Yvonne hakte sich bei Ebony unter und zog sie lachend zum Café. „Ach Ebony, ich bin sowas von froh, dass du endlich wieder da bist. Du glaubst gar nicht, wie öde es ohne dich war.“ Ebony strahlte ihre beste Freundin an. Ivy, wie sie von allen nur genannt wurde, hatte sich verändert, aber es gefiel ihr. Ihre, schon immer fröhliche, Freundin war nicht nur noch verrückter geworden, sondern schien auch ihre sexy Seite entdeckt zu haben. Heute trug sie ein enges Tanktop in leuchtendem Pink zu einer engen, weißen Jeans. Früher war sie nie anders als in schlabbrigen Hosen und weiten T-Shirts zu sehen gewesen. Beinah kam sich Ebony wie ein graues Mäuschen neben ihr vor. Dabei trug sie selbst ein hübsches Sommerkleid, das viel von ihren schlanken Beinen freigab. „Ein Jahr in Kanada ist einfach viel zu lang.“ jammerte Ivy weiter und Ebony stimmte ihr lachend zu. „Na ja, das letzte Jahr auf der Senior High wollte ich schon hier machen. „Aber es war wunderschön da. Wir sind jeden Tag wandern gegangen.“ Ihre Freundin winkte verächtlich ab. „So nette Typen wie hier gab es dort bestimmt nicht.“ „Ach doch, eigentlich....“ fing Ebony an, doch Ivy warf kreischend die Arme in die Luft. „Das will-ich-nicht-hören.“
Gutgelaunt und laut kichernd kamen die beiden Mädchen schließlich im Café an, wo nur noch wenige Bänke frei waren. Will, William Corter, der Besitzer des Café begrüßte sie grinsend. „Na, du Weltenbummler. Endlich wieder daheim, um meinen Umsatz anzukurbeln?“ Ebony nickte lachend. „Eigentlich wollte ich ja noch dort bleiben, aber ich hab gehört, hier läuft ohne uns gar nichts mehr.“ Will warf die Hände Richtung Himmel, als würde er einen Segen empfangen. „Meine Rente ist gesichert. Was darf ich euch bringen?“ Sie bestellten sich Kirsch-Shakes und quetschten sich in eine Eckbank, als ihre Freundin auch schon anfing die Lieder aus der Jukebox mitzusingen. Zuerst war es nicht mehr als ein leises Murmeln, doch Ivy wurde immer lauter und schließlich schmetterten beide ihre Lieblingslieder lautstark mit. Ohne ihren Gesang zu unterbrechen, zog Ivy sie mit auf die freie Fläche vor der Jukebox und begann eine Choreografie zu tanzen, so wie sie und Ebony das oft zuhause vor dem Spiegel gemacht hatten. Anfangs war es Ebony etwas peinlich, doch als sie sah, dass Will mit verschränkten Armen, grinsend gegen die Theke gelehnt, zuschaute, er schien wirklich gar nicht sauer zu sein, zuckte sie mit den Schultern und machte mit. Als Meghan Trainors 'Good to be Alive' kam, tanzten beide wild herum. Das gesamte Café sah ihnen zu, aber sie hatte zuviel Spaß, um sich zu schämen. Sowas durchgeknalltes hatte sie noch nie gemacht. Als die Nummer zuende war, klatschen die Gäste im Café und Ivy und Ebony verbeugten sich lachend, bevor sie sich wieder setzten.
Gutgelaunt tranken sie von ihren Shakes und Ebony sah sich im Café um. Ihnen gegenüber saßen vier ältere Jungs, offenbar Collegestudenten. Sie schienen sich über sie zu unterhalten, denn alle vier sahen immer wieder zu ihnen herüber. Einer von ihnen, fing ihren Blick auf und zwinkerte ihr mit beiden Augen lächelnd zu. Es war kein flirtendes Zwinkern. Eher so, wie ein Erwachsener einem Kind zuzwinkern würde. Trotzdem lächelte sie zurück und sein Lächeln wurde breiter. Himmel, der Typ war heiß! Sein lockiges dunkelbraunes Haar fiel ihm vorne fast in die Augen. Er war braungebrannt und durchtrainiert. Aber er sah nicht aus wie einer dieser Testosteron-Boybuilder-Monster. Er sah aus, wie jemand der einfach gerne Sport machte. Ivy begann von irgendwelchen Highschoolpartys zu reden, doch Ebony hatte Schwierigkeiten ihr zuzuhören. Immer wieder sah sie zu dem Typen hinüber, der bereits wieder im Gespräch mit seinen Kumpels war. Ihre Tanzeinlage schien schon wieder vergessen. Es sah aus, als würden sie sich über Sport unterhalten. Verstohlen musterte sie ihn. Er trug ein schlichtes weißes T-Shirt, das er vorne in die Jeans geschoben hatte, so dass man seinen Gürtel sehen konnte. Er hatte einen flachen Bauch, der selbst durch das Shirt kräftig aussah. Seine Arme spannten das T-Shirt und die Muskeln bewegten sich, wann immer er gestikulierte. Einer seiner Freunde stand auf, offenbar um sich noch etwas zu bestellen, da sah er abermals zu ihr herüber – und ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte. Sie sah ihm ins Gesicht. Er hatte die Brauen amüsiert hochgezogen. Verlegen biß sie sich in die Innenseiten ihrer Mundwinkel und sah zur Seite, als würden ihre Blicke nur so durch den Raum streifen. Sie hörte ein tiefes Lachen aus seiner Richtung. Da stieß Ivy ihr in die Seite. „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“ „Was? Ja, natürlich!“ log sie, und sah ihre Freundin an, bemüht bloß nicht mehr in seine Richtung zu schauen. „Na, dann komm. Laß uns gehen.“ Sie standen auf und brachten ihre Gläser zur Theke, um Will die Arbeit leichter zu machen. Als sie durch die Tür gingen, konnte Ebony nicht widerstehen und schielte zu ihrem Typen. Als er ihr diesmal zuzwinkerte, was es definitiv von der Art, wie ein Mann es einer Frau schenkte. Sie lächelte ihn, wie sie hoffte, charmant an und er deutete ein leichtes Nicken an.
„Der Laden ist wirklich toll. Die Klamotten dort sind richtig heiß. Und gar nicht so teuer.“ Ah, Ivy hatte also vor mit ihr shoppen zu gehen. Geschickt steuerte ihre Freundin das kleine Auto durch den Verkehr. „Allzulange kann ich aber nicht.“ wandte Ebony ein, „Mein Bruder kommt bald nach Hause und ich freu mich so darauf, ihn wiederzusehen.“ „Ich meine es nicht böse, aber Mike ist echt eingebildet worden, während du weg warst. Mich hat er gar nicht mehr gegrüßt.“ maulte Ivy, die bislang eigentlich leidenschaftlich für Ebonys Bruder geschwärmt hatte. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Mike ist manchmal ein bisschen steif, aber eingebildet...?“ Ebonie schüttelte den Kopf. Das klang so gar nicht nach ihrem Bruder. „Naja.“ Ivy wackelte unschlüssig mit dem Kopf. „Wenn du meinst.“ Sie blieben fast eine ganze Stunde in dem winzigen Laden, aber Ebony gefielen die Sachen nicht wirklich. Eigentlich war sie insgeheim erstaunt, dass Ivy sich hier wohlfühlte, denn viele der Sachen sahen ihrer Meinung nach eher billig aus als sexy aus. Die Farben waren ihr zu grell und die Schnitte zu knapp. Sie warf ihrer Freundin einen zweifelnden Blick zu. Trug Ivy wirklich solche Kleidung? Bevor sie für ein Jahr nach Kanada ging hatten sie sich immer lustig über die Mädchen mit solchen Sachen gemacht. Gehörte ihre beste Freundin jetzt auch zu dieser Sorte? Zum ersten Mal war sie fast erleichtert, als ihre Freundin sie Zuhause absetzte und sie sich verabschiedeten.
Ein dunkelroter Pickup stand vor der Tür. Hatte Mike sich ein neues Auto gekauft? Dann war er also schon da. Sie rannte ins Haus, warf ihre Tasche achtlos auf den Boden und rief laut nach ihrem Bruder. „Mike? MIKE? MI-HIKE?“ Als sie ins Eßzimmer kam, stand dort ihr grinsender Bruder mit weit geöffneten Armen. Juchzend sprang sie ihm in die Arme. „Beanie, wie schön dich wieder hierzuhaben.“ Er drückte sie fest an sich und sie spürte, wie ihr fast die Tränen kamen, als sie den vertrauten Spitznamen hörte. Er schob sie etwas von sich, ohne sie ganz loszulassen und betrachtete sie. „Herrje, du bist eine richtige Schönheit geworden. Ich werde auf dich aufpassen müssen!“ stöhnte er kopfschüttelnd. Ihr Bruder hatte die gleichen honigfarbenen Haare wie sie, doch im Gegensatz zu ihren großen Locken, waren seine Haare völlig glatt. Seine grünen Augen waren dunkler als ihre. Er nannte ihre Augen Katzenaugen, doch Ebony fand ihre Augen schrecklich. Sie sahen kalt aus. Mikes Augen waren viel freundlicher und warmherziger. Er war noch immer einen Kopf größer als sie, aber noch genauso schlaksig. Es war fast nicht zu glauben, dass er ein hervorragender Basketballspieler war. Mit seiner kleinen runden Brille sah er wie ein Streber aus und tatsächlich war er hochintelligent. Sie liebte und bewunderte ihren Bruder. Umso enttäuschter war sie, als sie hörte wie jemand aus dem Gäste-WC kam. Hatte er etwa Freunde eingeladen? Heute? „Hast du Besuch?“ fragte sie irritiert. Ihre Mutter würde erst abends kommen, das wusste sie. „Ja, ein paar Leute aus dem College waren eben hier. Die meisten sind schon weg. Nur Liam ist noch da. Wir wollen später noch ein paar Körbe werfen.“ Er drückte sie wieder an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen. Er ist schwer in Ordnung.“ Ein breitschultriger Typ im weißen T-Shirt kam um die Ecke und ohne auch nur eine Sekunde zu stutzen, streckte er ihr lächelnd die Hand entgegen.„Ach Hallo, du bist bestimmt Ebony. Mike redet ununterbrochen von dir.“ Mechanisch ergriff sie seine Hand und ließ zu, dass er sie kurz schüttelte. Vor ihr stand Er. Der gutaussehende Kerl, der ihr so süß zugezwinkert hatte. Oh Mein Gott. OH MEIN GOTT!, schoß es ihr durch den Kopf. Tatsächlich sah er von nahem noch besser aus. Seine Augen waren dunkel, beinahe schwarz und seine Kieferpartie markant und männlich. Er hatte nichts Jungenhaftes mehr an sich, bis er lächelte. Dann sah sein Gesicht plötzlich spitzbübisch aus, wie jemand der gerne etwas ausheckte. Sie musste an ihre Tanzeinlage mit Ivy denken und plötzlich kam sie sich schrecklich albern und kindisch vor. Mike drückte sie auf einen der Stühle und sah Liam fragend an. „Was willst du trinken?“ „Wasser ist okay.“ Seine dunkle Stimme vibrierte in ihrem Kopf. Gleich. Gleich würde er ihrem Bruder von ihrem peinlichen Auftritt erzählen. Mike ging hinüber in die Küche und Liam sah ihm mit schiefgelegtem Kopf nach. Ebony konnte nicht atmen. Sie starrte ihn an, in der Hoffnung, einen Blickkontakt mit ihm herzustellen. Sie wollte ihm irgendwie klarmachen, daß er doch bitte, bitte nichts erzählen sollte, doch er sah nicht zu ihr. Ihr wurde bewußt, dass sie wahrscheinlich aussah, wie eine Schlange, die ihr Opfer hypnotisieren wollte, aber das war ihr gerade egal. Sie würde vor Scham eingehen, wenn ihr Bruder von ihrem Auftritt erfahren würde. Mike war immer so reif und erwachsen. Schau zu mir!, dachte sie so intensiv wie sie konnte, während sie weiterhin Liam mit ihrem Blicken erdolchte. „Entspann dich!“ sagte er plötzlich mit leiser Stimme. Ohne den Kopf zu bewegen, sah er zu ihr. „Es gibt nichts, was ich Mike erzählen müsste. Glaub mir, dein Bruder hat schon viel wildere Sachen gemacht.“ „Im Grunde hab ich ja auch gar nichts getan. Wir hatten nur etwas Spaß!“ sagte sie im verteidigendem Ton. „Genau!“ Liam nickte. „Da das geklärt ist, kannst du ja jetzt auch wieder atmen.“ Das war es wieder. Dieses spitzbübische Lächeln und als sie einen erleichterten Atemzug tat, wurde daraus ein breites Grinsen. Ach ist das Leben unbarmherzig, dachte sie, als sie spürte wie sie knallrot wurde.
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2016
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