeuten - "

"Das würde bedeuten", unterbrach Rako ihn. "Ich wäre ganz schön dumm, wenn ich auf meinem Plan beharren würde und nicht lieber sofort zuschlage."

"Genau das wollte ich sagen." Yannic sah ihn grinsend an. Er wusste, dass Rako gleich verstehen würde, worum es ging. Bei der großen Sache, die sie geplant hatten, war der Anführer dieser Bande für alle Vorschläge und Verbesserungen offen und immer erfreut, wenn sich günstige Gelegenheiten boten. Günstige Gelegenheiten wie diese zum Beispiel.

"Ich würde sehr viele Männer weniger verlieren, stimmt's Yann?" Er strich mit seiner linken Hand über seinen Bart, wobei Yannic die wulstige Narbe ohne Schwierigkeiten erkennen konnte. Zum Pech der Leute hier verblasste ein Brandzeichen nicht innerhalb von einigen Jahren, das bedeutete, dass das verhasste 'A' noch Ewigkeiten zu sehen sein würde. "Oho, ja es ist sehr gut von dir gewesen, mich aufzusuchen. Das wird unsere Planung zwar ein wenig durcheinander schmeißen, aber die Männer wird's freuen. Ich muss ihnen sofort Bescheid geben. Willst du noch warten oder musst du wieder zurück und dich um die Pferde kümmern?" Es wunderte Yannic nicht einmal mehr, woher Rako das alles wusste und sich dann auch noch merken konnte. Dieser Mann überraschte einfach so oft mit seinem Wissen und seinem Gedächtnis. Rako stand auf und wollte sich gerade umdrehen, als Yannic erkennen konnte, wie ihn noch etwas zurückhielt, was gerade in seinen Kopf gekommen war. Deshalb wartete er kurz, bevor er auf die gestellte Frage antwortete.

"Sag mal Yann, wenn du die ganzen Pferde kriegst, hast du doch bestimmt auch das vom Prinzen oder?" Yannic war sofort klar, worauf er hinaus war und nickte, während ihm ein verschlagenes Lächeln auf die Lippen glitt. Rako blickte auf, ging einen Schritt in seine Richtung und sah ihm direkt in die Augen. "Was dagegen, wenn ich mir das hol' oder wolltest du's dir selber krallen?"

Er lachte laut los und antwortete: "Wie du mich schon wieder kennst. Ja, eigentlich hatte ich das vor, aber ich hab gesehen, wie die sich wehren kann. Also dachte ich, ich überlass dir die Arbeit und nehm sie mir dann, wenn sie dich erschlagen hat."

Yannic zuckte zusammen, als Rako anfing, lautstark und brüllend zu lachen. Er klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken und erwiderte, als er wieder reden konnte: "Du gefällst mir, Bursche. So einen wie dich bräuchte ich hier an meiner Seite. Haste nicht Lust?"

"Vielen Dank für dein über alle Maßen großzügiges Angebot, aber - "

"Aber du lehnst ab. Ich weiß, ich weiß. War klar. Wollt ja nur mal so fragen. Ich werd jetzt mal den Männern da draußen die Krüge wegnehmen und ihnen eine schöne Nachricht überbringen und du gehst nach Hause und bereitest deine Leute vor." Yannic nickte und verließ die Hütte wieder über den selben Weg. "Und sorg mir dafür, dass dieser dumme Iskander nicht alles versaut!", rief Rako ihm hinterher, bevor er die Tür zugemacht hatte.

"Klar doch, der wird ihm schon nichts erzählen, der hat doch viel zu viel Angst." Er grinste verschlagen und schloss die Tür hinter sich. Doch er hörte noch, wie Rako lachend seine Worte wiederholte. "Er überlässt mir die Arbeit und nimmt sie sich, wenn die mich erschlagen hat. Haha, ein großartiger Kerl, dieser Yann."

Yannic ging zurück in den Wald und ein breites, höchst gemeines Raubtierlächeln zog sich über sein Gesicht. Er hatte diesen Satz vollkommen ernst gemeint.

 

 

Kapitel zwölf

 

Ari runzelte die Stirn als sie sah, wie Yannic an der Südwestseite des Dorfes zurückkehrte. Ihr eigener Hof und das Feld, auf dem sie gerade arbeitete, lagen so günstig, dass sie immer freien Blick zum Wald hatte und unbemerkt abhauen konnte. Doch jetzt sah sie die Gestalt des großen, kräftigen Jungen und fragte sich, wo er gewesen war und was er dort getan hatte.

Er schien recht fröhlich zu sein, doch konnte sie nicht umhin, die Andeutung eines leicht grausamen Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen, trotz der Entfernung, die zwischen ihnen lag. Er blickte sich um und entdeckte sie.

Wie immer, wenn sie sich begegneten, nickte er ihr kurz zu, dann sah er wieder nach vorne und verschwand hinter den Häusern.

Yannic war ein seltsamer Kerl. Auf der einen Seite sah er vielleicht ganz gut aus, mit seinen hellblonden Haaren,

den braunen Augen und seinem großen, muskulösen Körper. Doch er war ihr nicht ganz geheuer. Allein schon der Ausdruck, der sich manchmal auf sein Gesicht legte, so ein gewaltbereites Funkeln in den Augen und die Art, wie er die Stirn runzelte. Ja, man konnte sagen, er machte ihr ein wenig Angst. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass sie sich vor einigen Jahren ein kleines bisschen zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Es war zwar nur ein schwaches Gefühl gewesen und sehr schnell wieder weg, aber es war trotzdem real.

Mittlerweile betrachtete sie den zwei Jahre älteren Jungen mit gemischten Gefühlen. Ihr war klar, dass ein winziger Teil der alten Empfindungen übrig geblieben war, doch das hinderte sie nicht daran zu denken, dass er jeden Moment explodieren konnte. Und wenn es soweit war, wollte sie nicht in der Nähe sein, denn sie wusste wie stark er war.

Ari beschloss, später nachzuforschen, wohin er gegangen war, am besten heute Abend. Trotz Maras Standpauke vom Morgen ließ sie sich nicht davon abbringen, weiterhin in den Wald zu laufen. Nur musste sie diesmal wahrscheinlich schon früher gehen, damit sie Yannics Spur verfolgen konnte und das dürfte bei diesem Boden schon schwer genug sein.

 

***

 

Cairdric streckte sich auf dem Bett aus. Es war um einiges härter und ungemütlicher als sein eigenes, doch nach unzähligen Tagen im Freien machte es ihm nichts mehr aus. Er war schon früher gerne weiter weggegangen oder geritten, war tagelang irgendwo anders herumgestreunt und hatte zusammen mit einigen anderen Männern, die sein Vater ihm zum Schutz mitgeben wollte, in einfachen Zelten oder unter freiem Himmel genächtigt. Doch egal wo er auch immer war, der Wald war ihm stets am liebsten gewesen. Genau deshalb hatte er beschlossen, auf dem Weg hierher durch den kleinen Ausläufer des Lozei zu reiten, auch wenn seine Männer ihm davon abraten wollten. Sie redeten von wilden Tieren und gefährlichen Räubern, aber Cairdric liebte den Schatten der Bäume und die duftende Waldluft viel zu sehr, als dass er sich davon hätte abhalten lassen. Und jetzt waren sechs seiner Männer tot und alle anderen wenigstens ein bisschen verletzt.

Am meisten machte er sich Vorwürfe, weil die beiden Jüngsten, Hal und Kildar, getötet worden waren. Sie waren beide erst vierzehn Jahre alt gewesen, gerade dabei, ihre erste Grundausbildung zum Ritter abzulegen. Er hatte sie nur mitkommen lassen, weil sie endlich einmal herauskommen und etwas vom Land sehen wollten. Außerdem hätten sie gleich etwas Ruhm geerntet, wenn sie zusammen mit dem Prinzen unterwegs wären. Mit jemandem aus der Königsfamilie reisen zu dürfen war ein sehr, sehr hohes Privileg und den beiden hätten nach ihrer Rückkehr viele Wege und Türen offen gestanden. Doch dank seiner Dummheit würden nur noch ihre Namen zurückkehren und die belanglose Geschichte, wie sie gestorben waren. Er war sich bewusst, dass er nicht im geringsten wusste, wie er ihren Familien erklären sollte, dass sie sich nicht von ihren Söhnen und Brüdern verabschieden konnten. Dazu kam auch noch, dass er ihnen nicht einmal die gebührende Ehre erwiesen und ihre Leichname verbrannt, sondern sie stattdessen beerdigt hatte. Aufgrund ihrer Erschöpfung und Verletzungen hatte er darauf verzichtet, doch wie er jetzt still und ausgeruht in Miranas Zimmer lag, verfluchte er sich dafür. Die Familien von Hal und Kildar und den anderen Toten würden ihn dafür sicherlich verachten. Es galt als große Schande für den Verstorbenen und seine Familie, wenn der Körper beerdigt wurde, da somit etwas auf dieser Welt zurückblieb und der Geist nicht vollständig verschwinden konnte. Deshalb wurden die Toten immer verbrannt. Cairdric hoffte, dass die anderen wenigstens die Situation nachvollziehen konnten und seine Tat verstanden.

Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und seufzte. Irgendwie war ihm wegen der Ereignisse die Lust am Jagen vergangen. Doch nachdem die Männer diesen weiten Weg gemacht hatten und ohne Vorwarnung in einen Kampf geraten waren, wollten sie garantiert nicht auf diese Ablenkung verzichten.

Er seufzte erneut und erhob sich vom Bett. Als er Iskander in der großen Scheune gesucht hatte und von diesem Kerl entdeckt wurde, der Gazahlia auf seiner Weide zu stehen hatte, hatte man ihn gleich wieder herausgeschickt. Dann war er mit Iskander zu seiner Stute gegangen und sie hatten sich unterhalten. Später war er zu seinen Rittern gegangen, hatte nach dem Rechten gesehen und sich mit ihnen über die weitere Planung unterhalten, wobei herauskam, dass sie alle erst noch verbleiben wollten, bis ihre Wunden größtenteils wieder geheilt waren und sicher war, dass der schwer verletzte Sandor die seinen überleben würde. Er hatte eine große Schnittwunde am Oberschenkel, der durch seine leichte Rüstung nur minimal geschützt wurde und aus der immer noch ständig Blut austrat. Alle zusammen hatten sie ihn dann besucht, aber er war noch ohnmächtig und so konnten sie nicht mit ihm reden. Danach hatte er nicht wirklich viel unternommen, abgesehen vom Reinigen seines Schwertes. Und seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen und der leichte Duft von irgendeinem Eintopf machte ihn hungrig.

Er musste plötzlich daran denken, was er für eine Macht hatte. Er könnte all diesen Menschen was auch immer befehlen und sei es auch, dass sie ihm all ihre Vorräte geben sollten, und sie müssten seinen Befehl befolgen. Ohne Widerworte, weil sie sonst eine Strafe erwarten würde. Und das alles nur, weil sein Vater der Sohn des Ururenkels von jemandem war, der sich vor Urzeiten einmal auf den Thron gesetzt hatte. Das fand er irgendwie beinahe abartig.

Ungeschickt schwang er sein eines Bein vom Bett runter und blieb mit dem zweiten knapp am Bettpfosten hängen. Dadurch kippte er mit all seinem Schwung vornüber auf den Boden und als er sich wieder aufrichten wollte, blieb er mit dem Ärmel an irgendeiner Unebenheit im Holz hängen und riss sich ein langes Loch hinein. Cairdric verfluchte Ärmel und Holz mit allem, was ihm einfiel. Doch das half natürlich nicht weiter. Er zog sich das Hemd über den Kopf, schmiss es aufs Bett und zog sich ein neues über. Mit dem kaputten über dem Arm trat er heraus aus der Kammer und stieß sofort auf Iskanders Frau, die gerade dabei war, in einem großen Topf herumzurühren. Sie blickte wie immer zuerst erschrocken und dann peinlich berührt, weil er ihr Erschrecken bemerkt hatte, dann senkte sie den Kopf und wandte sich wieder dem Essen zu. Er trat hinter sie und fasste sie leicht an die Schulter.

"Bitte verzeih, wenn ich dich unterbreche. Mir ist ein kleines Missgeschick geschehen." Cairdric zeigte ihr das Loch und sie nahm ihm das Hemd ab und begutachtete es fachmännisch. "Kannst du vielleicht Abhilfe schaffen?"

Erst sah es so aus, als wenn sie zu einem Nicken ansetzte, doch dann schüttelte sie den Kopf.

"Oh, wirklich nicht? Kennst du denn jemanden, der es vermag?" Sie nickte diesmal. Noch bevor er sie bitten konnte, ihn dahin zu führen, kam Iskander herein. Er hatte einen mürrisch-verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht, der sich aber verflüchtigte, als er Cairdric ansah und sich in einen Blick voller Zuneigung verwandelte, als er seine Frau erblickte. Sie schienen sich also wirklich zu lieben. Für einen Moment fragte er sich, ob die beiden aus Liebe geheiratet hatten oder ob die Heirat wie in Adelskreisen arrangiert worden war, doch dann entschied er, dass ihn das nichts anging.

"Iskander, gut dass du kommst. Ich fragte deine Frau eben, ob sie mir mein Hemd nähen könnte, doch sie verneinte. Kannst du mir stattdessen eine Schneiderin aus eurem Dorf empfehlen?"

"Ja, natürlich mein Herr, bitte vergebt meiner Frau, dass sie Euch nicht helfen kann, doch ihre Finger sind nicht mehr ganz so flink wie früher. Wollt Ihr denn jetzt noch zu einer unserer begabtesten Schneiderinnen? Oder wollt Ihr lieber bis Morgen warten?."

"Nein, jetzt ist mir lieber."

"In Ordnung, ich bringe Euch zu ihr. Aber ... Ihr müsst wissen, sie ist die Schwester meiner Frau. Und sie ist zugegebenermaßen manchmal sehr, sehr anstrengend. Und sie redet gerne und viel." Iskander warf ihm einen Blick zu, der erahnen ließ, dass er aus häufiger und qualvoller Erfahrung sprach. Cairdric lachte erst laut auf, dann aber nickte er verständnisvoll und folgte Iskander hinaus und musste für einen Moment stehen bleiben, da die tiefstehende Abendsonne ihn mit ihrem fantastischen Licht blendete. Feuerrot versank sie gerade irgendwo weit im Westen bei ihrem Nachbarland Ganidia und würde am nächsten Tag über Obidos wieder aufgehen.

"Wir müssen an die Südwestseite des Dorfes. Mara ist wirklich sehr begabt und hat auch schon angefangen, das Schneidern an ihre ältere Tochter weiterzugeben."

"Wieso nur an die Älteste? Warum schließt sie die anderen aus?"

"Nicht die anderen, mein Herr, nur eine andere. Und die jüngere Tochter ist einfach ... nun wie soll ich es sagen? Wahrscheinlich trifft 'unwillig' es am besten. Im Gegensatz zu Marja, der älteren der beiden, ist die junge Ari nicht für solche Arbeiten zu gebrauchen. Sie ist eher ein Freigeist und würde bei solch eintöniger Arbeit vergehen wie eine Blume ohne Sonnenlicht. Sie - "

"Ich unterbreche dich nur ungern, aber was ist 'Ari' für ein Name? Kommt er aus einem anderen Land? Er hört sich viel zu ... nun viel zu selten für einen einfachen Bauernnamen an. Wo kommt er her? Und wieso beginnt ihr Name nicht mit dem selben Buchstaben wie der ihrer Mutter? Ich war mir sicher, das wäre so ein Brauch hier unten..."

Doch Iskander konnte darauf keine Antwort geben. Es stimmte schon, dass man sich im Süden bei den Namen der Töchter an der Mutter und der Söhne am Vater orientierte, warum die beiden die Tradition bei ihrer zweiten Tochter gebrochen hatten, konnte er nicht sagen. Er wusste auch nicht, wie Mara und Karn auf solch einen Namen gekommen waren. Es war sogar so, dass sich jeder aus Neiva schon einmal diese Frage gestellt hatte, doch niemand hatte das Ehepaar jemals gefragt. Die beiden selbst waren davon überzeugt, dass ihre zweite Tochter viel zu unfähig für sämtliche Arbeiten war und auch nicht den geringsten Willen zeigte, irgendetwas daran zu bessern. Der Dorfoberste erzählte noch einiges mehr über diese Familie, doch Cairdric hörte nur noch halb zu. Er beobachtete gerade Eldar, der ihn am Morgen im Wald zum Begraben der Toten gebracht hatte, wie er sich mit einem jungen Mädchen unterhielt. Er stützte sich dabei an der Wand eines Hauses ab und vollführte mit der anderen solche Gesten, die verrieten, dass sich dieses Gespräch ganz offensichtlich um das Mädchen selbst drehte. Diese war um einiges kleiner als Eldar, hatte einen langen, blonden Zopf und eine wirklich vorteilhafte Figur, die durch den Schnitt ihres einfachen hellbraunen Kleides untermalt wurde. Ihr Gesicht konnte er nur teilweise sehen, doch selbst so erkannte er, dass sie recht hübsch sein musste.

Im Moment war sie dabei, mädchenhaft loszukichern, dann senkte sie den Blick und schob sich eine lockere Strähne hinters Ohr. Er hatte diese Geste schon öfter gesehen und immer wieder reagierten die Männer darauf, indem sie zuerst die Hand der Frau verfolgten, ihr dann ins Gesicht sahen und ihr bestes Lächeln aufsetzten. Und auch Eldar handelte wie erwartet. Dann schob Iskander Cairdric an dem nächsten Haus vorbei und die zwei entschwanden aus seinem Sichtfeld.

Der Dorfoberste deutete auf eines der schlichteren Häuser im Dorf mit einem angebauten Stall und sagte: "Da, dort wohnen sie. Ich hoffe nur, Mara ist auch Zuhause."

Sie gingen weiter und Cairdric sah, dass die Tür zum Stall offen stand und irgendjemand im Dunkeln darin herumlief. Er teilte Iskander seine Beobachtung mit, doch der schüttelte den Kopf. "Das dort im Stall wird Ari sein, aber Mara ist um diese Zeit eher im Haus und kocht."

Also traten sie durch die Tür ins Haus und wie Iskander gesagt hatte, stießen sie dort sofort auf die Frau, die er Mara genannt hatte. Sie stand am Herd mit dem Rücken zu ihnen und rührte irgendeinen Eintopf um. Sie räusperten sich und erschrocken fuhr die Frau herum. Cairdric hätte auch ohne Iskanders Hinweis erkannt, dass sie und Iskanders Frau Schwestern waren, denn sie sahen sich wirklich ziemlich ähnlich. Mara hatte nur einen nicht ganz so ruhigen Gesichtsausdruck. Besonders jetzt nicht, denn aufgrund seines Erscheinens riss sie die Augen weit auf. Nach einigen Momenten hatte sie sich wieder gefangen und verbeugte sich so ungeschickt wie jeder hier im Dorf. Dann erklärte Iskander ihr den Grund ihres Erscheinens und sie nickte.

"Mein Herr, es ist mir eine große Ehre, Euer Hemd nähen zu dürfen." Sie begutachtete das Loch und dann schien ihr etwas einzufallen. "Aber ich brauche meine Tochter dafür, sie kann das in diesem Licht besser. Wisst Ihr, Mylord, meine Augen sind nicht mehr ganz so stark. Aber meine liebe Marja hat Augen wie ein Falke." Sie lächelte Cairdric an, doch es sah sehr gezwungen aus. Cairdric entschied auf der Stelle, dass er diese Frau nicht übermäßig toll fand. Er hoffte für ihre Töchter, dass sie nicht ganz so viel von ihr geerbt hatten. "Weißt du vielleicht wo sie ist?", fragte sie Iskander. Als der den Kopf schüttelte, ging sie vor die Tür und rief: "Ari! Komm mal her!" Cairdric hörte, wie kurz darauf die Stalltür zugeschlagen wurde und jemand leise näherkam. "Ari, lauf und hol mir Marja. Ich brauche sie jetzt hier. Sie muss das Hemd nähen, was mir unser Herr Prinz gegeben hat."

Es folgte ein unbestimmtes Geräusch, welches Zustimmung wie Ablehnung bedeuten könnte und dann huschte ein Schatten an der Tür vorbei. Mara kam wieder herein und entschuldigte sich für ihre, wie sie es ausdrückte, unfähige Tochter. Sie bot ihnen die Stühle an und fragte, ob sie etwas essen wollten, in der Zeit, die Marja brauchte, um das Hemd zu nähen. Doch Iskander lehnte ab. "Meine Frau hat auch schon gekocht, sie wäre enttäuscht, wenn ich nicht von ihrem Tisch esse."

"Oh, natürlich, das verstehe ich. Wie geht es meiner Moura so?" Iskander verzog das Gesicht und Cairdric konnte ihn durchaus verstehen. Der betont fröhliche Plauderton Maras nervte nach dieser kurzen Zeit schon. Sie musste nur einen Satz sagen und war sofort als unsympathische Plaudertante abstempelbar. Er hoffte, das diese Marja bald kam und man sich mit ihr besser unterhalten konnte. Nach einer Weile erschien sie auch wirklich vorne an der Tür und als sie hereinkam, war er für einen Moment verblüfft, denn sie war das Mädchen, mit dem Eldar eben gerade herum getändelt hatte. Wie er sie jetzt von vorne und von nahem sah, musste er zugeben, dass er Eldar wirklich verstehen konnte, wenn der mit ihr geschäkert hatte.

Als ihr Blick auf ihn fiel, lächelte sie zaghaft und machte einen Knicks, der wenigstens nicht ganz so misslang wie der ihrer Mutter. Man sah, dass Mara ihr vieles weitergegeben hatte, die braunen Augen, die Nase, den Mund und selbst die langen, blonden Haare, die sie jetzt aber nicht mehr geflochten hatte. Er fragte sich, warum sie wohl den Zopf von vorhin gelöst hatte.

Cairdric stand auf und neigte leicht den Kopf, so wie es ihm sein Lehrer für höfisches Betragen beigebracht hatte, wenn eine Frau den Raum betrat, die seinen Zuspruch fand. Mehr konnte er allerdings nicht machen, allein wenn er den Kopf noch ein bisschen weiter gesenkt hätte, könnte man viel hineininterpretieren, denn je größer der Knicks, die Verbeugung oder für den Höhergestellten auch das Kopfneigen, desto größer war die Achtung oder die Sympathie für oder eigentlich auch der Stand des anderen.

Wie vorhin bei Mara erklärte auch diesmal wieder Iskander dem Mädchen sein Anliegen und Marja eilte sofort in ein anliegendes Zimmer, um sich Nadel und Faden zu besorgen. Als sie zurückkam, fragte Iskander sie: "Wo ist denn eigentlich Mirana?" Marja setzte zu einer Antwort an, doch Mara wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dass endlich jemand auch eine Frage gestellt hatte.

"Aber du weißt doch, dass sie sich so oft bei der alten Ela aufhält und ihr zur Hand geht. Und da dieser eine Ritter da so schwer verletzt ist, braucht sie doch jeden, der ihr helfen kann. Aber heute Mittag hat sie erzählt, dass es dem schon besser geht. Ihr braucht Euch also nicht allzu sehr zu sorgen, Mylord, meine Nichte ist so gut, Euer Ritter ist schon im Fluge wieder auf den Beinen und kämpft sich durch ein ganzes Heer von Magiern."

"Mutter!", verlegen wies Marja ihre Mutter zurecht. Sie sah Cairdric entschuldigend an und setzte zum ersten Stich an.

"Na was denn?", versuchte Mara sich zu verteidigen, doch Cairdric winkte ab und dann ging sie zum Glück nicht weiter darauf ein. Während Marja das Loch fein wieder zunähte, unterhielten sich Iskander und Mara mehr oder weniger gerne über unwichtige Dinge. Cairdric saß auf seinem Stuhl und beobachtete, wie Marjas Hand die oft geübten Bewegungen so schnell vollführten, dass sie schon wenige Augenblicke später, so kam es ihm jedenfalls vor, fertig war. Sie reichte ihm sein Hemd und er musste feststellen, dass die Naht nur noch zu erkennen war, wenn man genau wusste, wo sich das Loch befunden hatte. Er bedankte sich wortreich bei Mara und Marja, die es sogar geschafft hatte, ihm eine Geschichte über das Leben am Hofe zu entlocken und ihm dann zum Abschied noch kokett zulächelte und dann wollten er und Iskander wieder zurück zu dessen Haus gehen. Doch ungefähr auf halbem Weg kam ihnen dieser Pferdejunge entgegen, dessen Namen ihm immer noch nicht wieder eingefallen war.

Auch der verbeugte sich zunächst vor Cairdric, dann jedoch wandte er sich Iskander zu.

"Iskander, wir haben ein winzig kleines Problem an der Ostseite. Beim Gerber. Irgendwie sind ihm Felle abhanden gekommen, sagt er jedenfalls. Wie auch immer, du solltest vielleicht mal mitkommen und mit ihm reden. Er regt sich schon die ganze Zeit darüber bei mir und meinem Vater auf und Vater meint, du würdest besser mit ihm zurechtkommen. Seine Tochter hat ja schließlich deinen Sohn geheiratet. Wie auch immer, kannst du gleich mitkommen? Oder hast du noch was dringendes zu tun?", fragte er mit einem undeutbaren Seitenblick auf Cairdric. Iskander sah ihn entschuldigend an und wollte ihn gerade etwas fragen, doch Cairdric kam ihm zuvor.

"Geh ruhig mit, du bist schließlich Dorfoberster und hast dich um sowas zu kümmern. Ich kann das wirklich gut verstehen."

Als Iskander mit dem jungen Kerl verschwunden war, drehte Cairdric sich um und ging wieder in Richtung von Iskanders Haus. Dort ließ er sich von Moura etwas von dem Eintopf geben, der wirklich recht gut schmeckte und dann fiel er erneut auf sein Bett. Draußen war es bereits dunkel und als er nach einiger Zeit hörte, wie Iskander zurückkehrte und gedämpft mit seiner Frau sprach, war er schon fast eingeschlafen.

 

 

 

 

Kapitel dreizehn

 

Es regnete. Aber kein schwacher Nieselregen, der einfach nur ein grauer Schleier vor dem Gesicht eines jeden war. Richtig kräftiger Sommerregen mit dicken, perlenähnlichen Tropfen prasselte auf die Erde nieder und bedeckte alles und jeden ganz ohne Unterschiede. Der Regen differenzierte nicht nach Größe, nach Ansehen oder nach Stand. Er hüllte jeden ein, entfernte den Dreck jedes Einzelnen. Ari lief aus dem Haus heraus, schloss die Augen und hob ihren Kopf den dunklen, schweren Wolken entgegen. Sie hatte sich schon früher in der Gegenwart des Regens nicht so ganz alleine gefühlt, sie wusste dann, dass es noch jemanden gab, den niemand jemals wirklich verstehen würde, genauso wie sie. Es war unmöglich zu erklären, doch er gab ihr wirklich das Gefühl, nicht mehr so einsam zu sein. Sie stand mit geschlossenen Augen und hoch erhobenem Kopf im Regen und genoss einfach, wie die einzelnen Tropfen auf ihr Gesicht fielen und Tränen gleich wieder herunter liefen.

Genau in dieser Position fand Mara sie einige Zeit später und riss sie aus ihrer Glückseligkeit.

 

***

 

Cairdric wurde am späten Morgen geweckt, da vor Iskanders Haustür oder vielleicht auch schon im Haus eine Menge diskutiert wurde. Und vor allem laut. Er verstand keine einzelnen Worte, doch ließ sich erkennen, dass viele Stimmen aufgebracht durcheinander redeten. Rasch zog er sich an und trat aus seinem Zimmer heraus. Schon als er die Tür öffnete, wurde es auf einmal still. Ungefähr ein Dutzend Augenpaare starrten ihn an, darunter Iskander, dieser Pferdejunge und ein etwas älterer Mann, der ihm sehr ähnlich sah, auch wenn seine Oberarme um einiges kräftiger waren. Garantiert der Vater.

Noch seltsamer als die bloße Tatsache, dass sie sich hier versammelt hatten, waren ihre Mienen. Bei seinem Auftauchen verblasste die Verzweiflung und vielleicht sogar Angst auf Iskanders Gesicht und nahm einen Ausdruck von Schuld an. Doch Cairdric bezweifelte, dass damit die Lautstärke, die ihn geweckt hatte, gemeint war. Bei allen anderen allerdings entdeckte er Anflüge von tiefliegender Ablehnung, Hass und sogar einer unterdrückten Gewaltbereitschaft. Und diese galten eindeutig ihm. Er erschrak und wich einen Schritt wieder zurück. Da wandten sich die Leute plötzlich um, setzten sich ihre nassen Kapuzen auf und gingen ohne weitere Worte. Nur Iskander blieb und blickte betreten zu Boden. Cairdric wartete noch einige Momente, ob er von sich aus diese Situation erklären würde, doch dann fragte er: "Worüber habt ihr gerade geredet?"

Sein Gegenüber setzte mehrmals zum Sprechen an, doch schloss er seinen Mund immer wieder und erwiderte nichts.

"Iskander, was sollte das gerade?!"

"Verzeiht mir, mein Herr, wenn wir Euch geweckt haben, das stand nicht - "

"Verdammt, Iskander! Ich will wissen, was hier los war!" brüllte er. "Warum haben diese Männer mich so seltsam ... so hasserfüllt angesehen?"

"Mein Herr, bitte, ich bitte Euch, das war garantiert nicht gegen Euch gerichtet!" Iskander hob die Hände und sah ihn verzweifelt an. "Doch nicht gegen Euch. Wir haben nur gerade über diese Räuber geredet. Die aus dem Wald. Dem Lozei. Sie haben gestern den Gerber ausgeraubt. Den alten Mann. Haben alle Felle und Leder gestohlen. Und da sind die Leute unruhig geworden. Sehr unruhig. Und wütend. Sie wollten ja schon lange, dass dieses Problem beseitigt wird. Irgendwie. Sie hatten schon eine Möglichkeit gefunden. Eine eigentlich gute. Doch anscheinend klappt das nicht ganz. Das geht nicht. Aber Ihr dürft keinesfalls glauben ... sie haben doch nicht Euch gemeint." Iskander schluckte schwer und versuchte verzweifelt, Cairdric von seinen Worten zu überzeugen. "Sie haben nicht Euch gemeint. Bitte, das müsst Ihr mir glauben."

Cairdric starrte ihn eine Weile ausdruckslos an. Dann fragte er: "Was haben sie für eine Möglichkeit gefunden?"

Iskander rieb sich nervös die Hände und blickte verzweifelt auf dem Boden umher, als ob dort eine Lösung für seine Misere zu finden wäre. Es war mehr als offensichtlich, dass der Mann Cairdric nicht verraten wollte, worum es in dieser Situation ging. Er hatte allerdings auch die Vermutung, dass es sehr viel mit ihm zu tun hatte, im Gegensatz zu dem, was Iskander ihm weismachen wollte. Es war noch nie Cairdrics Art gewesen, andere Menschen zu etwas zu zwingen, doch war es auch noch niemals der Fall gewesen, dass so offensichtliche Abneigung gegen ihn herrschte. Und er wollte unbedingt wissen, weshalb. Er schickte sich an sich umzudrehen, um sein Schwert zu holen und Iskander damit zu überzeugen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und jemand hereinstürzte. Er nahm den triefendnassen Mantel ab und entpuppte sich als Eldar.

"Mylord ..." er deutete eine leichte Verbeugung an und sprach dann gleich aufgeregt weiter: "Mylord, Eure Stute ist weg!"

"Wie? Was sagst du da?" Ungläubig ging Cairdric zu ihm hin und fasste ihn an die Schulter.

"Es ist wahr, Mylord, sie ist nicht mehr auf der Weide bei den anderen Pferden."

Cairdric griff sich einen der Mäntel, die neben der Tür hingen und bedeutete Eldar, ihm zu folgen, während er aus dem Haus eilte. Über den Rücken rief er Iskander zu, dass dieser sich eine Erklärung zurechtlegen sollte, da er ihn nachher noch einmal befragen würde und dann eine ordentliche Antwort verlangte. Draußen empfing ihn der Regen und hüllte die Umgebung in einen undurchsichtigen Schleier grauer Tropfen. Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und lief zu Gazahlias Weide. Unterwegs rutschte er mehrmals beinahe auf dem schlammigen Boden aus, doch gelang es ihm immer, das Gleichgewicht rechtzeitig wiederzufinden. Am Zaun der Weide entdeckte er vier ebenfalls in Mäntel gehüllte Gestalten. Da deren Mäntel einen dunklen Rotton aufwiesen, erkannte er seine Ritter, allen voran Ranald. Dieser bestätigte ihm auch sogleich Eldars Aussage.

"Und könnt ihr Spuren eines Verbrechens ausfindig machen? Ist irgendwo der Zaun beschädigt? Wurde sie entführt?" Die Sorge um seine Stute stand ihm garantiert ganz offen ins Gesicht geschrieben, doch Ranald zuckte desinteressiert mit seinen Schultern und schüttelte den Kopf. "Nein, Mylord, keine Schäden im Zaun. Wie es aussieht, hat der Dieb wahrscheinlich einige Latten heruntergenommen und sie herausgeführt. Allerdings ist all ihr Zaumzeug noch vorhanden."

"Habt ihr ihre Spuren finden können?" Diesmal nickte Ranald und zeigte auf die Rückseite der Weide. Tiefe, weit auseinander liegende Hufabdrücke im Matsch wiesen dort in die Richtung des Lozei und verrieten ihm, dass Gazahlia in Eile gewesen sein musste. Von irgendwelchen Stiefelabdrücken fehlte jedoch jede Spur.

"Seht ihr, Mylord? Sie führen direkt in den Lozei. Wir sind ihnen allerdings noch nicht weiter gefolgt." Cairdric hörte nur halb hin und suchte verwirrt den Boden rund um Gazahlias Spuren ab. Ranald folgte seinen Blicken und runzelte die Stirn. "Wonach sucht ihr, Mylord?"

"Hier sind nirgends Stiefelspuren..."

"Nicht? Hmm ja ... das stimmt. Dann ist der Dieb auf ihr geritten. Doch das hilft nicht viel weiter."

Cairdric schüttelte jedoch energisch seinen Kopf. "Nein, Ranald, das ist nicht möglich, sie würde sich niemals freiwillig von anderen reiten lassen."

"Ach und wieso sollte sie nicht? Sie ist ein Pferd und Pferde entscheiden nicht, ob sie jemanden auf sich reiten lassen oder nicht. Wer will, der setzt sich rauf. So ist es auch bei Eurem Pferd, Mylord, ob Ihr es wollt oder nicht. Es gibt eben Dinge, die selbst Ihr nicht verbieten könnt." Ranald sagte dies in einem Ton, der Cairdric aufhorchen ließ. Dieser Hauch von aufrührerischem Ungehorsam, verachtender Selbstgefälligkeit, den hatte er noch nie bei einem seiner Ritter vernommen, geschweige denn erwartet. Er unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen und Ranald verblüfft anzusehen und blickte weiter auf den Boden. Eines wusste er bestimmt: Selbst wenn Gazahlia sich von diesem Dieb reiten lassen würde, dann müsste dieser doch erst einmal zur Weide hingegangen sein. Und auch diese Spuren fehlten. Um wirklich sicherzugehen, lief er ringsherum den Zaun ab, entdeckte jedoch nur die Fußabdrücke, die er und die Ritter hinterlassen hatten.

Fluchend kehrte er zu den Rittern zurück und ließ sich von Eldar überreden, wenigstens unter einem Dach Zuflucht zu suchen. Sie stellten sich zusammen mit den dicht gedrängten Pferden in den offenen Stall oder besser gesagt Unterstand am Rand der Weide und setzten die Kapuzen ab.

Dann wandte Cairdric sich an Garsiv, welcher zusammen mit Angar aus der Leibwache des Königs stammte, und fragte: "Wer von euch wird mir zur Seite stehen, wenn ich meine Stute suchen gehe?"

"Mylord, es regnet. Wollt Ihr nicht erst einmal warten, bis es aufgehört hat?" mischte sich Ranald wieder ein.

"Nein, wenn ich solange noch warte, weiß niemand, wie weit sie schon weg sein mag. Wer weiß, ob wir sie dann überhaupt noch finden. Hast du dir noch nie unsere Landkarte angesehen? Sie könnte überall sein. Dieser Wald ist riesig, so groß, dass er noch nicht einmal bis zum Ende verzeichnet wurde." Cairdric übertrieb hierbei nicht im Geringsten. Niemand war bisher ans Ende dieses Waldes gelangt oder wieder zurückgekehrt, um davon zu berichten. Auf den Landkarten des Königreiches war im Süden schon nach kurzer Entfernung zum Waldrand alles weiß und genauso konnte auch niemand sagen, was sich hinter dem Wald befand. Bisher stand die Erkundung des Waldes noch nicht im Interesse des Königs, doch wenn es erst einmal so weit war, dann würde sicherlich auch dieser Teil der Karte gefärbt werden können, daran zweifelte er nicht.

"Dann bereiten wir uns eben ein wenig auf diese Suche vor und hoffen, dass es bis dahin zu Ende geregnet hat. So vergeuden wir keine Zeit und haben immer noch die Chance, im Trockenen zu suchen." Eldar hatte noch nie viel Sinn in Diskussionen gesehen und schlichtete wo er nur hinkam. Cairdric sah ein, dass sein Vorschlag wahrscheinlich am sinnvollsten war, nickte zustimmend und fragte erneut, wer ihn begleiten würde. Wie erwartet meldete sich Eldar als erster und nach kurzer Zeit sagte auch Garsiv zu. Die anderen beiden, Angar und Adail, blickten Ranald an und warteten anscheinend, wie er sich entscheiden würde. Doch dieser ließ sich mächtig Zeit mit seiner Entscheidung. Dann meinte er: "Ich komme mit, aber nur, wenn wir bis zum Ende des Regens warten. Ich habe keine Lust, mit triefenden Sachen und miesgelaunten Pferden nach Euer Stute zu suchen, Mylord. Wenn Ihr Euch einfach ein neues Pferd nehmen könntet, wäre unser Problem jedoch sofort gelöst." Er sah Cairdric herausfordernd an und Cairdric starrte zurück. Dies war offener Widerstand gegen einen Prinzen und er wusste, dass solches Verhalten am Hofe niemals geduldet werden würde. Denn selbst eine Bitte von ihm hätte wie ein Befehl behandelt werden müssen. Aber Cairdric war klar, dass er hier so weit von der roten Stadt entfernt nicht darauf beharren sollte. Wenn er mit seinem Verdacht recht hatte, dann würde Ranald sich sicherlich auch keinem direkten Befehl beugen. Und beide wussten, dass Ranald die größere Unterstützung in dieser Umgebung hatte. Cairdric dachte an die Männer des Dorfes zurück. Von denen konnte er nichts erwarten und von den Rittern waren nur zwei auf seiner Seite. Falls es zu einer Auseinandersetzung kommen sollte, stünde es wirklich schlecht für ihn. Seine Aufgabe war es also, eine solche zu verhindern. So gut und so lange wie es ging.

Dementsprechend gab er nach. "In Ordnung, wir warten so lange ab. Aber ich verlange, dass jeder von euch sich aufbruchsbereit macht. Sobald es aufhört zu regnen, gehen wir in den Lozei und suchen meine Stute."

Ohne auf weitere Einwände zu warten, drehte er sich um und ging nach einem letzten Blick auf die Wiese wieder zurück zu Iskanders Haus. Schließlich hatte er auch dort noch etwas unerledigt gelassen. Ihm begegneten viele andere Gestalten, die, in mehr oder weniger lange Mäntel gehüllt, emsig durch den Matsch liefen und irgendwelche, ihm fremde Dinge erledigten. Irgendwo weiter entfernt hörte er durch das Rauschen des Regens lautes Kinderlachen. Er konnte sich genau vorstellen, was sie dort taten, denn entgegen den Vorstellungen vieler gemeiner Leute hatte auch ein Prinz Spaß in seiner Kindheit. Die Tatsache, dass sie Prinz und Prinzessinnen waren, hatte ihn und seine beiden Schwestern Kalira und Selle nicht davon abgehalten, beim Regen in den Pfützen zu spielen. Da Selle allerdings erst acht Jahre alt war, hatte sie weniger von ihrem großen Bruder mitbekommen, der schon zu alt für so etwas war, als sie gerade damit anfing. Kalira, die nur fünf Jahre jünger war als er, erging es hingegen ganz anders. Zusammen mit anderen Kindern von hochgestellten Adligen oder manchmal auch mit Daru, dem Sohn von Cairdrics Kammerdiener, waren sie durch den gesamten Park gerannt und hatten sich gegenseitig ins Wasser geschubst oder mit Schlamm beworfen. In Gedanken an diese vergangene Zeit fing Cairdric an zu lächeln. Seine Mutter war zwar der Meinung gewesen, dass sich solches Verhalten nicht für einen Prinzen zieme, sein Vater jedoch hatte immer versucht, sie zu überzeugen, dass es niemandem schaden würde, wenn er ein wenig Spaß hatte. Um sie allerdings nicht so viel zu verärgern, hatten er und seine Spielkumpanen niemals in ihrer Gegenwart und meistens auch nur wenn sie andere Dinge zu tun hatte, gespielt. Und die freundliche Wäscherin sorgte dafür, dass die Königin auch nicht mit dem Anblick vollkommen brauner, durchnässter Klamotten belästigt wurde. Irgendwann war diese Vorsicht sogar zu einem Wettbewerb verkommen. Es war, so glaubte er sich zu erinnern, Kaliras Idee gewesen, so lange und dicht wie möglich an dem Fenster seiner Mutter zu stehen und im kritischen Augenblick dann wieder abzutauchen. Dies hatte aber unweigerlich dazu geführt, dass sie öfter erwischt wurden und dann mussten sie ihre Spiele eine Zeit lang einstellen, doch irgendwann hatte Kalira so lange gebettelt, bis ihre Mutter endlich nachgegeben hatte. Kalira konnte so etwas einfach. Wenn Cairdric irgendetwas haben wollte, musste er einfach nur Kalira bitten und sie erbettelte es sich mit ihren großen Kinderaugen oder jetzt, mit ihren zwölf Jahren, überredete sie ihre Eltern sogar innerhalb kürzester Zeit.

Sie wollte noch ein wenig länger mit Daru und den anderen spielen? Einen Moment mit ihrem Vater und sie durfte. Sie wollte zu ihrem achten Geburtstag ein eigenes kleines Haustier haben? Ein Blick und sie bekam gleich sechs. Zu ihrem zehnten Geburtstag wollte sie auch endlich ein eigenes Pferd? Wenig später konnte sie sich von der ganzen Hofzucht eines aussuchen und hatte schlussendlich sogar zwei. Und selbst die Tiere schienen sich vor ihren Künsten nicht schützen zu können. Als sie sich die braune Stute ausgesucht hatte, wollte diese sich nicht von ihr reiten lassen und hatte sie schon mehrmals abgeworfen. Minas machte den Vorschlag, dass Kalira sich doch ein anderes Pferd suchen sollte, doch diese blickte die Stute groß und bettelnd an und heute sind die beiden nicht mehr zu trennen. Zwar konnte sie solange und so traurig wie sie wollte auf Gazahlia einreden und diese ließ sie trotzdem nicht an sich heran, doch immer wieder konnte Cairdric über seine kleine Schwester nur staunen und staunen.

Ein weiterer Grund, aus dem Cairdric nicht glauben konnte, dass dieser Dieb auf Gazahlia geritten sein sollte. Und da nicht nur Fußspuren zurück sondern auch hin fehlten, war er sich nicht einmal so sicher, dass sie überhaupt gewaltsam von der Weide geholt worden war. Es sah für ihn so aus, als wenn sie von ganz alleine weggelaufen war. Jetzt musste er nur noch den Grund herausbekommen. Und sie so schnell wie möglich wiederfinden. Denn wie sollte er ohne ihre Hilfe gegen diese Front ankommen, die sich hier gegen ihn zu bilden schien? Er brauchte sie einfach dringender denn je.

 

Kapitel vierzehn

Cairdric kehrte zurück zu Iskanders Haus und rief nach ihm. Als sich niemand meldete, rief er ein zweites Mal. Er blickte in sein kleines Zimmer und fand dort außer einigen frisch gewaschenen Sachen nichts. Er hob seine Schwertscheide samt Schwert vom Boden auf und legte sie aufs Bett und nahm dann das bereitgelegte Hemd und eine weitere Hose aus seinen Taschen. Diese packte er zusammen mit seinem Wasserschlauch und einer Schlafmatte zu einem Bündel und stellte es neben die Tür. Niemand von ihnen wusste, wie schnell sie Gazahlia wiedergefunden haben würden, deshalb war er sich auch nicht so sicher, ob das, was er eingepackt hatte, zu viel oder zu wenig war. Er band sich seinen schwarzen Ledergürtel um - echtes Hirschleder, welches von seinem ersten selbst erlegten Hirsch stammte - und griff dann nach seinem Schwert. Nachdem er die Schwertscheide vom Bett genommen hatte, zog er die Klinge heraus und betrachtete sie.

Ihr Heft bestand aus dunklem, leicht grünlich schimmerndem Hartholz und war mit feinen Silberlinien verziert, die sich rings herum wie Efeuranken um einen Baum wanden. Dahinter war die leicht nach vorne gebogene Parierstange. In sie hatte der Schmied oder wer auch immer dafür verantwortlich war, auf beide Seiten ein kleines Symbol geritzt. Es war ein zierliches Oval, welches aus zwei mit Blättern besetzten Zweigen bestand und dort wo die Spitze des einen war, befand sich der Zweiganfang des anderen. Cairdric bezeichnete dieses Symbol manchmal als Auge, doch in Wahrheit hatte er nicht die geringste Ahnung, was es bedeuten sollte oder warum es dort hinein geritzt war. Die Klinge an sich war nicht ganz so breit und somit auch leichter als die üblichen Schwerter, was aber eigentlich nur den Grund hatte, dass er seinem Vater gesagt hatte, er würde mit den schweren Schwertern nicht wirklich gut umgehen können. Es entsprach zwar dann nicht mehr ganz den Normen, aber da er der Prinz war, war dies natürlich kein Problem. Somit hatte er jetzt eine recht schlanke Klinge aus leichterem Stahl, die sich zum Ende hin verjüngte und eine stark zulaufende Spitze besaß. Er fand sie persönlich eigentlich um einiges schöner und praktischer als die anderen und hatte bei seinem Vater auch schon den Vorschlag gemacht, jedes Schwert so fertigen zu lassen. Einziges Problem war, dass sein Vater dafür ein wenig zu traditionell und altmodisch war und schmale, leichte Klingen für viel zu instabil und zerbrechlich hielt und nach vielen erfolglosen Versuchen hatte Cairdric aufgehört, seinen Vater überzeugen zu wollen. Gleich hinter der Parierstange war der Name des Schwertes in filigranen und geschwungenen Buchstaben eingeritzt: Thasyr. Thasyr bedeutete Der Unüberwindbare, was Cairdric ein wenig seltsam fand, jedoch wollte der Schmied nicht im Geringsten von diesem Namen abweichen; er meinte, das wäre der einzig richtige Name für diese Klinge. Da sein Vater Minas den Namen ebenfalls recht passend für das Schwert eines Prinzen hielt, kam dann auch von Cairdrics Seite kein weiterer Einwand.

Er steckte Thasyr wieder zurück in die Scheide und legte diese neben sein Bündel. Da er seine Sachen fertig gepackt hatte, ging er hinaus, um Iskanders Frau um etwas Brot oder Ähnliches zu bitten. Doch sie befand sich nicht in der Küche und er hatte zugegeben ein wenig Scheu davor, in deren Schlafzimmer zu gehen.

"He, Iskander? Bist du hier irgendwo?", rief er stattdessen. Doch wie vorhin erfolgte keine Antwort. Wo mochte der Dorfoberste bloß sein? Er hatte ihm nicht gesagt, dass er irgendwo hin müsste oder dass wieder irgendeine Versammlung abgehalten wurde. Mitten in seinen Grübeleien ging plötzlich doch eine Tür hinter ihm auf, aber statt Iskander kam seine Frau heraus.

"Ah, Moura, dich habe ich gesucht." Die Frau schreckte wie immer zusammen, doch er beruhigte sie gleich wieder. "Keine Sorge, ich wollte dich nur um etwas Brot oder ähnliches bitten. Meine Stute ist verschwunden und ich werde sie zusammen mit meinen Rittern suchen gehen, sobald der Regen aufgehört hat. Da ich nicht weiß, wie lange dies dauern wird, dachte ich daran, ein wenig Proviant mitzunehmen. Ihr habt nicht zufälligerweise irgendetwas übrig?"

Statt einer Antwort ging sie durch die eine Tür in ihre Vorratskammer, wie er vermutete, und winkte ihn hinter sich her. Cairdric folgte ihr in einen kleinen Raum, der an den Seiten mit Regalen vollgestellt war und dessen Gang nur Platz für eine Person reichte. In den Regalen befanden sich neben vielen Vorräten, bestehend aus getrockneten Früchten, in alle Arten verarbeitetes Fleisch sowie einigen Laiben Brot, auch Töpfe, Pfannen und Geschirr, weiter hinten sogar Decken und andere Stoffe und ganz am Ende ein größerer Holzzuber. Er, der weitaus anderes vom Hofe gewohnt war, fand die Vorstellung, sich zum Baden in solch einen trotz allem noch kleinen Zuber zu quetschen, irgendwie seltsam. Wenn dort große Männer drin saßen, passte doch nicht mehr viel Wasser rein und vom Badevergnügen konnte sicherlich auch keine Rede mehr sein. Seine Gedanken wurden wieder zurückgeholt, als Moura ihn auf das Regal mit dem Essbaren aufmerksam machte und versuchte, ihm verständlich zu machen, dass er sich etwas aussuchen sollte. Er fühlte sich dabei nicht recht wohl, ihnen etwas von den Vorräten zu stehlen und entschied sich deshalb nur für einen Laib Brot, der aus dunklem Teig bestand und in Körnern gewälzt worden war. Sie reichte ihm dann ein Tuch, in welches er das Brot einwickelte und dann dankte er ihr überschwänglich. Doch sie wehrte ab und schob ihn wieder aus der Kammer heraus.

Cairdric packte das Brot dann zu seinen anderen Sachen und fragte die Frau, wo ihr Mann sich gerade aufhielt. Doch Moura hob nur die Schultern. Sie wusste es also auch nicht. Es war zum Verzweifeln, warum verschwanden denn plötzlich alle, wenn er sie brauchte? Er hatte den leichten Verdacht, dass Iskander vor ihm und seiner ausstehenden Antwort geflohen war, doch wohin war die Frage. Und irgendwann musste auch er wieder zurückkommen. Es war bald schon wieder Essenszeit, Moura bereitete gerade alles vor, also konnte er nicht viel länger ausbleiben.

 

***

 

Yannic hatte genau gehört, wie sich der Prinz und die Ritter über das Verschwinden der weißen Stute unterhalten hatten. Der Unterstand hatte über dem unteren Teil, in dem die Pferde immer standen, auch noch oben einen Raum, in dem er das Heu für die Tiere lagerte und nach Bedarf herunterwerfen konnte. Er hatte eher zufällig dort gesessen, nachdem er die Tiere gefüttert hatte und somit alles mitbekommen. Jedenfalls ab dem Zeitpunkt, an dem der Prinz gefragt hatte, wer von seinen Männern ihm bei der Suche helfen würde. Das allein zeugte doch schon von seiner Schwäche, merkte er das etwa nicht? Wieso fragte er denn überhaupt? Er war der Prinz, dann sollte er ihnen doch einfach befehlen, mitzukommen und ihm zu helfen. Yannic schüttelte den Kopf über diese Dummheit. Und dann hatte dieser Hauptmann angefangen, sich ganz offen gegen ihn zu stellen und der Prinz hatte nichts besseres zu tun, als sich unterbuttern zu lassen und nachzugeben! Als er gesagt hatte "In Ordnung, wir warten ab" da hatte Yannic nur verächtlich gedacht: Was für ein Schwächling. Und sowas hatte das Recht, Prinz zu sein. Da wäre ja selbst sein kleiner Bruder noch besser für geeignet.

Aber dieser Hauptmann war wirklich nicht ohne. Ein interessanter Kerl, das musste er zugeben. Mochte er auch nicht gerade der Bestaussehendste oder Intelligenteste sein, aber er gefiel ihm auf jeden Fall. Wenn er es schaffte, diesen Ranald für seinen Plan zu gewinnen, dann würde ihnen nichts mehr wirklich im Wege stehen. Diese beiden anderen Trottel würden bestimmt mitmachen, doch er musste darauf achten, dass er in Gegenwart des großen Blonden kein Wort darüber verlor, denn der war anscheinend doch auf Seiten des Schwächlings. Bei dem anderen war er sich nicht ganz sicher. Der hatte gezögert, als der Prinz nach Leuten gefragt hatte, die mit ihm gehen, aber schlussendlich hatte er doch zugesagt. Yannic beschloss kein Risiko einzugehen und gegebenenfalls den Hauptmann zu fragen, auf wessen Seite dieser offenbar erfahrene Kämpfer wirklich stand.

Er sprang vom Heuboden herunter und rutschte bei seiner Landung glücklicherweise einmal nicht im Matsch aus. Dann ging er hinaus und in Richtung seines Hauses. Dieser blöde Regen, ständig lief ihm Wasser in seinen Kragen, denn sein eigentlicher Regenmantel hatte ein Loch gehabt, weswegen er ihn zur Schneiderin Mara gegeben hatte und jetzt musste er den Mantel ohne Kapuze tragen. Er fluchte laut und fing an zu rennen. Je eher er Zuhause war, desto schneller war er aus dem Regen raus. Es war außerdem bald wieder Essenszeit und seine Mutter hasste es, wenn er zu spät und so dreckig kam. Als er zur Schmiede kam, hörte er seinen Vater wieder kräftig auf irgendein Metall einschlagen, um ihm eine bestimmte Form zu geben. Yannic hielt nicht viel vom Schmieden, ein Grund aus dem er das mit den Pferden angefangen hatte, und nachdem sein kleiner Bruder Jando anfing, sich dafür zu begeistern, hatte sein Vater Yannic auch nicht mehr dazu zwingen wollen. Nicht, dass er sich jemals zu etwas zwingen lassen würde.

Er betrat die Schmiede und sah, wie sein kleiner Bruder, der gerade damit beschäftigt war, den Blasebalg zu bedienen, sich umdrehte und dann freudestrahlend auf ihn zulief.

"Yaski! Da bist du ja endlich!" Er musste einen Ausfallschritt nach hinten machen, als er von dem kleinen Orkan heftig umarmt wurde. Er grinste und wuschelte Jando durchs Haar. Dieser blickte nach oben und guckte ihn schmollend an. "Du warst heute morgen schon so früh weg. Hab dich gar nicht mehr gesehen."

"Tut mir Leid, mein Kleiner. Ließ sich nicht ändern. Die Pferde brauchen mich halt. Und heute ist die Stute des Prinzen abgehauen. Irgendwie." Jando lachte.

"Hattest du damit etwas zu tun, Yannic?" fragte sein Vater drohend von hinten, immer noch am Amboss mit dem Hammer in der Hand. "Du weißt, dass du dir jetzt nichts mehr erlauben solltest."

"Aber ich erlaube mir doch gar nichts, ... - "

"Yannic, hast du mal drüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn er dem blöden Gaul jetzt folgt? Rako wird außer sich vor Wut sein."

"Ach mit Rako komm ich schon klar. Aber ich -"

"Jetzt komm mir nicht mit 'aber ich', Junge!" Sein Vater wandte sich vom Amboss ab und kam zu ihm und seinem kleinen Bruder herüber, der einfach nur mit großen Augen danebenstand und zuhörte und nicht viel verstand. Keines der vielen Kinder wusste über das Geplante bescheid. Zu groß war das Risiko, dass sie sich irgendwie verplapperten. Außerdem bewunderten sie mit ihren kindlichen Gemütern diesen Schwächling einfach noch zu sehr.  "Du hast den Scheiß angezettelt, jetzt musst du auch dafür sorgen, dass der Kerl hierbleibt. Denk doch wenigstens ein mal über das nach, was du tust!"

"Ich denke immer nach, was ich tue!" Schrie Yannic auf einmal wütend los. "Ganz im Gegensatz zu dir! Du stehst nur hier in deiner dreckigen, staubigen Schmiede, hämmerst jeden Tag auf irgendein scheiß Eisen ein und denkst, du wüsstest über alles Bescheid! Maße dir nie wieder an, über mein Handeln zu urteilen, wenn du nicht einmal weißt, was ich tue! Wer hat denn dafür gesorgt, dass Rako davon überhaupt erfährt? Wer hat ihn dazu gebracht, seinen dummen Plan zu ändern? Wer von uns rackert sich hier einen ab, damit dieser Esel endlich mal bekommt, was er verdient?! Ich! Ich bin es. Und nicht du oder irgendeiner deiner dummen, einfältigen Freunde und Saufkumpanen. Und genau deshalb werde es auch ich sein, der den Gewinn kriegt. Dieser Dummbatz Rako interessiert mich einen Scheißdreck. Er ist genau so hohl wie deine ganzen Flaschen. Ich will mich nicht länger mit dem Einfachen hier zufrieden geben. Ich will mehr! Ich will was höheres!" Er stierte seinen Vater wütend an, dann schnaubte er kurz und sagte abfällig: "Aber sowas kennst du ja nicht, stimmt's? Du bist zufrieden hier mit deiner Schmiede. Ich weiß, was du sagen würdest. Ich hab ne Frau, ich hab ne Arbeit, ich hab sechs Kinder, ich bin froh." äffte er die tiefe Stimme seines Vaters nach. "Ist es nicht so?"

Jegor atmete tief durch und senkte ergeben den Kopf. Noch ein Schwächling. Verächtlich wandte Yannic sich ab. Dann blickte er den kleinen Jando an, der während Yannics Wutausbruch verängstigt an der Wand gestanden hatte und sagte leise zu ihm: "Tut mir Leid, Kleiner. Sag Mutter, sie brauchen mit dem Essen nicht auf mich warten. Ich esse später irgendwann." Jando nickte und ließ sich noch einmal durchs Haar wuscheln, dann ging Yannic mit hoch erhobenem Kopf aus der Schmiede hinaus.

Diesmal störte ihn der Regen nicht so sehr, denn er hatte das Gefühl, dass die Hitze seines Körpers das Wasser verdunsten ließ, noch bevor es überhaupt seine Haut berührt hatte. Dieser Ausbruch gerade war aber verdammt nochmal richtig nötig gewesen. Er hatte es seinem Vater schon lange einmal zeigen wollen. Doch nach und nach kühlten die Tropfen sein erhitztes Gemüt wieder ab und er entsinnte sich, dass er jetzt schlecht wieder zurückgehen und essen konnte. Sein Magen war nicht sehr erfreut darüber, doch was blieb ihm anderes übrig? Kehrte er jetzt zurück, würde er sich wie einer dieser verhassten Schwächlinge vorkommen und das war schlimmer als jeder Hunger. Aber wer sagte denn, dass er unbedingt bei sich Zuhause essen musste?

Es wäre bestimmt lustig, wenn er etwas aus Iskanders Vorräten entwenden würde, doch das Risiko erwischt zu werden, war zu groß und er hatte keine Lust, diesem lächerlichen Kerl von Prinz nochmal zu begegnen. Also woanders hin. Dann kam ihm etwas in den Sinn. Er zögerte kurz. Er zögerte länger. Dann schüttelte er den Kopf. Nein, sie würde er garantiert nicht bestehlen. Nie im Leben.

Er könnte zu der Heilerin gehen. Sie würde ihm garantiert auch etwas geben, ohne dass er sie bestehlen musste. Und außerdem bestand die Chance, dass dieser Ranald seinen Freund besuchen war. Dann könnte er vielleicht gleich mit ihm reden und versuchen, ihn zu überzeugen.

Also wandte er sich nach links.

 

***

 

Sandor stöhnte leise auf, als die Heilerin sein Bein hochhob, um den Verband abzunehmen, der schon wieder völlig vom Blut durchnässt war. Da er immer noch ohnmächtig war, hatte Ranald nicht mit ihm reden können. Er vermisste es, sich mit seinem alten Freund unterhalten zu können. Sandor war einer, der immer wusste, wie man alles machen konnte. Gerade jetzt brauchte Ranald ihn, denn  er hatte keine Ahnung, wie er gegen den Prinzen vorgehen sollte, ohne dass die Dorfbewohner ihn lynchten. Der eigentliche Plan war es gewesen, ihn während einer Jagd ganz ungewollt irgendwie einen Unfall haben zu lassen. Dann hätte keiner der Leute hier irgendetwas machen können und vorm König hätte alles Bestand gehabt. Doch dieser Plan war jetzt dahin, denn diese Räuber im Lozei hatten sechs seiner Anhänger getötet und sogar Sandor verletzt, sodass er jetzt nicht mehr solch eine große Überzahl hinter sich hatte wie zuvor. Denn Garsiv war ganz unvermittelt auf Cairdrics Seite gewechselt und das, nachdem er es nicht einmal geschafft hatte, Eldar davon abzuhalten, diese Reise mitzumachen. Eldar war einer der kräftigsten Kämpfer und Ranalds Plan von Anfang an im Weg gewesen. Er hatte zusammen mit Sandor versucht, ihn irgendwie in Caracas zu halten, doch das hatte nicht funktioniert. Zum Glück hatte er noch nichts von dem Plan mitbekommen, auch wenn er die Spannungen gespürt hatte, die sich zwischen dem Prinzen und seiner Truppe befanden.

Er könnte sie alle verfluchen. Diese Räuber, die sich keinen unpassenderen Zeitpunkt hatten aussuchen können und es dann nicht einmal geschafft hatten, Cairdric zu töten. Diese Dorfbewohner, die es ihm so verdammt schwer machten, irgendetwas gegen ihn zu unternehmen. Sandor, weil er hier einfach herumlag, sein Bett vollblutete und langsam aber stetig sein Leben verlor, obwohl es zunächst nach einer Besserung ausgesehen hatte. Und dann vor allem sich selber, weil er in dieser Lage steckte und keinen Ausweg fand. Warum konnte ihm denn einfach niemand helfen?

In diesem Moment hörte er, wie die Tür dieser schäbigen Hütte aufging und jemand hereinkam. Er unterhielt sich kurz mit der Heilerin, die Sandors Verband auswusch, und dann scharrte ein Stuhl über den Boden. Ranald blieb einfach bei seinem Freund sitzen und verfolgte das Geschehen in der Küche mit den Ohren. Nach einer Weile scharrte der Stuhl erneut und Schritte näherten sich, dann ging die Tür auf und ein junger Kerl kam herein. Er war groß und kräftig, mit schulterlangen, braunen Haaren und einem sehr selbstbewussten Gang. Er mochte vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Der Junge ging auf ihn zu, blickte kurz Sandor an und setzte sich dann schräg vor ihn auf einen Stuhl. Was wollte der von ihm? Sie musterten sich kurz gegenseitig, dann fing er an zu sprechen: "Ihr seid der Hauptmann der Ritter, die den Prinzen begleiten, nicht wahr?" Ranald nickte ausdruckslos.

"Und ihr könnt ihn nicht leiden und habt etwas geplant, was jedoch ins Wasser gefallen ist, nicht wahr?" Jetzt runzelte er die Stirn. Woher wusste der Kerl das? Doch dieser begann plötzlich zu grinsen. "Wusste ich doch. Dann lasst Euch gesagt sein, dass wir ein gemeinsames Ziel und ähnliche Probleme haben, die wir beide zusammen aber auslöschen könnten."

"Wer bist du? Und woher genau weißt du davon?", fragte Ranald ihn, bevor er noch weiteres sagen konnte.

"Mein Name ist Yannic und ich bin derjenige, der hier einiges ins Rollen gebracht hat. Woher ich das weiß ist eigentlich gar nicht so interessant, ich habe es von Euch." Ranald hob verblüfft die Augenbraue und Yannic grinste ein zweites Mal. "Ihr erinnert Euch doch noch an die kleine Unterhaltung im Pferdeunterstand auf meiner Wiese? Nun ich habe, ehrlich gesagt mehr zufällig, dort oben gelegen und so einiges mit angehört. Ich weiß, dass Ihr den Prinzen nicht leiden könnt. Dass Ihr etwas geplant hattet, war eigentlich geraten, aber anscheinend habe ich voll getroffen. Wie auch immer, Ihr könnt auf meine Unterstützung bauen." Ranald ärgerte sich zunächst ein wenig über seine Unvorsichtigkeit. Wäre es jemand gewesen, der nicht so wie dieser Junge dachte, dann hätte das erheblichen Ärger bedeuten können. "Du sagtest, du hättest hier schon etwas ins Rollen gebracht...?"

"Ja, das habe ich. Es gibt Leute dort im Wald. Ihr wisst es, Ihr seid ihnen begegnet. Allerdings nicht genau denen, von denen ich rede. Die, die ich meine, sind eine Gruppe von Ausgestoßenen, die im Lozei Zuflucht gesucht haben, da sie wissen, dass sich dort niemand an sie heranwagen wird. Einige von uns haben schon länger Kontakt mit ihnen, ein paar sind sogar verwandt und ihr Anführer, ein kleiner Mann namens Rako, hasst den König und alles was dazu gehört enorm. Wir hatten schon was geplant, doch eure Ankunft hier hat uns eine Gelegenheit beschert, die schöner nicht sein könnte. Rakos Bande wird morgen irgendwann hier sein und dann ... naja ich denke, Ihr wisst, was dann. Unser einziges Problem war, dass ihr Ritter einfach zu gut seid, um einfache Räuber gegen euch bestehen zu lassen und wir hatten vor, euch irgendwie von ihm zu trennen, doch wenn ihr mitmachen würdet, wäre das erledigt. Was haltet Ihr davon?" Yannic sah ihn an, doch er musste erst einmal genauer darüber nachdenken. Das war eigentlich genau das, worauf er gehofft hatte. Zu erfahren, dass es selbst hier Leute gab, die er auf seine Seite ziehen konnte, stimmte ihn ungewohnt froh. Es war perfekt. Wenn dieser Rako auch nur halb so gut war, wie Yannic es von ihm dachte, dann hatte Cairdric selbst mit Eldar und Garsiv an seiner Seite keine Chance. Blieb nur noch eines.

"Was ist mit den übrigen Leuten hier? Sind sie auf deiner Seite?"

"Nun die Männer auf jeden Fall schon. Wir haben die meisten Frauen und alle Kinder nicht mit eingeweiht, weil wir wussten, dass diese sich nicht überzeugen lassen würden. Selbst mein kleiner Bruder hält den Prinzen für einen Helden. Von den Mädchen will ich gar nicht erst anfangen. Wie auch immer, Gegenwehr ist nicht in Sicht. Einziger Gegenspieler ist Iskander, unser Dorfoberster, doch der ist viel zu feige, um dem Prinzen etwas zu erzählen. Der wird seine Klappe halten. Dafür hab ich gesorgt. Also haben wir freie Bahn."

Ranald nickte überzeugt. "In Ordnung, wir machen mit. Es gibt nur zwei Ritter, die auf seiner Seite sind, der Rest untersteht mir. Das würde drei gegen mehr als fünfzig machen." Er schnaubte zufrieden. "Er hat keine Chance."

Yannic pflichtete ihm bei. "Er hat keine Chance."

 

Kapitel fünfzehn

Yannic und Ranald hatten sich eine ganze Weile darüber unterhalten, wie sie vorgehen würden. Dann war schließlich alles beschlossen und Yannic erhob sich. Als er jedoch an der Tür war, fiel ihm etwas ganz wichtiges ein, was sie bisher nicht bedacht hatten.

"Verdammt!" Er schlug mit der Faust fest gegen den Türrahmen und der Ritter schreckte hoch.  Yannic drehte sich um und sah ihn verärgert an. "Wir müssen den Prinzen daran hindern, seine Stute suchen zu gehen! Wenn er loszieht, bringt das unseren ganzen Plan durcheinander." Ranald zuckte zusammen. Anscheinend hatte auch der das vollkommen vergessen.

"Wer kommt denn eigentlich auf solch eine dumme Idee und klaut dem Prinzen sein Pferd? Von meinen Männern war das garantiert keiner. Hast du hier irgendwelche Idioten, die dazu fähig wären?"

Er überlegte kurz, doch er selbst wusste auch niemanden. Davon abgesehen, dass sein Vater dachte, er wäre das gewesen. Eigentlich sollte doch wenigstens der ihn so gut kennen, dass er wusste, dass Yannic nie solche Dummheiten begehen würde. Schließlich würde das seinen eigenen Plan zerstören. Und das wollte er auf keinen Fall riskieren. Genauso wenig wie er nichts daran dem Zufall überlassen durfte.

"Es wäre viel einfacher, wenn sie einfach zurückkommen würde." Ranald schüttelte entnervt den Kopf. "Die ist doch sonst auch immer so verdammt anhänglich. Lässt nie einen anderen an sich ran. Und ich spreche aus Erfahrung." Yannic hob eine Augenbraue. "Brauchst gar nicht so gucken. Ich bin garantiert nicht der Einzige, der sie haben wollte, doch sie hat mich nicht einmal auf fünf Meter an sich heran gelassen. Fast fünfundzwanzig Jahre Kriegererfahrung und sie rennt einfach ganz unerwartet auf mich zu und haut mich mit einem Hufschlag um. Zu der Zeit hatte ich von einem kleineren Duell noch eine schlecht verheilte Wunde an der Hüfte. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, aber es sah so aus, als wenn sie direkt darauf gezielt hätte. Ein teuflisches Pferd. Wieso kann sie denn nicht einfach wieder auftauchen? Würde uns eine Menge ersparen."

"Nein, ganz im Gegenteil. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, hat uns eigentlich auch einen Gefallen getan."

"Wieso das?", fragte Ranald verwundert. "Der Gaul hat doch mit dem Ganzen nichts weiter zu tun."

"Diese Stute ..." antwortete Yannic fest und sah ihn ernst an. "... hat mehr mit dem Ganzen zu tun als Ihr glaubt."

Der ältere Ritter erwiderte seinen Blick eine Zeit lang, doch dann senkte er den Kopf und ging nicht weiter darauf ein. "Ich werde mich einfach weiter weigern, ihm zu folgen", beschloss er kurz. Doch Yannic schüttelte den Kopf. "Dummer Plan. Funktioniert nie. Er geht dann einfach ohne Euch los. Er wird nicht riskieren, seine Stute zu verlieren, nur weil er sie nicht mit zehn Leuten suchen kann. Dafür ist sie ihm zu wichtig." Der Hauptmann konnte es anscheinend nicht vertragen, dass sein Plan von einem einfachen Bauernburschen wie ihm als dumm bezeichnet wurde und funkelte ihn wütend an. "Dann lass du dir doch etwas einfallen, wenn du so schlau bist."

"Gerne. Gebt mir einen Moment, dann habe ich eine Lösung." Yannic rutschte mit dem Rücken an der Wand herunter, zog die Knie an seinen Körper heran und stützte den Kopf darauf. Ranald ließ ihn nicht lange überlegen, dann hatte er schon den nächsten Vorschlag: "Wir werden einfach mit ihm seine Stute suchen gehen und ihn dann unterwegs ..."

"Nein, werdet Ihr nicht. Wir werden ihn morgen früh genau so stellen, wie es abgemacht war und zwar mit Rako und seinen Männern zusammen. An diesem Punkt gibt es nichts zu ändern. Aber ich sagte, Ihr sollt mir etwas Zeit geben, dann wird mir schon etwas Brauchbares einfallen." Ranald, schon zum zweiten Male von ihm zurückgewiesen, wollte missmutig aufbegehren, wurde jedoch von Yannics genervten Abwinken zurückgehalten. Normalerweise würde dieser sich so etwas garantiert nicht so einfach gefallen lassen, doch da es hier um viel wichtigeres als seinen Stolz ging, blieb er zum Glück ruhig. Nach einer Weile sagte Yannic nachdenklich:

"Wir könnten einfach dafür sorgen, dass er ganz freiwillig hierbleibt."

"Wie meinst du das?"

"Wenn er, warum auch immer, plötzlich ohnmächtig irgendwo zusammenbricht, kann er ja schlecht weggehen und wenn niemand ihn bis morgen weckt, ist er für den Überfall sogar frisch ausgeschlafen. Dann tun wir ihm sogar noch etwas Gutes. Falls er nicht aufwachen würde, wäre das sogar noch lustiger." Er berichtigte sich aber sofort wieder. "Nein, das wäre nicht gut. Wir werden ihn wenn nötig vorher sogar wecken. Was haltet Ihr davon?"

"Das ist eine interessante Idee und könnte sogar funktionieren. Doch willst du ihm eine Latte vor den Kopf hauen oder wie? Ich denke, es wäre irgendwie am besten, wenn er niemanden dafür verdächtigt, sondern es für einen Unfall hält."

Yannic nickte. "Ihr habt Recht. Nun, aber wie stelle ich das am besten an ... ?"

"Wir", berichtigte Ranald ihn.

"Was?", verwirrt blickte er auf.

"Wie stellen wir das an. Du bist hier nicht der einzige Planer. Keinesfalls werde ich das alles einfach so dir überlassen."

Er sah den Ritter, der ganz selbstgefällig dasaß, durchdringend an und antwortete dann hart: "Zuerst einmal bin ich derjenige, der hier alles von Anfang an geplant hat und nicht Ihr. Dann kenne ich Rako und seine Männer genauestens, im Gegensatz zu Euch. Und zum Dritten habe ich hier von uns beiden schlicht und einfach die besseren Ideen, also gibt es ein 'ich überlasse dir das alles' gar nicht erst, weil es sowieso schon meines ist und wäre ich nicht gewesen und hätte Euch in unser Vorhaben eingeweiht, dann wäret Ihr und Eure restlichen Ritter morgen früh tot. Denn egal wie gut Ihr auch sein mögt, fünf Männer gegen über fünfzig haben keine Chance. Das sollte Euch bewusst sein. Also gebt Euch bloß nie wieder der Illusion hin, Ihr würdet in dieser Sache über mir stehen, nur weil Ihr ein Ritter des Königs seid. Denn was könnt Ihr schon für ein Ritter sein, wenn Ihr Euren eigenen König oder Prinzen verratet, dem Ihr mal einen in alle Ewigkeit bindenden Eid geschworen habt?" Vernichtend starrte er ihn an. Dann erhob er sich geschmeidig und sagte: "Ich habe den Plan übrigens geändert. Wir werden mit ihm suchen gehen." Yannic drehte sich einfach um, ohne den verblüfft dasitzenden Ritter weiter zu beachten und verließ den Raum. Zornig stapfte er durch die Küche der Heilerin, schnappte sich eine Scheibe Brot vom Tisch und verfluchte diesen Kerl, der dort hinten ganz wichtigtuerisch neben seinem halbtoten Freund saß und dachte, die Welt gehöre ihm. Er musste seine Einschätzung von vorhin noch einmal umändern. Ranald war auch nicht besser als alle anderen. Zunächst hatte Yannic gedacht, er hätte jemanden gefunden, der auf der selben Wellenlänge war wie er, doch er hatte sich getäuscht. Nur ein weiterer selbstgefälliger, hochnäsiger Kerl, der sich nichts gefallen lassen wollte, aber ohne Hilfe nicht überleben würde und die er, wenn er sie bekam, nicht einmal zu würdigen wusste.

Yannic konnte sich gut vorstellen, wie Ranald über seiner Misere verzweifelt war. Er hatte seine Überzahl eingebüßt, hatte mit ansehen müssen, wie seine Vorbereitungen zunichte gemacht wurden, hatte anscheinend einen guten Freund - Yannic hatte bemerkt wie der Ritter den halbtot daliegenden Sandor immer wieder hilfesuchend ansah - an die Ohnmacht verloren und schlussendlich auch noch glauben müssen, dass er hier von Feinden umgeben war. Doch dann kam Yannic und hatte ihm einen riesigen Wink gegeben, hatte ihm seine  Unterstützung zugesagt und den schier Ertrinkenden an Land gezogen. Und der hatte nichts anderes im Sinn, als ihn dann noch zu kritisieren! Wie konnte er es eigentlich wagen?!

Als Yannic angefangen hatte zu sehen, wie ... wie falsch diese Leute hier waren oder reagierten, hatte er sich immer wieder gefragt, ob es an ihm läge. War es seine Schuld, dass niemand so zu denken schien wie er? War er der einzige hier, der etwas anderes wollte als das, was ihm gegeben war? War es unnatürlich, überhaupt nach anderem zu streben? Doch nach und nach war er sich sicher, dass es keineswegs einer seiner Defizite war, sondern bei den anderen begründet lag. Ihre Engstirnigkeit, ihr Unverständnis, ihre Unfähigkeit, zu sehen, was er sah. Und ihr Unwille, daran jemals etwas zu ändern. Er war es Leid, sich damit abgeben zu müssen. Er war es Leid, dass niemand ihn verstand und alle ihn für seltsam erklärten. Sein Vater und dessen Kumpels rissen Witze über seine Visionen und manchmal gingen einige von ihnen sogar soweit, ihm wohlwollend auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: "Diese Zeit geht auch irgendwann vorbei." Er hörte sie zueinander darüber reden, dass sie auch einmal in dieser Phase gewesen seien und was sie dort alles angestellt hatten. Sie meinten, sie wüssten, was man da so durchmachte und machten seinem Vater weis, dass Jungs durch sowas einfach durchmüssten und sich da wegen ihrer Sturheit auch nicht von ihren besser wissenden Eltern reinreden ließen. Er hasste es und tat die darauf folgenden Bemerkungen seines Vaters immer verächtlich ab und tat so, als wenn es ihn überhaupt nicht interessieren würde. Doch mit der Zeit war es wirklich mehr als unausstehlich geworden und ihn so anzufahren wie in der Schmiede war schon lange überfällig gewesen.

Jetzt musste er dem Prinzen nur noch Bescheid geben, dass er ihn bei seiner Suche unterstützen würde. Er folgte dem matschigen, von Pfützen übersäten Weg zu Iskanders Haus und trat ein. "Iskander?" rief er laut, doch niemand meldete sich. Dann ging er in das Zimmer, von dem er wusste, dass es eigentlich Miranas gewesen war, jetzt jedoch dem Prinzen gehörte. Er fand ihn auf der Bettkante sitzend vor. Als Yannic eintrat, blickte er von seiner Landkarte hoch, die er anscheinend eingehend studiert hatte. Seine Hand ruhte auf Ganidias Hauptstadt Vacavor, dem Land an Azelas Westgrenze. Auf der anderen Seite befand sich Obidos, wo in Avasol zurzeit des Königs Familie wohnte. Königin Ianna und die beiden Prinzessinnen Kalira und Selle waren vor knapp einem halben Jahr dorthin gereist, um der Feuerbestattung der verstorbenen Königin beizuwohnen. Sie war eine weit entfernte Verwandte der Königin gewesen und hatte eine riesige und pompöse Zeremonie erhalten. Solch ein Bestattungsfeuer wurde für gewöhnlich sechs Tage lang am Leben erhalten, unter anderem auch durch alle möglichen Besitztümer eines Verstorbenen. Bis zum sechsten Tage hin hatte jeder die Möglichkeit, irgendetwas, was ihn an den Toten erinnerte, mit ihm zu verbrennen, und bei Sonnenaufgang des letzten Tages versammelten sich alle rings herum und warteten, bis das Feuer erloschen war. Danach war die Königin noch weiter dort geblieben, zum Einen um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und zum Anderen um ihren Töchtern das Land vorzustellen und sie Bekanntschaften schließen zu lassen. Von einem kleineren Trupp von Wandernden hatte er vor einigen Wochen erfahren, dass die drei noch einige Monate bleiben würden und sich Prinzessin Kalira bereits gut mit dem Sohn eines Adligen angefreundet hatte. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, die zwei Männer zum Reden zu bringen, doch nach einiger Zeit hatten sie ihm wirklich überaus bruchstückhafte Informationen gegeben, aus denen er sich den größten Teil selbst erschließen musste. Dafür, dass sie beinahe alles wussten, waren sie selten bereit, mit irgendwem ihr Wissen zu teilen. Wenn er sich vorstellte, welche Macht jemand haben könnte, der von den Wandernden immer über alles informiert werden würde.

"Was willst du hier?"

Yannic riss seinen Blick von der Karte los und antwortete: "Ich möchte Euch um Verzeihung bitten, Mylord. Ich denke, es war meine Schuld, dass Eure Stute entführt wurde. Es ist schließlich meine Weide und ich habe nicht genügend auf sie aufgepasst. Es tut mir wirklich außerordentlich Leid. Wie auch immer, ich habe beschlossen, Euch bei Eurer Suche nach ihr zu unterstützen. Um wenigstens einiges von dem, was ich angerichtet habe, wieder gut zu machen. Nehmt Ihr mein Angebot an?"

Cairdric überlegte nicht sehr lange. Er war mehr als erfreut darüber, so ganz spontan endlich einmal Hilfe zu bekommen. "Ich nehme natürlich an. ...Wenn du reiten kannst."

"Mylord," sagte sein Gegenüber leicht empört. "Wenn ich eines kann, dann ist es reiten. Ich bin zum ersten Male mit fünf Jahren geritten und seitdem nicht wieder davon abgekommen. Jedes der Pferde, die auf meiner Wiese stehen, wurde von mir selbst zugeritten und trainiert."

Cairdric musste lächeln. Er hatte nicht daran geglaubt, in dieser Situation auch noch Hilfe zu bekommen. Und dieser Kerl schien sogar fähig zu sein. Vielleicht wäre er dadurch nicht mehr auf Ranald und seine Anhänger angewiesen. Aber er wusste nicht wirklich, ob er diesem Pferdejungen trauen konnte. Schließlich war der einer von denen gewesen, die heute morgen im Haus gestanden und mit Iskander diskutiert hatten. Und ihn so seltsam angesehen hatten. Doch entweder war er ein wahnsinnig guter Schauspieler oder es tat ihm extrem leid und er wollte tatsächlich nur seine Schuld wieder ausgleichen. Das war gut möglich, der Kerl sah sogar echt betroffen aus.

"Wann bist du aufbruchsbereit?"

Die Antwort kam schneller, als er überhaupt die Frage ausgesprochen hatte. "Sofort. Ich muss nur kurz einiges zusammenpacken."

Er nickte zufrieden und wies auf sein fertig gepacktes Bündel. "In Ordnung, mach das. Ich bin schon bereit wie du siehst. Ich habe eigentlich nur noch auf meine restlichen Männer gewartet. Doch die werden wahrscheinlich nicht mitkommen, nehme ich an."

"Danke Mylord. Ich glaube ich kann noch drei Leute oder so zusammenholen. Dann sind wir nicht so wenige. Ich kenne da noch welche, die sich das garantiert nicht entgehen lassen werden." Er drehte sich um und ging wieder aus dem Zimmer heraus. Kurz vorher rief Cairdric ihn nochmal zurück: "Warte kurz! Wie war dein Name? Ich hab ihn schon wieder vergessen."

"Yannic, Mylord. Ich heiße Yannic."

"Okay Yannic, ich erwarte dich und deine Freunde dann in wenigen Minuten am besten an deiner Weide, oder nicht?"

"Ich beeile mich." Dann ging er hinaus. Cairdric atmete zufrieden durch. Dann war das geklärt. Er war schon kurz davor gewesen, alleine aufzubrechen und Ranald mit seiner Regenangst einfach hier zu lassen, doch er hatte sich dagegen entschieden. Es war wohl keine allzu gute Idee, ganz alleine im Wald herumzuirren, wenn überall diese Aussätzigen waren. Dieser Yannic  und seine Freunde waren wahrscheinlich auch nicht sehr zuverlässige Begleiter, doch wenn Eldar und Garsiv mitkamen, glaubte er nicht, dass sie irgendetwas versuchen würden. Er lief hinaus und ging zu einem Haus, welches auf der nördlichen Seite stand. Er trat ein und fand sogleich Eldar vor, der anscheinend gerade mit der Herrin des Hauses schäkerte, auch wenn diese vielleicht einige Jahre älter war als er. Doch das war einfach Eldar. Hätte er sich getraut, dann würde er dasselbe wahrscheinlich sogar mit Cairdrics Mutter tun. Glücklicherweise hatte er noch genug Anstand, es nicht zu versuchen.

"Eldar! Stell deinen Fortpflanzungstrieb einmal kurz ein, ich denke es geht los. Habt ihr zwei schon alle Sachen beisammen?"

Der Ritter wandte sich missmutig von der Frau ab und nickte. Dann wies er mit dem Daumen über seine Schulter zu einer der Türen. "Garsiv rappelt noch ein bisschen dahinten rum. Vielleicht solltet Ihr mal nachsehen, ob er sich nicht schon mit seinen Schriftrollen erwürgt hat. Oder vielleicht erstickt er auch an deren Staubschicht. Ob man sowas noch Schicht nennen kann? Ich meine, da ist ja mehr Staub als Schriftrolle. Wer weiß wo er die alten Dinger alle herhat."

Die Frau neben ihm kicherte leise und auch Cairdric konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dann ging er durch die angewiesene Tür und fand Garsiv wirklich über einer seiner Schriftrollen brüten. Bei seinem Eintreten sah er auf und erhob sich von dem Bett, auf dem er gesessen hatte.

"Mylord." Er senkte den Kopf. "Ich bin fertig. Hat Ranald sich nun doch noch umentschieden oder bevorzugt Ihr es, ohne ihn aufzubrechen?"

"Nun, wir werden wohl ohne seine Hilfe zurechtkommen müssen. Aber einer der jungen Kerle hier hat mir gerade eben seine Hilfe angeboten und sammelt noch zwei, drei andere ein. Ich denke, dann sind wir nicht mehr auf Ranald angewiesen. Er wäre jetzt sowieso nicht mitgekommen, schließlich ist der böse Regen ja noch da." Er grinste Garsiv an, doch der nickte nur ernst und hob sein Bündel mitsamt den Waffen auf. Draußen stand Eldar, auch endlich mit seinem Packen und dem großen Schwert bewaffnet, und ließ sich von der Frau noch einiges zu Essen in ein Tuch einwickeln. Dann bedankte er sich wortreich wie immer und folgte Cairdric und Garsiv in den Regen hinaus. Sie stapften zu dritt auf die Weide zu und begegneten schon auf dem Weg dahin zwei anderen Gestalten, die offenbar mitkommen würden. Yannic stand neben dem Tor zur Wiese und hatte sechs Pferde an den Zaun gebunden, darunter auch die beiden seiner Ritter. Woher er gewusst hatte, welches Pferd Eldar und welches Garsiv gehörte, war Cairdric schleierhaft, doch er hatte sogar jeweils das richtige Sattel- und Zaumzeug angelegt. Die anderen vier waren etwas reinere Tiere als die üblichen Dorfpferde, man konnte ihnen gerade noch so ansehen, dass sie edleres Blut in sich hatten. Sie waren schmaler, kleiner und hatten elegantere Köpfe. Eines von ihnen, eine dunkelbraune Stute mit annähernd schwarzer Mähne, gefiel ihm besonders und als Yannic ihn bat, sich eines auszusuchen, wies er auf sie. Daraufhin erschien auf Yannics Gesicht ein verblüffter Ausdruck und er sagte anerkennend: "Ihr habt ein gutes Auge, Mylord. Sie ist meine beste Stute. Eine von den wenigen, die ich von Geburt an aufgezogen habe."

Yannic stellte ihnen danach die anderen beiden Männer vor, die mit ihnen mitkommen würden, Roht und Isar, der einer der ausgezogenen und bereits verheirateten Söhne von Iskander war.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /