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Geistseher
von Thomas Heiss und Doris Draxler


Kapitel 1

Dinge passieren. So wie das Leben passiert. Man kann den besten Plan der Welt haben, glauben, man habe alles bedacht und berücksichtigt...Doch dann passiert das Leben.

„Alles geschafft für heute?“ kam die Stimme hinter dem Verkaufspult hervor.
„Jo, bin fertig, und das mehr als in einer Hinsicht!“ Der fragende Gesichtsausdruck hinter der Theke ließ ihn fortfahren. „Die Kundschaften heute waren eine Pest!“
Man sollte so etwas über seine Kunden nicht sagen, da sie einem ja eigentlich das Geld bringen. Aber wenn man der 87jährigen, schwerhörigen und von heftigen Darmwinden geplagten Mrs. Miller zum zwanzigsten Mal in diesem Monat erklären muss, dass sie die Katzenkiste ihrer geliebten Minky nicht in das WC leeren soll, (was übrigens immer dazu führte, dass drei Stockwerke bei 38° im Schatten in, na ja, menschlichen Abfällen, schwammen), dann konnte einem schon mal der Kragen platzen.

Oh, was bin ich nur für ein schlechter Erzähler! Sehe schon die Kritiken vor mir: „Anfang zu undurchsichtig, dadurch das Interesse gleich weg!“ und „Raucht sicher schon zum Frühstück pot, daher die Vergesslichkeit!“

Also dieses Szenario spielt in einer Welt der unseren gar nicht unähnlich. Um ganz genau zu sein ist der einzige Unterschied ein Kerl namens Earl, der auf die Eigenurintheraphie schwört und Wasser für eine Erfindung der Dämonenwelt hält. Sein Körpergeruch wird angeblich nur durch seinen Mundgeruch übertroffen! Deswegen können wir diesen Unterschied eigentlich außer acht lassen...

Die Szene zu Beginn spielt in einem Installationsbetrieb in einer mittelständischen Firma, die sich so gut es geht über die Runden kämpft.
Die zwei Personen sind zum einen Gerry, der Verkaufsleiter und die Zweite Hand des Führers des Unternehmens, sowie leidenschaftlicher Trinken von alkoholischen Getränken aller Art.
Der zweite, in unserem Fall der Interessantere, da er so etwas wie unser „Held“ werden könnte, wird von allen nur Heito genannt.
(Woher das kommt klärt sich vielleicht auf, wenn die eigentliche Geschichte eine kurze Rauchpause macht und der kleine pickelige Gewinner des Nachwuchs-Erzählerwettbewerbs auf die Bühne kommt.)
Heito war ganz gut in seinem Job als Kundendienstmitarbeiter ,was auf seine Fähigkeit zurückzuführen war, sich sehr schnell und gut auf seine Kunden einzustellen. Er hatte eine Menschenkenntnis, die aufgrund seines Alters von 28 schon fast unheimlich war.
Woher das kam wusste er nicht.
Er konnte Personen und Ereignisse im voraus sehen und wusste Sachen, die er eigentlich nicht wissen konnte. Irgendetwas lies ihn die Dinge auf seine Art und Weise tun, die fast immer goldrichtig war - so als hätte er das alles schon einmal erlebt. Manchmal war es fast wie Vorahnung oder als würde ihm ein" Älterer" über die Schulter schauen, um ihm Hinweise und Leitung zu geben.
Nicht nur bei seiner Arbeit oder im normalen Leben war dies so, sondern auch - so blöd es sich anhört - im Bett mit Frauen. Er schaffte es immer auf Anhieb festzustellen, was eine Frau fast um den Verstand brachte. Dieser Umstand beschaffte ihm auch eine eigene Ausstrahlung.
Er war kein Schönling in dem Sinn; er hatte etwas rohes, bedrohliches an sich; etwas, das viele Frauen anfangs verlockend fanden. Doch das war nicht der Grund für seinen Erfolg. Der Grund dafür waren seine Augen. Es waren dunkle, geheimnisvolle Augen, die einen in die Unendlichkeit Blicken ließen, so als würde man in ein schwarzes Loch starren.
Noch weiter geführt, war es sein Instinkt, der ihn anscheinend immer das Richtige sagen lies. Alles in allem konnte man sagen, dass er sich erfolgreich von seinen Instinkten leiten ließ und damit immer gut fuhr.
Dieser Instinkt meldete sich wieder als Gerry anfing:
„Ich weiß Du hast eigentlich schon Feierabend und es ist Freitag, doch hier hat eben noch eine Frau angerufen die Probleme mit der Warmwasserbereitung hat. Könntest Du Dir das vielleicht noch ansehen? Ohne Warmwasser am Wochenende ist es ziemlich beschissen!"
Normalerweise hätte er abgelehnt und wäre einfach nach Hause gefahren - doch nicht dieses Mal.
Seine innere Stimme schien ihm förmlich zu befehlen „Ja“ zu sagen.
"Na gut, wie Du willst, dann sehe ich mir das eben noch an!" hörte Heito sich selbst sagen.
,,Ok! Soll dir auf keinen Fall zum Nachteil sein, vielleicht bekommst Du ja ein sehr persönliches Trinkgeld!" spekulierte Gerry mit einem Augenzwinkern.
„Wir sind in keinem Softporno Marke"Wenn der Klempner sein Rohr verlegt 3" oder so!" erwiderte er lachend, woraufhin auch Gerry zu lachen anfing und Heito noch Adresse und Namen der Dame gab.

Als er sich in seinen Wagen setzte und sich auf den Weg machte, warf er noch einen Blick gen Himmel, wo sich schwarze Gewitterwolken zusammenzogen.
„Verdammtes Wetter! Nicht nur länger arbeiten, nein, auch noch das Wetter hat sich gegen mich verschworen!"ärgerte er sich während er sich eine Zigarette anzündete um sich ein wenig zu beruhigen.
,,Hoffentlich ist das nicht wieder so eine alte Schachtel, die mir fünfmal das gleiche erzählt und mich nur von meiner Arbeit abhält, sowas würd mir jetzt echt noch den Tag komplett vermiesen!"waren seine letzten Gedanken als er in die Gasse einbog. Das Haus war eine alte Villa nicht verwahrlost aber auch nicht Top in Form. Mit einem ironischen Grinsen sagte er zu sich „Bingo,alte Schachtel!"
Er nahm sein Werkzeug und machte sich auf Richtung Villa, während über ihm schon Blitze über den ganzen Himmel zuckten und der Donner bedrohlich grollte. Der heftige Wetterwind riss an ihm und lies in eine Gänsehaut bekommen - oder war es die Elektrizität die in der Luft lag? Diese irrsinnige Spannung vor einem Gewitter, wo die ganze Welt Luft zu holen schien um einen gewaltigen, markerschütternden Schrei loszulassen.
Durch die Gewitterwolken wurde es fast dunkel und in diesem Licht wirkte die Villa irgendwie bedrohlich.
(Nicht wie ein Dobermann mit gefletschten Zähnen sondern subtiler. Wie Augen von Katzen, die in der Nacht, während man alleine durch einen Wald geht, angestrahlt werden. Zumindest redete man sich ein, dass es Katzen sind, denn genau in diesen Momenten fallen einem, passenderweise, wieder Kindergeschichten von Kobolden und Werwölfen ein).
Gerade als er die Veranda erreichte fing es auch schon an dicke Tropfen zu regnen, die von Sekunde zu Sekunde mehr wurden. Fröstelnd drückte er den Knopf der Glocke, die sich nun auch irgendwie besorgniserregend anhörte. Irgendetwas Unheimliches ging hier vor sich...


Kapitel 2

Als Dorothea Lerdax an diesem Freitag Morgen die Augen aufschlug wusste sie, dass dieser Tag ihr Leben wie sie es bisher gekannt hatte für immer verändern würde. Wieso sie sich dessen sicher sein konnte, wusste sie nicht; genauso wenig ob es zu ihrem Vorteil oder Nachteil sein würde. Sie hatte nur die Gewissheit, dass es passieren würde und dass ein junger Mann mit Augen, die einen in die Unendlichkeit blicken ließen, maßgeblich daran beteiligt sein würde.

Sie hatte ihn vor exakt einem Monat im Traum das erste Mal gesehen. Wie so oft konnte sie das Gesicht als solches nicht erkennen, vielmehr war es die Aura und die Ausstrahlung der Person, die ihr alle wichtigen Informationen zum Charakter eines Menschen gaben. Bei ihm war sie deswegen so verwirrt, weil sie ihn zum einen nicht richtig einschätzen konnte und sie zum anderen diese dunklen Augen sehen hatte können.
Das war mehr als ungewöhnlich.
Wenn sie „Botschaften“, wie sie es nannte, aus der Traumwelt bekam, ging es immer um Personen an sich und nicht um deren Aussehen. Oft wurde ihr nicht einmal mitgeteilt, wie alt derjenige, dem sie helfen sollte, war. Doch bei ihm war es von Anfang an anders gewesen. Es beunruhigte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte und trotzdem fühlte es sich so richtig und gut an!
Jede Nacht hatte sie seither den gleichen Traum über ihn gehabt, und wie an jedem Morgen war sie sich über ihre Gefühle ihm gegenüber in unklaren.
„Verdammt, was wollen mir diese Augen bloß sagen?“

Mit einem Seufzen, das mehr als nur ihre Niedergeschlagenheit und Unruhe zum Ausdruck brachte, setze sich Dorothea mühselig im Bett auf. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte damit neben der Müdigkeit auch dieses ungute Gefühl aus ihrem Magen zu vertreiben.
Es funktionierte nur teilweise.
Zu einem gewissen Grad war sie froh, dass es heute – wie auch immer – enden würde. Sie fühlte sich so ausgelaugt wie der 30 Jahre alte Bodenfetzen einer mindestens 90 jährigen Putzfrau; rein dazu benutzt, dem Dreck anderer hinterher zu wischen, ihn in sich aufzusaugen und wegen seiner Qualität bis zum letzten Faden ausgemergelt zu werden.

„Guten Morgen, Schönheit! Gut geschlafen oder wieder troubles wegen ihm?“
Seine ruhige, tiefe Stimme holte sie aus ihren Grübeleien in die triste Wirklichkeit zurück.
„Ach,Victor, noch nicht so früh am Morgen, ok?“ Ein Gespräch mit ihrem ansonsten schweigsamen Begleiter war das letzte, wonach sich Dorothea im Moment sehnte. Andererseits war er immer zur Stelle, wenn sie ihn brauchte; ihr schlechtes Gewissen meldete sich sofort nachdem sie ihn, wie ihr jetzt vorkam, ziemlich unhöflich behandelt hatte, zu Wort.
„Bitte entschuldige! Du weißt, mir geht’s momentan nicht so prickelnd. Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Mach dir wegen mir keine Sorgen, Asia, ich versteh dich ja. Und glaub mir, ich wär nicht da, wenn`s nicht wichtig wäre...“ Er wirkt leicht verlegen und gleichzeitig aufgebracht, was untypisch für ihn war. Schlagartig erwachten ihre Instinkte und vertrieben damit den letzten Rest Müdigkeit aus ihren Gedanken. War denn nichts mehr so, wie sie es gewohnt war? Was passierte hier und warum?
„Was meinst du damit?“ hörte sie sich fragen und ihre Stimme zitterte mehr, als sie zuzugeben bereit war.
„Ach, nichts, womit wir,... ich meine, du, nicht fertig wirst.“ Wieder dieses Zögern in seiner Stimme. Manchmal brachte sie seine kultivierte, zurückhaltende Art fast zur Weißglut. Konnte er nicht einmal, ein einziges Mal nur, frei heraus sagen, was Sache war?

„Gott verdammt, Victor, würdest du mir jetzt bitte verraten was los ist?“

Er ersparte sich die Antwort mit einem Blick in Richtung ihrer offenen Schlafzimmertür.
„Schönen guten Morgen, Baby! - Zum Teufel, siehst du scharf aus in deinem geilen Schlafhöschen und dem anliegenden Top. Ich werd` nie verstehen, warum Frauen so was nicht auch zu einkaufen anziehen oder beim putzen, oder zum Beispiel auch...“
„Was zum Henker macht der denn schon wieder hier?“ Dorotheas Unsicherheit schlug von einer Sekunde auf die andere in Erstaunen und ebenso schnell in Wut um.
„Hab ich dir nicht verboten, mein Haus zu betreten, du kleines Stück Sch...“
Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie Victors Stirnrunzeln, der damit seinen Unmut bezüglich ihrer Ausdrucksart zu verstehen gab.
„Na schön, ...“ setzte si evon neuem an.
„Lestard, Verehrteste,..“ unterbrach er sie,“ falls du meinen Namen seit meinem letzten Besuch vergessen haben solltest. - Was ich mir aber nicht so recht vorstellen kann...“
Sein anzüglicher Blick ließ ihre Wangen plötzlich heiß glühen und sie riss wütend die Decke vom Bett, um sie sich umständlich um die Schultern zu hängen. Gott, wie sie diesen Typen verabscheute! In seiner Nähe kam sie sich immer so, na ja, nackt vor.
„Das würd` ich gern mal sehen! Ehrlich, Baby, würdest mir `nen großen Gefallen tun, wenn...“
„Ok, das reicht jetzt, Mister Lestard, wenn ich Sie so nennen darf...“ versuchte Victor wieder einmal die angespannte Situation zu entschärfen.
„Dass Fräulein Lerdax in Ihren Augen eine attraktive Person ist, haben Sie ja schon mehrmals bei Ihren Besuchen zum Ausdruck gebracht...“ versuchte Victor es schön zu umschreiben, „...aber ich bin der Meinung, dass Sie nicht so mit ihr...“
Lestard ließ sich ganz offensichtlich nicht von seinem kleien Ablenkungsmanöver einschüchtern und trat noch näher an die mittlerweile vor Unsicherheit schwer atmende Dorothea heran. Dabei rutsche das Laken ein Stück von ihrer rechten Schulter, nach der Lestard jetzt mit lüsterndem Blick seine behaarte Hand ausstreckte.
„Wage es ja nicht, sonst...“
„Sonst was, Baby? Hast du Angst, es würde dir gefallen?“
Dennoch verharrte seine Hand kurz vor ihrer bebenden Schulter in der Luft.
„Erzähl mir nicht, dass du nicht auch schon über diese Möglichkeit nachgedacht hast!“
Er war ihr jetzt so nahe, dass sie seinen Atem an ihrem Ohr spüren konnte. Dieser kam stoßweise, wild und roh, aber auch irgendwie sehnsüchtig bei ihr an. Ihr wurde schwindelig. Ein Schauer durchlief ihren Körper; sie stand jetzt kurz davor die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Er wiederum schien diesen Umstand sichtlich zu genießen.
„Dorothea...“ Victors Stimme.
Ein Anker, ein Rettungsring im tosenden Meer, stark genug, um sie daran zu erinnern wer sie war und für welche Aufgabe sie bestimmt war. Wieder einmal war er es, der ihr half. Und wieder einmal drängte sie ihre Bedürfnisse in eine Ecke in ihrem Bewusstsein zurück, schloss die Tür und versperrte sie mit einem Schlüssel, den dieser Bastard auf für sie unerklärliche Weise immer wieder fand, versteckte ihn an einer anderen Stelle, darauf wartend, wieder gefunden und benutzt zu werden. Dann öffnete sie die Augen und blickte direkt in Lestards. Er erkannte es und wich enttäuscht zurück.
„Nicht schon wieder.“ murmelte er.
Als sie sprach, war ihre Stimme wieder ihre eigene. Ruhig, kalt, nicht direkt drohend, aber ohne Widerspruch zu dulden:
„Ich befehle dir, dieses Haus auf der Stelle zu verlassen, Lestard, bis ich dir gestatte es wieder zu betreten!“
Der Zauber zeigte sofortige Wirkung. Lestard schien nicht verärgert, eher belustigt, was wieder ein komisches Gefühl in Dorotheas Magengegend auslöste.
„Ich weiß, Baby, ich weiß. Und du wirst es mir auch bald wieder gestatten, nicht wahr?“
Als sein Körper beinahe aufgelöst war, sagte er noch:
„Und glaub mir, Süße, dir würd`s auch gefallen-dafür würd` ich schon sorgen!“
Sein obszönes Lachen verschwand sofort mit seiner Erscheinung, aber in ihren Ohren hallte es noch lange nach.

„Was meinte er damit, Dorothea, dass du es ihm wieder gestatten wirst?“
Armer Victor.
Sie gab keine Antwort. Sie wollte es nicht mehr, konnte es nicht. Zu lange hatte sie nur Antworten gegeben, ohne selbst je welche zu erhalten. Sollten sie ihre Probleme doch alleine lösen, wie andere auch: mit reden, durch Anteilnahme, Verständnis, Liebe. - Ja, Liebe,... was war das eigentlich? Würde sie es je erfahren?
Dunkle, geheimnisvolle Augen erschienen in ihren Gedanken, wie so oft in letzter Zeit. Sie schloss die ihren und holte nach ungewollten Tränen tief Luft.
„Heute wird es enden!“


Kapitel 3

„Wie kann ich Ihnen nur danken, Miss...Asia?“ Der Name schien der Kundin nur schwer über die Lippen zu kommen. Vielleicht sollte sich Dorothea einen anderen Künstlernamen einfallen lassen; etwas, nun ja, vielleicht bodenständigeres, das ihre vorwiegend ältere Kundschaft auch aussprechen konnte?
„In der Art von „Fräulein-ich-kann-mit-Geistern-und-anderen-Wesenheiten-sprechen“ vielleicht?“ Victors trockene Bemerkung musste Dorothea schmunzeln lassen. Seinen bitteren Unterton bemerkte sie zu diesem Zeitpunkt nicht. - Erster Fehler.
„Was hältst du davon? Wäre doch was!“ meinte er weiter, als er ihre Reaktion sah.
“Ein bisschen lang vielleicht; da müssten wir eine neue Form für Visitenkarten entwerfen.“
Er schien ernsthaft darüber nachzudenken.
„Nein. Zu viel Aufwand! Eindeutig!“schloss der Geist an ihrer Seite seine Überlegungen.

Völlig vergessend, dass ihre Kundin noch vor ihr stand, musste Dorothea jetzt doch herzhaft lachen. Sie war so froh, Victor an ihrer Seite zu wissen. Nicht nur, dass er ihr eine Bereicherung durch sein enormes Wissen gab, er brachte sie auch dazu, ihr Leben nicht jeden Tag aufs neue zu verfluchen. Das war ihr momentan mehr wert als der mächtigste Abwehrzauber der Welt. Was nützte ein solcher Zauber, wenn man niemanden hatte, den man schützen konnte?

„Äh, entschuldigen Sie, habe ich gerade etwas falsches gesagt?“ Verdammt, die Kundschaft!
„Nein, nein, Mrs. Whitehair!“
„Treffender Name, wenn du mich fragst“ Wieder mischte er sich ein. Victor war anscheinend gut gelaunt, trotz der unschönen Szenerie am Morgen. - Zweiter Fehler.
„Könntest du noch einen Moment deinen Mund halten?“ entfuhr es Dorothea. Sie fand es immer schwer, mit zwei Personen gleichzeitig sprechen zu müssen, vor allem, wenn eine der beiden seit ungefähr 260 Jahren tot war. (Damit meinte sie Victor.) - Dritter Fehler.

„Ich sollte jetzt wohl besser nach Hause gehen.“
Mrs. Whitehair raffte ihren Rock und zwei oder drei weitere Unterröcke, blickte unsicher mit hektisch absuchenden Augen neben und hinter Dorothea, bevor sie sich nun doch etwas verunsichert umdrehte und die alte Veranda in erstaunlichen Tempo hinunter hastete.
„Und nochmals Danke für Ihre Hilfe. Ich werde Sie auf alle Fälle weiterempfehlen, Miss...A..Aschi..a.“
„Nennen Sie mich doch einfach Dorothea, Mrs. Whitehair, ok?“ rief sie ihr nach.
Aber die ältere Dame war schon zum Tor hinaus und zur Sicherheit auch noch auf die andere Straßenseite geflüchtet.
„Die alte Schachtel weiß deine Hilfe doch gar nicht zu schätzen. Bist du so blind oder tust du gerade nur so?“seine Stimme triefte jetzt geradezu vor Ironie.

Drei Fehler zu spät läuteten erst jetzt bei Dorothea die Alarmglocken.Noch nicht ganz sicher worum es eigentlich ging, fragte sie
„Was meinst du damit, Victor? Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Ach, vergiss es einfach!“
Er schien noch etwas sagen zu wollen, fast so, als täte ihm das Gesagte leid, aber etwas in ihm hinderte ihn anscheinend doch daran, und er verschwand ohne ein weiteres Wort in der alten Villa, wo sie vor ungefähr 2 Monaten eingezogen waren.
Victor und sie hatten schon öfter Meinungsverschiedenheiten gehabt, vor allem was die Behandlung von diversen Geistern betraf, die es nicht immer unbedingt gut mit Ahnungslosen meinten – nett formuliert. Dorothea wusste selbst, dass jede negative Erscheinung einen guten Grund hatte, negativ zu sein; bessere Gründe, als manche ihrer Klienten je verstehen würden oder zu verstehen imstande wären. Aber sie war einfach zu sehr Mensch, um die fürchterliche Angst nicht zu verstehen, die den Hauptgrund der meisten ihrer Kundschaften ausmachte, dass sie sie überhaupt aufsuchten.

Und im Moment hatte auch sie Angst. Jetzt, wo sich der Tag dem Abend zuneigte und bald schwere Gewitterwolken am Himmel aufziehen würden, wurde ihr noch mehr bewusst, wie allein sie eigentlich war.
Ja, sie hatte Victor seit Jahren als verlässlichen Freund an ihrer Seite; ja, sie war mächtig und hatte bis jetzt jede Bedrohung, die sie durch ihre Gabe (oder Fluch?) bestehen hatte müssen, mit Bravour bewältigt, oft ohne dass sie wusste, wie sie das eigentlich geschafft hatte.
Aber menschliche Beziehungen?
Ihre letzte Beziehung war an dem Tag vorbei gewesen, wo Dorothea sich sicher war, dass er der richtige sein würde, dass er es war, dem sie sein Geheimnis anvertrauen konnte.
Victor hatte sie noch gewarnt, sie gefragt, ob sie sich tief in ihrem Innersten sicher sein würde, dass er tatsächlich der richtige war und ob er sie wirklich verstehen würde.

Es war Trotz gewesen, das wusste sie heute. Sie hatte sich selbst eingeredet, sicher zu sein; hatte es sich einfach so sehr gewünscht, weil sie ihn so geliebt hatte. Die Folgen waren fatal und machten es ihr im Endeffekt leichter, bis zum heutigen Tag, alleine zu bleiben.
Sie wollte nicht mehr alleine sein.
Und heute Nacht würde es enden.
Doch zuerst musste sie herausfinden, was mit Victor los war. Er war ihr Freund, es war ihr wichtig. Spürte er es vielleicht auch? Er hätte es ihr sicher gesagt, wenn er mehr wissen würde als sie, oder?

Tee. Sie würde Tee kochen und eine heiße Dusche nehmen und dann mit ihm sprechen. Bestimmt war alles nur halb so schlimm.

Auf dem Weg in die Küche konnte sie Victor nirgends entdecken. Wahrscheinlich schmollte er in irgendeiner Ecke um sie dann plötzlich von hinten zu erschrecken. Beinahe hoffte sie auf diesen immer wiederkehrenden kleinen Scherz von ihm, den sie normalerweise so nervig fand. Wie schaffte er es bloß sich ihr nähern zu können, ohne dass sie ihn vorher spürte?
Eines seiner kleinen Geheimnisse, wie er ihr dann augenzwinkernd erklärte.

Als sie das Wasser für den Tee herunter lassen wollte, spielte die Wasserleitung wieder einmal verrückt. So schön und charmant sie die geerbte Villa ihrer Großmutter am Anfang noch gefunden hatte, desto mehr kam es ihr inzwischen vor, in einer einzigen Bruchbude zu leben.
Dass immer wieder der Strom ausfiel und dadurch kein Licht oder keine Heizung funktionierte, daran hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Sie brauchte kein Licht, um sich in der Dunkelheit des riesigen Hauses zurecht zu finden und ein Feuer im großen Kamin des Wohnzimmers, das so geräumig war, dass andere darin eine ganze Wohnung unterbringen konnten, war schnell entfacht – zur Not sogar auf die altmodische Art mit Holz, das ihr und Victor nun doch schon ein paar Mal bei den dann entstehenden Gesprächen knisternd gelauscht hatte.
Aber dass es nun auch kein Warmwasser gab, schlug dem Fass den Boden aus!

„Verdammt noch mal, das kann doch jetzt nicht wahr sein! Wie hast du es hier nur die letzten Jahre aushalten können, Gran?“ I
hre Großmutter war anscheinend gerade anderweitig in der Zwischenwelt beschäftigt, denn sie gab keine Antwort. Nicht, dass Dorothea eine erwartet hätte, war es ja keine essentielle Frage. Trotzdem ärgerte sie sich, dass sie ihren Unmut nicht an jemandem auslassen konnte.
„Super! Freitag Nachmittag und kein warmes Wasser im ganzen Haus. Das überlebe ich nicht.“
So langsam machte sie dieser ganze, furchtbare Tag wütend.

„Soll ich etwa meine Energien darauf verschwenden, das ganze Wochenende Warmwasser herbei zu zaubern? - Hallo, jemand zu hause?“ sie schrie es förmlich in das Haus hinein, aber sie konnte nur ihre eigene Stimme in den letzten Ecken der obersten Zimmer widerhallen hören.
Plötzlich wurde ihr die Stille in der gesamten Villa bewusst.
O Gott, war sie allein?
Victor.
Wo mochte er nur stecken, was hatte sie ihm angetan, dass er sie alleine ließ? Wie sollte sie...
„Vielleicht solltest du versuchen, einen Installateur anzurufen, Asia. ..-Kann ich dich noch so nennen, oder hast du schon einen besseren Namen gefunden?“
„Victor! Wo zum Teufel hast du gesteckt? Ich hab mir Sorgen gemacht!“
„Um mich oder um dich selbst?“erwiderte er prompt.
Er wusste, dass sie in diesem Moment nur an sich selbst gedacht hatte, und nicht etwa an ihren Freund, dem ganz offensichtlich etwas auf der Seele lag (– die er trotz Geistseins immer noch hatte.)
Sie kam sich dadurch gleich noch schlechter vor. Sie musste noch jede Menge lernen, das wusste sie. Und dass er es wusste, machte ihr noch mehr zu schaffen.
„Hör mal, es tut mich echt leid. Ich bin einfach nicht...“
„Mach deinen hübschen Mund zu und hör mir zu.“ Zu Worten bezüglich ihres Aussehens ließ er sich nur selten hinreißen und ihre Instinkte meldeten sich, obwohl sie es im Moment gar nicht wollte, zurück.
„Es ist wichtig, dass du jetzt einen Installationsbetrieb anrufst“ fuhr er fort.
„Es wird nicht notwendig sein, denjenigen, mit dem du telefonierst, von der Notwendigkeit einer Hilfestellung seinerseits zu überzeugen. Er wird sie dir bereitwillig anbieten. Guter Mann übrigens. ...Könntest du deinen Mund wieder schließen? Du siehst dabei aus wie ein Fisch den man an Land geworfen hat....Danke. Es wird jemand kommen, um sich das Problem mit der Wasseraufbereitung anzuschauen, aber er wird den Fehler nicht finden; nicht, weil er es nicht kann, sondern, na ja, weil er es nicht ...mehr... können wird. Drücken wir es mal so aus.“
Dorothea gestattete es sich, ihren Mund für ein kurzes Luftschnappen zu öffnen. Woher wusste Victor das alles so genau? Wie lange würde er sie noch mit seinen Fähigkeiten überraschen können?
„Das dicke Ende kommt erst noch, Asia. - Aber ich denke dir dämmert schon, worauf ich hinaus will.“
Ihre Gedanken waren viel zu durcheinander, als das sie sich darüber im klaren war, worauf ihr Freund denn nun hinaus wollte. Doch dann meldete sich das vertraute Kribbeln in ihrem Bauch wieder, und von einer Sekunde auf die andere wusste sie, was Victor gemeint hatte.
„Er...“,mehr als dieses Wort brachte sie nicht heraus. Sie bemerkte, wie der Boden unter ihren Füßen zu schwanken begann, Victor's Augen einen seltsam traurigen Glanz bekamen und er sich zum zweiten Mal an diesem Tag ohne ein Wort umdrehte und verschwand. Nur einen Gedanken gestattete er sich noch ihr zu schicken: „Nicht nur dein Leben wird sich ab heute ändern, liebste Freundin, auch für mich endet mit dieser Nacht etwas.“
„Was, was wird sich ändern?...Victor? Victor!“ Doch er gab ihr keine Antwort mehr.

Sie konnte sich danach nicht mehr erinnern, wie lange sie da auf dem Küchenboden gesessen war, in ihren Gedanken versunken, versuchend, alles um sie herum auf die Reihe zu bekommen. Sie wusste nur noch, dass sie – nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr schien – aufgestanden war, die Nummer, die in ihrem Kopf entstand, angerufen hatte, und die Bestätigung erhalten hatte, dass jemand von der Firma Kiwa noch heute bei ihr vorbei schauen würde, um sich um ihr Warmwasserproblem zu kümmern.
Nachdem sie sich eine Tasse Tee in der Mikrowelle heiß gemacht hatte und sich darüber im klaren wurde, dass sie das Schicksal nicht beeinflussen konnte, machte sich ein trügerisches Gefühl der Euphorie in ihr breit. Egal, was heute noch passieren würde, ihr Leben würde sich verändern. Und diesen Gedanken begrüßte sie. Wenn es eine Herausforderung war, die sie bestehen konnte, würde sie ihren Weg weiter bestreiten und durch die gewonnene neue Kraft andere Mittel finden können, um weiterzumachen. Und wenn sie diese Nacht nicht überlebte, dann,...ja, dann war es auch gut. Vor dem Sterben hatte sie noch nie Angst gehabt. Laut Victor war das einer der Gründe, warum sie so mächtig war. Hätte sie ihre Einstellung diesbezüglich ändern können, sie hätte es getan – wie sie so vieles in ihrem Leben gerne verändert hätte. Aber gewisse Grenzen durften nicht überschritten werden, gewisse Gesetze nicht gebrochen.
Die alte Pendeluhr im Wohnzimmer ließ beim Schlagen der vollen Stunde die Teetasse auf dem Unterteller erzittern, so gewaltig ertönte der Gong bei jedem Mal. Das befreite sie ein wenig aus ihrer Lethargie. Sie beschloss, dass eine Dusche- vor dem Eintreffen ihres Schicksals, wie sie ironisch im Gedanken hinzufügte- jetzt genau das richtige wäre; dass es eine kalte sein würde, erschien ihr noch richtiger.

Als sie die alte knarrende Treppe zu ihrem Badezimmer im ersten Stock hinauf ging, war von Victor keine Spur zu sehen – was nicht heißen musste, dass er nicht im selben Augenblick auch neben ihr die Treppe hinauf ging. Er war weit mächtiger als sie selbst, wie sie ja gerade wieder einmal erkennen hatte müssen; er versuchte es aber dennoch immer durch seine verständnisvolle Art vor ihr zu verbergen. Für ihn war es keine Schwierigkeit, sich nicht vor ihr zu zeigen, wenn sie oder auch er es nicht wollten.
Victor war alt, zwar nicht „körperlich“, aber auf geistiger Ebene.
Einmal hatte er ihr erzählt, dass er mit 39 gestorben war, aber als sie dabei den gequälten Ausdruck in seinen Augen bemerkt hatte, den diese Erinnerung, die so weit zurücklag, noch immer in ihm auslöste, hatte sie nicht nachgefragt und es dabei belassen. Sie hatte ihm auch nicht erzählt, dass sie aufgrund ihrer Begabung wusste, dass es etwas mit seinen Eltern zu tun hatte. Wahrscheinlich wusste er auch selbst darum und so verblieben sie in einer Art einvernehmlichen Verständnis.
An diesem besonderen Abend hatte sie ihn auch gefragt, warum jemand Unbedeutender wie sie einen so mächtigen Beschützer wie ihn an ihrer Seite haben durfte. Seine Worte hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt wie das glühende Eisen eines amerikanischen Cowboys in das Hinterteil eines aufgeschreckten Fohlens:
„Unbedeutend bist du nur dann, wenn du glaubst, dass ich unbedeutend bin! - Glaubst du das?“ Und daher versuchte sie seit jenem Abend, sich nicht nur als die unscheinbare, durchgeknallte Verrückte von nebenan zu sehen, sondern sich ihre Gabe einzugestehen und sie positiv zu nutzen – egal, was andere dazu sagten.
Sie arbeitete noch immer an dieser Einstellung zu ihr selbst.
Und auch wenn Victor sie offensichtlich mehr mochte als es einem Freund zustand, und Lestard, dieser lüsterne Bastard, ihren Körper „geil“ fand, wie er es nannte, so half es ihr nicht wirklich, sich selbst als schön anzusehen. Niemand kannte sie wirklich, wusste, wie es in ihrem tiefsten Inneren aussah, was sie dachte und fühlte. Und sie würde es auch nie jemanden sagen können, weil sie sich selbst dafür verabscheute und schämte.

Ihr zweites, tiefe Seufzen an diesem Tag, während sie, nun doch vor Kälte zitternd, aus der Dusche stieg. Diesmal jedoch überwiegte die Erleichterung.
Sie hatte recht gehabt, die kalte Dusche war genau richtig gewesen und hatte ihren Zweck erfüllt. Das klare Wasser hatte auch ihre Seele gereinigt und half ihr nun, sich ihrer Aufgabe bewusst zu werden.
Jetzt sah sie die Dinge so, wie sie sie sehen musste: klar, sachlich und innerlich kampfbereit.

Wenn es notwendig werden würde, würde sie heute Nacht auch töten.


Kapitel 4

„Komme!“ hörte er eine weibliche Stimme von drinnen heraus rufen und dies war nicht die Stimme einer alten Schachtel. Still dankte er den Göttern für diesen kleinen Lichtblick an diesem ansonsten versauten Abend.
Als sich die Tür öffnete blieb ihm kurz das Herz stehen.
Sie war nicht die Seite 7 Tageszeitung-Schönheit, sondern sie hatte etwas eigenes, nicht sofort greifbares oder ertastbares. Es umgab sie eine Art Aura, die ihm ein komisches Gefühl im Bauch bescherte. Sie war in seinem Alter und schien ihm direkt in die Seele zu schauen.
„Die Figur ist auch nicht von schlechten Eltern!"erklang eine Stimme in ihm.
„Klappe zu!" fauchte er eigentlich zu sich, doch er sprach es leise aus.
„Wie bitte?!"erklang ihre melodische Stimme erstaunt.
„Äh, Frau Lerdax? Guten Abend! Ich komme von der Firma Kiwa. Sie haben ein Problem mit ihrem Warmwasser wurde mir gesagt!“erwiderte er schnell, ohne genauer auf ihre Reaktion einzugehen.
„Oh ja, das stimmt! Ich bin die Dorothea,wenn sie das nicht stört! Sie sind ja im selben Alter und um diese Uhrzeit können wir die Förmlichkeiten wohl weglassen!" sagte sie fröhlich.
Dies machte sie ihm gleich noch sympathischer und der Knoten im Bauch wuchs.
„Super, ok! Mich nennen meine Freunde Heito! Wenn Sie es auch so machen würden, würde ich mich freuen!"
„Wir haben uns gerade das Du Wort angeboten oder nicht? Also weg mit dem Sie, Heito!"
„Ok, ok! Macht der Gewohnheit!" erwiderte er, während er ihr ins Innere der Villa folgte.

Drinnen standen noch ein paar Umzugskartons was ihn schlussfolgern lies, dass sie wohl noch nicht lange hier sein konnte. Als könnte sie seine Gedanken lesen sagte sie:
„Wie sie sehen bin ich noch nicht ganz fertig mit dem Auspacken, doch ich wohne jetzt schon eine Weile hier drinnen. Habe die Villa von meiner Großmutter geerbt - falls Du Dich fragst wie ich mir das wohl in meinem Alter leisten kann!" beantwortete sie seine nächste unausgesprochene Frage. „Hier habe ich viele Sommer meiner Kindheit verbracht, der eine oder andere Geist aus meinem alten Schrank wird sich wohl noch an mich erinnern!" sprach sie wohl ihre Gedanken mehr zu sich selbst als zu ihm, verträumt aus.
„Hab mir eigentlich keine großen Gedanken darüber gemacht..." erwiderte er wahrheitsgemäß.
Was ihn jedoch beschäftigte, war das komische Gefühl, das er seit Betreten des Hauses hatte. Anfangs führte er das auf die hübsche und sympathische Hausherrin zurück,was auch nicht ganz falsch wahr. Doch inzwischen hatte sich das Gefühl gewandelt und ihr komisch verträumter Blick sowie die Stimme, mit der sie von den alten Geistern sprach, beruhigte in auch nicht unbedingt.

„Mach Dir keine Gedanken, hier drinnen geschieht Dir nichts!"wieder diese Stimme.
Er hatte sie schon mal vernommen, doch immer nur sehr leise und ungenau.
Nicht so wie jetzt.
Es war, als würde eine Person, die ihm über die Schulter sah, direkt ins Ohr sprechen.

Heito abergläubisch zu nennen wäre übertrieben. Jedoch war er sich irgendwie bewusst, dass irgendetwas noch existierte; dass ihre wissenschaftliche Welt nicht alles sein konnte.
Seine Mutter hatte sich früher viel mit diesen Dingen beschäftigt - worauf er seine Einstellung zurückführte.
Sie war so etwas wie eine weiße Hexe.
Doch als er sein eigenes Leben anfing zu leben, vergaß er viele der alten Dinge. Unterbewusst schienen sie doch immer noch vorhanden zu sein, wie er immer wieder feststellte.

Der Knoten wuchs von einem Golfball in dem Bruchteil einer Sekunde zu einem Medizinball.
„Lass dir nichts anmerken, die hält dich noch für verrückt wenn du so weiter machst!"versuchte er sich selbst zu beruhigen, was nicht sonderlich gut gelang, musste er sich eingestehen.
Durch das Gewitter war es drinnen schon so dunkel, dass man das Licht anmachen musste, was Heito auch gleich machte, da er, in seine Gedanken versunken, Dorothea aus den Augen verloren hatte.
„Du hast den Lichtschalter schon selbst gefunden! Sehr gut, dann kann ich mich weiter hierum kümmern!"schien ihre Stimme von überall zu kommen. Und dann:
„Der Speicher ist im Keller, die Stiegen runter und die zweite Tür auf der rechten Seite!"

Ihrer Anweisung folgend, machte er sich etwas verwirrt auf den Weg in den Keller.Während er die knarrenden Holzstiegen hinab stieg, verstärkte sich sein eigenartiges Gefühl immer mehr.
Es war wie in einem U-Boot, das auf den Meeresgrund sinkt: der Druck von außen auf die Stahlhülle wächst mit jedem Meter, bis der Stahl ächzt und knarrt und man glaubt er birst jeden Moment.
Dieses Empfinden hatte er nun in seinem Kopf, nur ging es hier nicht um eine Stahlhülle, sondern seinen Verstand, der einer Druckprobe unterzogen wurde.

„Reiß dich zusammen!"herrschte er sich selbst in Gedanken an, „das bildest du dir alles nur ein! Du bist hier in keinem Stephen King Roman!"
Als sarkastische Widerlegung seiner Gedanken fiel mit einem kurzen Bruzeln und einem momentanen Aufglühen der Glühbirnen der Strom aus. lrgendwo in ihm hörte er eine spöttische Stimme laut auflachen.
„Alles ok da unten im Keller?" kam Dorotheas Stimme von oben wie ein Rettungsring für seinen Verstand zu ihm herunter.
„Ja ich denke schon. Wo ist der Sicherungskasten, damit ich den Strom wieder einschalten kann?" „Da wirst du Pech haben, Heito, die ganze Straße scheint ohne Strom zu sein, wenn ich mir das so ansehe. ln keinem der Häuser brennt mehr Licht und die Straßenbeleuchtung ist auch aus."
Ein greller Blitz erhellte das gesamte Haus sowie den Keller. Heito bildete sich ein, zwei menschliche Schemen oben an der Treppe zu sehen, was er aber sofort verwarf, da nur Dorothea oben sein konnte.
Nicht ganz sicher fragte er dann aber doch: „Bist du dort oben alleine, Dorothea?“-----

„Nein, Victor ist noch oben bei ihr, das hast du doch selber gerade im Gegenlicht des Blitzes gesehen, oder?“ Wieder diese Stimme!
„Wer ist da?“ Heitos Gedanken überschlugen sich. Er war doch ganz alleine die Treppe herunter gegangen. Er konnte auch niemanden sehen. O Gott, drehte er jetzt schon komplett durch?
„Meine Freunde nennen mich Lestard, Kumpel. Und ich überlege gerade, ob du mich auch so nennen darfst!....“


Kapitel 5


Sie hatte sich gewünscht, bei seinem Erscheinen sofort und genau zu wissen, heute nicht töten zu müssen.
Aber wie in ihren Träumen war sie sich auch jetzt nicht sicher, wie sie ihn einschätzen sollte.
War er für sie nun eine Art Erlöser oder trug er eine für sie tödliche Macht in sich?

Sie beobachtete sein Eintreffen an ihrer Villa vom Küchenfenster aus, wo sie selbst von draußen nicht gesehen werden konnte. Seine Aura hatte sie schon vor einer ganzen Weile sich ihr nähern gespürt, und dass das heranziehende Gewitter wohl bei seinem Übertreten der Türschwelle ausbrechen würde, erschien ihr mehr als passend. Viele Menschen betrachteten Gewitter als etwas Bedrohliches und Ungestümes. Das entsprach seinem äußeren Erscheinungsbild, sofern sie es auf diese Distanz beurteilen konnte. Er war groß und hatte einen durchtrainierten Oberkörper, was sie nicht nur auf seine sicherlich oft anstrengende Arbeit zurückführte. Anscheinend hielt er sich auch mit Krafttraining in Form. (
Zumindest glaubte er das wahrscheinlich; sie vermutete eher, dass er seine innere Kraft durch irgendeinen Ausgleich versuchte abzubauen. Wenn er sich seiner Fähigkeiten nicht bewusst war, konnte einem der innere Konflikt ziemlich fertig machen. Dass ihm sportliche Aktivitäten auf Dauer jedoch nicht ausreichend helfen würden, war Dorothea aber sofort klar.)

„Zu seinem Nachteil war das Training zumindest nicht,“ sprach sie laut ihre Gedanken nach einem weiteren Blick auf seine Schultern, über die er gerade seine Arbeitstasche warf, aus.

„Als ich so alt war wie er, hab ich um einiges besser ausgesehen, Asia! Seit wann legst du Wert auf Äußerlichkeiten?“ Victor schien verbittert.
Ihre Intuition ertastete einen Hauch Eifersucht in seiner Stimme. Ein Fehler in Victor's Bereitschaft, Gefühle zu übersenden, den er sofort nach Erkennen mit einer Mauer um seine Aura korrigierte., die nicht mal die legendären Trompeten von Jericho zum Einstürzen hätte bringen können. Er kam sich ganz offensichtlich ertappt vor und wirkte verlegen.
Zum zweiten Mal an diesem Tag.
Wie so vieles heute schon zweimal passiert war.
Sie hatte keine Gelegenheit mehr, darauf einzugehen, denn schon läutete es an der Türglocke und sie hörte sich selbst „Komme!“ rufen. Trotzdem erschien es ihr notwendig, noch etwas los zu werden.
„Ich hoffe, ich kann mich trotz deiner heutigen...“ sie suchte nach den richtigen Worten „...für mich etwas ungewohnten Charakterzügen deinerseits auf dich verlassen, alter Freund?“
Sie blickte ihm tief in die Augen und die langjährige Verbundenheit zwischen ihnen war sofort wieder hergestellt.
„Natürlich, Asia. Auf mich wirst du dich immer verlassen können, das weißt du doch?“
„Dieses Wissen lässt mich tagtäglich die Hürden meines Lebens bestehen...Ohne dir schaffe ich es nicht, Victor. Ich hoffe, dass weißt du auch?“
Er holte tief Luft, sofern man das von einem Geist behaupten kann.
„Ich war mir dessen schon mal sicherer. Du wirst von Tag zu Tag stärker, auch wenn du es selbst nicht bemerkst. Irgendwann wirst du mich nicht mehr brauchen. Vielleicht schon eher, als uns beiden lieb ist;...speziell mir. - Nun zieh nicht ein Gesicht wie 7 Tage Regenwetter. Es wird schon alles gut werden, ok?“ Er klang alles andere als überzeugt, und sie zögerte noch immer, die Tür zu öffnen.
„Na dann, auf geht’s! Wir schaffen das schon. Los jetzt. Oder willst du, dass er nass wird?“
Sie schluckte den Gedanken, de sich komischerweise bei ihr einschlich, dass das vielleicht ja gar nicht so schlecht wäre, weil er dann sein T-Shirt ausziehen müsste und vielleicht...
„Asia, los jetzt!“...hinunter und sperrte diesen Gedanken neben „Lestard's und meine Bedürfnisse ihm gegenüber“ in eine der wenigen verbleibenden Ecke ihres Gehirns ein.
Das zweite Mal an diesem Tag.
„Scheiße, Mädchen, konzentriere dich!“ dachte sie noch während sie die Eingangstüre öffnete.

In dem Moment, als sie in seine Augen sah - diese dunklen, geheimnisvollen Augen, die sie seit einem Monat Tag und Nacht verfolgten - war es mit ihrer ganzen Konzentration jedoch in Sekundenschnelle wieder vorbei.
Und daran waren nicht nur seine Augen schuld; seine ganze körperliche und geistige Erscheinung raubten ihr den Atem und beinahe auch ihren Verstand. Diese innere Kraft schien seine gesamte Aura einzunehmen. Sie leuchtete so stark, dass Dorothea den Reiz, ihre Augen zusammenzukneifen nur mühsam unterdrücken konnte.
Dass Lestard lässig hinter ihm stand, und ihr sein anzüglichen Grinsen – wie gewohnt – schenkte, machte die Sache nur noch verwirrender.
Ein paar Gedankenfetzen ihres Gegenübers konnte sie trotz ihres inneren Aufruhrs dann aber doch noch auffangen: „...keine alte Schachtel...mein Alter...blickt in meine Seele...“
„Und die Figur ist auch nicht von schlechten Eltern!“ Lestard.
„Klappe zu!“ Er.
„Wie bitte?“ Sie.
Na toll, das würde ein interessanter Abend werden.Was zur Hölle hatten sie sich nur dabei gedacht, ihn zu ihr zu schicken? Würde sie diese Herausforderung wirklich meistern können? Er wirkte so unglaublich stark, sogar jetzt schon, ohne sich seiner Mächte (ganz) bewusst zu sein.
Auf der anderen Seite wirkte er aufgeschlossen und Hilfe suchend zugleich, was ihn ihr auf Anhieb sympathisch erscheinen ließ. Noch nie hatte sie so viele Widersprüchlichkeiten auf einmal in einem Menschen gesehen: roh, stark und selbstbewusst auf der einen Seite, einfühlsam, verständnisvoll und unsicher auf der anderen. Victors Berührung an ihrer Hand ließ sie in die Wirklichkeit zurück finden, und sie bat ihn (und damit auch Lestard) mit einer Handbewegung herein zu kommen.
Trotzdem nahm sie das, was nach Heitos Eintreten in die Villa - und somit in ihr Leben- geschah, nur verschleiert und wie in Trance wahr. Die Gedanken wirbelten nur so in ihrem Kopf herum. „Bloß nichts anmerken lassen, bloß keine Fehler machen, Konzentration, Konzentration, verdammt noch mal!“ versuchte sie sich immer wieder einzureden.
Doch Dorothea konnte nichts dagegen unternehmen; seine Wirkung auf sie war ...schrecklich, einzigartig, verheerend, berauschend. Sogar dass Lestard mit ihm gekommen war, konnte sie nur am Rande wahrnehmen. Gott, sie wusste kaum noch, was sie eigentlich zu ihm sagte. Hauptsächlich sinnloses Zeug von wegen gerade erst eingezogen, von Oma geerbt, diverse Geister im Haus...- Mein Gott, hatte sie gerade Geister gesagt? Es wurde höchste Zeit, dass sie Abstand zu ihm gewann, sonst redete sie sich noch um Kopf und Kragen. Vielleicht durfte er ja noch gar nichts über seine Kraft erfahren, vielleicht war ja alles nur ein furchtbarer Irrtum; auch sie konnten sich irren, oder? „Ok, eher unwahrscheinlich, ich weiß, Victor!“ dachte sie.
Lestards Stimme riss sie aus ihren Überlegungen:
„Hier drinnen passiert dir nichts!“
Hatte er das gerade zu Heito gesagt? Konnte Heito ihn etwa hören? Hatte er denn Angst?
Die Sache geriet immer mehr aus den Fugen, ihr Verstand kapitulierte, sie verlor zunehmend die Kontrolle über die Situation, konnte nicht mehr klar denken.
„Victor, bitte hilf mir!“ flehte sie ihn gedanklich an.
„Gleich geschafft, Asia. Das Licht...“
Tatsächlich.
In der Zwischenzeit war es im Haus - durch das Gewitter draußen - stockdunkel geworden, Heito konnte sie unmöglich noch sehen. Diese Gelegenheit wollte sie nicht ungenutzt lassen.
Sie entfernte sich mit leisen Schritten aus seinem Blickfeld, um sich hilfesuchend in der Küche am Sessel abzustützen. Gerade noch rechtzeitig, denn plötzlich wurde es auf irdischer Ebene wieder hell.
„Du hast den Lichtschalter schon selbst gefunden! Sehr gut, dann kann ich mich weiter hierum kümmern!“ rief sie Heito über die Schulter zu und dabei funkelte sie im Umdrehen schon Lestard, der ihr mit verschmitztem Lächeln gefolgt war, mit bösen Augen an. Sobald sie Abstand zu Heito gewonnen hatte, arbeitete ihr Verstand nun wieder auf Hochtouren. Sie bemerkte, dass sie ihre Hände in der Zwischenzeit zu Fäusten geballt hatte.
„Du musst ihm noch sagen, wo er hin muss, Asia! Bleib bei der Sache, wenn du ihn nicht noch misstrauischer machen willst, als er es ohnehin schon ist!“ riet ihr Victor mit ruhiger Stimme.
„Bitte erledige du das für mich, ok? Ich hab hier mit jemandem ein Hühnchen zu rupfen!“ zischte sie. Inzwischen war sie wieder außer sich vor Wut. Wie konnte dieser ungehobelte, sexbesessene Geist es wagen, zweimal an einem Tag in ihr Haus einzudringen?
Zweimal.
Sie hörte ihre Stimme, die Heito sagte, wo sich der Speicher befand. Noch immer stand sie wutentbrannt mit funkelnden Augen vor Lestard, um ihm die Abreibung seines Lebens – mehr oder weniger – zu verpassen.

„Wow, dein alter Busenfreund hat deine Stimme ja mächtig gut drauf, Süße. Nun, gewisse weibliche Hormone konnte der alte Lustmolch sowieso nie abstreiten. Macht dich das eigentlich an, wenn er dir mit deiner eigenen Stimme am Abend in dein kleines Öhrchen flüstert?“ Seine Art schürte ihre Wut ins schier Unermessliche.
„Was hast du hier verloren?“ fauchte sie ihm ins Gesicht und spielte mit dem Gedanken, ihn für immer aus diesem Haus zu verbannen. Eine Notwendigkeit, auf die sie aus verschiedenen Gründen nur im äußersten Notfall zurückgriff.
„Das würdest du nicht machen, Baby. Ich weiß das genauso gut wie du, nicht wahr, meine Hübsche?“
„Nenne mich nicht so, sonst lernst du meine dunkle Seite kennen, Freundchen!“ Sie musste sich beherrschen, leise zu sprechen. Heito konnte sie womöglich noch hören; zu viel stand auf dem Spiel.
„Weißt du, so gern ich das auch würde“, dabei leckte er sich genussvoll über seine Lippen, „ ich muss mich da leider noch um eine andere Sache kümmern! - Keine Angst, ich bin gleich wieder bei dir, Süße! Du kannst hier auf mich warten!“
Damit verschwand er aus ihrem Blickfeld, und Victor erschien beinahe gleichzeitig neben ihr.

„Alles in Ordnung mit dir, Asia? Du wirkst leicht...angespannt, wenn ich das so sagen darf.“
„Angespannt, … angespannt?“ Ihre Stimme wurde immer lauter.
All die Gefühle, Ängste, Sehnsüchte und Gedanken der letzten Wochen kamen an die Oberfläche und drückten mit solcher Macht gegen die Innenseite ihres Schädels, dass sie sie nur noch mühsam zurückhalten konnte. Ja, sie war wütend, sehr sogar, weil sie vor einer Situation stand, derer sie anscheinend nicht Herr werden konnte. Plötzlich hatte sie Angst vor einer Niederlage. Doch ihre Wut hatte schon Überhand genommen.
Sie war wütend, weil sie keine Liebe und kein Verständnis bekam, weil alle immer nur etwas von ihr wollten ohne bereit zu sein, etwas zu geben. Die ganze verdammte Welt war nur auf ihren eigene Vorteil aus!
Sie würde es alleine nicht mehr schaffen. Sie wollte es nicht mehr schaffen! Gott, wie sie das alles hasste! Ihr ganzes Leben kam ihr mit einem Mal nur noch vor wie ein großer Haufen Hundescheiße am Bürgersteig eines versifften Armenviertels. Gab es denn niemanden – menschlichen – für sie, der sie um ihrer Selbst willen zu schätzen wusste? Und ihre Gabe akzeptierte? Dieser verdammte Bastard hatte sie einfach sitzen lassen, war in einer Nacht und Nebel Aktion aus ihrem Leben verschwunden; hatte sich einen Scheiß darum gekümmert, wie es ihr dabei ging. Am liebsten hätte sie auf der Stelle alle Männer dieser Welt zur Hölle geschickt, wo sie dem Teufel höchstpersönlich den Arsch hätten küssen müssen.
Ihre Wut wuchs noch einmal an, bis sie es schlussendlich wirklich nicht mehr zurückhalten konnte. - Und dann war es plötzlich so weit; ihre Wut brach gierig nach Nahrung suchend aus ihr heraus.

Es gab ein kurzes Aufflackern, die letzte Warnung für niedrigere Anwesende, wenn es sie gegeben hätte, den Raum schnellstmöglich zu verlassen, und dann eine Explosion, die durch einen Blitz und dem gleichzeitigen Donner eher noch verstärkt als verschluckt wurde und,... Stille.
Angenehme, alles beherrschende Stille.
Und Dunkelheit.
„Gratuliere, Asia, du hast gerade mit einem einzigen Energiestoß das Stromnetz des gesamten Viertels lahm gelegt!“ Victor stand am Küchenfenster, als müsse er sich von der Richtigkeit seiner Aussage erst durch die visuelle Wahrheit überzeugen. Komischerweise schien er keineswegs verärgert zu sein, sondern eher – stolz?
Langsam ging er auf die schwer atmende Geistseherin zu.
„Ich sagte ja, du wirst immer mächtiger!“ Sein Grinsen reichte doch tatsächlich von einem Ohr zum anderen. Normalerweise musste sie sich nach solchen Auswirkungen auf die irdische Umgebung, die sie durch Kontrollverlust verursacht hatte, immer stundenlange Belehrungen von Konsequenzen und Regelbrüchen und weiß der Himmel was noch alles über sich ergehen lassen. Doch nicht dieses Mal.
„Ob er und Lestard etwas damit zu tun haben?“ schien er sich selbst zu fragen, obwohl er es aller Wahrscheinlichkeit nach genau wusste und damit nur Dorothea einen Denkanstoß geben wollte.
Er trat an sie heran und legte ihr beruhigend die Hand auf ihre bebenden Schultern.
„Alles wieder in Ordnung, Asia? Geht es dir besser?“ ein bisschen besorgt wirkte er nun doch.
„Ja, danke, es geht schon wieder...“ langsam normalisierte sich ihre Atmung, doch nur um sie im selben Moment wieder stocken zu lassen. Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte ihr Gehirn. Sie wurde bleich.
„Was hast du?... Oh nein, ihn hatte ich vollkommen vergessen!“ Er sah sie erschrocken an.
„Heito...Lestard ist zu ihm in den Keller hinunter, um...“ sie verzichtete darauf den Satz zu beenden und hastete zur Kellerstiege. Victor nahm eine „Abkürzung“, um noch schneller bei ihnen zu sein.


Kapitel 6

„Mein Name ist Lestard, Kumpel. Und ich überlege gerade, ob du mich auch so nennen darfst!...“

„Ich kann dich nicht hören, sowas gibt's nicht! Ich glaube nicht an Geister und dergleichen! Meine Mutter ist da der Ansprechpartner! Mit wem rede ich überhaupt? ...Sei still und versuch nach oben zu kommen, ohne dir den Hals zu brechen; das ist jetzt im Moment wichtiger!"
„Wen versuchst du zu überzeugen? Deinen geschulten Verstand, der dir weiß machen will, dass es uns nicht gibt? Ha! Du spürst es doch jeden Tag in dir! Wie wir um dich herum wandeln , dir zur Seite stehen so gut es geht, uns um dich kümmern und dir die richtigen Worte einflüstern! Ist das dein Dank an uns? Du versuchst uns zu ignorieren, wie all die anderen ach so gelehrten und geschulten Menschen, die die alten Wege ihrer Vorfahren leugnen und verdrängen? Statt dankbar zu sein über diese Gabe, und es ist eine Gabe wenn du sie zulässt, jammerst du hier herum und willst dich heraus winden wie ein kleiner Wurm? Mein Freund eines sage ich dir, es geht auch ganz anders!"
In Heito's Kopf fühlte es sich an als würde ein glühender Dorn in seine linke Gehirnhälfte getrieben!
„Na wie schmeckt dir das?"
„Hör auf damit, ich halte das nicht aus!" flehte Heito die Stimme an, während ihm Blut aus der Nase lief.
„Ich bin gerade nicht unbedingt in der Stimmung um aufzuhören!Ich werde Dir jetzt eine Lektion erteilen, die du dein Leben lang nicht vergessen wirst!"
Der glühende Dorn durchbohrte nun Heitos gesamtes Gehirn.
Gerade als er anfing mit seinem Leben abzuschließen, ließ der Schmerz mit einem mal nach.
Noch benommen von der Behandlung des Geistes, sah er - wie durch einen Schleier - Dorothea , erhellt von einem Blitz, der gerade über den Himmel zuckte, mit ausgestreckter Hand, so als würde sie ein Glas in der Hand halten, über die Stiegen herunter kommen.
Sie sprach mit einer Stimme, die ihm durch Mark und Bein fuhr.
„Lestard, was soll der Blödsinn, den du hier veranstaltest? Macht es dir Spaß einen Neuen zu quälen? Er kann noch nicht mal die einfachsten Verteidigungstechniken und du greifst ihn an?" „Bitte nicht Dorothea!" wimmerte Lestard „es war nicht ernst gemeint! Ich wollte ihn doch nur ein wenig erschrecken, um ihm zu zeigen, wie wirklich wir..." erstarb seine Stimme.
Dorothea hatte nun die Hand ganz geschlossen Die Wirkung auf Lestard war verheerend, er bekam kein Wort mehr heraus und die Qualen, die er litt, mussten fürchterlich sein.
„Bitte..."wimmerte er wieder.
Die Kraft und Autorität, die seine Stimme vorher zum Ausdruck brachte, waren nun komplett weg. Es schien als würde er um seine Existenz flehen.
Heito hatte sich ein wenig erholt und sah nun klarer,was nicht unbedingt ein Vorteil für seinen Verstand zu sein schien.
Dorothea wurde umgeben von einem Glühen, das aus ihr heraus zu kommen schien. Ihre Pupillen waren nicht mehr zu sehen und auch ihre Augen glühten weiß. Die Macht, die sie in diesem Moment ausstrahlte, sollte sich tief in seine Gedanken brennen - nie wieder vergaß er diesen Augenblick.
„Lass es gut sein, Dorothea, du kennst ihn doch."
Eine andere männliche Stimme, sie musste Victor gehören. Es war eine ruhige,tiefe und kultivierte Stimme, die es gewohnt zu sein schien, das man ihren Anweisungen Folge leistete.
Das Glühen um Dorothea würde schwächer und sie öffnete auch ihre Hand wieder, woraufhin auch Lestard wieder etwas sagen konnte.
„Es tut mir leid. Du kennst mein Temperament. Und wenn die Menschlein ihr Gabe nicht zu schätzen wissen, gehen mit mir schon mal die Pferde durch."
„Entschuldige Dich nicht bei mir, Lestard! Heito ist es, den du um Vergebung bitten musst!" fuhr sie ihn an.
Etwas widerwillig fügte sich Lestard ihrer Aufforderung.
„Heito, es tut mir leid! Wie ich schon sagte, mit mir sind die Pferde durchgegangen!"

Heito versuchte noch immer mit aller Gewalt diese ganze Situation zu verdrängen. Er kniete schon am Boden und hielt sich die Ohren zu. Es nütze jedoch nicht viel, denn die Stimmen kamen nicht von außen, sondern waren in seinem Kopf. Mit einem lauten Schrei versuchte er sie zu übertönen. Der Schrei jedoch hatte eine Wirkung, mit der er selbst nicht gerechnet hatte: es befreite ihn! Irgendetwas in ihm schien sich zu öffnen.
Ihm kam es vor, als hätte er jahrelang Ketten um seine Brust gehabt, die er nun mit diesem gewaltigen Schrei zu bersten brachte. Sein Hals brannte und er hatte schon fast keine Luft mehr in den Lungen, doch er wollte nicht, dass dieser Schrei endete. Es war einfach zu befreiend und berauschend.
Ihm kam es fast unendlich vor, bis seine Stimme endgültig versagte und mit einem Krächzen ganz verstarb. Tränen liefen ihm über das Gesicht, denn er spürte die Veränderung in sich.

Er fühlte sich wie... neugeboren!

Er sah sich um und stellte fest, dass auch seine Wahrnehmung nicht mehr die gleiche war.
Alles war irgendwie verschleiert und er nun sah nicht nur Victor und Lestard, sondern auch viele andere in dem Raum. Alles bewegte sich langsamer, behäbiger. Sein Verstand suchte nach einem passenden Vergleich. Ja, es war fast so, als würde man in Götterspeise eingegossen sein. Er hörte auch die Stimmen von weit entfernt zu ihm durchdringen.Vom Gewitter, das vorher noch mit brachialer Gewalt draußen gewütet hatte, war hier auch nichts zu hören.
Um ihn herum standen junge, alte Frauen als auch Männer und...Dinge. Sie zeigten sich ihm nicht ganz - sie waren irgendwo am Rand seiner Wahrnehmung, was sie jedoch absichtlich zu machen schienen.Wenn er versuchte, sich besser auf sie zu konzentrieren, zogen sie sich nur noch weiter zurück.
Ihm kam vor, als würde er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einmal sehen, wodurch ihm schwindelig wurde.
„Heito? Heito!"
Dorotheas Stimme kam ihm wieder einmal - das zweite Mal an diesem Abend - wie ein rettender Anker zu Hilfe.
„Konzentriere dich auf meine Stimme! Versuche, ihr zu folgen!"
So, wie sie sagte, konzentrierte er sich und folgte der Stimme. Langsam wurde seine Wahrnehmung wieder normal. Die Personen verschwanden und auch dieses schwere Gefühl verflog, bis er wieder das Gewitter draußen wüten hörte, um ihm die Bestätigung zu geben, dass er wieder ganz in seiner Realität war.
„Wie fühlst du dich?" fragte sie besorgt, während sie an ihn heran trat. Als er sie ansah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck von Besorgnis in.... Erstaunen.


Kapitel 7


Als sie an der Kellerstiege ankam, sah sie wie Lestard Heito gerade eine Gehirnzange ansetzte, die normalerweise dazu diente, aus jemandem die Wahrheit heraus zu drücken. Dass sie das nicht zulassen konnte, war klar, und sie freute sich geradezu darauf, Lestard jetzt endlich Schmerzen zufügen zu dürfen. Gekonnt nahm sie ihn in die Mangel, überrascht, dass er trotz ihrem vorherigen Energieverlust anscheinend höllische Qualen erlitt.
Dabei hatte sie nur einen mittelmäßigen Zauber gewählt.
Komisch... normalerweise waren die Auswirkungen nicht so verheerend.
Victor stoppte ihren Rausch mit seiner beruhigenden Stimme und dem Umstand, dass er ihren wahren Namen benutzte. Sofort ließ sie von Lestard ab, immer noch perplex, was eigentlich gerade geschehen war.
„Was...“ begann sie.
„Ruhig jetzt, Asia. Konzentriere dich auf Heito, er wird dich gleich brauchen!“
Victor hatte wieder seine Rolle als Lehrmeister übernommen, Lestard wand sich am Boden, er würde noch eine Weile außer Gefecht sein, und Heito,...ja, was passierte mit ihm?
Er kniete auf dem Boden und hielt sich die Ohren zu. Rings um ihn herum begannen plötzlich sämtliche Geister und Wesen der oberen Ebenen zu erscheinen, so als wollten sie Zeugen eines großen Spektakels werden. Dorothea wurde die Sache immer unheimlicher – sie zeigten sich normalerweise keinen, der sie nicht sehen durfte. Gerade als sie sich dazu entschloss, Heito zu Hilfe zu eilen, hielt Victor sie am Arm zurück.
„Bleib, wo du bist, Asia! Da muss er jetzt alleine durch. Erinnere dich an deine Ernennung!“
„Ernennung? Willst du damit sagen, dass...?“
Heitos Schrei ließ ihre Frage unausgesprochen.
„Jetzt ist es soweit. Jetzt wird sich zeigen, wie stark er wirklich ist!“ meinte Victor und konnte seine eigen Neugierde nicht mehr verbergen.
Und auch Dorothea blieb nun erwartungsvoll abwartend vor Heito stehen, um ihn im richtigen Moment den Weg zurück zu weisen. Sein Schrei schien Äonen zu dauern – die Kraft in ihm musste eine gewaltige sein. Sie bekam eine Gänsehaut und versuchte sich zu erinnern, wie lange damals ihr eigener gedauert hatte. Und dann bekam sie plötzlich Mitleid mit Heito. Er war in ihrem Alter, das hieß er schleppte diesen inneren Aufruhr jetzt schon so lange mit sich herum. Sie war bei ihrer Ernennung gerade mal sieben gewesen, bei ihrer zweiten immerhin erst 14. Es verblüffte sie, wie lange ein Mensch mit diesen Qualen anscheinend doch überleben konnte. Heito hielt ihr vor Augen, wie gut es ihr im Gegensatz zu ihm doch gehen musste. Und sie hatte nichts anderes im Sinn gehabt als tagtäglich darüber nach zu denken, wie schlecht es ihr doch ging.
Victor las ihre Gedanken und schenkte ihr ein einfühlsames Lächeln.
„Du warst damals allein, er hatte...“
Plötzlich verstummte Heitos Schrei.

Jetzt kam die entscheidende Phase. Würde er es schaffen oder sein Verstand für immer in der Zwischenwelt gefangen bleiben?
„Mach dich bereit, Asia! Gleich ist es soweit!“
Sie gab ihm die kurze Gelegenheit, die anderen zu sehen, bevor sie ihm mit ihrer Stimme in seine Wirklichkeit zurück zu führen versuchte.
Und...
Er schaffte es!
Behutsam kniete sie sich vorsichtig zu ihm nieder.
„Wie fühlst du dich?“
Und als sie nun in seine Augen sah, wusste sie, dass er allein es war, der ihr Leben ab jetzt verändern würde.
„Du bist ein anderer geworden, das sehe ich ganz deutlich in deinen Augen. Du hast die Grenze in die zweite Welt ganz allein und ohne Hilfe überschritten. Manche Geistseher schaffen das nicht mal nach Jahren von Training.“ Sie richtet sich vor ihm auf, als wollte sie ihm einen Preis überreichen.

„Du bist gewachsen, du lässt nun zu, was du vorher zu unterdrücken versucht hast. Du wurdest neu geboren! Willkommen in unserem Kreis, Heito, Geistseher!“


Fortsetzung folgt...(wenn erwünscht ;) )


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

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