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Haupt 1



Am Anfang war ein Loch.
Na ja, vielleicht nicht ganz am Anfang. Irgendwo in der Mitte. Das Loch war in der Asche und die Asche gehörte dem weisen Tju. Der weise Tju sammelte an dem Tag seltene Kräuter, trockene Wurzeln und wohlklingende Steine. Diese vertraute er nur seiner Asche an. Eigentlich gehörte die Asche auch nicht ihm, sondern der stimmenlosen Saja.
Ach, das ist ja wirklich irgendwo in der Mitte. Wahrscheinlich fängt es mit dem silbernen Regen an, der einmal in 3000 Jahren auf die Erde fällt.

Der silberne Regen ist eine unsichtbare Kraft und besteht nur aus drei Regentropfen, die niederfallen und diejenigen erreichen, die ihre Macht dann in anderer Gestalt weitertragen sollen. Dieses seltene Ereignis ist ein großes Fest für jeden Magier, Zauberer und Hexer. Jahrelang bereiten sie sich vor, in der Hoffnung, dass der Silberregen sie auswählen wird. Jeder Magier fertigt ein Tauschgeschenk an, eine hoch entwickelte Zauberfähigkeit, ein leibliches Opfer für den Silberregen. Die Überlieferungen berichten von zwei Zauberern, die diese seltsame Kraft für sich entscheiden konnten: die stimmenlose Saja und der weise Tju. Das Schicksal des dritten Tropfens ist unbekannt und taucht in keinen Sagen auf. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung zu wissen, wo er niedergefallen ist. Denn die Zeit ist reif und schon bald werden die drei Tropfen sich wieder vereinigen.

Doch zuerst das, was uns die Überlieferungen erhalten haben und was schon längst zu den Stamm- Sagen der Zauberkunst gehört:
Die wunderschöne Sängerin Saja beherrschte als Erste die filigrane Kunst des mehrstimmigen Singens. Jeden Morgen, vor dem Sonnenaufgang setzte sie sich ans Ufer des schlafenden Flusses und ließ ihre langen, pechschwarzen Haare vom Wasser tragen. Die Wellen reinigten und kämmten ihr Haarwerk und Saja sang ihre unvergesslichen Lieder. Ihr Klang erreichte jeden Mensch, jedes Landtier, jeden Vogel und jeden Fisch. Denn Saja hatte für jeden seine eigene Stimme, seine eigene Tonfolge und eigene Geschichte. Sie sang vom Glück, und es war wirklich ein wahres Glück, ihren Gesang empfangen zu dürfen. Die Sonne ging auf und fiel auf die lachende Saja, die ihre goldenen Haare aus dem erwachenden Fluss herauszog. Als der Silberregen kam, bot Saja ihm ihren allergrößten Schatz an, ihre Stimmen. Und sie bekam den kostbaren Tropfen. Und so wurde sie zur stimmenlosen Saja, die nicht sprechen und nicht lachen konnte.



Alle Wesen verloren damit sehr viel. Und jedes entgegnete auf seine Art. Die Fische schworen nie wieder ihre Laute zu gebrauchen, um die Erinnerung an den wunderschönen Gesang nicht zu verunreinigen. Die Vögel dagegen nahmen sich vor, die mehrstimmige Kunst zu erhalten und jedes Mal im Morgengrauen zu üben, doch sie erreichten bis heute nicht Sajas Vollkommenheit.
Gleich nach dem Tausch schnitt sie ihre Zauberhaare ab und flocht daraus eine schöne Tasche. Diese Tasche hatte eine wundersame Eigenschaft. Sie konnte alles, was man in sie hineinlegte, zu einer gewünschter Zauberspeise oder Gebräu zusammenfügen. Mit dieser Tasche verließ Saja den Fluss und ging auf Wanderschaft.

Der despotische König und schwarze Magier Ju strebte sein ganzes Leben nach Herrschaft und Macht. Früh entdeckte sein scharfer Verstand, dass die uneingeschränkte Macht, auch über das Leben und den Tod, nur mittels unsichtbarer Kräften möglich ist. Für seine Erforschung der Magie erließ er eine besondere Steuer, kaufte sich die seltensten Bücher und bestellte die besten Lehrer. Mit eiserner Disziplin arbeitete er Tag und Nacht hart an der übernatürlichen Selbstbeherrschung. Unermüdlich durchdrang er geheime Sphären und erzwang viele magische Fähigkeiten. Nicht für gute Zwecke setzte er diese ein. Gleich drei Kriege erklärte er den Nachbarkönigreichen. Mittels seiner schwarzen Kunst gewann er diese, eroberte und versklavte die freien Völker. Als der silberne Regen kam, sah der schwarze Ju die einzigartige Gelegenheit an eine derart starke Macht zu kommen, die ihm ermöglichen würde, die ganze Erde zu beherrschen. Er setzte alles auf eine Karte, bündelte seine magischen Fähigkeiten und bot sie zum Tausch an. So bekam er den ersehnten Tropfen und wurde zum weisen Ju – einem grauhaarigen Weisen, der den Verlauf der Schicksale mitbestimmt. Er befreite all die unterdrückten Menschen und sich selbst von seinem königlichen Titel.
Mehr berichten die Überlieferungen nicht. Doch genau hier fängt die Geschichte des dritten silbernen Regentropfens an. Die stimmenlose Saja ist weitergezogen und auch der weise Ju hatte sich aufgemacht, um andere Tropfen zu finden und ihre Zauberkraft zu vervollkommnen. Lange streiften sie durch verschiedene Gegenden und Länder, bis die stimmenlose Saja mittels ihrer Zaubertasche eine Tinktur braute, die ihr einen Adlerblick verlieh. Mit diesem Blick durchdrang sie Berge und Wälder, die Zeit und das Schicksal und erblickte den weisen Ju. Nun wusste sie, wer der Träger des zweiten Regentropfens war und bald darauf fand sie ihn auf der Lichtung eines Waldes. Die Tropfen zogen sich an und der weise Zauberer hatte viel von sich zu erzählen. Sie verbrachten die ganze Nacht zusammen und verbanden ihre Mächte. Als Zeichen ihrer Dankbarkeit schenkte die stimmenlose Saja dem weisen Ju im Morgengrauen ihren einzigen Besitz, ihre wunderschöne Tasche. Feierlich nahm der weise Ju die Tasche an sich und sprach eine starke Zauberformel aus. Dadurch wuchs die Tasche in seinen Körper ein und er bekam ein „T“ in seinen Namen. Der weiße Tju bewunderte seine Asche und wollte auch ein Geschenk an die stimmenlose Saja überreichen. Doch sie entfernte sich und verschwand unbeschenkt.


Haupt 2



Um den Adlerblick zu bekommen und den dritten Tropfen zu finden, sammelte der weise Tju an dem Tag seltene Kräuter, trockene Wurzeln und wohlklingende Steine. Diese vertraute er nur seiner Asche an. Doch als er die nächste Wurzel in die Asche legte, entdeckte er drinnen ein kleines Loch. Entsetzt starrte der weise Tju das Loch an. Das bedeutete nicht nur das Aus für die Zauberasche, sondern das Loch war in seinem eigenen Körper, in seinem Zaubernamen, in seiner Seele. Und der weise Tju sah keine Möglichkeit es zu stopen. Die stimmenlose Saja, die mit ihrem Adlerblick das Schicksal durchdrang, wusste, dass ihre Tasche nicht mehr länger halten würde und sah darin eine Gelegenheit ihren Gegner auszuschalten.
Das Loch aber wuchs und wuchs. „Diese alte Hexe!“ fluchte der weise Tju. Als er sich jedoch wieder besann, verstand er, dass sein Tauschgeschenk richtig war und dass er im Gegensatz zur stimmenlosen Saja seine Bosheit und nicht die Güte verlor. So bekam er Zuversicht und Mut, sich dem schnell wachsenden Loch zuzuwenden, um es selber in Griff zu kriegen. Das Loch sah schon so groß wie die ganze Asche aus. Der weise Tju musste schnell handeln. Entschlossen sprach er eine mächtige Zauberformel und sprang ins Loch. Es war das Unglaublichste und Verrückteste was ein Mensch je getan hat. Im Loch verlor der Zauberer seinen Körper, seinen magischen Namen, seine Vergangenheit – alles fiel von ihm ab, wie die Herbstblätter vom Baum. Seine Seele wurde kleiner und
kleiner. Nur ein Hauch des letzten Gedanken spendete noch ein Lebenslicht – und erlosch.





Haupt 3



Es saß am Tisch ein Stehen, ein Gehen, ein Sitzen und ein Liegen. Sie stritten, wer von ihnen wichtiger sei. „Ich bin wichtiger“, sprach das Stehen, „mit mir steht und fällt alles!“ „Nein“, entgegnete das Gehen, „ich bin wichtiger, ohne mich geht hier gar nichts!“ „So ein Quatsch“, mischte sich das Sitzen ein, „ohne mich würdet ihr hier nicht sitzen können!“ „Ihr liegt alle falsch“, gab aus der Ecke von sich das faule Liegen, „ich bin das Wichtigste!“ „Wenn ihr mich fragt“, sagte das Sprechen, „seid ihr alle ziemlich dumm! Ihr müsst nur hören welchen Unsinn ich für euch reden muss!“ „Ich will es aber gar nicht hören!“, trotzte das Hören.
Das Sehen blickte sehnsuchtsvoll durch das Loch in eine Welt, wo alles Ganz war, wo alles zusammenpasste. Doch dann überfiel ihn die grausame Müdigkeit. Sie raubte dem Sehen seine Augenblicke, zerstörte die schönen Bilder und verschlang sogar das Loch.
Panik breitete sich im Hühnerstall der Gedanken. Stehen, Gehen und Sitzen rannten und gackerten erschrocken blind durcheinander. Nur das Liegen lag wie immer faul in der Ecke. Die schonungslose Müdigkeit verfolgte alle mit Messer und Gabel in der Hand, spießte sie auf und verspeiste sie eins nach dem anderen. Im riesigen dunklen Bauch schmorten sie im ätzenden Saft der Trübheit. Qualvolle Schreie hörte das Hören vom Sprechen. Jedoch vergeblich. Stehen, Gehen, Sitzen und Sehen konnten nicht gemeinsam gegen die Müdigkeit ankommen und Liegen wurde auch eine leichte fette Beute in seiner Ecke. Nur eines übersah die Müdigkeit: das blinde, stumme, kleine Hüpfen. Es hüpfte als letztes aus dem Loch und war mit dieser Welt noch nicht vertraut. Die Müdigkeit war aber mit sich und ihrem Werk völlig zufrieden und satt. Gerade eben wollte sie ihre Beute verdauen und sich zum Schlaf hinlegen, da hüpfte ihr das kleine blinde Hüpfen auf den Fuß.
„Ah, ein Nachtisch!“, grinste die Müdigkeit und leckte sich die Lippen, „wie heißt du Kleines?“ Doch sie bekam keine Antwort vom stummen Hüpfen. Als sie das bemerkte, befreite sie mit einem kleinen Räusperchen das Sprechen. „Mama, Mama!“, rief das Sprechen für das Hüpfen aus, das freudig auf dem Fuß der Müdigkeit sprang. „So ein Quatsch, ich bin nicht deine Mutter! Ich bin die grausame Müdigkeit, siehst du das nicht?“ „Nein, Mama, ich kann nicht sehen“, antwortete das Sprechen für das kleine Hüpfen. Die Müdigkeit hatte keine Lust Mutter zu sein und befreite das Sehen „So, jetzt siehst du wer ich bin.“ „Ja, das sehe ich“, sagte das Hüpfen und sprang aus aller Kraft dorthin, wo die Müdigkeit ihre Schwachstelle hatte – in den weichen, weißen Unterleib der Torheit. Die Müdigkeit platzte wie eine ausgedehnte Seifenblase und befreite Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen und das Loch.





Haupt 4



Die stimmenlose Saja wurde zur mächtigsten Zauberin, die jemals auf der Erde gelebt hat. Durch die Kraft der Silbertropfen war ihr Einfluss uneingeschränkt. Sie erschuf ihre eigene Welt, ihr eigenes Pantheon, wo sie selbstverständlich den höchsten Rang einnahm. Sie legte ihren alten Namen ab und nannte sich „Kimora“. Selbstverliebt und von der Vollkommenheit ihrer Macht geblendet, herrschte sie über alle lebendigen und unlebendigen Ausprägungen des Daseins, ohne einen Gedanken an die Gegenwart weiterer Mächte zu verschwenden. Sie hielt sich für eine Göttin und sah keine ihresgleichen. Doch eines Morgens erwartete sie eine böse Überraschung. Auf ihrem Frühstückstisch (der sich über mehrere Meilen erstreckte und eine Vorzeigetafel für all die unwürdigen Zauberer war) fehlten diesmal die Frühstückseier. Kimora traute ihren Augen nicht. Statt Frühstückseiern lag eine unverschämte Botschaft, mit Hühnerfedern gekritzelt, auf dem Tisch:
„Kimora, du hast nun lang genug unsere Kinder gefressen. Speise jetzt deinen eigenen Nachwuchs zum Frühstück! Ach ja, du hast ja gar keinen. Mit dir wird dein Geschlecht untergehen!
Die Hühner“
Hühner?? Hühner?!! Ausgerechnet die Hühner, die wohl schwächsten Geschöpfe in der Zauberkette der Kimora, erklärten einen Aufstand. Hühner, lächerlich… dachte sich Kimora. Das ist doch eine gute Gelegenheit, um allen zu zeigen, was geschieht, wenn sich jemand Kimora widersetzt. Mit der Kraft ihrer Gedanken schuf sie in einem Augenblick ein Heer von hundert Riesen, die mit ihren mächtigen Häuptern bis zum Himmel ragten. Die Wolken dienten ihnen als Helme und sie waren mit Donner und Blitz bewaffnet. Kimoras Heerschar zog unverzüglich los und im Tal, welches noch heute als Tal der Tränen bekannt ist, traf sie später auf die Streitmacht der Hühner. Im Tal der Tränen ereignete sich die erste große Schlacht um die Freiheit der Hühner.


Haupt 5



Das Heer der Kimora stand regungslos da und wartete auf den Einzug der Hühner. Ihre undurchdringlichen Rüstungen glänzten in der Sonne, die Schatten, die sie warfen, bedeckten meilenweit die Erde. Keiner hatte dieser Heerschar etwas entgegenzusetzen. Kimora selbst schaute mit ihrem geistigen Auge ins Tal und ihre Macht war auf der Erde allgegenwärtig. Und dann…, und dann kamen die Hühner. Von den Kampfhähnen angeführt war eine Herde von gackernden, stolpernden und durcheinander springenden Hühnern zu erkennen, schwer bewaffnet mit alten, abgetragenen Latschen, durchgebrannten Tiegeln und sonstigem durchlöcherten Krimskrams, den sie unterwegs gesammelt hatten.
Bei diesem Anblick kriegte Kimora einen Lachanfall. Und mit ihrer Herrin lachte die ganze Streitmacht der Riesen. „Das soll der Gegner sein? Ha-Ha-Ha! Was haben sie denn für Rüstungen? Nur zerrissene Unterwäsche! Ho-Ho-Ho!“ Kimora vergnügte sich prächtig und ihre heldenhaftes Heer lag schon vor Lachen auf dem Boden gekrümmt. Die Riesen kullerten auf der Erde herum, schlugen wild mit Armen und Beinen und vergossen vor lauter Gejauchze sogar Tränen. Als Kimora endlich fertig gelacht hatte, war ihr die Freude vergangen. Das Tal hatte sich mit Tränen gefüllt und in diesen Tränen ertrank ihre unbesiegbare, lachende Streitmacht der Riesen. Die Kampfhähne stelzten kriegerisch am Ufer des Tränensees entlang, brüsteten sich und pickten blitzschnell die heraufgeschwemmten Würmer auf. So endete die erste große Schlacht um die Freiheit der Hühner im Tal der Tränen.





Haupt 6



Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen und das kleine Hüpfen in Begleitung von Sehen, Sprechen und Hören flogen durch das fremde Loch. Ohne Boden, ohne Halt und ohne Zeit war dieser Flug unheimlich, unerträglich, quälend. Das Sprechen äußerte das deutlich und stellte die Frage, wie man diesen Zustand möglichst rasch beenden könne. Das Hören schenkte ihm Aufmerksamkeit, sie reichten einander die zittrigen Hände und umarmten sich. „Wir müssen zusammenhalten!“, rief das Sprechen aus, „vielleicht schaffen wir es gemeinsam den Fall zu beenden“ Sie klammerten sich aneinander fest und bildeten langsam ein neues Gebilde, das auch das Loch in sich hielt. So entstand ein neues Wesen, ein bis dahin unbekannter Gott stieg auf – der Gott der Hühner.


Haupt 7



Als O noch ein kleiner Junge war, besaß er eine Zündholzschachtel. Dort lebte auf einem Stückchen Fütterung eine kleine schwarzweiße Katze. Damals hatte O keine Freundin und keinen Freund und es war schön, dass die Katze da war. Die Zündholzschachtel stand auf dem Fensterbrett und jeden Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Glasscheiben fielen, wachte die Katze auf. Sie streckte sich, schärfte ihre Krallen, gähnte und leckte ihr Fell sauber. Der Junge wachte auch auf und schaute ihr zu. Es war ein friedliches Bild. Dann stand er auf, wusch sich, zog sich an, packte die Streichholzschachtel in die Hosentasche und ging hinaus. Die Katze in der Schachtel begleitete O überall hin. Sie schlief dort ruhig und als der kleine Junge wieder zu Hause war, durfte die Katze im Zimmer herumtoben. Mit seiner Katze redete O gern. Er erzählte ihr dieses und jenes, was er sah und was er hörte und wie er sich fühlte. Mit keinem anderen sprach er so viel wie mit der schwarzweißen Katze. Er erzählte, wie schön die Bäume sind und sang ihr das Lied des Baches vor. Die Katze schaute ihm dabei ruhig zu und schnurrte vor sich hin.
Einmal am Nachmittag saß der kleine O auf der Terrasse und schaute durch die geöffnete Tür in die Ferne. Die Katze lag gemütlich in ihrer Zündholzschachtel und guckte aus dem Fenster. Sie sprachen nicht. Der Junge war in seine Gedanken versunken und die Zeit floss sehr langsam. Die beiden waren gleich gesinnt, beide waren berührt von der Weite der Landschaft, bezaubert von ihrer Schönheit.
„Was wünschst du dir?“, fragte die Katze plötzlich. Der Junge wunderte sich nicht, dass die Katze sprechen konnte und antwortete nachdenklich. “Ich würde so gern diese Ferne erfahren. Etwas ganz neues, etwas anderes als mein Zuhause. Ich habe eine große Sehnsucht danach, aber alles, was ich sehe, wenn ich mich dorthin begebe, ist die Nähe und nicht die Ferne. Es ist nicht neu, ist nur die Abwandlung des Alten, ist nur ein weiteres Zimmer des Hauses.“ „Das kann ich verstehen, nickte die Katze. Du bist viel zu groß. Das hindert dich. Du kannst nicht all diese Löcher und Spalten im Haus sehen, geschweige denn, durch sie hindurch kriechen, um deine Welt zu verlassen.“ „Ach, ich würde so gern die Welt mit deinen Augen sehen können“, gab O zu. “Es ist nicht so schwer, wie du denkst“, entgegnete ihm die Katze. „Ich brauche dazu nur eine Träne aus deinem linken und eine Träne aus deinem rechten Auge.“ „Aber ich will nicht weinen“, antwortete der Junge. „Ich bin gar nicht traurig.“ „Denk mal darüber nach, dass du sonst deine Welt nie verlassen würdest. Ist das kein Grund zum Heulen?“

Und tatsächlich wurde O traurig und aus seinen Augen kullerten zwei Tränen heraus. Die Katze saß schon unten und wartete darauf. Die Träne aus dem linken Auge des Jungen fiel herunter und traf das rechte Katzenauge. Und umgekehrt. Die rechte Träne fiel auf das linke Katzenauge. „Jetzt lege dich hin“, sprach die Katze, „und schließe deine Augen“. Kaum schloss O seine Augen, konnte er auf einmal mit den Augen der Katze sehen. Das Zimmer sah aus ihrem Blickwinkel riesengroß aus. Und tatsächlich, man konnte hier und dort ganz deutlich Risse, Spalten und Löcher in der Welt erkennen. Der Junge wunderte sich, doch die Katze sprang aus ihrer Zündholzschachtel heraus und kroch in einen Spalt. Die Tränen des Junges hingen an ihren Augen und dadurch konnte O all das sehen, was die Katze wahrgenommen hatte. Das erste, was O außerhalb seiner Welt sehen konnte, war die schwarzweiße Katze.
„Was ist das? Warum sehe ich nur dich?“ „Das ist ein Spiegelgang“, antwortete ihm die Katze. „Seine Wände, aber auch die Decke und der Fußboden haben eine glatte Oberfläche. Deshalb kann man hier nur mein Abbild sehen. Hier müssen wir durch.“

Und sie lief munter durch sich selbst, vom vorne bis zur Spitze ihres Schwanzes. Als die Katze den Spiegelgang passierte, erblickte O eine riesige Spinne. Sie stand auf ihren acht Beinen und versperrte den ganzen Weg.
„Eine Spinne!“, rief der Junge erschrocken aus, „Was machen wir jetzt?“ „Schau mal genau hin“, entgegnete ihm die Katze, „und du wirst sehen, dass es keine Beine sind, sondern dicke Seile und das kein Spinnenkörper ist, sondern ein mit Stroh gefüllter Sack.“ „Ach ja, jetzt sehe ich es. Aber warum bewegt sich dieser Sack?“ „Das ist die Schwierigkeit dabei. Der Strohsack mit den acht Seilbeinen lebt tatsächlich und wir müssen irgendwie an ihm vorbeischleichen.“ „Ach du heiliger Strohsack, das ist ja noch schlimmer!“ „Der Strohsack lebt, immer wenn du vor ihm Angst hast. Stell dir vor, dass es nur ein Sack ist, dann lebt er nicht mehr!“

Der Junge dachte noch darüber nach, aber die Katze sprang schon dem Strohsack zwischen die Beine und erreichte eine andere Welt. Dort blieb sie stehen. „Ich komme nicht weiter“, sprach sie, „vor mir ist ein unsichtbarer Wall. Höre zu!“ - sie spitzte ihre Ohren. Der Junge hörte einen wunderschönen Gesang, der aus der Erde emporstieg. „Ich bin zu schwer“, sagte die Katze, „du sollst nun allein weiter reisen.“ „Wie, allein?”
Die Katze aber schüttelte sich kräftig und die Tränen des O fielen von ihren Augen auf den unsichtbaren Wall. Ein lauter Ton schoss aus der Erde und hob beide Tränen in die Höhe. Der Junge sah sich diese wunderliche Welt von oben an, bis die Tränen oben in der Luft austrockneten. Das Salz der Tränen rieselte jedoch in die drei Meere hinein: in das blaue, in das rote und in das grüne Meer und führte zu mächtigen Veränderungen. Die Meere fingen an zu brodeln und schufen eine silberne Wolke, die einmal in 3000 Jahren auf die Erde fällt.





Haupt 8



„Oh, mein Kopf“, stöhnte der neugeborene Hühnergott, „wer bin ich, wo bin ich?“ „Du bist ein Gott und befindest dich in deinem Tempel“ zwitscherte fröhlich eine kleine, weiße, dicke Frau von rechts. „Gott? Eher ein Göttchen“, grinste ein langer, dünner, schwarz gekleideter Mann von der linken Seite. Der Hühnergott schaute sich um: der riesige Tempel war festlich geschmückt mit weißen Hühnerfedern. „Und wer seid ihr?“ „Wir sind deine Berater“, grinste der lange Mann erneut, „ein Engel und ein Teufel. Falls du es noch nicht mitgekriegt hast, deine Birne ist leer und du brauchst bestimmt unsere Unterstützung.“ Der Hühnergott fasste sich an den Kopf und stellte mit Erschrecken fest, dass er statt Ohren ein riesiges Loch im Kopf hatte. „Oh mein Kopf…“, fing er wieder an zu jammern. „Ach, sieh die Sache doch im guten Licht“, versuchte der Engel ihn zu beruhigen. „Was soll schon Gutes an einem Loch sein, das fast so groß wie der ganze Kopf ist?“ „Na ja, du wirst nie mehr Kopfschmerzen haben, und außerdem vergiss nicht: du bist ein Gott!“ „Der Hühnergott“, berichtigte gleich der Teufel, „der kleinste Gott, den man sich vorstellen kann.“ „Und was soll ich als Hühnergott tun?“ „Es gibt genug Pflichten, denen du nachgehen musst“, holte der Teufel tief Luft. „Dein Volk, die Hühner, leiden unter der Herrschaft der gewaltigen Kimora“, mischte sich der Engel ein, „sie hat einen unglaublichen Hunger und esst zum Frühstück eine Unmenge an Eiern.“ „Und, was geht mich das an?“, der Hühnergott zeigte wenig Interesse an der Geschichte. „Das sind alles Kinder der Hühner“, empörte sich der Engel, „als die Hühner hörten, dass sie einen eigenen Gott bekämen, stellten sie sofort die Eierlieferung ein und erklärten damit Kimora, der mächtigsten Zauberin aller Zeiten, den Krieg.“ „Ja“, bestätigte der dünne, schwarze Teufel, „jetzt hast du Kimoras Heer am Hals. Es schreitet fort, um die Hühner, dein Volk, zu vernichten.“ „Na dann macht doch irgendwas“, sprach der Hühnergott griesgrämig. „Wir sind nur deine Berater, entgegnete der Engel, die Entscheidungen musst du selbst treffen.“ „Dann sollen die Hühner eben kämpfen!“ „Aber sie haben doch keine Waffen…“ „Lasst mich in Ruhe mit euren Kram! Ich kann doch gar nicht denken, ich habe ein riesiges Loch im Kopf!“, der Hühnergott versuchte sich mühsam an seine Vergangenheit zu erinnern, doch er konnte nur Einzelheiten wiedererkennen: Da stand er, da sprach er und irgendwo lag er einfach faul in der Ecke… „dieses schreckliche Loch“, stöhnte er wieder, „das soll Kimora mal erleben!“ „Unsere Streitmacht mit dem Loch bewaffnen?“, das Grinsen des Teufels wurde noch breiter, „welch geistvoller Urteil! Gestatte mir, oh Allmächtiger, ich werde selber die Hühnerarmee in die Schlacht führen!“ „Aber nur, wenn du den Engel mitnimmst“, entgegnete der Hühnergott, „ich brauche meine Ruhe!“ Er versuchte mit ein paar Gedanken das Loch in seinem Kopf zu stopfen, doch alles fiel auf der anderen Seite wieder heraus.
Der dünne schwarze Teufel und das dicke weiße Engelchen gaben sich die Hände und hüpften kichernd davon.



Haupt 9



„Der dritte Silbertropfen!“ Kimora schüttelte nachdenklich ihren kahlen Kopf. „Das, was hinter diesen Hühnern steht, muss den dritten Tropfen von der silbernen Wolke besitzen. Wie kann man sonst diesen Sieg der Hühner erklären? Und dieser dritte Tropfen scheint mächtiger zu sein, als das, was mir gehört.“ Sie schloss sich in ihre Zauberbücherei ein und fing an, die alten Manuskripte über die Entstehung und Wirkung der silbernen Wolke zu lesen. Sie erfuhr jedoch lediglich, dass der Inhalt dieser Wolke aus dem Salz der drei Meere besteht: des blauen, des roten und des grünen. Und dass der dritte Tropfen wohl der wichtigste sei. Denn „…wenn die Zeit reif wird, wird der dritte Tropfen die anderen zwei vereinigen und sie werden gemeinsam ihre Heimat aufsuchen.“
„Ihre Heimat!“, staunte Kimora, „die Quelle der Zauberkraft! Ich muss diesen dritten Tropfen finden!“.



Haupt 10



Eigentlich war das Volk der Verper äußerlich nicht anders als jedes andere Volk: Sie lebten in einem ergiebigen Land, hatten ihren König Muxa und zahlten anständig Hofsteuer. Doch bei genauerer Betrachtung war dieses Volk sehr wohl ungleich den üblichen Gemeinschaften. Sein Geheimnis wurzelte in einer verborgenen Eigenschaft eines jeden Verpers, der Fähigkeit die Gedanken der anderen Verper zu hören. Möglich war dies allerdings nur indirekt, übermittelt durch ihren König Muxa. Drum genoss der König selbstverständlich das uneingeschränkte Vertrauen seiner Untertanen und war für sein Volk unersetzbar. Seinen Aufgaben ging der König Muxa eigentlich gerecht und uneigennützig nach. Bis zu dem Augenblick, diesem tragischen Augenblick, als der Silberregen kam. Da verriet König Muxa sein Volk und bot dem Himmel als Tauschgeschenk eine verborgene Fähigkeit, die nicht nur ihm alleine gehörte, sondern ein Bestandteil des ganzen Volkes war. Er tauschte sie in der Hoffnung, den Zaubertropfen ganz für sich allein beanspruchen zu können. Und dieser Verrat konnte nur schief gehen. Seine unüberlegte und selbstsüchtige Entscheidung fasste er in dem Moment, als es regnete. Seine Untertanen wussten jedoch augenblicklich darüber Bescheid. Eine Welle der Empörung ging während des magischen Tausches durch jeden Verper durch das gesamte Volk. Die Verper weigerten sich selbstverständlich ihre verborgene Fähigkeit freizugeben und stimmten sich entschlossen dem Tausch entgegen.
Doch der Silbertropfen war bereits unterwegs zum König Muxa. Muxas Zauberkraft, nicht stärker als die geballte Kraft seines Volkes, konnte in diesem Augenblick sein Versprechen an den Himmel nicht halten. Es war für ihn gar nicht möglich, das Tauschgeschenk abzugeben. Der Zaubertropfen fiel ohne den magischen Ausgleich und veränderte unterwegs sein Zustand: Der eisige Wind des Verrates brachte den Tropfen zum Einfrieren und schon bald tanzte in der Luft eine undurchlässige Schneeflocke.
Seinem schrecklichen Schicksal ausgesetzt, kniete der armselige König vor ihr nieder und die Schneeflocke schlug ihn mit einer ungeheuren Wucht. Da schrie Muxa auf und fiel zu Boden, einem Stein ähnlich und mit ihm wurde jeder seiner Untertanen versteinert. Von allen Seiten drangen die quälenden Schreie auf König Muxa ein. Ja, die Verper behielten ihre verborgene Fähigkeit, sie wurde sogar durch die Silberschneeflocke verstärkt, doch sie konnten dadurch nur das gegenseitige Leid anhören und ihren hilflosen König Muxa für alle Ewigkeit verfluchen.





Haupt 11



Um an den Träger des dritten Tropfens, der hinter den Hühnern stand, zu kommen, spann Kimora einen tückischen Plan. Sie schrieb den Hühnern einen Zauberbrief, eine Entschuldigung für ihre Untaten der Vergangenheit, aber auch gleichzeitig die Zusicherung, dass keiner mehr Hühnereier, geschweige denn Hühnerfleisch als Speise missbrauchen würde. Sie bot den Hühnern damit ihre Freundschaft an und richtete einen frommen Segenswunsch an den „Haupthahn“. Diesen Brief faltete sie 17 Mal zusammen, steckte ihn in einen versiegelten Umschlag und sendete ihn an die Hühner. Da die Hühner die raffinierte Kunst des Lesens nicht begriffen hatten, kam der Brief beim Hühnergott an. Der Engel machte den Umschlag auf und in demselben Augenblick öffnete sich ein Fenster im Palast der großen Zauberin. Der Engel erschauderte, als er merkte, dass Kimora ihn selbst aus dem Umschlag anstarrte, und ließ ihn auf den Boden des Tempels fallen. Der Brief entfaltete sich und die Hälfte des Hühnertempels verwandelte sich in Kimoras Palast.
„Oh Gott“, kniete Kimora vor dem Altar des Hühnergottes nieder, „verzeih mir, Unwürdiger, ich konnte es nicht wissen!“ „Ein Gott?“, der Hühnergott lächelte schief, „ich bin eher ein Göttchen“. „Wie kann ich meine Schuld bloß begleichen?“, fuhr Kimora unaufhaltsam fort, „Wie kann ich Ihrer Göttlichkeit dienen?“ „Ach, weißt du, ich habe in meinem Kopf so ein hässliches Loch. Doch egal was ich rein stopfe, alles fällt auf der anderen Seite raus. Wenn du es wegkriegen könntest, wäre das ganz nett.“ „Ein Loch? Nichts leichter als das!“
Kimora sprang auf und zog aus ihrem Rock ein Lederband. Mit einer einzigen Bewegung steckte sie dieses durch das Loch des Hühnergottes und sprach eine Zauberformel aus. Der Hühnergott wurde kleiner und kleiner, schrumpfte zusammen und Kimora hängte ihn jubelnd um ihren Hals. Der Hühnergott zappelte hilflos mit seinen Armen, er schlug mit den Füßen gegen Kimoras Brust, bis er merkte, dass sein Kopf nicht mehr leer war, sondern mit dem Lederband gefüllt. Dieser Lederband war die verwandelte Kimora selbst, die in das Innere des Hühnergottes vordrang um sein Geheimnis zu entlüften. Doch dort sah sie nur zwei Augen, die vom Lederband lasen:

„Wenn ein Stein ins Wasser fällt,
rollen Wellen in die Welt.
Fängt eine Geschichte an,
so verändert sie sodann
Deine Zukunft, wie Dein Sein,
dieses Band ist mehr als Stein.“

Der Brief faltete sich zusammen und Kimora verschwand aus dem weißen Tempel mit dem Hühnergott an ihrer Brust.


Haupt 12



Der von Klagen und Flüchen überhäufte König des versteinerten Volkes gab die Hoffnung auf die Erlösung seiner Untertanen nicht auf. Die Zauberkraft des dritten silbernen Tropfens weitete nämlich seine verborgene Fähigkeit außerhalb des eigenen Volkes auf die Welt der Tiere aus - auch auf die der Vögel und Kerbtiere, die in der Nähe der Versteinerten hausten. Er befreundete sich mit der Ameisenkönigin und versprach ihr seinen treuen Dienst, falls sie ihm aus der Patsche hülfe. Er musste um jeden Preis dem Volk seine Schuld begleichen und es befreien. Die neuen Verbündeten des Versteinerten, die Ameisen, kamen also zu dem riesigen Felsen und brachen ein Sandkorn nach dem anderen von Muxas Steinleib ab. Diese Sandkörner trugen die fleißigen Ameisenarbeiter überall in die Welt hinaus und verstreuten sie auf allen möglichen Wegen. So konnte Muxa seine verborgene Fähigkeit ausbreiten und noch mehr Nachrichten aus der Welt erhalten.
Zu seinem Glück oder Schicksal waren die Hühner schon immer von allen möglichen Sandkörner, Steinchen oder sogar richtig großen Steine besessen. Hauptsache, diese passen in ihre Schnäbel und lassen sich einigermaßen herunterschlucken. Man munkelte, dass der große, angeberische Kampfhahn sogar schon einmal den Stein der Weisen gefressen hatte, was ihm danach sehr große Schwierigkeiten beim Wiederausscheiden desselben bereitete.
So waren es die Hühner, die Muxas Sandkörner verschlangen und für seine inneren Ohren ihre Geschichte des entführten Hühnergottes offenbarten. Es war die Gelegenheit, auf die der versteinerte König so lange und geduldig gewartet hatte. Er wandte sich an die Hühner mit dem bescheidenen Angebot, ihnen beim Kampf gegen Kimora zu helfen.


Haupt 13



Der Hühnergott hatte eine unruhige Nacht. Zum ersten Mal, bedingt durch den Lederband in seinem Kopf, hatte er einen Traum. Dort erschien ihm der grinsende Teufel, der ständig wissen wollte, womit die Hühnerarmee sich bewaffnen solle, der mit Sand spielende Engel, das Tal der Tränen und der leckere, leckere grüne Tee. Als er aufwachte, hing er immer noch an Kimoras Brust. Sie schlenderte gerade Richtung Speisesaal, als von der Bedienung die Nachricht kam, dass aus der Küche über Nacht alle Teebeutel spurlos verschwunden waren.
„Teebeutel?“, erinnerte Kimora sich an den seltsamen Traum im Kopf des Hühnergottes. „Diese dummen Hühner haben wohl nicht genug vom Krieg, ja, sie haben ihre Lehre noch nicht erhalten!“ Zornig klatschte sie in die Hände und beschwor eine finstere Schar der Geister. Sie selbst sprang in die Luft und flog an der Spitze ihrer Streitmacht zum Tal der Tränen.

Diesmal wartete die Hühnerarmee auf sie. Die Hühner versammelten sich um einen riesigen Becken, worin tausende von Teebeuteln aufgekocht wurden. Die Schlacht begann ohne große Worte oder Vorwarnungen. Die Hühner schossen die heißen Teebeutel mit einer ätzenden grünen Flüssigkeit in die Luft und trafen die ersten Reihen des Geisterheers. Obwohl dieses Bild völlig skurril und absurd war, lachte Kimora diesmal nicht. Sie richtete ihren vernichtenden Blick auf die Hühnerherde und es wäre sicher vorbei gewesen mit dem Stamm der Hühner, wäre in diesem Augenblick nicht von Osten her der Sandsturm aufgekommen. Der Sand blendete das Geisterheer, versteckte die Hühner… „Mit Sand spielender Engel!“ erinnerte sich Kimora erneut an den Traum des Hühnergottes. Und… es reichte eine Bewegung ihrer Hand um den Sandsturm zu bändigen.

Stille stellte sich plötzlich ein. Alles erstarrte, keiner traute sich zu bewegen oder einen Ton von sich zu geben. Kimora stand auf der Erde, jedoch verstand die Welt nicht mehr. Der Hühnergott auf ihrer Brust war jetzt so groß, wie sie selbst, umhüllt von tausend Sandkörnern des Königs Muxa. Sie schauten sich gegenseitig an und dann bewegten sich in ihren Seelen winzige Teilchen der Silberwolke zueinander.

Sie sahen ein Strahlen ohne Licht,
Sie sahen ein Gebilde ohne Umrisse,
Sie sahen einen Brand ohne Flamme,
Sie sahen ein Meer ohne Flüssigkeit…

Und das Allerletzte, was sie noch wahrnehmen konnten, war das Lachen eines Jungen, des glücklichen O, des Weitgereisten.




Impressum

Texte: Illustrationen: Judith Kobor
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Nastassia und Konstantin

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