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Ein melancholischer Walzer Rhythmus tanzte in einem Crescendo durch die vom Zigarettenqualm neblige Kneipe. Am Piano saß Spencer, ein fünf und zwanzigjähriger Mann mit einem Melone auf dem Kopf, der einen cremefarbenen Anzug trug.
Er erhob seine raue Stimme:

"Deine Lippen waren ein Wasserfall aus Kirschblut,
sah ich deine azurblauen Augen, dann verschwand mein Mut,
warum bist du so schön und ich so allein,
können wir denn keine Vögel sein,
jedes Herz hört irgendwann zu schlagen auf,
ich muss hier raus, sag mir, lauf,
hol mich aus dem Meer, denn ich kann nicht schwimmen,
rettest du mich nicht, dann wird mein Herz verglimmen,
und alles was in mir wohnt,
ich warte auf dich am Horizont.

Jeden Tag sehe ich dich nach Hause gehen,
spüre ich deinen Duft im Wind, er wir wieder weg wehen,
warum ist dein Herz so warm und so kalt,
können wir uns denn nicht einfach hineinwerfen in die Naturgewalt,
jeder Quadratmillimeter Haut braucht doch Zärtlichkeit,
sonst verliert sich der Verstand in Bittererkeit,
ohne Liebe kann ich das Ufer nicht sehen,
dann versink ich im Schnaps, und werd langsam untergehen,
hörst du meine stummen Schreie nach Nähe denn nicht,
bitte hilf mir, warum hörst du mich nicht,
und die Seele die in mir wohnt,
ich warte auf dich am Horizont.

Hilf mir, denn ich komme nicht an dich heran,
Hilf mir, ich bin in mir gefangen!!"

Spencer beendete die Nummer mit einem gehörigen Klaviersolo, dabei kletterte er geschwind die C und E-Tonleitern aufwärts und runter, wodurch der Walzer etwas spanisches Temperament aufnahm, dann ließ er die Töne langsam leiser werden.
Die Gäste der Kneipe standen auf und applaudierten wild. Spencer stand auch auf und verbeugte sich verlegen.
Eigentlich hasste er solche Situationen, komponieren war viel spannender.
Er erinnerte sich an eine Geschichte seiner Mutter, sie hatte ihm erzählt, dass schöne Musik immer nur dann entsteht, wenn ein Musiker es schafft einen Geist in ein Lied zu bannen.
Die bloße Anwesenheit des Geistes jagt dann den Menschen einen kalten Schauer über den Rücken, ohne dass sie begreifen, warum das so ist.
Spencer mochte diese Geschichte, obwohl er nicht daran glaubte.
Er klappte die Klaviatur vorsichtig zu.
Das Publikum hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt, es war eine edle Kneipe, deswegen verlangte niemand eine Zugabe.
Bei Kneipenfestivals hatte es Spencer allerdings schon oft erlebt, dass die Leute wild „Zugabe!!“ riefen, aber dieser Job hier war etwas anderes, lediglich diesen einen eigenen Song durfte er spielen, „Ich warte auf dich am Horizont“.
So oft hatte er diesen Song nun schon gespielt, doch diesmal war etwas außergewöhnliches passiert.
Er hatte einen Geist gesehen, eine Frau von solch einer Schönheit, dass sie einfach nicht von dieser Welt sein konnte.
Durch jede ihrer Bewegungen erzitterte seine Welt, jeden Atemzug von ihr spürte er in seinem Herz, es raste vor Aufregung.
Die andern Gäste der Kneipe schienen durch sie hindurch zu gucken und auf eine sonderbare Art und Weise fühlte er sie ganz nah bei sich, obwohl sie gut zehn Meter entfernt an dem Tresen saß.
Spencer näherte sich ihr zögernd. Er setzte sich auf einen Barhocker neben sie.
Qualm waberte aus der Zigarette zwischen ihren Lippen, die fast bis zum mit Lippenstift beschmierten, weißen Filter herunter gebrannt war.
Die Frau drückte die Zigarette elegant aus, dann trank sie einen Schluck Cuba libre.
Die Eiswürfel darin klirrten.
Auch an dem Glas blieb ein wenig ihres Lippenstiftes zurück.
Jetzt erst sah Spencer durch die schwarzen Korkenzieherlocken hindurch, dass sie leise weinte.
Spencer bestellte sich auch einen Cuba libre, dann drehte er sich zu ihr.
»Ist alles O.K. mit Ihnen? «, fragte er vorsichtig.
»Lass mich einfach in Ruhe! «, sagte sie verbittert.
Doch selbst das hatte noch einen gewissen Stil, denn sie strich Spencer dabei mit ihrem Zeigefinger sanft über die Lippen.
Er musterte sie verwirrt.
»Wie soll ein Vogel ohne Flügel leben? «, flüsterte sie.
Spencer war sich nicht sicher, ob sie mit sich selbst, oder mit ihm gesprochen hatte.
»Indem er einen Berg erklimmt und sich dort ein Nest baut, so kann er weit über den Wolken leben und wird nicht von seinen Feinden gefressen, dort kann er vielleicht sogar Junge bekommen. «
Die Frau drehte sich zu Spencer.
»Und was ist, wenn er so weit über der Baumgrenze keine Nahrung findet und seine Familie verhungert? «
»Dann muss er eben so stark werden, dass er den Berg jeden Tag besteigen und herab klettern kann. «
»Und wenn er auf dem Weg gefressen wird, weil er nicht weg fliegen kann? «
Darauf wusste Spencer keine Antwort. Er dachte lange nach, dabei leerte er das Glas Cuba libre vollständig. Gut zehn Minuten später sagte er zu der Frau:
»Ihr Mann hat sie verlassen, oder? «
Sie drehte sich um, erwachte aus ihrer Trance und starrte ihn an.
Er sah die Spiegelung seines Gesichts in ihren Augen, so schwarz wie Ebenholz waren ihre Pupillen.
»Er hat sich umgebracht. «, flüsterte sie.
»Und Ihre Kinder? «
»Das geht dich nichts an! «
Spencer war tief ergriffen und wusste gar nicht so recht, was er sagen sollte, ohne sie zu verletzten, deswegen blieb er still.
Plötzlich sprang sie auf und zog ihn an der Hand nach draußen.
»Komm, ich will dir etwas zeigen! «
»Mmh. «
Draußen regnete es. Der Asphalt glitzerte und in den Pfützen spiegelten sich die Leuchtreklamen und Straßenlaternen.
Kleine Wellen ließen die Lichtspiegelungen tanzen.
Die Kneipenmeile erstreckte sich über fünf Kilometer.
Vereinzelte Betrunkene rannten in die U-Bahnstationen.
Doch Spencer tat die Abkühlung gut, auch der Frau schien es zu gefallen.
Nur Träumer können so was schön finden, dachte er, also ist die Frau tatsächlich ein Geist.
Nicht in dem Sinne, dass ihr Körper tot wäre, nein, ihre Seele war einfach zu groß, deswegen musste sie sich gelegentlich aus dem Körper befreien.
Solche Menschen sind sehr selten, dachte Spencer, und sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt. Menschen, die keine Träumer waren, konnten das nicht verstehen, denn sie wussten nicht um den Schatz, der in jeder eigenen Welt verborgen liegt, den Schatz der vollkommenen Freiheit, einer Freiheit, die in der wirklichen Welt nie möglich wäre.
»Ich heiße Semilia, und du? «, fragte sie ihn.
»Spencer. «
»Pass auf, Spencer, was macht ein Fisch, der Flügel hat? «
»Jeder Fisch hat Flügel, also fliegt er wahrscheinlich durch’s Meer, oder so ähnlich? «
»Du bist irgendwie anders. «, sagte Semilia.
»Warum? «
»Na, du lebst in deiner eignen Welt. «
»Ich?? Ist das schlimm für dich? «
»Nein, Dummkopf, das macht dich ... ach, egal ... «
»Mmh ... «
»Guck mal, da vorne ist das, was ich dir zeigen wollte! «
Nicht weit entfernt tauchte eine große Brücke auf, die über einen breiten Fluss führte.
Semilia rannte los und Spencer trottete hinterher.
Ein Auto fuhr an ihm vorbei und spritzte eine Ladung Wasser gegen seine Hose.
Spencer schaute dem Auto hinterher, drinnen saß ein Mann, der eifrig mit dem Handy sprach.
Die Luft war feucht und lauwarm, man konnte förmlich das Regenwasser auf der Zunge schmecken und mit der Nase riechen.
Weit entfernt hupte jemand, in einer Wohnung wurde eine Party gefeiert, doch ansonsten war es still.
Semilia hatte sich auf den Rand der großen Brücke gesetzt, der aus mehreren ein meter dicken Steinblöcken bestand.
Spencer setzte sich neben sie.
Beide baumelten mit den Füßen. Gut 10 Meter unter ihnen strömte das Wasser durch die Nacht, begleitet von einem leisen Plätschern.
»Siehst du es? «, fragte Semilia ihn.
»Was? «
»Na dort! «
Sie zeigte auf die Wasseroberfläche des Flusses.
Als er nichts sagte, ergriff sie das Wort:
»Im Wasser spiegelt sich die ganze Welt, doch es ist irgendwie alles anders, bemerkst du es denn nicht? «
»Ja, dort muss alles viel einfacher sein. «
»Was? Einfacher? «
Semilia rutschte ein Stück von Spencer weg.
»Du hast wirklich gar nichts verstanden. «, sagte sie kopfschüttelnd.
»Er ist dort, mein Mann ... «
»Wo? «
»Siehst du nicht die zwei rot glühenden Augen? «
»Ähm ... Nein ... «
Semilia kam wieder näher an ihn herangerückt.
»Ich bin nicht verrückt, er ist da und wartet auf mich! «
Sie schüttelte Spencer urplötzlich wie vom Teufel besessen durch, wobei sie verzweifelt weinte.
Er befreite sich aus ihrer Umklammerung.
»Weißt du, du brauchst echt Hilfe! «, sagte er zornig.
Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, da donnerte die Faust von Semilia in sein Gesicht und danach in seinen Bauch.
Sie prügelte völlig pathologisch auf ihn ein.
»Das reicht jetzt, ich gehe, kannst ja sehen, wie de alleine zurecht kommst. So was muss ich mir doch nicht antun! « , schrie Spencer.
Wutschnaubend lief er zügigen Schrittes davon, während Semilia wieder die Kontrolle über sich erlangte. Sie setzte sich auf den nassen Bürgersteig.
Als Spencer schon gut fünfzig Meter weit weg war, rief sie ihm hinterher, dass es ihr Leid tut, doch er ignorierte diese Worte.
Träumende Frauen mochte er zwar, aber verrückte Frauen waren etwas anderes.
Immerhin hatte er schon genug eigene Probleme, da konnte er sich nicht auch noch mit Semilia belasten.
Erst in der U-Bahn wurde ihm bewusst, dass er sich wie ein Arschloch verhalten hatte,
wie konnte er nur so egoistisch sein und die offensichtlich völlig verzweifelte Frau alleine lassen.
Er schlug sich selber gegen den Kopf, denn ihm wurde klar, dass er sich keinen Deut besser verhalten hatte, als die Leute, die er in seinen Gedanken immer verurteilte.
Die Leute, die Träumer für verrückt hielten und nicht erkannten, dass es herzensgute Menschen waren.
Doch nun war es zu spät, das war die letzte U-Bahn, erst in drei Stunden würde wieder eine fahren.
Selbst wenn er laufen würde, käme er erst in einer halben Stunde zu der Brücke zurück.
»Ich bin so dumm! «, fluchte er vor sich hin.
Ein Fahrgast sah ihn kritisch an.
So kam er in seiner Wohnung an, legte Portishead in den Hifiturm und genoß den Dolbysurround.
Er träumte davon, wie er es besser gemacht haben könnte.
Er hätte sie einfach mit zu sich genommen und gerettet, aber in Wirklichkeit war er ein Feigling gewesen.
Spencer holte sich ein Becks aus dem Kühlschrank und trank.
So schlief er ein.
Am nächsten Tag erwachte er gegen mittag.
Er ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel.
Sein Spiegelbild guckte ihn verschlafen an und vorwurfsvoll. Das war wirklich eine andere Welt, wie recht sie doch gehabt hatte.
Er kratzte sich an seinem Dreitagebart und duschte sich.
Der warme Wasserstrahl schwemmte die Sünden einfach fort, als wären sie nur Dreck, der an der Haut klebte.
Das Duschbad mit Kokosnussgeruch erzeugte ein angenehmes Gefühl.
Er wünschte sich für immer unter der Dusche zu bleiben.
Nach einer halben Stunde hatte er dann doch genug. Er drehte den Wasserhahn zu, rubbelte sich mit dem weichen Frotteehandtuch trocken und stieg aus der Duschwanne.
Sein Körper dampfte. Der Spiegel war beschlagen, dennoch existierte das Spiegelbild noch dahinter.
Wie recht sie doch gehabt hatte!
Mit der rechten Hand wischte er den beschlagenen Spiegel ab, dann rasierte er sich und putzte die Zähne mit kreisförmigen Bewegungen.
Die Zahnpasta schmeckte frisch.
Nun zog er sich an, kämmte seine Haare, schmierte Wachs hinein und ging in die Küche.
Dort stellte er den Wasserkocher an, dann
toastete er zwei Scheiben Toast, die er mit Brunch bestrich.
Er legte je eine Scheibe Käse und Salami darauf.
Im Wasserkocher blubberte es, deswegen öffnete Spencer eine Packung Fertigcappuccino, deren Inhalt er geschwind in eine Tasse schüttete.
Darüber goss er dampfendes Wasser und rührte das Gemisch mit dem Stiel einer Gabel um, denn die Löffel waren alle dreckig.
So ging er dann mit den beiden Toasts in einer Hand und der Kaffeetasse in der anderen ins Wohnzimmer, wo er die Tasse auf den Tisch stellte, sich aufs Bett setzte und die Toasts neben sich legte.
Er nahm die Fernbedienung in die Hand und schaltete den Fernseher ein.
Es liefen gerade Nachrichten.
Spencer traf der Schlag, denn es wurden Bilder von der Brücke gezeigt, wo er letzte Nacht mit Semilia gewesen war.
»Dort fand Birgit M. die Wasserleiche einer jungen Frau. Birgit M. steht noch unter Schock und ist derzeit in psychologischer Betreuung. Die Frau ist angeblich erst seit einigen Stunden tot. Es ist noch unklar, aber die Polizei geht davon aus, dass es sich um Selbstmord handelt. Diese Brücke ist oft Schauspiel solcher Tragödien, die Familienministerin Fanderline beklagte, dass mangelnde Sicherheitsvorkehrungen an den deutschen Brücken ein dringendes Thema seien ... «, sagte die völlig emotionslose Fernsehstimme aus den Nachrichten. Alles abgelesen, perfekte Betonungen, aber keine Empathie.
Spencer schaltete den Fernseher aus.
Vielleicht ist es ja eine andere und gar nicht Semilia, versuchte er sich selbst zu überzeugen, doch er wusste ganz genau, dass es sich bei der Frau nur um Semilia handeln
konnte.
Er musste sich dieses schlechte Gewissen von der Seele singen.
Zum Glück hatte ihm der Kneipenbesitzer eingeräumt, jeden Tag, bevor die Kneipe öffnete einige Stunden zu proben, denn der Kneipenbesitzer war früher selbst Musiker gewesen.
So fuhr Spencer zur Kneipe und schloss mit dem Ersatzschlüssel die Hintertür auf.
Es war vollkommen leer, die Stühle waren auf die Tische gestellt und alles durch gekehrt.
Spencer lief sofort zum Piano und klappte die Klaviatur auf.
Er setzte sich auf den Hocker am Piano und spielte.

"Du wolltest den Fluss von unten sehen,
das kalte Wasser spüren,
wie es mein Gefühl für dich berührt,
ich hab es nicht gespürt,
nun bist du ein Geist,
der mein Herz umkreist,
und ich bin so traurig,
deine Liebe ist so schaurig,
mir reißt es das Herz raus,
warum hast du keine Flügel,
mit denen du fliegen kannst?
In deiner Spiegelwelt,
tief im Himmelszelt vom Spiegelmeer,
ist dein Herz nicht mehr so leer.
Glaub mir Semilia, ich lieb dich doch,
auch wenn ich dich nur so kurz kannte,
ist es mein Herz, das verbrannte, im Spiegelmeer
Ich versteh dich noch immer nicht ...
Ich spür dich noch immer in miiiir ...
Semilia, ich seh noch immer deine aufgeweichten Wangen,
Semilia, warum bin ich gegangen,
Semilia, unter dem Wasser gefangen,
Semilia, ich kann nie mehr zu dir gelangen
im Spiegel der Zeit, glänzen deine tropfenden Augen aus der Ewigkeit,
machst mein Herz so wild, deine Aura war so bittermild,
doch dein Schmerz war zu groß, bitte lass mich nicht los,
ich lieb dich wie den Vogel, der keine Flügel hat,
komm zurück zu mir, dann helf ich dir, dann helf ich diiiiiiir ...
diesmal helf ich diiiiiiiiiiiiiiiiiiiiir ... "

Spencer begann zu weinen beim spielen, bis er schließlich aufhören musste, doch als er die Finger von der Klaviatur nahm, spielte sich das Lied von alleine weiter, mehr noch, die Melodie wuchs zu einem Meisterstück, wie es nicht einmal Spencer hätte spielen können.
Die Töne trafen genau die richtigen Schwingungen, so dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Diese Melodie, die sich da wie von Geisterhand entwickelte, war wunderschön, sie war noch mehr als das, sie war übernatürlich, denn er spielte sie nicht, sondern ...
Spencer erhob sich und klappte den Flügel auf. Es war eindeutig keine Automatik drinnen.
Wie um alles in der Welt funktionierte das?
Spencer rannte zum Tresen, holte einen Block und schrieb hastig die Noten mit.
Sein Musikalisches Gehör war sehr geschult, deswegen schaffte er es sogar teilweise, obwohl er das Stück wahrscheinlich Jahre üben musste, denn die Melodie war mittlerweile zu etwas ganz Großem heran gereift, man brauchte wohl fünf Hände um sie zu spielen.
Plötzlich verwandelte sich die Melodie kurz in etwas völlig unharmonisches.
Verwundert schrieb Spencer die Noten dennoch mit, doch was er da sah, entsetzte ihn,
die Noten, die er schrieb, ergaben den Wortlaut: „Semilia“, dann, „Ich liebe dich Spencer“.
Er übte den ganzen Tag nur dieses eine Lied.
Am Abend war die Kneipe wieder voll, Gläser klimperten und Leute lachten elegant.
Damen tratschten über ihre Männer und einige Beamte tranken Martinis.
Auch der Barbesitzer Barney war anwesend und noch jemand ganz spezielles, von dem Spencer aber noch nichts wusste.
Er zog wieder sein gewöhnliches Programm durch, doch diesmal wirkten die traurigen Melodien noch melancholischer und die fröhlichen Swinglieder beinahe verzweifelt.
Oft musste er sich zusammenreißen um nicht in Tränen auszubrechen.
Nach zwei Stunden machte er eine Pause.
Barney setzte sich neben ihn an den Tresen.
»Du siehst aber gar nicht gut aus heute, Spencer. «
Spencer schaute von dem Cuba libre auf, den er gerade trank.
»Jeder hat mal seinen schlechten Tag, oder!? «, erwiderte Spencer leicht angenervt.
»Geht’s dir nicht gut, willst du nach Hause? «
»Nein, nein, geht schon. «
Spencer nippte an seinem Cuba libre.
»Sag schon, was ist los! «
Spencer winkte ab.
»Also gut, wenn du nicht reden willst, aber du weißt,
dass du mir alles erzählen kannst, nicht? «
»Doch, doch! Aber ich möchte nicht darüber reden, klar. Na ja, wenigstens ist heute nicht so ein Scheißwetter wie gestern. «
Barney seufzte.
»Ja, ja, klar. Spielst du dann weiter? «
»Mmh! «
Spencer kippte sich den Rest Cuba libre in den Mund, stand auf und setzte sich wieder an das Piano.
Er spielte von George Michael’s „Put the red light on“ bis zu Faithnomore’s „Easy like Sunday morning” alles durch, bis er zu dem Part kam, wo er immer sein eigenes Lied abschließend spielte, doch diesmal lagen vor ihm die Noten und der Text von „Semilia“.
Seine Hände zitterten, als er die Noten zurechtlegte. Es konnte seine Kündigung bedeuten, doch er war es ihr schuldig, davon war er felsenfest überzeugt.
Zögernd drehte er sich zum Publikum, das ihn verwundert musterte, weil er so plötzlich mit dem Spielen aufgehört hatte.
Spencer räusperte sich laut, wodurch es sofort still wurde, selbst das Klimpern der Gläser verstummte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
Besonders der Gesichtsausdruck von Barney war verwundert, um nicht zu sagen entsetzt.
»Vielleicht sind viele von ihnen schon einmal hier gewesen ... normalerweise spiele ich an dieser Stelle immer „Ich warte auf dich am Horizont“, doch heute will ich ihnen ein neues Lied vorstellen, mit dem ich eine traurige Geschichte verbinde, es bedeutet mir also sehr viel ...
das Lied trägt den Namen „Semilia“, also dann, viel Spass damit, ich hoffe es gefällt ihnen. «
Die Leute applaudierten, nur Barney guckte ihn grimmig an.
Spencer schluckte und setzte sich, damit verstummte auch der Applaus.
Zögernd schlug er die ersten Töne an, doch dann wurde er in eine wilde Ekstase aus Harmonien und bitterer Leidenschaft gezogen, und nicht nur er, sondern alle Leute.
Spencer hatte das Gefühl, als streichelten ihn die Noten, fast so als säße Semilia auf seinem Schoß und gäbe ihm einen Kuss.

"Du wolltest den Fluss von unten sehen,
das kalte Wasser spüren,
wie es mein Gefühl für dich berührt,
ich hab es nicht gespürt,
nun bist du ein Geist,
der mein Herz umkreist,
und ich bin so traurig,
deine Liebe ist so schaurig,
mir reißt es das Herz raus,
warum hast du keine Flügel,
mit denen du fliegen kannst?
In deiner Spiegelwelt,
tief im Himmelszelt vom Spiegelmeer,
ist dein Herz nicht mehr so leer.
Glaub mir Semilia, ich lieb dich doch,
auch wenn ich dich nur so kurz kannte,
ist es mein Herz, das verbrannte, im Spiegelmeer
Ich versteh dich noch immer nicht ...
Ich spür dich noch immer in mir ...
Semilia, ich seh noch immer deine aufgeweichten Wangen,
Semilia, warum bin ich gegangen,
Semilia, unter dem Wasser gefangen,
Semilia, ich werde nie wieder zu dir gelangen,
im Spiegel der Zeit, glänzen deine tropfenden Augen aus der Ewigkeit,
machst mein Herz so wild, deine Aura war so bitter mild,
doch dein Schmerz war zu groß, bitte lass mich nicht los,
ich lieb dich wie den Vogel, der keine Flügel hat,
komm zurück zu mir, dann helf ich dir, dann helf ich diiiiiiir ...
diesmal helf ich diiiiiiiiiiiiiiiiiiiiir ... "

Die Leute bekamen alle eine Gänsehaut. Noch gut eine ganze Minute nachdem Spencer aufgehört hatte zu spielen, saßen sie nur mit offenen Mündern da, erst dann ergriffen sie wieder Besitz von ihren Körpern.
Ein nicht enden wollender Applaus brach aus.
Als sich Spencer danach an den Tresen setzte, bildete sich eine dicke Menschentraube um ihn.
Er traute seinen Augen nicht, die sonst so edlen Gäste wollten auf einmal Autogramme von ihm und nicht nur das, die Frauen umgarnten ihn wie einen Diamanten.
Er gab einigen Leuten ein Autogramm, dann eilte ihm zum Glück Barney zu Hilfe.
Er brachte ihn ins Hinterzimmer.
»Das war einfach unglaublich! «, sagte Barney.
»Mmh ... na ja, ich hab den Song heute erst geschrieben ... «
»Jetzt mach dich nicht kleiner als du bist, du hast ein unglaubliches Talent, ich muss blind gewesen sein ... «
»Na ja ... «
»Ach übrigens, vorhin, kurz nach deinem Auftritt, hat ein Mann nach dir verlangt, er sagte, dass er Plattenproduzent sei! «
»Echt!? «
Barney nickte nachdrücklich.
»Und? Ist er noch hier? «
»Nein, er musste dringend weiter, aber du sollst morgen bei ihm vorbeikommen. «
Barney überreichte Spencer eine Visitenkarte.
»Geh jetzt lieber erstmal nach Hause, mir tut es zwar weh, aber falls du tatsächlich einen Plattenvertrag bekommst, ich wollte dir nur sagen, nun ja, auch wenn du gehst, du bist hier immer willkommen! «
»Danke, du bist echt ein Freund, Barney. «
Spencer umarmte Barney und reichte ihm danach die Hand.
So fuhr er mit der U-Bahn nach Hause.
Er konnte diese Nacht überhaupt nicht schlafen. Der Song lebte in seinen Gedanken, er erregte ihn, ließ ihn innerlich überschäumen, es fühlte sich wie Sex an, besser sogar, aber trotzdem tat es auch weh.
Am nächsten Tag bekam er einen Plattenvertrag und einen verdammt guten noch dazu.
Schon am nächsten Morgen durfte er in einem renomierten Tonstudio mit einem bekannten Produzenten die Single zu „Semilia“ aufnehmen, eine Woche darauf wurde ein Video gedreht.
Auf Wunsch von Spencer zeigte das Video eine Meerjungfrau, die durchs Wasser tauchte und sich irgendwann selbst tötete, indem sie an Land kroch.
Innerhalb der nächsten Monate stieg sein Song auf Platz 1 der Charts, in allen Fernsehsendern wurde nur von diesem Lied gesprochen.
Überall lief es rauf und runter: Im Radio, auf MTV, im Internet.
Es bildeten sich rasch Fanclubs und Spencer wurde zu einer Ikone der Musikwelt.
So kamen aber auch die Drogen und das Vergessen.
Es war kurz vor einem Konzert, zwei Jahre nachdem Spencer berühmt geworden war.
Er saß vollkommen auf Ecstasy in seinem privaten Backstagebereich.
Ein eindrucksvolles Büfett war aufgebaut, einige Champagner- und Wodkakisten standen darunter.
Spencer trank Champagner, aus einem Kristallglas, als es an der Tür klopfte und ein Mädchen den Raum betrat. Es war höchstens 18 Jahre alt. Ein Türsteher versuchte sie festzuhalten, doch sie kämpfte sich frei.
»Guten Tag, mein Name ist Jea Mapelle, ihr Manager hat mich zu ihnen geschickt und na ja,
ich wollte sie interviewen ... «
Sie sah bezaubernd aus, so richtig niedlich, mit ihren Katzenaugen und den orange blonden Haaren. Außerdem trug sie einen Anzug, was ihr eine außergewöhnliche Note verlieh.
Ihre Brüste waren mehr als nur perfekt.
Spencer sagte dem Türsteher, dass sie herein kommen soll, schickte ihn weg und schlief mit ihr.
Als er kurz darauf die Bühne betrat und seine Lieder sang, dachte er an Jea Mapelle,
er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt, und das, obwohl sie nur ein Groupie war.
So sang er alle Lieder teilnahmslos, bis er zu dem Part kam, wo er sein Lied, „Semilia“ singen musste.
Er konnte sich nicht an den Text erinnern und alle Noten spielte er falsch.
Obwohl ihm sein Manager unverzüglich zu Hilfe eilte, konnte er den Song nicht mehr spielen und singen konnte er ihn auch nicht.
Es war fast so, als wäre der Song an diesem Tag gestorben, denn die Leute lästerten nur noch darüber, auf eine seltsame Art und Weise schien sich die ganze Welt den Song von einem Tag auf den anderen überhört zu haben.
Nun wurde Spencer nicht mehr als Ikone gefeiert, sondern lediglich als peinliches „One Hit wonder“ . Es entstanden sogar Gerüchte, dass er nie wirklich gesungen hatte.
»Alles nur Playback! «, sagten die Leute.
Schweren Herzens verließ Spencer das Showbusiness und arbeitete wieder für Barney, der ihn bereitwillig aufnahm.
Doch Spencer wusste um ein Geheimnis, das nur wenige Musiker kannten, in guten Liedern sind manchmal Geister, die Menschen einen kalten Schauer über den Rücken jagen können, doch keinen Geist kann man gefangen halten, denn es ist immer nur der Geist, der einen gefangen hält.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2009

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