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Mein Name ist Kevin Drechsler und ich bin HIV positiv. Nun gut, das hört sich jetzt an wie bei den anonymen Positiven, doch das sind wir hier nicht. Ihr fragt euch jetzt sicher, warum ich hier sitze und rede? Genauso gut könnte ich euch fragen, warum ihr hier sitzt und mir zuhört. Ich möchte euch erzählen, warum ich mich mit diesem HI-Virus angesteckt habe. Doch wo soll ich anfangen? Am besten fange ich an dem Punkt an, an dem mein Leben anfing bergab zu gehen.

Alles begann vor acht Monaten. Mein Freund Daniel und ich waren zu diesem Zeitpunkt bereits knapp ein Jahr zusammen. Bis vor kurzem lief alles wunderbar, doch dann schlug mein Freund vor, dass wir eine offene Beziehung führen könnten. Von dieser Idee war ich alles andere als begeistert. Ich sollte meinen Schatz mit anderen Leuten teilen? Daniel erklärte mir, dass dies nichts damit zu tun habe, dass er mich nicht mehr liebte, sondern wollte nur Abwechslung in unser Sexleben bringen. Trotzdem brauchte ich etwas Zeit zum überlegen und besprach das ganze erst einmal mit meinem besten Freund Marcel. Auch er erzählte mir, dass eine offene Beziehung nicht zwangsläufig mit weniger Gefühlen gleichzusetzen sei. Es bräuchte allerdings gewisse Regeln, die beide einhalten sollten. Ich besprach das Ganze nochmals mit Daniel und wir beschlossen, dass wir von nun an auch Sex mit anderen Männern haben könnten. Allerdings mit folgenden Regeln: Keine Nummern austauschen, kein Küssen, jeden nur einmal ficken und natürlich alles safe. So kam es, dass ich in den folgenden Wochen einige neue „Bekanntschaften“ schloss: Marco, David, Stefan, Alexander, Michael und noch einige mehr, an deren Namen ich mich schon nicht mehr erinnern kann. Auch hatten Daniel und ich zwei oder dreimal unseren Spass zusammen mit jemanden Dritten in unserem Bett. Es war gar keine schlechte Idee von meinem Freund mit dieser offenen Beziehung, dachte ich. Doch an einem Abend, wir waren in Bern im ISC, da änderte sich alles.

Wir waren etwa drei Stunden dort. Am Anfang war die Musik ja noch in Ordnung, Daniel und ich tanzten auf der Bühne und flirteten auch einige Jungs an. Doch nach und nach wurde die Musik immer schlechter, also verliessen wir die Tanzfläche und holten uns etwas zu trinken. Da es bereits drei Uhr morgens war, beschlossen wir, uns langsam auf den Heimweg zu machen. Ich sagte zu Daniel, dass er noch sein Bier fertig trinken solle, während ich unsere Jacken holen gehe. Gerade als ich zur Garderobe laufen wollte, sah ich jemanden, den ich von Irgendwoher kannte. Ich fragte meinen Freund, ob dieser Typ mit ihm zusammen arbeite. Er sah sich ihn genauer an und bejahte meine Frage. Er kenne ihn zwar nicht näher, aber er habe ihn schon öfters gesehen. Dann sei er nicht mehr der einzige Schwule im Laden, grinste er. Ich lief also ohne zögern auf diesen Typ zu. Er war gerade von der Tanzfläche gekommen und wollte mit seinem Begleiter zu der Garderobe laufen.
„Hey.“, sagte ich direkt zu ihm. „Ich hab dich schon öfters in der Migros gesehen. Kann es sein, dass du mit meinem Freund zusammenarbeitest?“
Der andere war etwas verdutzt, was ich ihm auch nicht verübeln konnte. Er fragte, wer denn mein Freund sei. Also zeigte ich auf Daniel. Da er ihn etwas genauer ansehen musste, gingen wir zu Daniel an die Bar.
Thomas, so hiess dieser Mann, und Daniel unterhielten sich kurz, da er schon ziemlich müde war, auch hatte er schon etwas zuviel Alkohol intus. Die beiden machten ab, dass Daniel ihn beim nächsten Mal im Betrieb einfach ansprechen solle. Nachdem Daniel und Ich uns von Thomas verabschiedet hatten, war es auch für uns an der Zeit, endlich nach Hause zu gehen, da die Müdigkeit auch uns beide Heimgesucht hatte.

Was in den darauf folgenden Tagen passierte, erfuhr ich von Daniel. Da er seinen Arbeitskollegen näher kennen lernen wollte, versuchten sie, die Pausen gemeinsam zu verbringen. Da ich am kommenden Wochenende bereits mit Marcel verabredet war, schlug ich Daniel vor, das Wochenende doch mit Thomas zu verbringen. Wenn ich damals schon gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich dies nicht getan. Das Wochenende schien gut verlaufen zu sein, jedenfalls erzählte mir Daniel freudig davon. Doch in den nächsten Tagen war er völlig verändert. Er sagte mir, dass Thomas ihm immer mehr aus dem Weg gehe, aber er wisse nicht warum. So sagte ich ihm, dass er ein paar Tage warten, ehe er auf Tom zugehen und mit ihm reden solle. Der grosse Schock kam aber schon das Wochenende darauf.

Es war Samstagabend. Daniel und ich wollten uns einen gemütlichen DVD Abend machen. Daniel war aber immer noch komisch drauf, offensichtlich hatte er immer noch nicht mit Thomas geredet, doch es war etwas anderes. Aus heiterem Himmel gestand er mir, dass er sich in Tom verliebt habe. Ich fiel aus allen Wolken. Erst war ich sprachlos, dann wütend, als ob ich eine Vorahnung gehabt hätte, dass dies passieren würde. Daniel wollte die ganze Sache erklären, doch ich liess ihn nicht mehr zu Wort kommen und warf ihn aus unserer Wohnung raus. Unsere Wohnung ist dabei nicht ganz richtig, da nur ich den Mietvertrag unterschrieben hatte. Völlig aufgelöst rief ich Marcel an, der sogleich zu mir kam. Ich war fertig, am Boden, am Ende, wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Daniel war mein Ein und Alles, und so sollte das ganze enden? Marcel hielt mich in den Armen und sagte nichts, er hörte nur zu. Heulend schüttete ich mein ganzes Herz aus. Doch es wurde nur noch schlimmer. Ein paar Tage später, ich war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, fand ich zuhause einen Brief, zusammen mit meinem Hausschlüssel. Daniel hatte seine Sachen aus der Wohnung mitgenommen und zog zurück zu seinen Eltern. Er und Thomas seien jetzt ein Paar, stand in dem Brief. Wütend zerknüllte ich das Papier und warf es in eine Ecke. Dann brach ich weinend zusammen. Ich schwor mir, dass mir nie wieder jemand solche Schmerzen zufügen könne und brach den Kontakt zu ihm völlig ab. Von diesem Zeitpunkt an war mir alles egal. Ich wollte nur noch vergessen. Die Gefühle, die Leidenschaft, einfach alles. Ich meldete mich wieder an einem bekannten Gay-Chat an um nach Sexdates zu suchen. Ein paar eindeutige Zeilen in das Profil und einige heisse Fotos beschleunigten die ganze Suche. Es dauerte nicht lange, da meldeten sich bereits die ersten Interessenten. Wie soll ich sagen? Es war geil. Während mich diese Fremden fickten, dachte ich nie an Daniel, doch kaum war ich wieder aus ihren Wohnungen, kamen erneut die Erinnerungen zurück und ich fiel wieder und wieder in ein emotionales Loch. Mein bester Freund machte sich sehr grosse Sorgen um mich, doch ich wollte nicht auf ihn hören. Nur einmal befolgte ich seinen Rat, als ich mich mit zwei Stadtbekannten Huren einlassen wollte. Ich riss sie beide in der Samurai – Bar auf, also bekamen es auch viele Leute mit, dass ich mit diesen beiden abzog. Es brauchte zwanzig Minuten Überzeugungsarbeit von Marcel, bis ich mich dazu entschloss, doch keinen Sex mit diesen beiden zu haben. So schlief ich neben den beiden, während sie hemmungslos übereinander herfielen.

Drei Monate vergingen so. Daniel hatte ich in dieser Zeit weder gesehen noch gehört. Das war vielleicht auch besser so. Langsam aber sicher bekam ich meine Gefühle wieder in den Griff. Es war mal wieder an der Zeit, dass ich mit Marcel zusammen auf die Piste ging. Zusammen buchten wir einen Flug nach Berlin. Marcel war schön zweimal dort, für mich war es das erste Mal. Am Tag vor dem Abflug wollten wir zusammen noch einmal in die Samurai – Bar gehen, was sich aber hinterher als Fehler erwies. Gut gelaunt kamen wir hinein, doch entdeckte ich schnell meinen Ex mit seinem neuen Freund. Sofort kamen all meine Gefühle zu Daniel wieder hoch und ich verliess die Bar wieder. Wieder brach ich völlig tränenüberströmt in Marcels Armen zusammen. Ich dachte, ich wäre über Daniel hinweg, doch das war ein grosser Irrtum. Ich liebte ihn noch immer, egal was er mir angetan hatte. Die letzten drei Monate waren also völlig umsonst gewesen, dache ich. Vielleicht würde mich ja eine fremde Stadt ein wenig ablenken, sagte Marcel zu mir.
„Ich hoffe es.“, antwortete ich ihm.

Die Ablenkung ging also weiter in einer anderen Stadt. Marcel zeigte mir verschiedene Bars in Berlin, in der er schon war. Fremd dabei war mir, dass man bei einigen erst klingeln musste, bevor man hereingelassen wurde, da nur Männern der Zutritt gestatten war. In Bern kannte ich das nicht, da waren eigentlich alle Bars und Discos für Männer und Frauen. Nun denn, auch in Berlin riss ich mir verschiedene Typen auf. Ich streifte durch die Darkrooms und schaute mich zuerst ein wenig um, wer mir denn so gefallen könnte. In diesen Lokalitäten war es sogar noch einfacher, jemanden für die eine Sache zu bekommen als in den Chats. Da wurden nicht noch dutzende Mails hin und her geschickt, sondern es ging direkt los. Ich genoss die Berührungen der Fremden, auch wenn ich selten wusste, wie sie aussahen, da es in diesen Darkrooms zu dunkel war, um viel zu erkennen. Er reichte mir, wenn ich sie in mir spüren konnte. Hin und wieder wurde mir ein Fläschchen Poppers unter die Nase gehalten. Noch nie hatte ich dieses Zeug inhaliert, aber ich wehrte mich nicht dagegen und nahm einen tiefen Zug. Die Wirkung liess nicht lange auf sich warten. Ich wurde entspannter, lockerer, geiler. Immer wieder schniefte ich von diesem Zeug ein bis ich total High wurde und mich meiner Lust völlig hingab. Dabei war mir nicht bewusst, dass nicht alle meiner Sexpartner die Bedeutung von Kondomen kannten, doch das war mir zu diesem Zeitpunkt absolut egal. Ich wollte nur noch vergessen, weshalb ich alles mit mir geschehen liess. Erst als mir einer, ich glaube es war einer mit griechischen Wurzeln, direkt in den Mund spritzte und ich den Saft auch schluckte, wurde mir klar, was da alles passieren könnte. Doch erst als ich wieder zuhause war, begriff ich die ganze Situation. Was wäre, wenn ich mich mit HIV angesteckt hatte?

Meine Gedanken drehten sich von diesem Zeitpunkt an nur noch um dieses Thema. Mein zerstörerisches Verhalten könnte mich geradewegs in den Abgrund bringen. Nun, einerseits hatte ich mein Ziel erreicht, ich konnte Daniel vergessen. Doch zu welchem Preis? Ich beschloss, damit ich unter Umständen niemand anderes anstecken könnte, keinen Sex mehr mit anderen Männern zu haben. Drei Monate nun musste ich warten, um mich testen zu lassen. Drei lange Monate der Ungewissheit. Drei endlos lange Monate bangen. Sie kamen wir viel länger vor.

Nun endlich war es soweit, ich entschloss, mich testen zu lassen. Es war Samstag. Ich wusste, dass das Inselspital einen solchen Testdienst anbot, also fuhr ich mit dem Bus dorthin. An der Rezeption sagte mir jedoch eine Dame, dass dies nur von Montag bis Freitag angeboten werde, und auch nur mit Termin. Sie gab mir eine Infobroschüre mit der Telefonnummer. Doch das brachte mir nicht viel, sondern ich wollte das Ergebnis jetzt sofort. Ich fuhr also mit dem Bus wieder Richtung Zentrum. Da bemerkte ich am Bubenbergplatz den City Notfalldienst. Sofort stieg ich aus dem Bus. Ich wollte dieses Testresultat, egal wie viel es kosten würde. Dies sagte ich auch der Frau an der Anmeldung, als ich im City Notfall eintraf. Sie sagte mir, dass das Resultat etwa eine Stunde dauern würde. Falls es positiv ausfallen würde, könnte sich die Zeit auch verlängern, da an Samstagen nicht viele Leute in den Labors arbeiten.
„Scheissegal.“, sagte ich. „Ich möchte einfach das Resultat heute.“ So gingen wir in das Nebenzimmer um mir Blut abzunehmen. Ein kleiner Stich und schon floss meine Antwort in das Reagenzglas. Nun hiess es abwarten. Ein Kurier wurde bestellt und mein Blut verliess das Gebäude. Ich musste nach draussen, erst einmal eine Zigarette rauchen. Da übermannten mich meine Gedanken erneut. Ich wurde immer verzweifelter und brauchte jemanden. Der erste der mir einfiel war Marcel. Sofort rief ich ihn an und erzählte ihm, was ich gerade vorhin gemacht hatte und ihn nun bräuchte. Obwohl ich ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, stand er keine zehn Minuten später bei mir, da er in der Nähe wohnte. Wir beschlossen, dass es besser wäre, in seiner Wohnung zu warten und in einer Stunde wieder zusammen zurückkehren würden. Wir sprachen kaum ein Wort zusammen. Obwohl ich es verdient hätte, machte er für mein Verhalten keine Vorwürfe. Die Stunde wollte und wollte nicht vorbeigehen. Immer wieder schaute ich auf die Uhr.

Noch 30 Minuten…
Noch 29 Minuten…
Noch 28 Minuten…
Noch 27 Minuten…

Ich hielt es kaum aus, war den Tränen nahe.

Noch 24 Minuten…
Noch 23 Minuten…
Noch 22 Minuten…
Noch 21 Minuten…
Noch 20 Minuten…
Noch 19 Minuten…

Verdammt noch mal, ich wollte doch einfach dieses Testergebnis.

Noch 15 Minuten…
Noch 14 Minuten…
Noch 13 Minuten…

Es war zum Haare raufen. Nervös zündete ich mir erneut eine Zigarette an.

Noch 9 Minuten…
Noch 8 Minuten…
Noch 7 Minuten…
Noch 6 Minuten…

So, in 5 Minuten sollte ich mehr wissen, also machten wir uns auf den Weg zurück zur Notfallstelle. Ich konnte kaum laufen, ich zitterte am ganzen Körper. Ich meldete mich erneut an der Information an. Ein Arzt kam zu mir und erklärte, dass sie das Resultat noch nicht erhalten hätten. Es kam mir vor, als ob man mir den Boden unter den Füssen wegzogen hätte. Ich solle doch wieder in einer Stunde vorbeikommen, sagte mir der Arzt. Wie bitte? Noch eine weitere Stunde warten? Wie zum Henker sollte ich diese Qual noch weiter aushalten, fragte ich mich. Nun denn, es blieb mir keine andere Wahl, und so gingen Marcel und ich erneut zurück in seine Wohnung. Erneut hiess es warten, warten, warten. Ich versuchte, nicht andauernd auf die Uhr zu schauen, doch meine Augen wanderten automatisch auf den Wecker.

Noch 46 Minuten…
Noch 45 Minuten…
Noch 44 Minuten…
Noch 43 Minuten…
Noch 42 Minuten…
Noch 41 Minuten…
Noch 40 Minuten…
Noch 39 Minuten…
Noch 38 Minuten…

Wieder zündete ich ungeduldig eine Zigarette nach der anderen an.

Noch 32 Minuten…
Noch 31 Minuten…
Noch 30 Minuten…
Noch 29 Minuten…

Kein Wort fiel. Marcel verstand meine Lage auch ohne Worte.

Noch 22 Minuten…
Noch 21 Minuten…
Noch 20 Minuten…
Noch 19 Minuten…
Noch 18 Minuten…
Noch 17 Minuten…
Noch 16 Minuten…

Es war die Hölle. Jede Sekunde kam mir wie eine Stunde vor, jede Minute wie eine Ewigkeit.

Noch 10 Minuten…
Noch 9 Minuten…
Noch 8 Minuten…
Noch 7 Minuten…
Noch 6 Minuten…

Und wieder war es an der Zeit, zurück zu gehen. Ich hoffte, dass ich nun endlich Gewissheit erfahren könnte, doch ich wurde ein weiteres Mal enttäuscht. Sie hätten das Resultat immer noch nicht erhalten, sagte mir der Arzt erneut. Das war schon fast eine eindeutige Botschaft. Am Anfang hatte man mir ja gesagt, falls das Ergebnis positiv ausfallen würde, könnte sich die Zeit verlängern, da sie Nachtests machen müssten. Ich musste mich zusammenreissen, um nicht gleich loszuheulen. Und dennoch hoffte ich, dass das Ergebnis negativ lauten könnte. Aber jetzt noch eine Stunde warten? Mein Magen krümmte es zusammen, so nervös war ich. Aber ich hatte erneut keine andere Wahl und so kehrten wir ein drittes Mal in Marcels Wohnung zurück. Dort konnte ich nicht mehr anders und brach in Tränen aus. Ich machte mir enorm Vorwürfe über mein Verhalten in Berlin. Marcel sagte nichts und nahm mich in den Arm. Schweigend zogen die Minuten dahin.

Noch 10 Minuten…
Noch 9 Minuten…
Noch 8 Minuten…
Noch 7 Minuten…

Wehe ihnen, wenn sie das Resultat immer noch nicht haben, fluchte ich innerlich. Wieder kehrten wir zurück zur Notfallstelle. Diesmal hatten sie das Resultat endlich. Sie baten mich in einen Nebenraum, Marcel sollte draussen warten, doch ich wollte ihn um jeden Preis bei mir haben. So durfte er auch mit kommen. Im Nebenzimmer sollten wir uns setzen.
„Herr Drechsler.“, begann der Arzt. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Ergebnis positiv getestet wurde.“
Dieser Satz war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Für mich gab es kein Halten mehr und musste losheulen. Marcel nahm mich tröstend in den Arm. Der Arzt erklärte mir, dass dies jedoch nicht unbedingt ein Todesurteil bedeuten müsse, doch wollte ich kein Wort mehr hören. Insgeheim hatte ich bereits ausgemalt, was ich unternehmen würde, wenn ich HIV positiv wäre: Ich begehe Selbstmord. Dies erzählte ich dem Arzt jedoch nicht, da er mich sonst gleich in eine Klinik liefern würde. Nach unzählig weiterem Blabla verabschiedeten wir uns von dem Arzt. Er gab mir die Nummer der AIDS-Hilfe Bern, zusammen mit der Bitte, dass ich mich dort melden solle.
„Okay, das werde ich machen.“, antwortete ich, doch hatte ich dies nicht vor. Bereits heute Nacht wollte ich meinen Plan in die Tat umsetzen. Marcel wusste bescheid, doch wusste er auch, dass er mich von diesem Plan nicht abbringen könnte, so unternahm er auch nichts dagegen, sondern verabschiedete sich ebenfalls von mir.

Da heute Abend eine neue Gay – Bar, das A…13, in der Stadt eröffnete, konnte ich mir vorstellen, dass die meisten meiner Freunde dort sein würden. Ich wollte mich nur noch kurz von Ihnen verabschieden, bevor ich diese Welt für immer verlassen würde. Zuhause machte ich mir erst noch Gedanken, wo denn der beste Ort für eine solche Tat sein könnte, und ich beschloss, dass ich mich von der Lorrainebrücke stürzen wollte. So kam ich erst gegen Mitternacht in der Bar an. Ich schaute mich ein wenig um und erkannte zwei meiner Freunde. Ich ging auf sie zu und begrüsste sie. Sie sahen mir an, dass es mir nicht gut ginge, doch sagte ich lediglich, dass ich zuwenig geschlafen hätte, was ja auch stimmte. Ich drehte mich um und sah denjenigen Menschen, den ich am wenigsten hätte sehen wollen: Daniel, küssend mit Thomas. Ich bekam keine Luft mehr, mein Hals wirkte wie zugeschnürt. Ich musste raus, weg von hier, weg von Daniel. Hoffentlich sah er mich nicht, dachte ich, doch da hörte ich schon, wie er mir nachrief. Ich drehte mich nicht um und drängte mich nach draussen und rempelte dabei jemanden an, den ich nicht kannte.

Ich rannte so schnell ich konnte zu der Lorrainebrücke. Obwohl ich mich kein einziges Mal umdrehte, wusste ich doch instinktiv, dass Daniel mir folgen würde. Kurz darauf wurde meine Annahme bestätigt, da mir seine Stimme hinterher rief, ich solle doch warten. Aber ich wollte nicht warten. Ich hatte nur noch die Brücke vor Augen. Als ich etwa in der Mitte der Brücke ankam, hielt ich an und stieg auf das breite Steingeländer. Daniel hatte mich bereits eingeholt. Geschockt sah er mich an.
„Mensch, was machst du da?“, fragte er mich. „Komm da wieder runter. Egal was es ist, alles wird wieder gut.“
Ich sagte kein Wort. Vorsichtig versuchte er sich mir zu nähern, doch ich blockte ihn ab und schnauzte ihn an.
„Wie kannst du nur sagen, dass alles wieder gut wird?“, entfuhr es mir zornig. „Ich bin HIV positiv. Nichts wird mehr gut. Ich werde sterben. Elend verrecken. Und das ist alles nur deine Schuld.“ Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Worte, sie kamen einfach so aus mir herausgeschossen. Ich sah Daniel an. Verzweifelt und in Tränen aufgelöst entschuldigte er sich für sein Verhalten und sagte mir, dass er mich immer noch lieben würde. Doch ich wollte seinen Worten keinen Glauben schenken.
„Es tut dir leid? Du liebst mich immer noch?“, sagte ich ihm in einem sarkastischem Ton. „Und wie lange? Bis sich der nächste Arbeitskollege an dich ranmacht? Da scheiss ich drauf.“ Ich spuckte ihm vor die Füsse. Mein einziger Wunsch war es nur noch, mich in die tosende Aare unter mich zu stürzen und meinem Leben ein Ende zu setzen. Nichts hielt mich noch hier. Plötzlich stieg auch Daniel auf das Geländer.
„Wenn du springen willst, dann folge ich dir.“, sagte er zu mir. Ich sah ihn ungläubig an, doch sah ich in seinen Augen, dass er dies todernst meinte.
„Das würdest du tun?“, fragte ich ihn.
„Das und noch viel mehr.“, kam als Antwort.
„Aber ich bin positiv. Gerade heute habe ich es erfahren…“
„Das ist mir egal.“, wurde ich unterbrochen. „Ich liebe dich, dafür würde ich sogar sterben. Es tut mir leid, ich war ein Riesenidiot, doch habe ich endlich erkannt, dass mein Herz immer noch für dich schlägt.“
„Wirklich?“ Ich konnte es immer noch kaum glauben. Mein Gesichtsausdruck verlor zwar den Zorn, jedoch nagten noch immer Zweifel in mir, ob Daniel diese Worte ernst meinte. Er küsste mich. Das war für mich Beweis genug.
„Ich bleibe bei dir, egal was passiert.“, sagte Daniel. Da er langsam Angst kriegte auf diesem Geländer, bat er mich, da runter zu steigen. Gemeinsam sprangen wir auf den Gehsteig. Ich war glücklich. Auch wenn ich diese tödliche Krankheit für immer in mir tragen werde, wusste ich nun, dass ich jemanden an meiner Seite habe, der für mich da sein wird. Arm in Arm liefen wir in Richtung einer grossen Kreuzung. Da wurden wir Zeugen eines schrecklichen Unfalles. Vor unseren Augen raste ein Auto über die rote Ampel direkt in einen korrekt fahrenden Wagen. Dieser wurde über die Kreuzung geschleift direkt in einen Laternenpfosten. Sofort rannten wir zu dieser Unfallstelle und sahen in den völlig demolierten Wagen. Daniel stiess einen Schrei aus, denn er kannte die beiden blutüberströmten Insassen…

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Tag der Veröffentlichung: 06.07.2009

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