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Erstes nihilistisches Manifest

„Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“

Im Verborgenen brodeln die Höhen des Geistes wie die starke Brühe einer alten Hexe: so muss es im Inneren eines Kokons aussehen, unheilvoll stark, eine Gärung, die langsam nur zur Reife gelangt, blubbernd und Gase ausströmend.
Diese Retorte, in der das Kind der Zukunft bereits wächst, ist der Nihilismus, ein Gespenst der Umwertung.
Langsam grabscht er nach allem, worauf die westliche Zivilisation jemals gebaut hat, er wetzt sein nihilistisches Messer in jede Öffnung unserer kakophonen Geister, dieser nihilistische Doktor will zum Ende kommen, wie eine Mutter, deren Qualen der Geburt schier endlos schienen, doch schließlich versiegten – seien wir seine Amme.
In der Moral hat er sich behauptet, ebenso gut wie in ihrer Universität, der Religion; die Ökonomie kann heute vieles rechtfertigen, die Kosten-Nutzen-Frage wird zum weltpolitischen Debakel, zum Zentrum, um das sich alles dreht. Die Säkularisierung schlug fehl. Globalisierung bedeutet dieser Tage nichts weiter, als dem Rest der Welt unsere Werte aufzuzwingen, unsere Vorstellungen von Lebensstandard: das Zeitalter der Kreuzzüge ist erneut angebrochen.
Bis in alle Bereiche ist der Nihilismus vorgedrungen, die Kinder lernen ihn im Geschichtsunterricht kennen, und unsere toten Augen starren seine Schatten Abend für Abend im Fernsehen an. Wir haben ihn uns zur Aufgabe gemacht, doch wenige sind sich dessen bewusst, aber der Nihilismus ist unser aller Beruf.
Der Politiker per se, der von Berufswegen ein Lügner ist, muss ein Nihilist sein; der Staatschef, der den Einsatzbefehl für einen Bombenwurf auf unzählige Frauen und Kinder startet*, muss ein Nihilist sein; und schließlich der Konsument, der sich dieses Spektakel in den Abendnachrichten anschauen kann, muss ein Nihilist sein.
Der Nihilismus hat uns aus dem Leben hinein in das Dämmerlicht eines virtuellen Ereignishorizonts geworfen, Zeit also uns durch den Nihilismus zurück ins Leben zu werfen.

Aber was ist er? – „Die Vorstellung ist zu Ende. Zeit sich seine Jacke an der Garderobe abzuholen und nachhause zu fahren. Doch dann steht man auf und… keine Jacke mehr da, und kein Zuhause.“
Peter Sloterdijk schrieb ein Buch zum 200. Geburtstag von Kants Kritik der praktischen Vernunft, worin er den Werdegang des gesellschaftlichen Zynismus vom ersten Aufflammen durch die Aufklärung bis zu seinen üblen Auswucherungen in NS-Ideologie und moralischem Wahnsinn** beschreibt. Seit der Aufklärung, die offensichtlich Gott getötet hat, brütet der Nihilismus in unseren Köpfen das Ei der Zukunft.
Nietzsche ist wahnsinnig geworden im Anbetracht des schwierigen Weges, den der Nihilismus mit sich bringt – dass er kommt, konnte seine feine Nase schon lange riechen, bis der Gestank am Ende unschönere Formen annahm, die Formen der Irre.
Nun, alles gehört der Ebene der Imagination an, wie die Surrealisten sagen würden, und deswegen definieren wir uns soziale Paradigmen, deswegen ist alles okay, solange wir uns das vorstellen können, sogar Mord.
Das bedeutet jedoch nicht, dass wir in Todesobsessionen verfallen werden, denn private Imagination schließt Kritik ein, und ich persönlich habe wenig Interesse am Todeskult, der einigen Avantgarde-Künstler und Ideologen abgeht.
Der Nihilismus steht jenseits von gut und böse, was bedeutet, dass er eine einheitliche Anschauung der Welt ist, die die dualistischen Prinzipien, die uns die Mathematiker in die Wiege legten, transzendiert und ignoriert. Er findet neue Technologien, die seiner Ebene von Imagination angehören.
Das binäre Codierungssystem zum Beispiel ist die genaue Schnittstelle zwischen dem kartesianischen Dualismus, der sein letztes Todesröcheln von sich gibt und jenem Nihilismus, der die Null in die Welt brachte – der unbewegte Beweger, der alles bewegt.
Als Maß für die Möglichkeit auf eine letzte absolute Wahrheit gar nicht angewiesen zu sein, hielt Nietzsche den Nihilismus für eine göttliche Denkweise, und wahrlich, die Mehrzahl meiner mystischen Erfahrungen gründeten sich nicht auf die Einheit, sondern auf die Leere. Es war prophetischer Taumel, gewiss, aber mir wurde klar, dass sunyata kein Märchen des Buddhismus ist, sondern ein Wandel in der Kurve der Zeit, unsere Chance neue Traumgebilde zu errichten, die von großartigem und schönem Überfluss erzählen.
Kein Elysium, sondern die Leere als Schnittstelle der Bedeutung, wie der Freiraum zwischen den Speichen, der das Rad erst zum Rad macht, der Freiraum zwischen den Buchstaben, denen mancher Kabbalist mehr Bedeutung beimaß als den Buchstaben dazwischen. Er findet nur in der Abwesenheit statt, kontemplativ, ohne in einen passiven Zustand der Meditation zu verfallen; er tanzt und rückt die Möbel.
Er kann einen in den Wahnsinn stürzen oder jene verborgene Hasenluke zum Wunderland der Philosophie öffnen, und er wird beides tun, wenn wir ihn begreifen
Die Geschichte hat sich zu einem zweidimensionalen Punkt verdichtet und aufgehört zu existieren – wir sind aus diesem Apltraum aufgewacht***.
Der Parketttanz des Nihilismus umfasste noch so dekadente Auswüchse wie Punk und die Modern Primtives****, aber nichts passiert mehr.
Aus den Wurzeln von Dada wuchs langsam eine Kreatur heran, die nichts anderes ist als der Übermensch, Stirners Eigner. Sie sind es, die heute mit Pergament und Feder dasitzen und die Geschichte neuschreiben. Es geht um nichts weniger als die revolution of everyday life, die leidenschaftlichen Serien einer Generation, die ob der Banalität ihrer Existenz begann, das Buch neu zu dichten, sie singen vogelfreie Lieder vor den Toren von Babylon und rütteln an den Mauern von Zivilisation wie betrunkene Piraten, bereit zur Meuterei.
Gestalten wie Friedrich Nietzsche oder Raoul Vaneigem haben ihr Lebenswerk der Vorbereitung auf dieses Ereignis gewidmet, das heute an jeder Tür anklopft. Und wenn die Leere vor unsere Tür steht, werden wir sagen: „Ich weiß, wer du bist: du bist die große Fata Morgana, die die Inder Maya nennen. Möchtest du einen Kaffee?“
Und er, der Nihilismus wird wissen, dass wir unsere Hausaufgaben gemacht haben.


Anmerkungen:

*Weiß Gott, das war nicht immer so. Es gab Zeiten, in denen die Befehle auf der Schlacht getroffen wurden, von einem General, der die Interessen seiner Vorgesetzten vertrat - dieser Fernkrieg jedoch ist eine Erfindung der Marines aus den fünfziger Jahren

** “Moral insanity“ war in den 20er Jahren eine gängige psychiatrische Diagnose für Zyniker

***wie Stephen Dedalus in James Joyce Ulyssees schwärmt: „History is the nightmare, from which I am trying to awaken.“

****Wir können die Geschichte des 21. Jahrhunderts als Logbuch des Nihilismus lesen, mit Dada als kultureller Beginn einer radikalen Neuerung, Surrealismus, die Verwirrungen der Existenzialisten und lost generation, Beatniks, Hippies, Punks, Gothics bis hin zum postmodernen Diskurs, das alles ist eine Lipstick Trace, wie Greil sagen würde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.12.2009

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