Kapitel 1 – Ein Schultag wie jeder andere
Die Mittagspause. Eine weitere Hürde, die es in dem Versuch ein vollkommen normales und psychisch gesundes Mädchen darzustellen, zu bezwingen galt. Zwar war sie nach den ersten sechs Schulstunden, in denen ich doch nur versuchte so unauffällig wie möglich zu sein, eine willkommene Abwechslung. Aber es war eine Herausforderung, wenn die beste Freundin sich gerade verliebt hatte, einem vorschwärmte wie gut sie sich mit ihrem Auserwählten verstand und dass sie sich ja sogar fast geküsst hätten, und dann von einem erwartet wurde, dass man brav zuhört und begeisterte Kommentare zu jedem Detail abgibt, welche den gemeinsamen Abend ausgemacht haben.
Dass wir eigentlich noch ein gemeinsames Schulprojekt vor uns hatten, um das wir uns am Wochenende kümmern wollten, verschwieg ich, als sie mir frohlockend von dem geplanten nächsten Treffen an eben jenem Wochenende erzählte, da ich damit sowieso nur als Spielverderberin gegolten hätte. Außerdem wollte ich nicht, dass sie mir vorschlug, dass ich dann schon mal alleine anfangen könnte und sie dann bestimmt nachkäme, was sowieso nicht passieren würde.
Mir war schon klar, wie das im Endeffekt laufen würde. Sie würde sich mit ihrem neuen Schwarm treffen, vergnügen und wenn alles glatt lief, würde sie sich sowieso nicht früher als nötig aus seinem Bett quälen, geschweige denn noch irgendwas für die Schule tun. Somit würde das wohl wieder mal an mir hängen bleiben.
Ich dachte gerade an die kühle Pausenhalle und wie gerne ich jetzt dort sitzen würde, als Lena mir unsanft ihren Ellenbogen in die Seite stieß.
„Hörst du mir überhaupt zu, Natasha???“ Ihre Stimme war wie immer zu einem vorwurfsvollen Ton erhoben. „Oder bruzzelt dir die Sonne mal wieder Alles weg? Du bist doch selbst daran Schuld, wenn du jeden Tag mit diesen total langen Pullis hierher kommst, wenn es schon fast 30°C sind…“
Ich schaltete automatisch wieder ab. Jetzt kam wie immer ein langer Vortrag darüber, dass ich aus mir doch so viel machen könnte, ich müsste mich nur nicht hinter meinen dunklen, unvorteilhaften Klamotten verstecken etc. etc. etc.
Ich sah sie an und versuchte so gut es ging nicht durch sie hindurchzusehen und den Eindruck zu machen, dass ich ihr diesmal wirklich zuhörte. Dabei schlichen sich wieder die altbekannten Erinnerungen in meinen Kopf. Wir beide, gemeinsam in meinem Bett. Uns tief in die Augen schauend, uns gegenseitig streichelnd, nichts von unserer Umwelt mitbekommend.
Ich versuchte mich zusammenzureißen. Das war längst Vergangenheit. Für Lena auf jeden Fall. Wir waren beide 14 gewesen und Lena hatte nur Erfahrungen sammeln wollen, bevor das dann mit den Jungs richtig los ging. Das war jetzt schon drei Jahre her, aber irgendwie hatte ich es nie vollständig aus meinem Kopf bekommen. Ich hatte mich damals eindeutig in sie verliebt, war aber viel zu ängstlich gewesen, um es ihr zu beichten.
Mir war schon zu diesem Zeitpunkt klar gewesen, dass das alles grundlegend geändert hätte. Schließlich waren wir schon seit dem Kleinkindalter miteinander befreundet gewesen. Außerdem hatte sich auch noch die feste Überzeugung bei mir verankert, dass diese Gefühle sowieso unnormal waren. Dass ich unnormal war. Also blieb es mein eigenes kleines Geheimnis und ich hatte es immer weiter geschafft die Gefühle zu verdrängen, bis sie nur noch ein hin und wieder leise pochendes Etwas im Hintergrund waren, dass sich nur noch sehr selten an die Oberfläche empor kämpfte.
„Jetzt komm schon!!! Die Pause ist vorbei oder siehst du neuerdings auch noch schlecht?“
Ich blinzelte verwirrt und schaute auf, als ich bemerkte, dass Lena schon ungeduldig vor mir stand und mich genervt anschaute.
„Also manchmal bist du echt nervig, Natasha…“
Sie wartete gar nicht erst auf eine Reaktion von mir, sondern drehte sich um und ging in Richtung unseres Schulgebäudes.
Ich war gerade aufgestanden, um ihr hinterher zu laufen, als mich jemand am Arm festhielt.
„Hallo Tasha…“ Ich drehte mich mit einem, schon leicht genervten, Blick um, der sich jedoch sofort wieder entspannte, als ich Alex vor mir stehen sah.
Alex war schon zwei Stufen über mir in der 12. Klasse und ich hatte ihn vor ca. einem Jahr kennengelernt. Damals hatte er mir recht eindeutig zu verstehen gegeben, dass er an mir interessiert war, was ich aber weder nachvollziehen konnte, noch in irgendeiner Form erwiderte. Ich hatte ihm das auch ziemlich schnell so sanft wie möglich zu verstehen gegeben, was ihn aber nicht weiter abgeschreckt hatte. Seitdem hatte er sich in dieser Richtung etwas zurückgenommen, ließ es sich jedoch nicht nehmen, mit mir zu reden, wenn er mich in der Schule traf oder wenn es sich im Internet ergab.
Ich hatte die Gespräche mit ihm wirklich zu schätzen gelernt und wir waren über die Zeit hinweg eigentlich schon recht gute Freunde geworden. Auch wenn es mir jedes Mal einen Stich von Schuldgefühlen versetzte, wenn er sich wieder anmerken ließ, dass er sich doch immer noch mehr mit mir vorstellen konnte. Aber ich konnte und wollte einfach niemanden auf diese Art und Weise in mein Leben lassen. Das würde nur alles verkomplizieren und mit meinem kaputten Leben sowieso nicht funktionieren.
„Hey Alex. Hast du keinen Unterricht mehr?“
Er schüttelte nur den Kopf und sah sich dann um.
„Wenn ich dich dazu bringe zu spät zum Unterricht zu kommen, tut es mir Leid. Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht und so…“
Ich lächelte leicht. Alex war eigentlich ein typischer Mädchenschwarm. Groß, gut gebaut, kurze schwarze strubbelige Haare und so blaue Augen, dass sie einem sofort ins Auge fielen und man sich bestimmt darin verlieren konnte, wenn man es darauf anlegte. Aber wenn er mit mir redete, wurde er immer ein wenig schüchtern und unsicher.
„Nein nein, wir haben in der nächsten Stunde sowieso nur Ethik. Du weißt doch: Der Lehrer kommt ständig zu spät und wenn er dann mal da ist, fällt ihm sowieso nicht auf, wenn jemand fehlt.“
Alex grinste mich an und legte mir spielerisch einen Arm um die Schultern.
„Ja, da hast du wohl Recht. Lust irgendwohin zu gehen?“
Ihm leicht in die Seite boxend, wand ich mich vorsichtig aus seiner halben Umarmung und streckte ihm die Zunge raus.
„Nur, weil der Lehrer es nicht merkt, wenn man fehlt, heißt das nicht, dass ich auch fehlen werde. Außerdem kann ich mir doch unmöglich entgehen lassen, wie Lena weiter von „eurem“ Daniel schwärmt.“
Ich verdrehte die Augen und er zuckte mit den Schultern.
„Er lag mir heute auch ziemlich damit in den Ohren. Aber ich glaube, als Typ habe ich da das leichtere Los als bester Freund, da nach ein paar Sätzen und ein bisschen Angeberei auch schon Schluss damit ist und man sich wieder anderen Themen zuwendet. Ich kenne Lena ja nicht so gut, aber ich will mir gar nicht vorstellen, mit was die dir alles die Ohren voll sülzt, wenn schon Daniel eine geschlagene halbe Stunde damit zugebracht hat mich ins Bild zu setzen.“
Ich seufzte theatralisch.
„Eine halbe Stunde. Das wäre der Himmel auf Erden. Ich kann froh sein, wenn ich mit einem 5-Stunden-Bericht über jedes einzelne Detail davon komme. Auf die nächsten Tage bis zum Wochenende verteilt versteht sich. Und da sie sich am Wochenende ja schon wieder sehen wollen, wird es nächste Woche bestimmt aufs Gleiche hinaus laufen. Aber ich hoffe, dass hat sich nach den ersten paar Treffen dann auch bald gelegt.“
Ich hörte hinter uns eine Tür zufallen und wurde mir erstmal wieder meiner Umwelt bewusst. Ich schaute mich um und bemerkte, dass der Schulhof jetzt wirklich fast komplett leer war, abgesehen von Alex und mir. Mit Alex war es immer einfacher geworden einfach mal alles zu vergessen, ein bisschen zu reden, ein bisschen rumzualbern. Wie zwei normale Leute eben. Er gab mir gewissermaßen einen Ausgleich zu meinem sonst so verkorksten Leben.
Ich musste mich wieder in die Wirklichkeit zurückrufen, da ich ihn wohl ziemlich angestarrt hatte und er nun etwas verwirrt die Augenbrauen hob. Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte mich zum gehen. Nach ein paar Schritten wurde mir dann doch klar, dass es vielleicht etwas seltsam rüber kommen könnte, wenn ich mitten in einem Gespräch ihn einfach anstarrte und dann ging. Weshalb ich mich dann doch noch mal umdrehte, um mich zu verabschieden.
„Jetzt wird es aber doch langsam spät. Ich mach mich auf den Weg. Wir sehen uns dann. Entweder im Internet oder die Tage hier.“
Er schaute mir zwar lächelnd hinterher und winkte zurück, als ich die Hand zum Gruß hob, aber seinem Blick sah man doch an, dass er etwas enttäuscht war. Deshalb drehte ich mich dann auch ganz schnell um und lief zum Klassenraum.
Beim Klassenraum angekommen, atmete ich erst noch einmal tief durch, bevor ich die Tür öffnete und hinein schielte. Da aber alle noch im Raum herumliefen und sich lauthals unterhielten, öffnete ich die Tür ganz und schlüpfte hinein und zu meinem Sitzplatz neben Lena. Die war allerdings gerade ganz vertieft in ein Gespräch mit Charlotte, bei welchem sie ihr gerade berichtete wie wundervoll doch Daniels blaue Augen waren.
„Nicht so toll wie die von Alex.“ Es rutschte mir ohne mein wirkliches Zutun heraus, allerdings so leise, dass die beiden es gar nicht verstanden hatten. Tolle Augen? Ich war etwas verwirrt über mich selbst. Aufgrund der dahin genuschelten Aussage meinerseits drehte sich Lena auch gleich mit fragendem Blick zu mir um.
„Da bist du ja endlich. Hast du gerade was gesagt?“
Während Lena auf mich konzentriert war, trafen sich kurz die Blicke von Charlotte und mir. Lena versuchte mich zwar immer zu überzeugen, dass Charlotte gar nichts gegen mich hatte und ich mir das nur einbilden würde, aber ich wusste es besser. Ihren Blick konnte man als nichts anderes als nur schwer versteckte Arroganz und Abscheu deuten. Ich hatte dem Mädchen nie etwas getan, aber irgendwie hatte sie mich schon immer im Visier.
Ihr gefiel es nicht, dass Lena so relativ viel Zeit mit mir verbrachte und nachdem Alex Interesse an mir gezeigt hatte, war es sowieso mit jeglicher vorgetäuschter Freundlichkeit vorbei gewesen.
Sie war die Schwester von einem von Alex besten Freunden Patrick und hatte nie wirklich einen Hehl daraus gemacht, dass sie auf dessen Kumpel stand. Somit war ich ihr ein einziger Dorn im Auge, der am besten so schnell wie möglich gezogen werden sollte.
„Nein, ich habe nichts gesagt. Ich habe nur fasziniert eurem Gespräch gelauscht.“
Charlotte verzog das Gesicht zu einer recht unvorteilhaften Fratze und brachte es fertig dabei auch noch blöde zu grinsen.
„Natürlich hat die was gesagt. Irgendwas über Alex, wenn ich das richtig verstanden habe. Die denkt doch, dass sie mit ihm ‚so’ wäre.“ Sie hob die Hand mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger.
Lena schaute mich fragend an.
„Also was war jetzt mit Alex?“
„Ach gar nichts. Ich meinte nur, dass seine Augen auch ganz cool sind.“
„Jaja, Alex hat schon coole Augen. So’n krasser Kontrast zu seinen Haaren. Aber es war sooo toll, als David mich mit seinen wundervollen braunen Augen so lieb angeschaut hat und so.“
Ich lächelte leicht, während Lenas Ausführungen über Davids Aussehen weitergingen.
Aber kurz darauf kam dann auch endlich unser Lehrer, Herr Wirth, in den Raum. Lena setzte sich schnell neben mich.
„Diese wundervolle Gestalt… Und wie immer so schick gekleidet.“ Ihre Stimme triefte geradezu vor Sarkasmus.
Herr Wirth trug ein giftgrünes T-Shirt und eine enge beige Hose, die keinerlei Platz für Fantasien ließ, die bei diesem Lehrer sowieso vollkommen fehl am Platze waren. Aber es war schon etwas ekelhaft, wie derb dieser Lehrer einem seine, nicht besonders angenehmen, Tatsachen förmlich aufzwang.
Ich musste meinen Blick zwingen sich auf eine andere Stelle des Raumes zu richten. Es war wie ein Autounfall. Es ist schrecklich anzusehen, aber die Blicke werden magisch davon angezogen, sobald es einem einmal ins Auge gesprungen ist.
Als der Unterricht endlich angefangen hatte, gab es genug Gründe meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden, da es mal wieder so langweilig wurde, dass meine Gedanken automatisch abschweiften und mein Blick sich nur ins Leere richtete.
Sie fingen an um übliche Dinge zu schwirren und blieben diesmal bei dem Blick hängen, mit dem Alex mir hinterher gesehen hatte. Ich presste meine Lippen unwillkürlich zu einer dünnen Linie zusammen, wenn ich mir vorstellte, dass es ihm wegen mir schlecht ging.
Ich hatte zwar noch nie verstanden, warum Alex überhaupt auf mich stand, aber spätestens nachdem ich ihm das gesagt hatte, hatte er solange auf mich eingeredet, dass ich es zumindest ansatzweise geglaubt habe.
Ich konnte mich noch gut an dieses Gespräch erinnern. Als es mir langsam unangenehm geworden war, dass er mich am Anfang jeder Pause vom Klassenraum abgeholt hatte und unbedingt Zeit mit mir verbringen wollte. Und manchmal war er sogar mit kleinen Blümchen oder solchen Sachen angekommen. An einem dieser Tage hatte er mir eine große und zugegebenermaßen wunderschöne rote Rose mitgebracht. Ich hatte mit großen verwirrten Augen zu ihm aufgesehen (da er mindestens 15cm größer war als ich) und dann war mir die Frage rausgeplatzt.
„Was findest du eigentlich an mir? Bitte, guck mich doch mal an! Ich bin so was von durchschnittlich, wenn überhaupt. Ich bin nicht besonders hübsch, nicht besonders sportlich, nicht besonders klug-“
Er hielt mir den Mund mit einer Hand zu und schüttelte lachend den Kopf.
„Du hast ein vollkommen falsches Bild von dir. Sieh mal… deine langen, leicht gelockten schwarzen Haare, dazu diese großen grünen Augen, die du manchmal so umwerfend in Szene bringst, wenn du deinen Kajal einsetzt… deine vollkommen symmetrisch geschwungenen Lippen, die nicht zu aufgeblasen wirken, aber auch absolut nicht zu dünn sind… mal ganz abgesehen davon, dass du wundervolle Proportionen hast. Deine langen Beine, die dünne Taille und dann erst deine Brü-“
Diesmal unterbrach ich ihn etwas unwirsch.
„Jaja, ist in Ordnung, ich hab’s verstanden!“
Ich musste leicht vor mich hin grinsen, als ich mich daran erinnerte. Noch am selben Tag hatte ich mich zu Hause vor den Spiegel gestellt und versucht dieselben Vorzüge im Spiegelbild zu sehen, die er mir nur wenige Stunden zuvor angepriesen hatte. Es war mir nicht wirklich gelungen. Klar, meine Augen waren schon ganz nett. Aber doch nichts Besonderes. Und schwarze, gelockte Haare gab es doch wie Sand am Meer.
Aber auch wenn ich es selbst nicht sehen konnte, hatte er doch überzeugend genug gesprochen, dass man ihm abnahm, dass er es so sah.
Aber das alles machte es eben nicht besser. Eher schlimmer. Hätte ich mir wenigstens erfolgreich einreden können, dass er gar nicht wirklich auf mich steht, sondern nur die Herausforderung und das Ungewöhnliche sucht, hätte ich mir genauso gut einreden können, dass es ihm somit auch nichts ausmachte, wenn ich ihn abblitzen ließ. Aber so war es eben nicht. Und auch wenn er versuchte es zu verstecken, sah man es ihm doch immer wieder an.
Ich biss mir auf die Lippe, während ich mich mal wieder selbst dafür verfluchte überhaupt auf dieser Welt zu sein. Ich wollte niemandem weh tun. Vielleicht sollte ich versuchen ihm in nächster Zeit ein bisschen mehr aus dem Weg zu gehen. Beim Gedanken daran, fühlte ich mich zwar hundeelend, aber unter Umständen, würde es ihm auf Dauer besser damit gehen.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie meine rechte Hand langsam meinen linken Ärmel hochgeschoben hatte und meine relativ langen Fingernägel gerade ansetzen wollten, als Herr Wirth mich mit durchdringender Stimme bat, doch bitte seine Frage zu beantworten.
Ich zuckte zusammen und ließ sofort meinen Ärmel an seinen angestammten Platz zurück rutschen. Meine Gedankenreisen waren manchmal wirklich lästig, besonders, wenn ich dabei so tief versunken war, dass ich mich nicht mehr an meinen Grundsatz „Nicht in der Schule!“ hielt.
Da ich die Frage unseres Lehrers natürlich nicht mitbekommen hatte, starrte ich ihn nur leicht dümmlich an und versuchte mir eine passende Antwort einfallen zu lassen. Offenbar zu langsam, da einige aus der Klasse schon zu kichern anfingen und Herr Wirth nur resigniert seufzte.
„Sie sind doch 17 oder Natasha?“
Ich nickte nur stumm, da ich nicht wusste, worauf er mit so einer Frage nun hinaus wollte.
„So jung und schlafen schon mitten am Tag mit offenen Augen…“ Er schüttelte den Kopf.
„Das ist das letzte Mal, dass sie in meinem Unterricht ihre Luftschlösser bauen. Sollte das noch mal passieren, beantrage ich eine Verwarnung, damit das klar ist. Ach und an den Rest der Klasse: Da mein Unterricht wohl nicht verständlich und interessant genug gestaltet ist, damit mir zugehört wird, nehme ich meine Aussage von gerade eben zurück und ihr dürft keine viertel Stunde früher gehen. Stattdessen dürft ihr euch solang mit einem Partner zusammen überlegen, über welches Thema ihre eine Stunde lang referieren könnt und zwar so, dass niemand einschläft.“ Er sah mich scharf an und ich sank in meinem Stuhl zusammen.
Die ganze Klasse warf mir bitterböse Blicke zu und selbst Lena schaute mich total genervt an.
„Mensch Natasha, jetzt hast du ja mal wieder den Vogel abgeschossen.“
Meine Hoffnung, dass ich mit ihr das Referat machen könnte, schwand dahin, als sie sich gleich darauf zu Charlotte umdrehte und sie fragte, welches Thema sie denn gerne vortragen würde. Ich schaute mich etwas verzweifelt um und da räusperte sich Herr Wirth direkt neben mir, sodass ich schrecklich zusammen zuckte und mit großen Augen zu ihm aufsah.
„Bevor ich es vergesse: Sie müssen natürlich kein Referat halten, da sie dabei wahrscheinlich auch noch wegnicken würden.“ Mit diesen zuckersüßen Worten wandte er sich wieder ab und ging nach vorne zum Lehrerpult. Der Mann konnte es einfach nicht leiden, wenn ihm nicht bedingungslose Aufmerksamkeit geschenkt wurde, da er sich selbst anscheinend auch verdammt wichtig nahm. Und somit war ich bei ihm schon lange auf der roten Liste. Wahrscheinlich war er in seinen Unterrichtsstunden auch viel zu beschäftigt mit seiner eigenen Herrlichkeit um wahrzunehmen, ob sich manche Schüler überhaupt die Mühe gemacht hatten zu erscheinen. Hätte ich Alex’ Angebot doch bloß angenommen.
Meine Laune hatte nun also wirklich ihren Tiefstand erreicht und ich rieb mir immer wieder mit ziemlichem Druck über den Ärmel meines linken Unterarmes. Warum musste das nur immer so schrecklich anfangen zu jucken, wenn ich in unangenehmen Situationen gefangen war? Da es nach kurzer Zeit leicht zu brennen anfing, war mir klar, dass ich mir garantiert wieder Teile davon aufgerubbelt hatte, aber das war mir in diesem Moment auch egal.
Ich wartete nur noch angespannt auf das erlösende Blinken, welches das Ende der Stunde ankündigte und sprang auch sofort aus meinem Stuhl hoch und rannte mit meinen Sachen halb aus dem Klassenraum, als es endlich soweit war. Bloß weg hier…
Kapitel 2: Hilf mir!?
Als ich in aller Eile nach draußen lief, bemerkte ich zunächst nicht, dass es in Strömen regnete. Alles was ich wollte, war so schnell wie möglich von der Schule wegzukommen. Aber nach einigen Schritten überkam mich ein Gefühl der Trostlosigkeit. Als würde ich es zu Hause auch nur einen Deut leichter haben. Ich dachte an meine Mutter und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wie es ihr heute wohl ging?
Tief in Gedanken versunken war ich weiter gelaufen und hatte kaum auf mein Umfeld geachtet. Die Tränen, die mir die Wangen hinunter liefen, ignorierte ich. Es regnete sowieso und wer würde schon genug auf mich achten, um sie auf meinem Gesicht zu bemerken?
Ich hob gerade den Kopf, um mich umzusehen, da lief ich auch schon in die erstbeste Person. Fast wäre ich auf dem nassen Boden ausgerutscht und hingefallen, aber zwei starke Arme packten mich an den Schultern und hielten mich aufrecht.
„Wie immer am Träumen, hm, Kleine?“
Ich verzog bei den Worten leicht das Gesicht, versuchte jedoch ein Lächeln herauszubringen, da die Stimme mir offenbart hatte, um wen es sich unter der dunklen Kapuze handelte. Alex konnte schließlich nicht wissen, dass eben diese Träumereien mich nur kurz vorher mal wieder in Schwierigkeiten gebracht hatten.
„Hey…“ Meine Stimme brach schon an diesem einen kleinen Wort und Alex runzelte die Stirn, als er zu mir hinunter schaute. Er hob die Hände und wischte mit den Daumen knapp unter meinen Augen die Tränen weg, die sich dort mit dem Regen vermischt hatten.
Er schaute mich mit einem fragenden Blick an, der aber auch voll einem Gefühl war, dass eigentlich mein eigenes widerspiegelte. Schmerz. Doch warum sollte er so fühlen, nur weil es mir schlecht ging? Bestimmt war vorher etwas anderes vorgefallen. Denn dieser Schmerz in seinen Augen vermischte sich mit einer so offensichtlichen Wut, dass ich fast einen Schritt zurückgewichen wäre.
Ich versuchte seinem Blick auszuweichen, doch er hielt mit einer Hand mein Kinn fest, sodass ich keine Möglichkeit hatte den Kopf wegzudrehen.
„Was ist los?“ Seine Stimme war nicht viel mehr als ein Hauch. Ein leises Flüstern. Doch es ließ die Dämme brechen.
Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen und während diese sich ihren Weg durch mein längst total nasses Gesicht bahnten, zog Alex mich ohne ein weiteres Wort an sich ran und so standen wir bestimmt zehn Minuten lang einfach nur im Regen, meine Schluchzer an seiner Brust erstickt.
Der Regen hatte nicht nachgelassen, als mein Schluchzen endlich abebbte und ich mich langsam von ihm löste. Ich sah ihn nicht an, da mir dieser Ausbruch doch mehr als nur ein bisschen unangenehm war. Was hielt er jetzt nur von mir?
„Komm, setzen wir uns erstmal in mein Auto, da hab ich eine Heizung und ich glaube, die kannst du gebrauchen, so durchnässt wie du bist und so sehr wie du zitterst.“
Erst in diesem Augenblick merkte ich, was er meinte. Mein ganzer Körper bebte und mir liefen immer wieder eiskalte Schauer über den Rücken. Aber ich konnte mich doch nicht einfach weiter aufdrängen und schließlich musste ich auch nach Hause.
„Ich denke, ich sollte mich doch jetzt lieber auf den Nachhauseweg machen…“
Ich wollte mich schon gerade zum Gehen wenden, da hielt er mich noch mal fest.
„Ich mein, ich kann verstehen, wenn du dir was Trockenes anziehen willst und dir das jetzt zu viel ist, aber willst du die Nachhilfe bei Frau Grimm etwa einfach schwänzen?“
Da schaute ich dann doch hoch.
„Du hast Recht… Das habe ich ja schon wieder vollkommen vergessen.“
Ich seufzte schwer. Es war eine verlockende Aussicht die Stunde einfach sausen zu lassen. Aber Frau Grimm war eine total nette Lehrerin. Ehrlich gesagt sogar die Einzige, die mich wirklich mit Respekt und sogar ehrlich gemeintem Wohlwollen behandelte. Enttäuschen wollte ich sie also auch nicht.
„Meine Heizung im Auto ist wirklich schnell total warm. Da kannst du dann richtig trocken werden und bist dann auch bereit dir ein bisschen Mathe ins Hirn eintrichtern zu lassen.“
Er zog mich langsam mit sich und ich ging ohne mich weiter zu wehren mit ihm. Das war vielleicht wirklich die beste Lösung. Zumal die Nachhilfe bereits in einer halben Stunde stattfand und die Zeit kaum ausreichen würde noch mal nach Hause zu gehen.
Wir hielten vor einem schwarzen Mercedes, der aussah wie frisch aus dem Werk. Ich sah von dem Auto zu ihm mit großen Augen, aber er öffnete mir nur mit steinerner Miene die Beifahrertür und ich ließ mich langsam auf den Sitz sinken.
„Versau ich dir nicht das Leder, wenn ich mich so nass hier rein setze?“
Unbehaglich schaute ich mich um, nachdem er auch eingestiegen war. Solchen Luxus war ich nicht mehr gewohnt. Meine Mutter besaß zwar ein Auto, aber ich war die letzte Person, die sie damit herumfahren würde und auch sonst hatte ich nur hin und wieder bei meinem Vater in einem solch offensichtlich0 teurem Wagen gesessen.
„Ach, du versaust hier gar nichts. Außerdem kann man das alles auch wieder reinigen oder neu beziehen lassen, dass ist es mir wert.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich ihn an.
„Woher hast du diesen piekfeinen Schlitten überhaupt? Geklaut?“
Alex schaute plötzlich ziemlich düster drein und fummelte an der Konsole herum. Ohne mich anzuschauen, meinte er dann nur sehr leise, dass er Geld geerbt hätte. Die Aussage, dass das sehr viel Geld gewesen sein musste, behielt ich für mich. Erstens war das einfach zu offensichtlich und zweitens war er auf dieses Thema wohl nicht sonderlich erpicht.
Nach ein paar Minuten Schweigen und weiterem Werkeln an der Konsole seinerseits, ertönte schließlich leise im Hintergrund Musik, die mir wage bekannt vorkam. Eine melodische männliche Stimme, die zu so etwas Ähnlichem wie Rockmusik sang. So ganz einzuordnen wusste ich es jedoch nicht.
„Was ist das?“ Ich schaute ihn fragend an. Irgendwie hätte ich ihm so eine Art von Musik gar nicht zugetraut. Seine ganzen Freunde schienen eher die HipHop und Rap Typen zu sein. Eher harte Bässe, als weiche Klänge.
„HIM… Das Album ‚Razorblade Romance’… Der Titel erinnert mich irgendwie an dich. Eigentlich muss ich bei dem ganzen Album immer an dich denken. Deswegen höre ich das auch die ganze Zeit.“
Er schaute mich mit seltsam dunklen Augen an, während er meine Reaktion abzuschätzen schien. Allein bei dem Wort ‚Razorblade’ war ich innerlich schon zusammen gezuckt, aber bei seiner Bemerkung danach hatte ich das Gefühl, dass mir jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Wie viel wusste dieser Kerl, von Sachen über die ich ihm eigentlich gar nichts erzählt hatte? Über die er gar nichts wissen durfte!?
Als ich nach einigen Augenblicken immer noch nicht geantwortet hatte und nur wortlos auf die Konsole gestarrt hatte, auf der die einzelnen Titel der Lieder angezeigt wurden, schaute er schließlich wieder geradeaus.
„Tut mir Leid, wenn ich dir damit zu nahe getreten sein sollte. Ich wollte dir nur sagen, wie es ist und nicht irgendwas vor dir verheimlichen.“
Ich schluckte schwer. Manchmal wäre es mir fast lieber, wenn er mehr vor mir verheimlichen würde. Wenn er seine Gefühle mir gegenüber nicht immer so deutlich zeigen und aussprechen würde. Aber ich sollte nicht so egoistisch sein. Schließlich konnte er nichts dafür, wie er fühlte. Ihm deswegen Vorwürfe zu machen und selbst wenn sie nur in meinem Kopf stattfanden, war ihm gegenüber absolut nicht fair. Nur weil ich meinem Umfeld immer alles verschwieg und niemanden in mich hineinschauen ließ, hieß das nicht, dass andere das ebenso handhaben mussten.
Erkennend, dass ich immer noch schweigend da saß und er langsam denken musste, dass ich gott-weiß-was von ihm hielt, versuchte ich eine anständige Antwort zu formulieren.
„Ähm… nein, nein… ist kein Ding. Ich war nur etwas überrascht, sonst nichts. Ich…“
‚Ich hab mich nur gefragt, ob du Dinge über mich weißt, die du nicht wissen solltest?’ Das konnte ich ihm wohl kaum so sagen, ohne dass er nachfragen würde, was genau ich denn damit meinte. Und woher sollte er auch bescheid wissen? Niemand wusste bescheid.
„Du kannst jederzeit mit mir reden, weißt du? Egal was los ist. Ich bin für dich da und höre dir zu. Ich weiß, dass ich unter meinen Kumpels manchmal etwas rau rüberkomme und genauso ungehobelt und unsensibel wie die. Aber ich kann auch ganz anders sein.“
Er drehte sich fast komplett zu mir um, während er das sagte und schaute mich ganz offen und fast schon flehend an. Als würde er mich darum bitten endlich diese Mauer, die ich um mich und meine Gefühle errichtet hatte, fallen zu lassen und ihm zu zeigen, was dahinter vor sich ging. Aber konnte ich das? Und wollte ich das überhaupt?
„Ich weiß nicht was du meinst… Worüber soll ich denn schon großartig reden?“
Ich versuchte seinem Blick auszuweichen, aber er durchbohrte mich geradezu und schien nicht zuzulassen, dass ich irgendwo anders hin schaute.
„Zum Beispiel könntest du damit anfangen was im Unterricht passiert ist. Du warst vor Ethik noch total normal drauf und dann kommst du da raus gestürmt, ohne Jacke oder Regenschirm oder irgendwas, rennst in mich rein, weil du nicht guckst, wo du hinläufst und weinst auch noch minutenlang ohne irgendeine Erklärung. Und jetzt frag mich noch mal, worüber du denn reden sollst. Und glaub nicht, dass du mir erzählen kannst, es wäre nichts gewesen. Du hast zwar nicht zugelassen, dass ich dich über das letzte Jahr hinweg besonders gut kennenlerne, aber ich kenne dich zumindest gut genug, um zu wissen, dass du bestimmt nicht grundlos nach der Schule in Tränen ausbrichst. Du mimst immer die Glückliche, die sich mit ihrer Freundin über Zeug unterhält, was sie doch garantiert sowieso nicht wirklich interessiert. Es ist ein Wunder, wenn man dir überhaupt mal kurz ansieht, wenn du nicht gut drauf bist. Und selbst da muss man schon sehr genau hingucken, um das mitzubekommen.“
Ich konnte ihn einige Augenblicke nur stumm anstarren. Natürlich weinte ich nie in der Schule. Oder zeigte sonst irgendwie, wie es wirklich in mir aussah. In der Schule war ich ja auch so weit es ging das normale Mädchen, das sich einfügen konnte und mit der Masse verschmolz. Erst zu Hause konnte ich meist meine Fassade ablegen und die angestauten Gefühle ansatzweise heraus lassen. Aber war ich wirklich so durchschaubar? War mein ganzer Versuch ein Maximum an Normalität darzustellen letztendlich völlig umsonst?
„Wie kommst du darauf…? Also ich meine… dass ich nicht wirklich so bin… dass es mich nicht wirklich interessiert…“
„Du lenkst ab. Es geht jetzt erstmal nicht darum, was sonst immer ist. Erklär mir jetzt erstmal, was in Ethik los war.“
Ich spürte, dass ich wieder leicht zu zittern angefangen hatte. Aber diesmal kam es nicht von der Kälte. In mir drin war einerseits bei seinen Worten alles erstarrt, aber gleichzeitig auch alles in Aufruhr geraten. Ich wollte doch, dass man mir das Ganze abnahm. Dass man glaubte, dass es mir gut ging. Dass keine Fragen gestellt wurden. Dass niemand mich versuchte zu zwingen etwas von mir preiszugeben, was zu viele schmerzhafte Dinge nach sich gezogen hätte. Dinge, an die sie gar nicht denken wollte.
Und doch. Sie saß hier und er hatte es bemerkt. Er hatte es bemerkt, aber er hakte nicht nach. Noch nicht. Schließlich war meine Frage und die zögerliche und kleinlaute Art, wie ich sie gestellt hatte, schon so gut wie ein Geständnis gewesen, dass es so war, wie er vermutete. Aber für den Moment wollte er nur einen winzigen Abriss. Etwas, worüber ich würde sprechen können. Es war nicht schön, aber es war etwas Erträgliches. Vielleicht würde er auch dahinter kommen, dass dieser Vorfall allein wahrscheinlich unter normalen Umständen nicht ausgereicht hätte, dass eine stabile Psyche einen solch tränenreichen Zusammenbruch erlitt. Aber vielleicht würde er sich trotzdem erstmal damit zufrieden geben.
Ich atmete tief durch, bevor ich zu sprechen begann und kurz schilderte, was im Unterricht vorgefallen war. Viel gab es ja tatsächlich nicht zu erzählen. Und nur als ich zu der Stelle kam, an der Lena sich von mir ab- und dem Rest der Klasse zugewendet hatte, geriet meine Stimme kurz verräterisch ins Stocken.
Er schwieg kurz, als erwartete er, dass ich noch mehr erzählte. Doch selbst das mit Lena war mir eigentlich eher rausgerutscht. Er musste nicht mehr als unbedingt notwendig über meine Bindung zu Lena wissen. Als ich also nicht weiter sprach, schaute er mich wieder durchdringend an.
„Und?“
Und? Ich erzählte ihm, was er ja offenbar so dringend wissen wollte und von ihm kam nichts weiter als ein ‚Und?’.
„Was ‚und?’“ Meine Stimme klang schärfer als ich es beabsichtigt hatte. Aber er kam mir gefühlsmäßig einfach zu nahe, wollte in mich eindringen, ohne dass ich auch nur im Mindesten bereit dafür war. Was erwartete er denn? Dass ich plötzlich mit allem rausplatzen würde, dass ich bisher so gut unter Verschluss gehalten hatte? Dass ich ihm Sachen erzählte, die sonst niemand wusste? Woher sollte ich dieses Vertrauen nehmen?
„Na ja… Der Lehrer ist ein Arschloch, aber wie du selbst ja bereits gesagt hast, wusstest du das schon. Er hat dir mal wieder eins reingewürgt und die Klasse war verständlicherweise nicht besonders gut auf dich zu sprechen, nachdem er seinen kleinen Rachefeldzug ausgeübt hatte.“ Er schwieg, als würde er erwarten, dass ich von selbst darauf kam, was er nun von mir wollte.
„Ja, und? So war es gewesen.“
„Ich behaupte ja auch nicht, dass es anders war. Aber bitte… Du hast diese ganzen Fakten zwar mit Demütigung in der Stimme erzählt, aber nichts daran hat dich so fertig gemacht wie die Tatsache, dass Lena nicht zu dir gehalten hat. Und ich mein, vielleicht seid ihr schon lange miteinander befreundet, aber ich denke, dass das auch schon lange nicht mehr so eng ist, wie es vielleicht mal war. Und dass du das auch selbst genauso gut weißt wie ich. Seid ich dich kenne, kann man zusehen, wie sie dich immer schlechter behandelt. Und wie du es mit dir machen lässt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich Frage wieso. Weil ihr so lange befreundet seid? Weil sie so gut wie deine einzige Freundin ist? Aber ich hab das Gefühl, es geht da um mehr. Und ich würde gerne wissen, um was.“
Mit einem Mal war ich tierisch wütend. Er hatte sich nicht so in mein Leben einzumischen und vor allen Dingen nicht in die Freundschaft mit Lena. Das war meine Sache und er hatte doch keine Ahnung, was es zwischen uns gab und was nicht.
Ich wusste, dass er den Nagel genau auf den Kopf getroffen hatte. Besser konnte man die sogenannte Freundschaft von meiner früheren besten Freundin und mir gar nicht beschreiben. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte nicht sehen, wie es wirklich war. Und vor allen Dingen wollte ich nicht, dass jemand anderes sah, wie es war. Vor allen Dingen nicht er. Besonders, wenn er dahinter sehen konnte und sah, dass es um viel mehr ging. Dass ich mich nicht nur an eine Freundschaft klammerte. Es würde nicht nur sein Bild von mir zerstören, mich für ihn als unnormal darstellen, genau wie ich es eben war. Sondern würde ihn bestimmt auch noch tief verletzen. Ich ließ ihn stehen wegen unerwiderter Gefühle zu einer ehemaligen Freundin. Ich fummelte an der Autotür herum, bis ich sie aufbekam.
„Du hast doch keine Ahnung! Da ist gar nichts! Was du dir eigentlich einbildest. Als würdest du mich besser kennen, als ich mich selbst. Bist du neuerdings zu den Psychologen umgesiedelt? Ich muss jetzt zu Nachhilfe!“
Damit stieg ich aus und floh nun schon das zweite Mal an diesem Tag. Nur diesmal nicht vor anderen Menschen, sondern vor mir selbst.
Kapitel 3: Home sweet home
Durch meine Aufgewühltheit verging die Nachhilfestunde bei Frau Grimm wie im Flug. Ich bekam einfach nur die Hälfte von dem mit, was die Lehrerin versuchte mir zu erklären. Sie war wie immer nett und zuvorkommend, aber auch sie merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Allerdings ließ sie dieses Thema ruhen, nachdem auf ihre Frage, ob irgendwas mit mir los wäre nur ein „Nein, nichts“ zurückgekommen war. Ganz in Gegensatz zu gewissen anderen Leuten.
Nachdem ich die bestimmt 5. Aufgabe komplett falsch gelöst hatte, obwohl ich das Thema in den letzten Nachhilfestunden verstanden und auch in den meisten Fällen richtig umgesetzt hatte, gab Frau Grimm es für diesen Tag schließlich auf.
„So bringt das einfach nichts, Natasha. Bist du sicher, dass du nicht über irgendetwas reden willst?“
Ich wollte schon zu einer pampigen Antwort ansetzen, da ich für heute mehr als genug geredet hatte, riss mich dann aber doch zusammen. Frau Grimm konnte schließlich nichts dafür, dass manche Leute ihre Nasen überall hineinstecken mussten.
„Ja, Frau Grimm. Ich habe wahrscheinlich einfach zu wenig geschlafen und bin deswegen etwas unkonzentriert. Tut mir wirklich Leid, dass ich ihre Zeit so verschwendet habe.“
„Ach, red doch nicht so einen Unsinn. Keine Zeit mit einem Schüler ist jemals verschwendet. Und mir wäre es lieber, wenn ich ein paar mehr Schüler deiner Sorte in meinen Klassen sitzen hätte, als manch andere, die sich dort herumtreiben. Also mach dir mal keine Gedanken.“
Ich brachte ein leichtes Lächeln zu Stande, packte meine Sachen zusammen und verabschiedete mich dann schließlich.
Es hatte endlich wieder fast komplett aufgehört zu regnen, als ich aus dem Schulgebäude trat und die Wärme vom Mittag war zusammen mit der Sonne wieder zurück gekehrt. Nur ein paar kleine graue Wolken hingen noch am Himmel, die aber nur einen ganz leichten, kaum spürbaren Nieselregen von sich gaben.
Ich ließ mir wie immer Zeit mit dem Nachhauseweg. Wenn man den direkten Weg zu dem Haus, in dem ich mit meiner Mutter wohnte, in normaler Geschwindigkeit ging, war man in zehn, spätestens fünfzehn Minuten angekommen. Ich hatte es allerdings nie eilig und lief immer in einem sehr niedrigen Tempo und nahm meistens noch ein paar Umwege, die ebenfalls einige Minuten extra lieferten. Alles in allem war ich meist fünfundzwanzig bis dreißig Minuten unterwegs.
Auch heute ließ ich mir wieder Zeit und nahm meinen liebsten Umweg durch den Park. Es war nur ein kleiner Park und nicht sonderlich gepflegt. Deshalb verirrten sich hier nur die wenigstens Menschen hin, wenn sie nicht gerade etwas Illegales im Schilde führten und es 2Uhr morgens war.
Mir gefiel dieses natürliche Verwilderte der Bäume, Sträucher und Wiesen. Ich hatte mich schon oft an Tagen, an denen ich wusste, dass ich nicht so schnell zu Hause erwartet wurde oder an denen meine Mutter mich mal wieder rausgeschmissen hatte, auf eine der Wiesen unter eine große Trauerweide gelegt und einfach nur die Einsamkeit genossen.
Heute hatte ich diesen Luxus leider nicht. Ich wusste nicht, wann meine Mutter zu Hause sein würde, ob sie nicht sogar schon zu Hause war. Vielleicht würde mich wieder einer ihrer Tobsuchtsanfälle erwarten, wenn ich zur Tür hereinkam. Diese gehörten bei ihr nicht selten auf die Tagesordnung.
Also beeilte ich mich, für meine Verhältnisse und schloss zwanzig Minuten später die Haustür auf.
Es war ein ziemlich großes und altes Haus, in dem meine Mutter und ich lebten. Das ging aber auch nur, da mein Vater uns das alles vererbt hatte und einen nicht unerschwinglichen Geldbetrag noch dazu. Und das ganze Angesparte für meinen Bruder war zu dieser Zeit auch nicht mehr nötig gewesen.
Mein Bruder. Er war der Sonnenschein der Familie gewesen. Drei Jahre jünger als ich, aber so ein verdammt kluger Junge. Meine Eltern hatten ihn von vorne bis hinten verwöhnt und auch ich versuchte mein Bestes, um ihm eine gute große Schwester zu sein.
Allerdings ließ meine Mutter dies oft genug nicht zu. Wie viele Male hatte sie versucht ihn gegen mich aufzuhetzen und mich als die Böse hinzustellen. Wenn er ihr keinen Glauben schenken wollte, wurde sie erst richtig wütend und ihr rutschte mehr als einmal die Hand aus. Aber niemals ihm gegenüber. Das hätte ich auch nie zugelassen. Nach ein paar solcher Vorfälle, verstand mein Bruder die Systematik dahinter, schimpfte immer auf mich, wenn Mama dabei war, aber sagte mir auch jedes Mal hinterher, dass er mich eigentlich total lieb hat und ich doch sein großes tolles Schwesterchen bin.
Die Abneigung meiner Mutter mir gegenüber hatte ich nie verstanden. Sie hatte angefangen als ich ungefähr fünf Jahre alt war, alle Bekannten sagten, was für ein hübsches kleines Mädchen ich doch war und besonders für meinen Vater war ich ‚Papas kleiner Liebling’. Und natürlich hatte ich meinen Papa ebenso gern.
Sie schaute mich immer mit Augen an, die schon fast schwarz vor Eifersucht wurden. Ihre Berührungen waren nie zärtlich. Wenn sie mich überhaupt berührte, dann war es grob um mich hinter sich herzuziehen, mir irgendetwas zu entreißen oder mich gleich mit einer Ohrfeige oder in jüngeren Jahren mit Hintern-Versohlen zu bestrafen.
Vielleicht hätte sie mich nicht so behandelt, wenn sie die Wahrheit gekannt hätte. Papas kleines Mädchen. Papas liebes Mädchen. Niemals würde sie ihm widersprechen oder sich etwas widersetzen, was er sich doch so gerne wünschte.
Ich war gerade mal acht Jahre alt geworden. Und mein Bruder bekam das im Laufe der Zeit immer wieder mit. So oft schlüpfte er nachts zu mir ins Bett, weil er nicht schlafen konnte oder Alpträume gehabt hatte. Er mochte sein Schwesterchen und neben ihr fühlte er sich sicher.
Dabei hatte ich ganz und gar nicht das Gefühl, dass es in der Nacht sicher bei mir war. Je mehr die Zeit verging, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass mein Bett der gefährlichste Ort der Welt war. Denn hier wurde ihr sonst so toller Papa zu einem anderen Menschen. Jemanden, der sie nicht lieb anschaute und ihr zärtlich über den Kopf streichelte, sondern jemand der sich vor sie stellte, sie ekelhafte Dinge tun ließ und sie dabei mit Augen anschaute, die ich mit heutigem Wissen nur als lüstern beschreiben kann.
Wenn mein Bruder bei mir im Bett lag, weckte er ihn unwirsch und schickte ihn raus. Er lauschte und anfangs hörte er noch meine verzweifelte Stimme, dass ich nicht wolle und mein Papa mich doch bitte schlafen lassen soll. Aber mit der Zeit verstummte auch diese Stimme. Und je mehr Zeit verstrich, desto häufiger sah mein Bruder mir in die Augen und schrak zurück. Ich fragte mich immer, was er in meinen Augen sah, was ihn so erschreckte. Aber wahrscheinlich sah er einfach nur nichts.
Ich schlief immer öfter nachts nicht oder wenn dann nicht durch. Ich war die meiste Zeit nur noch eine leblose Hülle, versuchte meinen Platz und die damit verbundenen Pflichten in der Familie zu erfüllen. Nur wenn ich mich um meinen Bruder kümmern durfte, kehrte etwas Leben in mich zurück. Dann konnte ich hin und wieder sogar lachen und richtig Spaß haben. Mein Leben vergessen und mich nur auf die Sonne konzentrieren, die es dort gab.
Jedes Mal, wenn ich seit dem Tod der beiden die Haustür aufschloss, erinnerte ich mich an die frühere Zeit. Jedes Mal fing die lange Narbe auf meinem Rücken an zu spannen und jedes Mal, fragte ich mich, warum ich nicht an seiner Stelle gestorben war.
Nur sehr langsam öffnete ich die Tür und spähte erstmal ins Haus, einen jähen Schrei der Wut oder gleich eine schallende Ohrfeige erwartend.
In letzter Zeit war ich immer öfter mit so etwas begrüßt worden. Aus welchem Grund? Am Anfang hatte ich mir diese Frage noch gestellt, aber sie war wie jede Frage nach einem Grund für aggressives Verhalten mir gegenüber ziemlich bald in den Hintergrund getreten.
Ich war es einfach nicht wert auf dieser Welt zu sein. Das wurde mir schnell klar. Andere erfuhren Liebe und Zuneigung von ihren Eltern. Andere waren nicht Schuld am Tod des eigenen Bruders. Andere konnten Lächeln und meinten es auch so. Also musste doch etwas mit mir nicht stimmen.
Ich ließ die Tür so sanft wie möglich ins Schloss fallen und horchte dann auf Geräusche. Als alles still blieb, ging ich langsam weiter, durch den Flur hindurch, mit einem Blick hinein an der Küche vorbei und zum Wohnzimmer.
Wie es schien, war meine Mutter mal wieder nicht zu Hause. Wirklich traurig war ich darüber nicht, aber das bedeutete, dass ich schnell mit dem Essen machen anfangen sollte. Sonst würde die Hand meiner Erzeugerin doch noch den Weg in mein Gesicht finden. Dessen war ich mir durchaus bewusst.
Schnell lief ich die eine Treppe hoch, am Bad vorbei, fummelte meinen Türschlüssel aus meiner Hosentasche heraus und schloss die Tür auf.
Mein Zimmer blieb immer verschlossen, wenn ich nicht zu Hause war. Eigentlich schloss ich es sogar ab, wenn ich nur ins Bad ging oder sonst wo im Haus unterwegs war. Und natürlich, wenn ich in meinem Zimmer saß. Also immer. Es war eine Angewohnheit geworden, weil ich meine Mutter einfach zu gut kannte. Sie würde jede Gelegenheit nutzen in mein Zimmer zu kommen und dort in allem rumzuwühlen und wahrscheinlich auch die Hälfte der Sachen dabei ‚ganz aus Versehen’ kaputt zu machen.
Natürlich gefiel es ihr nicht, dass die Tür ständig zu war. Sie fragte mich jedes Mal wieder, was ich da vor ihr zu verstecken versuchte und befohl mir den Schlüssel herauszurücken. Aber diesen behütete ich wie einen Schatz und egal wie laut sie wurde, irgendwann gab sie auf, wenn ich lange genug auf taub gestellt hatte. Und wenn ich dafür die ein oder andere Ohrfeige oder auch mal ein Büschel ausgerissene Haare hinnehmen musste, dann war das nun mal so. Besser als wenn meine Mutter dort hinein käme und Dinge über mich erfahren würde, die sie nichts angingen und mit ziemlicher Sicherheit auch kein Bisschen interessierten. Sie würden ihr nur einen weiteren Grund geben mich noch mehr zu verabscheuen.
Die Tür schloss ich kurz hinter mir, warf meine Schultasche neben meinen Schreibtisch und drückte den Knopf, damit mein PC hochfuhr. Das Licht ließ ich meist aus, wenn ich in meinem Zimmer war. Auch die Rollläden waren meist fast zur Gänze geschlossen, sodass nur ein leichter Lichtschein von draußen herein kommen konnte. Mir reichte das bisschen Licht, dass mein Bildschirm abgab oder das meiner kleinen Leselampe, die auf meinem Nachttisch stand. Zu viel erinnerte mich hier an alte Zeiten.
Das war zwar auch bei dem Rest des Hauses so, aber dort hatte nun mal meine Mutter das Sagen. Mein Zimmer war mein eigenes kleines Reich und hier wollte ich es nach meinen Regeln haben.
Routinemäßig schaute ich schnell in mein Postfach und sah, dass Alex mir eine Nachricht geschrieben hatte. Ich hatte jetzt aber wirklich alles andere als Lust mich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, also schaltete ich meinen Bildschirm vorerst wieder ab, ging aus meinem Zimmer und schloss hinter mir natürlich zu.
Mein nächster Weg führte mich in die Küche, in der ich dann gleich einen Topf mit Wasser aufsetzte und anfing Kartoffeln zu schälen. Dann nahm ich das Gulasch aus dem Kühlschrank, fing an dies zuzubereiten und machte noch ein bisschen Gemüse dazu. Genug, damit drei Leute locker davon satt werden konnten.
Meine Mutter arbeitete nämlich als Eskorte-Dame. Doch statt es bei normalen Eskorten zu belassen, brachte sie die Männer auch des Öfteren mit nach Hause und kassierte dafür meist auch noch mal eine ordentliche Summe. Natürlich war es dann mein Fehler, wenn nicht genug zu essen gemacht war, damit ihre Begleitung ebenfalls zufrieden gestellt werden konnte.
Mehr als einmal hatte ich schon gemerkt, wie die Männer, die mitkamen mich begutachteten wie ein Stück Fleisch. Sollten sie mich kaufen oder nicht? Und mehr als einmal hatte ich mich gefragt, ob meine Mutter ihnen irgendetwas versprochen hatte, worüber ich gar nicht weiter nachdenken wollte.
Viele Menschen haben die irrwitzige Ansichtsweise, dass Mütter so etwas nie tun würden. Ich hätte vielleicht auch so gedacht, wenn ich mein Leben nicht mit einer Frau verbracht hätte, die mir jeden Tag das Gegenteil bewies und die es doch immer wieder schaffte mich mit neuen Grausamkeiten zu überraschen.
Meine Mutter meinte auch immer, dass sie das nur für mich tun würde und dass ich so schrecklich undankbar wäre. Dass wir das Geld ja bräuchten, schließlich bezahle sich das Haus, der Strom und was man sonst so zum Leben braucht ja nicht von alleine.
Sicher sein konnte ich mir natürlich nicht, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ganze Geld, welches mein Vater ihr hinterlassen hatte, schon aufgebraucht war. Sie kaufte zwar viele teure Dinge, lief fast jeden Tag in einem neuen Outfit durchs Haus, meist elegant und figurbetont. Und es war auch nicht so, als müsste meine Mutter sich verstecken, weiß-Gott-nicht. Doch die vererbte Summe war hoch gewesen.
Als ich dann vorgeschlagen hatte, mir auch einen Nebenjob suchen zu können, hatte sie mich erst gefragt, was ich mir da denn bitte vorstelle. Als ich dann das Übliche aufzählte wie Kellnern, Zeitungen austragen oder Ähnliches, schrie sie mich fast an, dass ich mich doch nur vor der Hausarbeit drücken wolle. Seitdem habe ich ihre Vorwürfe diesbezüglich einfach kommentarlos im Raum stehen lassen und einen möglichst betretenen Gesichtsausdruck zur Schau gestellt, wenn sie mal wieder eine ihrer Tiraden von sich gab.
Das Essen wurde gerade fertig, als ich hörte, wie sich ein Schlüssel in das Schloss der Haustür schob. Ich hörte die Stimme meiner Mutter, in einem Tonfall, der mir leichte Übelkeit bescherte. So hatte sie früher immer nur mit meinem Vater gesprochen.
Schnell stellte ich die Herdplatten ab, wischte noch schnell über die Küchenzeile und stellte zwei Teller auf den Tisch mit dazugehörigem Besteck.
Gerade wollte ich mich umdrehen und aus der Küche flüchten, da stand meine Mutter auch schon mit ihrer neuesten Errungenschaft im Eingang zur Küche. Groß, dunkle Haare, dunkle Augen, muskulös. Ein kurzer Moment der Angst ließ meinen Körper erzittern.
Er hatte einen Arm um die Taille meiner Mutter gelegt und musterte mich von oben bis unten.
„Essen ist fertig.“ Ich brachte nur ein leises Murmeln zu Stande und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, wie ich möglichst schnell hier weg kam.
Ein Grinsen stahl sich nun auf das Gesicht des Mannes und meine Mutter versuchte wohl eine möglichst nette Miene aufzusetzen, damit dieser Kerl nicht den wahren Blick sah, mit dem sie mich immer bedachte.
„Ein kleines Hausfrauchen hast du da also als Tochter, ja!?“ Er hatte immer noch nicht aufgehört mich zu begutachten wie ein Stück Vieh und ließ seine Zunge nun auch noch kurz über seine Lippen wandern.
Ich hatte meine Hände zu Fäusten geballt und bemerkte, dass ich unwillkürlich angefangen hatte zu zittern.
„Ja, ein Prachtstück ist sie, nicht wahr?“ Ihre Augen blitzten kurz zu mir herüber und ich musste mich beherrschen nicht automatisch einen Schritt zurückzuweichen. Sie schaute so berechnend, voller Erwartung wie es weitergehen würde.
Beide machten nun ein paar Schritte in die Küche hinein und ich wich um den Küchentisch herum näher Richtung Ausgang zurück. Als sie weit genug im Raum standen, machte ich einige große Schritte und wäre fast sogar stehen geblieben, als meine Mutter meinen Namen rief.
„Natasha! Bleib doch mal bitte hier, das ist unhöflich. Stefan würde dich gerne kennenlernen!“ Ihr Ton war scharf, aber auch mit einer falschen Note mütterlicher Zärtlichkeit versetzt.
„Geht nicht, ich muss noch Hausaufgaben machen!“
Schnell huschte ich zur Treppe und war sie schon halb nach oben, als ich hörte wie sie mir hinterher kam.
„Bleib sofort stehen oder ich zerr dich an deinen verdammten schwarzen Löckchen wieder hier herunter!!!“ Nur ein Flüstern, war ihre Stimme doch extrem gefährlich, mehr ein Zischen, welches die Worte ineinander fließen ließ.
Ich lief erst ganz nach oben, bevor ich mich kurz umdrehte. Sie war die halbe Treppe selbst schon oben, aber nicht wirklich schnell, da ihre Highheels das nicht zuließen.
„Was erwartest du von mir, Mutter? Dass ich da runter gehe und ein bisschen mit deinem ‚Boytoy’ spiele? Dass ich deine kleine Hure werde? Ich bin nicht du!“ Mit diesen Worten drehte ich mich wieder um, lief zu meiner Zimmertür und zog den Schlüssel aus meiner Tasche. Hektisch steckte ich ihn ins Schloss, aber als ich gerade das Klicken hörte, welches mir verriet, dass die Tür offen war, wurde ich von hinten gegen das harte Holz gepresst und mein Kopf an den Haaren nach hinten gezogen.
„Hast du mich gerade Hure genannt, du kleine elende Schlampe? Du bist ein undankbares Miststück. Ich reiß mir den Hintern für dich auf, damit wir hier weiter wohnen können und du?“
„Das glaube ich dir, dass du dir den Hintern aufreißen lässt.“ Die Worte waren mir eher rausgerutscht, aber sie quittierte diese sofort, in dem sie meine Haare noch eine ganze Ecke kräftiger nach hinten zog und ich spürte, wie einige schmerzhaft herausgerissen wurden.
„Du kleine Dreckschlampe! Als würdest du nicht darauf stehen mir das zu stehlen, was eigentlich mir gehört und dich begrapschen zu lassen, wie die Großen es tun. Du machst mir nichts vor, dafür kenne ich dich viel zu gut.“
„Du hast keine Ahnung, was mir gefällt und was nicht!“
Ich konnte gar nicht reagieren, da hatte meine Mutter mich schon von der Tür weggezerrt und stieß meinen Kopf mit solcher Wucht gegen das Holz der Tür, sodass ich es knacken hörte und durch den sofortigen Schmerz wusste, dass meine Nase gebrochen war.
Ich sackte auf die Knie und hielt mir leise wimmernd das Gesicht. So weit war sie noch nie gegangen. Meine Kopfhaut tat schrecklich weh, aber das war nichts gegen den Schmerz in meiner Nase und das Blut, das langsam anfing sowohl aus meiner Nase zu laufen, als auch meine Kehle hinunter.
„Heyheyhey, Süße. Was ist denn los?“
Durch die Tränen, die sich in meinen Augen gesammelt hatten, sah ich nur verschwommen wie dieser Stefan von der Treppe zu meiner Mutter ging und ihr wieder den Arm um die Taille legte.
„Geht’s der Kleinen gut?“
„Ja, der Schlampe geht es gut. Und nenn sie gefälligst nicht Kleine!!“ Ihre Stimme war giftig und ohne ein weiteres Wort an mich drehte sie sich um und zog den Mann mit sich.
Ich ergriff die Gelegenheit, kroch schnell in mein Zimmer und schloss von innen ab.
Ich spürte wie immer weiter Blut aus meiner Nase über meine Oberlippe rann und von dort aus zu Boden tropfte. Es war ein erstickendes Gefühl wie auch noch im Takt meines Pulses das Blut immer wieder meinen Hals hinunter gedrückt wurde.
Ich krabbelte schnell zu meinem Nachttischschrank, in dem ich immer Taschentücher aufbewahrte und zog mir eines davon heraus, um es vor meine Nase zu halten.
Es sog sich aber so schnell mit Blut voll, dass ich nach nicht mal einer Minute schon das nächste Tuch benutzen musste.
Ich wusste nicht, ob man von Nasenbluten verbluten konnte, aber ich merkte nur, dass mein Kopf langsam anfing stark zu pochen, die Schmerzen in meiner Nase immer schlimmer wurden und meine Sicht hin und wieder bedrohlich verschwamm.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also machte ich das Erstbeste, was mir einfiel.
Mein Handy aus der Schultasche kramend, rief ich mir die Nummer ins Gedächtnis und wählte sie.
„Hallo Alex… ich weiß, es ist vielleicht komisch… und es ist mir auch wirklich unangenehm… aber kannst du mich vielleicht abholen und zu einem Arzt fahren?“
Kapitel 4: Vertrauen kann man nicht erzwingen
„Jetzt rede endlich mit mir!“ Alex’ Stimme war voller Ungeduld, aber auch voller Verzweiflung als er versuchte meinen Blick einzufangen.
Ich war froh gewesen, dass Alex innerhalb kürzester Zeit vor meiner Haustür gestanden hatte. Wirklich wundern konnte ich mich darüber in diesem Augenblick nicht, da ich viel zu beschäftigt mit den Schmerzen in meinem Gesicht und dem Geschmack des Blutes in meinem Hals war und außerdem in hohem Maße verzweifelt über die maßlose Aggressitivät meiner Mutter mir gegenüber.
Während der Hinfahrt zum Krankenhaus hatte ich noch meine blutende Nase als Vorwand nehmen können, weshalb ich nicht auf Alex’ bohrende Fragen antwortete.
Die ganze Zeit war er direkt bei mir gewesen als ich gewartet hatte und auch als ich schließlich drangenommen wurde, ist er dicht hinter mir mit ins Untersuchungszimmer. Nicht alles, dass er noch meine Hand genommen hätte, wenn ich das zugelassen hätte. Dem Blick des Arztes nach zu urteilen sahen wir aus wie ein Pärchen, wobei er Alex scharf anguckte, als er mich fragte, wie das mit meiner Nase denn passiert sei.
Alex war wohl eben so erleichtert gewesen wie ich, als der Arzt schließlich meinte, dass nichts gebrochen wäre. Nur alles sehr mitgenommen. Und das viele Blut käme wohl von einigen aufgeplatzten Äderchen in der Nase. Er gab mir etwas um die Blutung zu stillen, noch einen Kühlbeutel, damit die Schwellung ein bisschen zurück gehen konnte, und ein paar stärkere Schmerzmittel. Dann entließ er mich, mit der Empfehlung für die nächsten Tage noch ein paar Schmerztabletten einzuplanen, da mit so einer Prellung dies häufig der Fall war.
Jetzt saß ich neben Alex im Auto und er stellte wieder dieselben Fragen. Wer war das? Wie ist das passiert? Warum redest du nicht mit mir? Er schien mir die Geschichte, dass ich einfach unglücklich gefallen war, nicht wirklich abzukaufen.
Ich starrte auf meine gefalteten Hände in meinem Schoß und blieb stumm. Ich schaute auch nicht auf, um zu sehen wo wir hinfuhren. Warum auch, ich nahm einfach an, dass er mich nun wieder zu Hause absetzte. Mal ganz abgesehen davon, hatten mich die Schmerzmittel, die mir der Arzt gegeben hatte, wohl ziemlich abgeschossen. Ich fühlte mich leicht benebelt.
Plötzlich wurde es um Einiges dunkler und ich hob langsam den Kopf, um zu sehen was los war. Wo auch immer wir waren, wir waren umringt von Bäumen.
„Was soll das denn jetzt bitte?“ Ich schaute ihn vorwurfsvoll an.
Wahrscheinlich hätte er mich nicht einfach irgendwo mitten in den Wald gebracht, wenn er wüsste, dass ich mich auf noch mehr Prügel einstellen konnte, je später ich nach Hause kam. Wobei er es vielleicht dann erst recht getan hätte.
„Ich werde nirgendwo mit dir hin fahren bis du mir nicht ein paar Antworten gegeben hast. Du solltest wissen, dass ich dir gerne helfe und für dich da bin. Ich fand es schön, dass du mich angerufen hast. Aber ich will auch ein paar Infos, warum du überhaupt Hilfe benötigst. Erst weinst du nach der Schule und dann darf ich dich nur ein paar Stunden später wegen einer wild blutenden Nase ins Krankenhaus fahren. Mir ist es zuwider dich zu irgendwas zu zwingen, aber ich kenn dich nun schon seit knapp über einem Jahr. Und ich versuche wirklich ein Freund für dich zu sein. Aber es wäre nett, wenn du mich wenigstens ein klein wenig, an deinem Leben teilhaben lassen könntest.“
Einen kurzen Augenblick lang, schaute ich ihn noch weiter an. Dann riss ich, einem Reflex folgend, die Autotür auf und floh nach draußen. Mir war als bekäme ich in diesem Auto, mit seinem bohrenden Blick auf mir, keine Luft mehr. Meine Sicht verschwamm plötzlich komplett.
Erst einen Moment später, als ich ein paar Mal tief Luft geholt hatte, spürte ich, dass meine Wangen nass wurden und verstand, dass das Verschwommene von den Tränen kam, die ich nicht dazu bewegen konnte, zu stoppen.
So lange Zeit hatte ich keinen unter meine Fassade gelassen. Niemand hatte mich jemals weinen sehen, ich war ein starkes Mädchen, ein glückliches Mädchen. Warum schaffte ich es nicht mehr meine Gefühle zurückzuhalten?
Da viel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte es seit vorgestern nicht mehr getan. Wenn die Schmerzen kamen, dann gingen meist auch die Gefühle und damit kam der schützende Mantel der Kälte, den ich über mich legen konnte. Die Lösung war ganz einfach und ich war erst so spät darauf gekommen.
Sobald dieser Gedanke sich in meinen Kopf geschlichen hatte, verschlang er alle anderen Gedanken. Ich konnte nur noch an den Schmerz denken, der doch so anders war, als eine geprellte Nase oder ausgerissene Haare. Ein Schmerz, der mich vergessen ließ und wenn auch nicht für lange.
Ich ließ mich langsam an dem Baum herunter gleiten, neben dem ich gestanden hatte, und holte mein Portemonnaie raus. Ich lächelte sogar leicht, als ich die Rasierklinge aus einem der Fächer zog, die eigentlich für Karten gedacht waren. Meine Umwelt war ausgeblendet, als würde ich alleine in einem Wald sitzen und das Wetter genießen.
Das Portemonnaie ließ ich zu Boden fallen, als ich meinen Ärmel hochschob und meinen Unterarm betrachtete. Die Wunden von vorgestern waren mit Schorf überzogen, auch wenn dieser an manchen Stellen abgegangen war, als ich heute Mittag während des Unterrichts darüber gekratzt hatte.
Es gab eigentlich keine Stellen mehr an meinem linken Unterarm, die ich noch nicht genutzt hatte. Was nicht verschorft war, war mit feinen Narben übersät, die sich von meinem Handgelenk bis zur Armbeuge angesammelt hatten. Ich betrachtete sie immer wieder, wenn ich mich verletzen wollte. Sie gehörten zu mir, erzählten ihre ganz eigenen Geschichten. Geschichten, die ich selbst nicht erzählen konnte.
Und dann setzte ich an. Leichter Druck, einmal von links nach rechts gezogen und da war der erste feine Schmerz, der sich zu meinem Bewusstsein durchkämpfe, während sich an dem Schnitt selbst kleine Blutpunkte bildeten.
Ein weiteres Mal und wieder. Und wieder. Und wieder. Es war wie ein Rausch, aus dem ich meist immer erst dann wieder aufwachte, wenn mein ganzer Unterarm von Schnitten überzogen und rot von dem Blut war.
Doch plötzlich wurde meine Hand weggeschlagen, die Klinge landete im feuchten Laub. Verständnislos starrte ich dorthin, wo sie gelandet war, bis mich das Bewusstsein für meine Umwelt langsam wieder einholte.
Meine Augen weiteten sich, ich starrte noch einen ganzen Moment auf die Klinge und das Laub darum herum. Dann drang das schwere Atmen an mein Ohr, das sich so verdammt zittrig und verletzlich anhörte.
Nur langsam schaffte ich es meinen Blick zu heben. Es kostete mich viel Überwindung und alles in mir sträubte sich dagegen. Mir war ungeheuer schlecht, noch bevor ich den Kopf ganz gehoben und ihm in die Augen gesehen hatte.
In dem Moment, als unsere Blicke sich trafen, verkrampfte sich dann schließlich mein ganzer Magen und ich hatte das Gefühl, dass ich mich jeden Moment übergeben würde.
Was hatte ich getan? Meine Kontrolle. Ich hatte angenommen, dass ich sie nur damit zurückgewinnen könnte, aber eigentlich hatte ich sie genau damit verloren.
Als das ganze Ausmaß meiner Tat mir langsam bewusst wurde, fing ich an zu zittern. Alex’ Gesicht wurde ganz verschwommen und ich merkte, dass mir sowohl wieder Tränen die Wangen hinunter liefen, als auch dass mein Atem schnell und stoßweise aus mir herauskam. Ich hatte angefangen zu hyperventilieren. Das letzte bisschen Kontrolle, was ich vielleicht noch gehabt hatte, verließ mich nun vollends. Ich merkte, wie sie mir entglitt und ich dass Gefühl hatte, dass mein ganzes Kartenhaus in diesem Moment in sich zusammenfiel. Ich hatte einen kompletten Nervenzusammenbruch.
Ich merkte nur nebenbei wie Alex sich neben mich kniete, mich an den Schultern packte, leicht schüttelte und irgendwas zurief. Ich hörte allerdings nur ein lautes Rauschen in meinen Ohren und verstand kein Wort von dem, was er da sagte.
Er schien leicht verzweifelt zu sein, schüttelte mich wieder, aber ich schaffte es einfach nicht, mich zu beruhigen. Mein Atem wollte einfach nicht wieder gleichmäßig gehen, auch wenn ich das Gefühl hatte an den zusätzlichen Schluchzern, die mich schüttelten, ersticken zu müssen.
Ich wusste nicht in welchem Moment Alex sich dazu entschloss, aber plötzlich fühlte ich nur noch einen Mund über meinem, der nicht zuließ, dass ich die Luft in kurzen Stößen ein- und ausatmete, sondern meine Lungen zwang, durch sein langes Ausatmen, sich ebenso lang auszudehnen und dann erst wieder die Luft auszustoßen.
Die Schluchzer schüttelten mich immer noch, aber sie wurden weniger und auch mein Atmen normalisierte sich langsam.
Auch als ich vollkommen synchron mit ihm atmete, blieben seine Lippen noch auf meinen. Ich verstand es nicht sofort, aber langsam dämmerte mir, dass das keine Mund-zu-Mund-Beatmung mehr war. Er war dazu übergegangen mich zu küssen. Vorsichtig, sanft und zärtlich, als könnte ich jeden Moment zerbrechen. Und war es nicht auch so?
Im ersten Moment ließ ich es einfach zu. Das Verständnis kam nur sehr langsam und ließ mich steif gegen den Baum lehnend dasitzen.
Dann fing er sehr langsam an seine Lippen zu bewegen. Nur ganz leicht, doch ein sehr seltsames, aber starkes Gefühl durchflutete mich, als meine Lippen wie von selbst anfingen seinen zu folgen.
Was war das nur? Die gerade wieder gewonnene Kontrolle entzog sich mir ebenso schnell wie sie gekommen war, indem mein Körper nun seinen eigenen Willen durchsetzte.
Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog ihn so stark an mich ran, als würde ich mich in ihm verkriechen wollen.
Auch meine Gedanken entzogen sich mir. Wo ich mich eben noch fragte, was los mit mir war und ob das überhaupt richtig sein konnte, was ich hier tat, wurde dies von einem fast schon erlösenden Nichts ersetzt. Wann konnte ich das letzte Mal wirklich alles ausschalten und mich einfach nur fallen lassen? Ich kannte die Antwort, aber sie ging sofort in diesem Strudel unter, der mich mit sich riss.
Ich hatte mich schon so oft vor so einem Moment gefürchtet. Dass eine Junge mir zu nahe kam, mich anfasste, mich wollte und ich ihn einfach nur wegstieß und ihm nicht mal erklären konnte warum. War das nicht die natürliche Reaktion für jemanden mit meinen Erfahrungen? Oder schlummerte diese Reaktion nur in mir drin und wartete auf den richtigen Augenblick, um auszubrechen? Oder war ich etwa auch hier unnormal? Hatte meine Mutter recht? War ich doch einfach nur eine kleine Schlampe?
Doch jeden dieser Gedanken, konnte ich kaum zu Ende denken, da riss mich mein Körper auch schon zurück in das Hier und Jetzt und wollte mehr. Mehr Nähe, mehr Zuneigung, mehr Liebe.
Alex schien ebenso überrascht von meiner plötzlichen Zügellosigkeit zu sein wie ich selbst. Zuerst war er fast schon erstarrt, hatte sich nur zögerlich immer weiter hingegeben, bis er mich schließlich ebenso an sich presste und dabei ein kehliger Laut aus seinem Mund entwich.
Wenn jemand uns beobachtet hätte, hätte er wohl eher geglaubt, dass wir uns gegenseitig auffressen wollten, anstatt uns irgendwie körperlich und sexuell näher zu kommen.
Irgendwann trennten wir uns unwillig voneinander und holten beide schwer atmend Luft. In meinem Kopf drehte sich alles, als der Sauerstoff sich langsam wieder den Weg durch mein System bahnen musste.
Ich hörte Alex leise lachen.
„Du schwankst, mein dunkler Engel.“
Er legte seine Handfläche gegen meine linke Wange und ich legte meinen Kopf hinein und genoss die Nähe und das Gefühl der Zuneigung.
Er strich mir ganz sanft mit der anderen Hand über die rechte Wange. Nur ganz leicht mit den Fingerspitzen. Genauso zärtlich wie…
Der Gedanke ließ mich innerlich erstarren und ich riss die Augen auf.
„Lena…“ Meine Stimme war nur ein ersticktes Flüstern, aber er reagierte prompt darauf und ließ seine Hände sinken.
„Lena?“ Sein Blick war verwirrt und suchte den meinen, aber ich senkte den Kopf und ließ mir die Haare ins Gesicht fallen.
Das Erwachsen war also doch noch gekommen, aber anders als ich es erwartet hatte. Für diesen einen Nachmittag war sie fast gänzlich aus meinen Gedanken gelöscht gewesen.
Langsam stand ich auf und zupfte meine Kleidung zurecht.
„Ich kann das nicht… es tut mir Leid…“ Ich wandte mich schon ab, um zurück zum Auto zu gehen, aber er hielt mich am Handgelenk fest und stand seinerseits auf.
„Warte! Du kannst mich doch jetzt nicht einfach so stehen lassen… Sag mir wenigstens was los ist… Warum sagst du den Namen deiner Freundin und brichst dann alles ab?“ Ich hatte zu ihm aufgesehen und senkte bei der Frage nach Lena nur beschämt den Blick.
Sein Blick verriet, dass es in seinem Kopf arbeitete und man konnte den Moment erkennen, in dem es Klick machte, denn er ließ meinen Arm los.
„Wegen ihr…? Wegen der Frau, die dich schon lange behandelt, als wärst du ein unerwünschtes Anhängsel, wenn sie nicht gerade jemanden braucht, der ihr zuhört…?“
Ich schielte unter meinen Haaren hindurch in seine Richtung und sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte und stark zitterte. Es war genauso gekommen, wie ich es erwartet hatte. Er verachtete mich dafür.
Wir standen bestimmt fünf Minuten lang einfach nur da, während ich seinen Atem hörte, denn er offenbar nur schwerlich unter Kontrolle halten konnte. Auch ich zitterte leicht. Ich fühlte mich einfach nur schrecklich und hatte Angst, dass ich mich jeden Moment übergeben würde.
Mit einem Mal wurde sein Atem gleichmäßiger und er atmete noch einmal tief durch, bevor er sich wieder zur Gänze aufrichtete und mir bedeutete ins Auto zu steigen.
Ich sah ihn kurz leicht ängstlich an, bevor ich schließlich einstieg. Ich fühlte mich äußerst unwohl in einem so recht engen Raum momentan mit ihm zusammen zu sein. Ich hatte Angst vor dieser unglaublichen Macht, die mein Körper über mich haben konnte und die ich bisher nicht mal von mir selbst gekannt hatte.
Alex fuhr langsam los und blieb einige Minuten lang still. Hin und wieder schaute er kurz zu mir herüber, richtete seinen Blick aber dann wieder relativ schnell geradeaus.
Irgendwann hörte ich dann doch seine Stimme und sie klang ganz anders, als ich erwartet hätte.
„Und deswegen tust du dir selbst so was an? Weil du Gefühle für ein Mädchen hast, was dich scheiße behandelt?“
Ich biss die Zähne zusammen bei der Anschuldigung gegen Lena. Eigentlich wusste ich ja, dass er Recht hatte, aber es war so unheimlich schwer mir das auch selbst einzugestehen und aufzuhören mir etwas vorzumachen.
Abgesehen davon war es immer noch ein schreckliches Gefühl, dass er nun nicht nur von meinen Gefühlen für Lena wusste, sondern auch eines meiner am besten gehütetsten Geheimnisse kannte. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper schien zu verkrampfen, wenn er von meiner Selbstverletzung sprach.
Ich atmete sehr tief durch, bevor ich mich zu einer Antwort durchringen konnte.
„Ja und nein… Natürlich ist es schwer… Aber damit habe ich mich die meiste Zeit schon abgefunden… Wenn das allerdings das größte Problem in meinem Leben darstellen würde, könnte ich ein verdammt glückliches Mädchen sein…“
Wieder sah er mich kurz von der Seite aus an und nickte dann nur leicht.
„Und was ist dann der wahre Grund, warum du das tust?“
„Sag mal, glaubst du nicht, dass es für heute langsam reicht mit deiner elenden Neugierde?“
Es war mir einfach rausgerutscht und ich bereute es auch sofort. Ich drängte den aufgestiegenen Zorn wieder zurück, atmete, aus dem Autofenster schauend, ein paar Mal tief ein und aus und schaute dann wieder zu ihm.
„Tut mir Leid… Aber ich kann einfach nicht mehr. Du kannst nicht erwarten, dass ich von eben auf gleich Dinge tue, die ich mein Leben lang vermieden habe… Und ich weiß nicht mal, ob ich es jemals schaffen werde über manche Dinge zu sprechen.“
Wieder nickte er nur leicht. Dann streckte er seine Hand zum CD-Player, drückte ein paar Knöpfe und es schallte wieder ein Lied von HIM durchs Auto. Ich schaute kurz auf das Display und sah, dass es „Right here in my arms“ hieß und er es so eingestellt hatte, dass es ständig wiederholt werden würde.
„Ich bin mir sicher, das mit Lena wird schon werden.“
Ich schaute fragend in seine Richtung, aber er schaute nur mit einem seltsam finsteren und berechnenden Blick auf die Straße vor sich.
Nach ungefähr zwanzig Minuten hielt er schließlich vor unserem Haus und lehnte sich etwas entspannte in seinen Sitz zurück. Ich schaute mit etwas unglücklichem und unsicherem Blick dorthin, wo bestimmt noch mehr Ärger auf mich warten würde, zwang mich dann aber erst einmal wieder zu Alex zu sehen.
„Ich hab mich noch gar nicht bei dir bedankt… Es war wirklich nett, dass du mich abgeholt hast und die ganze Zeit bei mir geblieben bist…“
Er drehte seinen Kopf langsam in meine Richtung und schaute mich durchdringend an.
„Ja… nett. So was machen Freunde nun mal. Dafür sind sie da. Und ich hab dir schon mehr als einmal gesagt, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst.“
Ich versuchte ein kleines Lächeln auf meine Lippen zu zaubern und irgendwie gelang mir das sogar.
„Und auch wenn es nicht wirklich gut gelaufen ist… danke ich dir auch für den Rest… Du hättest es nicht so rauskriegen sollen, aber vielleicht war es besser so… Ich weiß nicht, ob ich es von mir selbst aus irgendwann hätte aussprechen können.“ Ich musste noch einmal tief durchatmen. Solche Monologe waren wirklich mehr als unangenehm und der Kloß in meinem Hals wollte auch nicht wirklich kleiner werden.
„Und es tut mir Leid… was passiert ist. Ich hätte nicht so die Kontrolle verlieren dürfen… Weder auf die eine noch auf die andere Weise. Es tut mir Leid, dass ich dir Hoffnungen gemacht und sie dann gleich wieder zerstört habe.“
Er streckte den Arm aus und legte mir wieder seine Handfläche an die Wange, um mir mit dem Daumen über das Gesicht zu streichen und mich leise anzulächeln.
„Du musst dich nicht entschuldigen. Es wird sich alles regeln, auch wenn du das jetzt noch nicht sehen kannst.“
So gerne hätte ich ihm geglaubt. Er klang so sicher und zuversichtlich. Ich kannte nur die Quelle nicht, aus der er diese Gefühle schöpfte. Sie war mir verwehrt.
Schließlich hob ich den Kopf an und nahm meine Tasche aus dem Fußraum.
„Wir sehen uns dann bestimmt morgen in der Schule…“
Ich war schon ausgestiegen, da wandte ich mich noch einmal um und lehnte mich ins Auto.
Ein leichter Kuss auf die Wange nur, der mich leicht erröten ließ.
„Danke…“ Damit wandte ich mich letztendlich zum gehen und hörte nur wie er davon fuhr und der Textfetzen ‚She’ll be right here in my arms’ (Sie wird genau hier in meinen Armen liegen) noch aus dem Auto drang, bevor er um die nächste Kurve bog.
Texte: Die Rechte des Buches liegen komplett bei mir.
Das Cover ist von Jeff Thomas "Pon and Zi"
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2010
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