Ein Hauch von Nichts, das hatte sie an, während sie da auf der Liege lag, mit ausgestreckten Beinen. Ihr Badeanzug war beinahe durchsichtig. Auf ihrem glatten Bauch perlten winzige Schweißtropfen. Von seinem Dachfenster sahen sie nur wie ein Glitzern aus, in dem sich die heiße Sommersonne spiegelte. Im Bauchnabel hatte sie ein silbernes Piercing.
Auf der Nase trug sie eine Sonnenbrille. Nicht weit über dem Bauchnabel hielt sie ein Buch. Doch sie las nur scheinbar, denn mehrmals warf sie einen kurzen Blick in seine Richtung. Sie mochte gerade erst 17 Jahre sein.
Nie waren ihre Eltern zu Hause. Dieses Spiel lief nun schon den ganzen Sommer, seitdem Thomas vor einem halben Jahr mit seinen Eltern in dieses Haus gezogen war. Jeden Nachmittag öffnete er sein Dachfenster einen Spalt und beobachtete sie, er badete in dem wunderschön kribbelnden Gefühl und malte sich aus, wie ihr goldenes Haar wohl duften mochte.
Wie es sich an fühlen würde, sie zu umarmen. Doch der Gedanke daran, wirklich mit ihr zu sprechen, jagte ihm eine sonderbare Angst ein, eine Angst die wie ein lautes Knurren in einer dunklen Höhle in seinem Bauch wohnte. Sein inneres Monster, das Ungeheuer, das ihn immer wieder davor warnte erwachsen zu werden. Er wusste, dass die Liebe seines Lebens zu finden, gleichzeitig bedeuten würde, dass er sich früher oder später eine eigene Wohnung und schließlich einen Job suchen musste, in dem er dann dreißig Jahre arbeiten würde.
Ja, in diesen Gedanken nahm die Bestie in ihm Gestalt an.
Die Gestalt eines weißen Zwergkaninchens mit gefletschten Zähnen, das ihn bitterböse angrinste und flüsterte: »Du verlierst dein wahres Ich, wenn du erwachsen wirst! Und du bekommst es nie wieder zurück! «
Thomas zuckte mit seinem Kopf unwillkürlich zurück und rammelte gegen das Dachfenster.
Ein ziehender Schmerz ergoss sich über seinem Hinterkopf.
»Mist! «, soufflierte er sich leise.
Zumindest dachte er jetzt nicht mehr an dieses merkwürdige Etwas, ganz im Gegenteil, es kam ihm sogar lächerlich vor.
Er brauchte eindeutig frische Luft und kühles Wasser.
So spazierte er über die alte Kleidung in seinem Zimmer, nahm seine Badehose und ein Buch, packte beides in seinen Rucksack und verließ das Zimmer. Aus dem Bad holte er noch ein großes Handtuch, packte es auch in den Rucksack und warf ihn sich über den Rücken.
Nun stieg er mit beschwingten Schritten die Treppe herab.
»Ich gehe ins Freibad Vati, bin gegen acht wieder da, O.K.?! «
»Ja, ja, mach nur, aber denke noch daran, dass du vorher deine Wäsche in die Waschmaschine wirfst! «, brummte eine Bassstimme aus dem Wohnzimmer.
»Ja ... «, sagte Thomas mürrisch. Er legte seinen Rucksack neben die Garderobe beim Eingang und rannte in sein Zimmer. Dort kramte er seine dreckigen Sachen zusammen und trug sie in den Keller, wo eine große Waschmaschine stand, dort stopfte er sie zügig in die Trommel, knallte die Tür zu, drehte den Regler auf Buntwäsche 40 Grad und schüttete in das mittlere Fach Waschpulver herein, ins Fach daneben einen Schuss Weichspüler.
Nun drückte er einen Knopf und Wasser sprudelte in die Wäschetrommel.
Thomas stürmte wieder nach oben, ließ sich von seinem Vater ein paar Euro geben, krallte sich seinen Rucksack und schlenderte erleichtert aus dem Haus.
Die Sonne prasselte auf sein Gesicht. Es war ein wunderschöner Sommertag, der Himmel war azurblau, keine einzige noch so kleine Wolke war zu sehen.
Er atmete tief ein. Es mussten mindestens 30 Grad im Schatten sein, denn bereits nach einigen Minuten bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn.
Vögel zwitscherten auf den Bäumen. Einige von ihnen hatten sogar schon kleine Vogelfamilien gegründet.
Unweit der Reihenhaussiedlung, in der er wohnte, befand sich ein Kleingartenverein.
Dort führte ein kleiner Pfad direkt neben einem plätschernden Bächlein entlang.
Auf der anderen Seite des Bächleins waren einige Bäume und dahinter Bahngleise.
Im gelben Gras zirpten Zikaden.
Thomas genoss diese beruhigende Atmosphäre, während er den Pfad entlang spazierte.
Er beobachtete, wie einige ältere Leute sich in den Gärten liebevoll um ihre Beete kümmerten und andere grillten.
Die große Schicksalsuhr war auf Feierabend gestellt.
Es duftete nach Kräutern, Gemüse, Azaleen und marinierten Steaks.
Hinter dem Kleingartenverein lag zwischen Bäumen versteckt das Freibad.
Schon durch die Bäume roch er das Chlor vom Wasser und hörte das fröhliche Plätschern.
Seine Laune war richtig gut. Am Schalter des Freibads stand eine Schlange von jungen Leuten und einigen Familien. Nach einer Viertelstunde warten kam Thomas endlich an die Reihe. Ein älterer Mann saß an der Kasse, seinen Oberkörper bedeckte ein weißes T-shirt, darunter trug er nur eine cremefarbene kurze Hose.
Thomas zahlte den Eintritt, dann ging er schnurstracks zu den Umkleidekabinen, die sich am Rand des Freibads befanden.
Er zog sich hastig seine Badehose an und verließ die Umkleidekabine wieder.
Das Schwimmbad war völlig überfüllt.
Man konnte froh sein, wenn man einen Quadratmeter in dem quadratischen Wasserbecken für sich beanspruchen konnte.
Erst hielt er jedoch Ausschau nach einem schattigen Plätzchen unter einem Baum, doch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder, denn diese Luxusplätze waren alle schon vergeben.
Ein kleiner Junge lief an ihm vorbei, der gerade an einem orangefarbenen Eis schleckte, dabei kleckerte das nach Orange duftende Wassereis auf seinen dicken Bauch.
Öfters rannten Kinder an ihm vorbei, die kleine Wassertröpfchen von sich warfen.
Thomas überlegte kurz, dann erklärte er den Ort für sich zum Paradies, nicht zuletzt wegen den Mädchen, die in knappen Badeanzügen fruchtig duftend durch die Gegend rannten.
Es war Thomas fast peinlich, denn sein Blick rutschte immer wieder automatisch auf die steifen Brustwarzen unter den eng anliegenden Bikinis und die wunderschönen Bäuche mit einer hauchfeinen Gänsehaut. Das magische Dreieck darunter schien ihn an zulächeln.
Nach einer Weile hatte er endlich ein freies Plätzchen auf der Wiese gefunden, direkt neben einer Gruppe von fünf Mädchen. Das war natürlich nicht ganz zufällig.
Er holte das große Handtuch aus seinem Rucksack und setzte sich auf ihn.
Nun wischte er sich erstmal den Schweiß von der Stirn. Die Mädchengruppe neben ihm hatte ein Radio angestellt, es lief: "Manu Chao" mit "King of the Bongo" .
Mittlerweile war es Thomas eindeutig zu heiß, er brauchte dringend eine Abkühlung.
Er dachte kurz darüber nach die Mädchen zu fragen, ob sie der weile auf seinen Rucksack aufpassen würden, aber das Kribbeln in seinem Bauch versperrte ihm jegliche Möglichkeit, das zu tun, deswegen fragte er einfach einen jungen Vater, der nicht weit entfernt auf sein Baby aufpasste und ein Buch las.
»Könnten sie kurz auf meinen Rucksack aufpassen? «
Der junge Vater blickte von seinem Buch auf, musterte Thomas, dann nickte er.
»Ja, kein Problem! Ist es der da drüben? «
Der junge Mann zeigte auf seinen Rucksack.
»Ja, haben sie vielen Dank, ich bin gleich wieder da! «
Mit diesen Worten lief Thomas über den weichen Rasen, ein paar mal stach zwar trotzdem etwas in seine nackten Füße, aber das waren nur kleine Äste, die von den vereinzelten Bäumen gefallen waren.
Endlich kam er am Schwimmbad an. Kurz davor war ein kleineres gefließtes Becken mit einem Fußbad und einer Dusche.
Das Wasser im Fußbad war lauwarm.
Trotzdem brauchte Thomas einige Sekunden um sich auf das kalte Wasser der Dusche vorzubereiten, dann betätigte er den Knopf an ihr und kneipend kaltes Wasser spritzte über ihn.
Sofort bekam er eine Gänsehaut. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als in das kühle Nass zu tauchen.
Das große Becken war 10 Meter tief und besaß drei Sprungtürme: einen 3 Meter hohen, einen 5 Meter hohen und zur Krönung des ganzen einen 10 Meter hohen.
Thomas stellte sich an dem 3 Meter hohen Sprungbrett an. Über ihm machte gerade ein cooler Typ einen zweifachen Salto vom Zehnmeterturm.
Nun war er an der Reihe, er machte einen normalen Kopfsprung und tauchte geschmeidig in das kalte Nass.
Sofort ergoss sich das alles erstickende Gluckern und Rauschen in seine Ohren, all das Geschrei und Gelächter der Menschen verstummte.
Thomas öffnete seine Augen unter Wasser. Dies war eine andere Welt. Er liebte sie wie nichts anderes auf dem Planeten Erde. Sobald man untertauchte war alles bedeutungslos und was noch viel wichtiger war, man spürte jede einzelne Zelle seines Körpers, hörte das Blut durch die eigenen Adern fließen und das Herz pochen.
Es gab keinen anderen Ort auf der Welt, wo man sich seiner Selbst so bewusst werden konnte, wie unter Wasser.
Thomas fand, es war wie fliegen, genau darum liebte er es zu tauchen.
Er tauchte am Grund entlang, an einem Schlüssel (für eines der Schließfächer bei den Umkleidekabinen, die man sich als Armband ums Handgelenk machen konnte) vorbei, den ein armer Kerl verloren hatte, sah viele hübsche Mädchenbeine über sich strampeln und spürte bald seine Lunge, die sich langsam verkrampfte.
Die Zeit dehnte sich unglaublich, wenn man unter Wasser war, Thomas war davon überzeugt, dass man sein Leben auf das zehnfache von der gefühlten Zeit verlängern konnte, wenn man nur sein ganzes Leben unter Wasser verbrachte, vielleicht war das der Schritt zur Unsterblichkeit, nicht die Lebenszeit an sich zu verändern, sondern nur die gefühlte Zeit, doch er konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn seine Lunge signalisierte ihm nun mehr als deutlich, dass er kein Fisch war und durch Kiemen atmen konnte, dann erschien aus dem trüben Wassernebel die gefließte Wand der anderen Seite des Beckens. Thomas tauchte auf.
Erst sah er das wellende Licht, dann wurden die noch leicht verschwommenen Stimmen lauter. Mit einem Schlag traf ihn das Meer von Stimmen, als er die dünne Haut zur Wirklichkeit durchbrach. Er hielt sich am Beckenrand fest. Seine Ohren taten leicht weh, wegen des Wasserdrucks rauschte es auch noch ein bisschen in ihnen, dann löste sich aber das Rauschen mit einem plobben.
Er atmete mehrmals tief hintereinander die Luft ein.
Das Wasser kam ihm nun gar nicht mehr kalt vor, viel eher die Welt darüber.
Es war schon eine Ironie des Schicksals, es kam tatsächlich auf die Betrachtungsweise an, wenn man von draußen ins Wasser kam, fand man das Wasser kalt, in das man springen wollte, wenn man im Wasser war, fand man die Welt darüber kalt, in die man irgendwann wieder musste, so kostete es immer Überwindung, egal in welcher Richtung man zwischen den beiden Wirklichkeiten wechselte.
Thomas dachte wieder an seinen Rucksack, zwar hatte der Mann gesagt, dass er auf ihn aufpasst, doch da konnte man sich nie so wirklich sicher sein.
Er stieg aus dem Becken. Eine Gänsehaut legte sich über seinen Körper. Er spürte nun jeden kleinsten Windzug, der ihn auch noch so sanft streichelte.
Tropfend rannte er zu seinem Plätzchen zurück.
Natürlich war sein Rucksack noch da, immerhin gab es ja auch nicht so viel, was man ihm hätte klauen können: Da waren seine Kleidung, das Portemonnaie (in dem nur einige Euro waren), das Handtuch, das Buch und sonst nichts.
Er rubbelte seine Haare trocken, dann seinen Körper und setzte sich in die knallende Sonne auf seinen Rucksack.
Zu der Gruppe Mädchen hatten sich mittlerweile drei Jungs gesellt, die wie Thomas fand, ziemlich peinlich, die Mädchen an baggerten.
Sie hatten einen Ball ganz „zufällig“ in die Mitte der Decke von den Mädchen geworfen und entschuldigten sich nun natürlich alle drei gleichzeitig.
Zwei der Mädchen –eine brünette und eine blonde- schienen von den Jungs recht angetan zu sein, denn sie lachten und machten Witze.
Es dauerte nicht lang, da sah Thomas wie sie aufstanden und mit den Jungs Ball spielten.
Ihre Freundinnen waren allerdings weniger begeistert, sie guckten die Jungs nur abfällig an.
Thomas lachte in sich hinein, so war die Welt halt. Zwar war er ein wenig neidisch, doch andererseits waren ihm die Mädchen auch egal, er war immerhin hierher gekommen um sein Buch zu lesen, nicht um Mädchen an zu baggern. Höchstens um einen kleinen Blick auf sie zu werfen, oder angesprochen zu werden, aber nicht um ...
Thomas schüttelte den Gedanken ab und holte sein Buch aus dem Rucksack.
Es war ein dünnes Buch, auf der Titelseite stand: „Barrico Allesandro“ darunter „Die Legende vom Ozeanpianisten“.
Das Buch hatte Thomas schon mehrmals gelesen, es war fast ein Drehbuch, er glaubte sogar, schon mal gehört zu haben, dass es sogar verfilmt wurde.
Jedenfalls war es sein Lieblingsbuch. Die Geschichte von dem Pianisten, der sein ganzes Leben in einem Schiff verbrachte und dieses niemals verließ und am Ende sogar darauf starb war so schön. Thomas konnte sich vollkommen mit ihm identifizieren, er hatte auch immer das Gefühl, die wirkliche Welt nicht betreten zu können, weil viel zu viele Eindrücke sich dort über ihn ergießen und er dort wohl oder übel abstumpfen würde, so, dass er dann nicht mehr die Schönheit der Melodie des Lebens hören könnte.
Wirklich ein Individuum sein, so fand Thomas, konnte man nur als Beobachter.
Außerdem spielte er auch sehr gerne Klavier, vorzugsweise die wunderbaren Klavierstücke von Yann Thiersen, der auch die Filmmusik für Jean-Pierre Jeunet’s Film: Die fabelhafte Welt der Amilie komponiert hat.
Nach einer halben Stunde wurde es Thomas wieder zu heiß. Er schaute sich um, der Vater mit dem Kind war nicht mehr da, im Blickfeld seines Rucksacks saßen nur die drei Mädchen (die anderen zwei hatten sich mittlerweile zu der Jungsgruppe gesetzt).
Thomas sein Herz pochte wie ein Pavian, der Bongo spielt.
Er atmete tief ein und aus, dann ging er langsam zu den Mädchen.
Das Radio spielte gerade Bloodhound Gang mit dem Titel Vagina, was die Situation nicht gerade sehr viel besser machte.
Das Kribbeln in seinem Bauch bäumte sich auf. Dann stand er vor den Mädchen, tief rot im Gesicht.
Sie glotzten ihn an, als wäre er ein Außerirdischer.
»Is was? «, fragte eine von ihnen blasiert.
»Ähm ... (Thomas atmete tief ein und aus) Ich wollte euch bloß fragen, ob ihr mal kurz auf meinen Rucksack aufpasst!? «
Sein Gesichtsausdruck war völlig verunsichert.
Das Mädchen, welches ihn gerade angesprochen hatte, musterte ihn abfällig von oben bis unten.
»Und, war es das jetzt? «, sagte sie, die anderen Mädchen starrten Thomas an.
Sein Herz pochte noch eine Spur wilder.
» ähm ... Ja! «
Thomas drehte sich um und ging peinlich berührt, hinter sich konnte er hören, wie die Mädchen ihn nach äfften und in lautes Gelächter ausbrachen.
Dann eben nicht, dachte er konsequent und lief zum Becken.
Dort sprang er diesmal gleich vom Fünfmeterturm.
Klatschend landete er wieder in der anderen Wirklichkeit, die ihm viel angenehmer war, dort gab es keine blöden Zicken, die sich über ihn lustig machten.
Er tauchte durch das Becken. In seinen Ohren rauschte und gluckerte es.
Was dachten diese blöden Weiber eigentlich, wer sie waren!
Thomas konnte nicht aufhören, sich aufzuregen.
Das Gelächter schien ihn bis in diese Unterwasserwirklichkeit zu verfolgen.
Voller Zorn tauchte er diesmal gleich bis zum anderen Ende und zurück.
Seine Lunge war schon fast zu einer Rosine zusammen geschrumpft, als er neben dem Dreimeterturm wieder auftauchte.
Missmutig stieg er aus dem Wasser und schlürfte zu seinem Rucksack.
Erleichtert stellte er fest, dass die drei Mädchen gegangen waren und niemand etwas geklaut hatte.
Er holte sein Portemonnaie hervor und lief zu dem kleinen Imbiss, der neben den Umkleidekabinen und den Schließfächern stand.
Im Fenster war eine Liste von verschiedenen Eissorten angeklebt.
Eine dicke Verkäuferin musterte ihn, als er an der Reihe war.
»Ich hätte gern so ein Wassereis für 2 Euro! «
Er zeigte auf die Liste, obwohl die Verkäuferin gar nicht sah, worauf er eigentlich zeigte, fragte sie:
»Das mit Zitrone und Orange? «
Thomas nickte.
Die dicke Verkäuferin holte aus einer Kühltruhe ein noch verpacktes Eis heraus.
Thomas überreichte ihr 2 Euro, die Verkäuferin bedankte sich, überreichte es ihm und er lief mit dem Eis in der Hand zu seinem Rucksack zurück.
Er schälte es aus der Verpackung und schleckte es genüsslich, seine Zunge blieb fast daran kleben, doch nach kurzer Zeit lief es bereits am Stiel entlang und tropfte auf die Wiese.
Nun biss er kräftig rein, das ging, weil seine Zähne nicht sonderlich schmerzempfindlich waren.
Nachdem er das Eis auf geschleckt und abgeknabbert hatte, las er weiter in dem Buch.
Eine Stunde später sprang er erneut ins Wasser.
Als er wieder raus kam war es bereits kurz nach 19 Uhr, deswegen rubbelte er sich noch trocken, packte dann aber sein Handtuch und das Buch ein, um zu einer Umkleidekabine zu gehen.
Seine Augen brannten ein wenig von dem vielen Chlor im Wasser.
Er sperrte die Umkleidekabine zu, so, dass nur noch durch einige Rillen Licht herein viel, dann zog er seine Badehose aus.
Gerade, als er nackt da stand, hörte er eine gedämpfte Stimme aus der Umkleidekabine neben seiner.
»Hallo!? «
Erst glaubte er, dass die Stimme nicht ihn meinte, doch dann erklang sie wieder.
Er presste sein Ohr an die Wand seiner Kabine.
»Hallo! Du da drüben in der Kabine neben mir! Ich weiß genau, dass du dein Ohr an die Wand legst! «
Nun war es eindeutig, die Stimme konnte nur ihn meinen. Es war die Stimme eines jungen Mädchens, wie alt sie war, konnte er nicht erkennen, denn die Stimme war sehr gedämpft.
»Ich hab genau gehört, wie du dein Ohr an die Wand gelegt hast! Pass auf, ich hab ein kleines Problem! Kannst du mir vielleicht helfen? «, fragte die Mädchenstimme aus der anderen Umkleidekabine.
»Was ist denn los? «, fragte Thomas.
»Wie bitte? «, kam es zurück.
»Was ist denn los? «, wiederholte er ein bisschen lauter.
»Ah ja, na ja, am besten du kommst rüber in meine Kabine, dann kann ich es dir erklären! «
Thomas sein Herz schlug nun wieder wilder und dieses heimtückische Kribbeln war auch wieder da.
»Soll ich das wirklich machen? «, fragte er unsicher.
»Wie bitte? «
»Ob ich das wirklich machen soll? «
»Ah, jetzt quatsch nicht blöd rum, komm einfach rüber! «, sagte die dumpfe Mädchenstimme.
Thomas zog sich schnell an, dann nahm er den Rucksack und öffnete die Tür.
Er klopfte nun an die benachbarte Kabine.
Sie öffnete sich einen Spalt.
»Schnell! Komm rein! «
Eine Hand zerrte ihn in die Kabine, bevor er etwas sagen konnte.
Nun war er völlig baff, schon fast so, dass ihm schwindlig wurde, denn in der Kabine stand das Mädchen, das er täglich durch sein Dachfenster beobachtete, und sie war nackt!!!
Das Mädchen und er waren beide knallrot im Gesicht.
»Jetzt guck mir in die Augen, nicht auf meine Brüste!! «, ermahnte sie ihn.
»Tut mir Leid! «
»Ist schon gut, glaub mir, das ist echt voll peinlich, aber so ein paar Blödiane haben mir kurz vor den Umkleidekabinen meine Badesachen geklaut, den Schlüssel für das Schließfach 30, in dem meine Kleidungsstücke sind, haben sie auch mitgenommen! Die fanden das Witzig, diese Idioten! Dann bin ich hier in die Kabine gerannt und hab mich eingeschlossen! Ich kann doch nicht so völlig nackt zum Betreiber vom Freibad gehen und ihn wegen Ersatzschlüsseln für mein Schließfach fragen, da hab ich dich durch die Rillen gesehen und dachte mir, na ja, du könntest dort mal nachfragen? Verstehst du, dich kenne ich wenigstens vom Sehen, ich kann doch keinem völlig wildfremden meinen nackten Körper zeigen! Na ja egal!? «
Mit einem Arm vor den Brüsten und dem anderen vor dem magischen Schamdreieck schaute sie ihn knallrot an.
»Du sollst mir nicht auf die Brüste starren! Machst du’s jetzt, oder nicht? «
Thomas nickte verlegen.
Das Mädchen illerte durch die Rillen, um sicherzugehen, dass niemand vor der Kabine stand, dann öffnete sie die Kabinentür und schubste Thomas raus.
Er stand noch eine gute Minute vollkommen erstarrt da, sein Penis pochte in seiner Hose wie ein wahnsinnig gewordenes Pferd.
Seine feuchtesten Träume waren gerade Wirklichkeit geworden, das musste er erstmal verarbeiten. Doch nach einer Weile raffte er sich auf und lief zum Imbiss.
Die dicke Frau starrte ihn an.
»Was kann ich für dich tun? «
»Ähm ... meine Freundin hat ihren Schlüssel für das Schließfach verloren, haben sie vielleicht einen Ersatz hier irgendwo? «
»Da kann ich dir nicht weiterhelfen ... «
Die dicke Frau lehnte sich über den Tresen des Imbisses und zeigte mit ihrer Hand nach rechts von ihr aus gesehen.
» ... also du gehst jetzt nach links, bis du am Eingang bei dem Schalter bist, dort gehst du nach draußen und nimmst die erste Tür rechts, dort kann dir jemand helfen! «
Thomas bedankte sich bei der Frau und befolgte ihre Anweisungen.
Die Tür war tatsächlich offen. Ihm kam aber sofort ein Mann entgegen, der eine kurze rote Hose und ein weißes Hemd trug, er sah wie ein Bademeister aus, nur dass er einen ganz schönen Bierbauch besaß.
»Kann ich irgendwie helfen? «, fragte der Mann argwöhnisch.
Thomas räusperte sich verunsichert.
»Ähm ... Meine Freundin hat den Schlüssel fürs Schließfach 30 verloren, haben sie vielleicht einen Ersatzschlüssel, oder können sie’s irgendwie öffnen? «
Der Bademeister musterte ihn misstrauisch.
»Und warum kommt sie dann nicht selbst? «, fragte er bierernst.
Thomas überlegte kurz, ob er ihm davon erzählen sollte, dass sie nackt in einer Kabine saß, doch es klang einfach zu absurd.
»Sie musste bei den restlichen Sachen bleiben! «, erklärte Thomas.
»So musste sie das!? «
Der Bademeister musterte ihn, doch dann klarte sein Gesicht ein wenig auf.
»Du wartest hier! «, sagte er und verschwand eine Treppe nach oben, dann kam er mit
einem großen Schlüsselbund wieder und winkte Thomas ihm zu folgen.
Vor dem Schließfach 30 hielt er an und kramte im klimpernden Schlüsselbund herum, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, doch dann hielt er plötzlich wie vom Blitz getroffen inne und starrte auf den Schlüssel, der bereits im Schließfach steckte.
»Du hast dir doch keinen Scherz mit mir erlaubt, oder? «, fragte der Bademeister wütend.
Thomas schluckte, während er vorsichtig das Schließfach öffnete, es war leer.
»Vielleicht hat sie den Schlüssel bereits gefunden!? Trotzdem danke, dass sie uns geholfen haben!? «, stammelte Thomas.
Der Bademeister stampfte wutschnaubend in seinen Badelatschen davon.
Nun blieb Thomas nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge zu dem Mädchen in der Kabine zurückzukehren.
Es dauerte eine Weile bis er überhaupt die richtige Kabine wiederfand.
Er klopfte vorsichtig daran.
»Und? «, erklang eine hoffnungsvolle Stimme von drinnen.
»Tut mir Leid, aber das Schließfach war leer! «, flüsterte Thomas.
»Was!!!!? «, kam eine völlig entsetzte Stimme aus der Kabine, danach öffnete die Tür sich einen Spalt und eine zarte Hand zerrte ihn nach drinnen.
Das Mädchen sah nun endgültig verzweifelt aus.
»Los! Gib mir deine Sachen! «, sagte sie zu Thomas.
»Wie meinst du das? «
»So wie ich es sage! Na gut, wenn du mir deine Kleidung gibst, bekommst du einen Kuss von mir, einen richtig leidenschaftlichen! Das ist doch mehr als genug, für ein paar Stofffetzen, findest du nicht? «
Das Kribbeln in seinem Bauch lief Amok.
Das Mädchen guckte ihn ungeduldig an.
Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu:
»Na gut, soll ich’s dir besorgen, bist du dann zufrieden und gibst mir deine Anziehsachen? «
»Nein!!? «, stammelte Thomas verwirrt.
»Was heißt hier nein, bin ich dir etwa nicht schön genug? «
»So habe ich das nicht gemeint! «
»Ach, und wie denn dann? «
»Ich kann doch nicht nackt Nach hause gehen? «, stammelte Thomas.
»Ach, und ich kann das? Was glaubst du, was es da draußen für versaute Gestalten gibt, wenn die ein Mädchen wie mich nackt durch die Gegend rennen sehen, dann stellen die böse Sachen mit mir an, willst du das etwa? «
Thomas schüttelte den Kopf.
»Na also, dann sei einmal in deinem Leben ein richtiger Mann und hilf einem Mädchen, das in Not geraten ist! «
Sie klimperte unschuldig mit den Wimpern.
»Wie heißt du eigentlich? «, fragte Thomas.
»Ich heiße Kassandra, und du? «
»Ich heiße Thomas! «
»Also, Thomas, hilfst du mir nun, oder nicht? «, sagte Kassandra, wobei sie das „nicht“ abfällig betonte, so als gäbe es diese Möglichkeit gar nicht.
»Na gut! «, sagte Thomas schwer fällig.
»Danke! «, sagte Kassandra kurz und bündig,
dabei grinste sie.
»Na los, Hose runter und Schlüpfer aus! «
Sein Herz pochte wie ein in Trance geratener Sambatänzer.
Aber ihm blieb keine Wahl, also zog er seine Jeans aus. Als er sie ausgezogen hatte, hielt er inne.
»Aber die Schlüpfer brauchst du doch gar nicht? «
»Ganz oder gar nicht, sonst kriegst du keinen Kuss! «
Thomas seufzte, während er sich den Schlüpfer auszog, sein erregierter Penis schlüpfte heraus.
»Nicht schlecht! «, sagte Kassandra kichernd, während sie Schlüpfer und Hose von ihm anzog.
Dann nahm sie noch den Pullover von ihm und zog ihn sich über.
Nun musterte sie Thomas, der völlig nackt vor ihr stand, dabei biss sie sich leicht auf die Lippen.
Ohne ein Wort zu sagen, umarmte sie ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Zungenkuss.
Sanft berührten sich ihre Zungen, sie schmeckte wie ein Zitronenbonbon.
Ihr Haar duftete nach Vanille.
Thomas spürte, dass irgendetwas geschah, doch er konnte nicht genau sagen, was es war, es war ein seltsames Gefühl.
Kassandra fühlte sich auf einmal so an, als würde sie sich auflösen, es war ein völlig merkwürdiges Gefühl. Er konnte nun durch sie hindurch blicken. Und dann war sie verschwunden, einfach so, als hätte es sie nie gegeben.
Thomas kratzte sich verwirrt am Kopf. Was geschah hier?
Seine Kleidung lag jedenfalls auf dem Boden. Er seufzte, zog sich an und ging nach Hause.
Dort angekommen bemerkte er verwundert, dass das Nachbarhaus leer stand.
Mehr noch, es glich einer Ruine, in der seit Jahrzehnten schon keiner mehr Wohnen konnte.
Verwirrt stürmte er in sein Zimmer. Auf seinem Nachttisch lag ein vergilbter Brief.
Er öffnete ihn hastig und las:
» Hallo Thomas,
mir ist klar geworden, dass du das Recht hast zu erfahren, dass du meine Erfindung
bist, genauso, wie ich deine Erfindung bin. Wir sind beide nur Bestandteil eines Tagtraums.
Kommt dir das Leben nicht manchmal auch wie eine Geschichte vor, die sich
immerwährend neu schreibt? So wie Blätter im Wind sind unsere Leben.
Mit Fantasie kann man glauben, dass sie selber tanzen, aber eigentlich ist es nur der Wind,
der sie so unglaublich schön tanzen lässt. Und der Wind? Was ist der Wind?
Er ist überall, trotzdem bleibt er für uns unsichtbar. Er ist tot, trotzdem macht er
leblose Dinge lebendig. Sind es nicht Tagträume wie wir beide,
welche die Menschen wie Blätter tanzen lassen.
Es tut mir Leid, dass ich Kassandra verschwinden lassen hab, aber du musst verstehen,
dass nicht ich sie gelenkt habe, sondern sie mich.
Leider kann ich dir nicht viel über diese Welt erzählen, aus der ich komme, doch sie ist ruhelos.
Währendem du dieses eine wunderschöne Ereignis immer wieder erleben darfst.
Es ist dein kleiner Horizont, den ich dir geschenkt habe, weil der Sturm in mir es wollte.
Kassandra ist ein Hauch von Nichts. Wenn ich sie nicht haben kann, dann sollst
du sie auch nicht haben. Ich werde jetzt deinen kleinen Ereignishorizont beenden.
Genieße deine Welt, denn sie dauert nur einen Tag und ist dein Schiff,
das du nie verlassen kannst.
Mit freundlichen Grüßen der Verfasser deiner Geschichte. «
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2008
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