Heute würde sie mit jemandem reden. Das hatte sich das Mädchen fest vorgenommen. Wer, wusste sie noch nicht. Aber irgendjemanden würde sie schon finden. Ihre Mutter? Nein, das war unvorstellbar. Die würde sie nicht verstehen. Freunde hatte sie keine mehr. Aber vielleicht eine Lehrerin. Mal sehen. Sie stand zitternd auf und schnappte einen zu großen Pulli und eine weite Jeans. Es war Sommer. Trotzdem fror sie immer. Im Bad zog sie zuerst die Waage unter dem Schrank hervor. Das Ziffernblatt zeigte 47,6 Kilo. 100 Gramm weniger als gestern. Wenigstens ein kleiner Erfolg. Im Kopf überschlug sie kurz ihren BMI. Ca 15. Langsam drehte sie sich zu dem Spiegel hinter sich um. Ein Fehler. Sie sah immer noch so dick aus. So unförmig. Vorsichtig strich sie über die Knochen, die unter ihrer Haut hervortraten. Rasch schlüpfte sie in die Klamotten. Der Pulli hing an ihr herunter wie ein Sack. Und das war auch gut so. Niemand sollte sehen, wie unförmig sie war. Sie bespritzte das Gesicht mir eiskaltem Wasser, putzte sich die Zähne, kämmte die Haare. Wie jeden Morgen. Dann ging sie die Treppe runter. Ihr Magen knurrte. Aber das ignorierte sie. Für das Mädchen war das das normalste und schönste Gefühl der Welt. Ihr täglicher Begleiter namens Hunger. Sie machte erst gar keinen Umweg durch die Küche. Das hatte keinen Sinn. Sie schulterte nur ihre
Tasche und ging zur Tür hinaus. Draußen erschien es ihr unnötig kalt zu sein. Ein Blick auf das Thermometer verriet ihr, dass es fast 30°C waren. Ihr fröstelte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Knie zitterten heftig. Doch sie konzentrierte sich darauf nichts anmerken zu lassen. Den Blick hielt sie gesenkt. Sie wollte nicht erkannt werde. Sie hatte Angst, dass jemand bemerken könnte, das etwas nicht stimmt. Immer weiter ging sie. Langsam und bedächtig. Vor der Schule atmete sie tief durch. Heute würde sie es machen. Heute würde sie sich jemandem anvertrauen.
Lautes Stimmengewirr empfing sie in der Aula. Viele Schüler drängten sich aneinander. Darauf bedacht nicht aufzufallen schob sie sich in einen Nebengang. Dann zu ihrem Raum. Auf ihren Platz. Letzte Reihe in der Ecke. Hier fühlte sie sich sicher. Nicht beobachtet und in Ruhe gelassen. Das war ihr nur zu recht. Keiner sollte bemerken, wie hässlich sie doch war. Man zog sie sowieso schon auf. Sagte zu ihr, wie dünn sie doch sei, oder manchmal auch wie hübsch. Immer mehr Schüler betraten den Raum. Es wurde immer lauter und unruhiger. Aber keiner beachtete sie. Zum Glück. Es klingelte, doch man hörte es kaum. Das Mädchen zählte die Sekunden, bis ihre Lehrerin in den Raum kam. Dann zählte sie wieder. Bis zur Pause. Kleine schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Sie ignorierte sie. Wieder klingelte es. Erstaunt blickte sie auf die Uhr. Die Zeit war so schnell vorbei gegangen. Grade als sie aufstehen wollte, stellte sich eine große Gestallt vor sie. Ihre Lehrerin. „Alles in Ordnung?“, fragte sie, „Du wirkst in letzter Zeit so blass. Und so furchtbar ausgehungert. Isst du genug?“ Das war der richtige Augenblick. Zu beichten. Hilfe zu suchen. Doch sie schüttelte nur den Kopf und antwortete leise: „Alles in Ordnung.“ Ihre Stimme hörte sich fremd an, aber sie ignorierte es. Den Kopf immer noch gesenkt schob sie sich zur Tür. „Heute nicht“, dachte sie, „Morgen ist auch noch ein Tag.“
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2013
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Widmung:
An alle, die diese Krankheit haben und dagegen ankämpfen.