ESSAYS
Versuche und Meditationen
>>Die Ewigkeit, das ist ein Kind beim Spielen mit bunten Bällen<<
-Heraklit-
Inhaltsverzeichnis
1.Ausgehöhlte Erde
2.Zivilisatorischer Stumpfsinn
3.Radikaler Monismus
4.Eine Phänomenologie des Rausches
5.Les enfants sauvage
6.Kunst als Agitationstechnik
7.Nichts
8.Die Entführung der Mania
9. Alles Heil Discordia!
10. Cyberpunk Gnosis
11. Notwendige Denunziation
1.Ausgehöhlte Erde
Die alten Alchemisten kannte eine Formel, die abgekürzt durch VITRIOL der Namensgeber für eine Vielzahl von bunten Oxiden war, die die damalige Renaissance-Malerei erst so richtig farbig machten: Visita Interiora Terrae, Rectificando Invenies Occultum Lapidem.
Für Viele ist das hier genannte lediglich Allegorie, eine Metapher oder Analogie, dem „Gnothi Seauton“ des delphischen Orakels nicht unähnlich, wie das freimaurerische ‚Handwerk’ oder die Arbeit im LabOratorium, ein Individuationsprozess, eine Art Manifestation innerpsychischer Prozesse, aber für alle empiriebegeisterten Anarchisten, jene die das gottverdammt „a priori“ zum Schweigen bringen wollen, ist sofort die beinahe närrische Aufforderung in dem hermetischen Spruch sichtbar: Besuche das Innere der Erde!
Warum auch nicht? Das Innere der Erde ist ebenso rätselhaft und romantisch wie der Weltraum, doch abgesehen von Jules-Vern’scher Fiktion, chinesischer Mytho-Alchemie und wirren Verschwörungstheorien um Reptilienwesen vom Kontinent Mu, lovecaftianischen Aliens und CIA-Verstecken bleibt es terra incognita – die einzigen, die sich bisher in dieses Moloch aus Würmern und Zinnober wagten sind Räuber – ganz gleich, ob in Gestalt malaiischer Diamantenjäger oder neoliberaler Untertagebau-Investoren.
Für uns Zigeuner und Kosmopoliten bleibt die Landfrage stets aktuell. Da es ad definitivem kein freies Land mehr gibt und selbst die entlegensten Einöden Eigentum irgend eines Bauherren sind, bietet lediglich die Innere Schicht der Erde ein faszinierendes Arreal für Expeditionen auf der Suche nach dem autonomen Utopia – der entscheidende Vorteil gegenüber jeder andren Art von Raum ist seine Klandestinität – eine unsichtbare Phalanx der Verzückung.
In seiner metamorphen Architektur liegt ein Reiz begraben, den wir wie Nekrophile aus einer seichten gothic novel ans Tageslicht zu trachten versuchen – wir wollen die Erde aushöhlen und darin prächtige Paläste bauen.
Und deshalb müssen wir uns ihr nähern wie Grabräuber – wir fürchten keinen altägyptischen Fluch oder dergleichen, aber der Boden bleibt nur solange unsichtbar wie der klaffende Kerberos keine Geheimnisse preisgibt – solange wie wir das Geheimnis wahren können.
Die frühen Bergmänner und Schmiede hüteten eine ganze Horde von rätselhaften Riten, um diese Jungfernerde zu besänftigen – das Fördern von Erz kam für die Neolithen einer Geburt, genauer gesagt einer Frühgeburt gleich und musste daher mit den selben behutsamen Techniken ausgeführt werden. Wieder nur blanke Selbsterkenntnis? – das Wort delphi ließe sich mit „Vagina“ übersetzten.
Hier finden wir einen tiefgreifenden Wandel in der Geschichte: von der Schöpfung zur Zeugung, von der Unschuld zum Opfer. Die Metallurgie ist ein archaischer Wunderbasar, der den Weg für so komplizierte Wissenschaften wie Magie und Schamanismus ebnete.
Die Höhlen strotzten nur so vor Erdgeistern, Zwergen, Feen, Elfen, gigantischen macranthropischen Reptilien…um die frühzeitig eingeleitete Geburt des Erzes (das sich normalerweise mit der Zeit in Gold verwandeln würde, so die Theorie) zu rechtfertigen, wurde das Opfer erfunden. Und dann war da Marduk, der die Welt aus Tiamat’s Körper erschuf, da war P’an Ku, da war der Riese Ymir und Purusha – unvorstellbar.
Der gesamte Mythos wurde sexualisiert - trächtige Mutter Erde, die schwere Metallblocks gebiert, alles musste in einem Zyklus aus Aufopferung und Sterben bestehen, wollte man den verborgenen Stein ans Tageslicht bringen.
Die Matrix („Mutterschoß“) ist der Fruchtkörper im Inneren der Erde. Der Bergmann greift in die natürliche Entwicklung der Embryonen ein. Das Gold ist das Kind ihrer Sehnsucht. Die alten Alchemisten versuchten nichts weiter als eine Art „Geburtskasten“ für die Frühchen zu entwickeln.
Man beleidigt die heilige Gegenwart, wenn man in die geologischen Schichten eindringt, denn sie liegen außerhalb jeder weltlichen Zeit. Das Einzige, das davor bewahren kann, ist der Ritus, der ebenfalls die weltliche Zeit außer Kraft setzt.
Wenn wir das Innere der Erde betreten, machen wir eine archetypische Reise durch die tiefsten und unerforschtesten Winkel unseres Hirns mit.
Jeder Durchbruch, jede Transgression ist gleichzeitig eine Regression, ein regressus ad uterum als Erinnerung an den ersten Durchbruch unseres Lebens – die Geburt.
In der chinesischen Tao-Alchemie sprach man immer wieder von den legendären „tan t’ein“, den Zinnoberfeldern, jenen Aufenthaltsort der Unsterblichen, der Berg „k’un lun“, und das Arreal im menschlichen Gehirn, das „das Zimmer, das einer Grotte gleicht“ enthält,
Für die alten Taoisten wurde „Tong“ – Grotte – zum Inbegriff aller Mysterien, wie auch sonst überall auf der Welt, weshalb Tong in heutigem, modernen Kantonesisch „geheimnisvoll, tief oder transzendent“ heißt.
Das Innere der Erde ist der Ort des Mysteriums. Eine andere alchemistische Losung, dem VITRIOL nicht unähnlich lautet: „In Stercore Invenitur!“ – im Dreck wird es gefunden.
Maulwürfe und andere Erdbewohner sind in der Lage gigantische Höhlensysteme zu bauen. Der Stil, den sie dabei an den tag legen, ließe sich am besten, ähnlich wie ihr oftmals bizarres Aussehen (wie etwa die Gattung der Mulle) als grotesk beschreiben.
Im ursprünglichen Sinne des Wortes heißt Grotesk Grotte. Die Höhle als natürliche Behausung für den grotesken, grottenähnlichen Körper als Urquell der Durchlässigkeit, denn mit den richtigen, den grotesken Augen ist der Körper keine Begrenzung, sondern eine Öffnung, ein transgressives Element in den zweidimensionalen Schatten von Babylon.
Wir werden dort mit erdverbundenen Elementarwesen eine neue Zivilisation aufbauen, eine von besserer und längerer Dauer als unsere eigene. Wir werden mit unnachgiebiger Hand graben bis wir unsichtbar sind. Sollten uns in diese Hand spacige Pilze und seltsam duftende Kräuter wachsen, um uns bei dieser existentiellsten aller Unternehmungen zu unterstützen, dann werden wir diese Blumen, die vom magischen Tau des Immerdar tropfen, pflücken.
Im London des 17. Jahrhunderts zogen sich die Abtrünnigen in den Untergrund zurück, das gesamte Stadtgebiet ist von seltsamen Tunneln und Grotten wie ein Mycelium durchdrungen – „das Muster, das verbindet“.
Hier versteckten sich die Huren und Grabräuber, hier wurden die okkulten Zeremonien der Geheimgesellschaften abgehalten, hier endete die weltliche Zeit.
Das Erdreich hält uns wie eine Mutter warm, wir sind die Frühchen der Menschheit und wir haben beschlossen uns solange in der Erde zu verkriechen, bis unsere Zeit gekommen ist. Sie wird jenseits der heiligen Gegenwart bereits heute beginnen – die Spaten sind gepackt.
2. Zivilisatorischer Stumpfsinn
[Der Titel drück es bereits aus: nur weil das Wort „satori“ darin vorkommt, heißt es nicht, das Zivilisation gescheit wäre]
Die Architektur kann als eine Art ‚femme fatale’ unter den feinen Künsten gesehen werden: hier verdinglicht sich das Wollen des Schöpfergeistes zum bloßen Selbstzweck: Masturbation
-ein Instrument der absoluten Macht.
Sie will sich nicht einmal mehr rechtfertigen, verzichtet auf jede Presseerklärung – und sie repräsentiert nach wie vor den status quo von Herrschaft.
Ein Spiegel der Macht, der die herrschenden Verhältnisse wiedergibt, stilbildend, Epoche machend.
Abgesehen von einigen Vor-Kriegs-Überbleibseln ist postmoderne Architektur eine Sache der „Neuen Sachlichkeit“, fest etablierter Bestandteil der ‚new economy’ und ihren schlafenden Zombies, die unsere Träume bewachen.
Glas, Stahlbeton, Verblendmauerwerk, asketisch-fanatischer Verzicht auf jede Spielerei, an Gnostizismus grenzende Körperverachtung degenerierter Baumeister, absolut unästhetisch, sachlich, praktisch.
Das dominante Stilmittel der Neuen Sachlichkeit scheint Langeweile zu sein – nicht gerade eine elegante Umschreibung, aber für uns hier unten in Babylons Straßen bilden derlei Annahmen die Substanz der Ereignisse: gähnende Langeweile.
Die Gassen lauern vor Gefahren, sichtbar oder unsichtbar, in Verkleidung gutmütiger Bürger oder als Killerviren unterwegs kann uns die Attacke jederzeit und überall treffen. Weil wir sie geschaffen haben, sehen die Monster aus wie du und ich – gefährliche, seltsame Zeiten.
Und das vortrefflichste Mittel gegen jede Form der äußeren Bedrohung ist Langeweile – deshalb der ganze Spuk, die Videoüberwachungsvorrichtungen, die schnauzbärtigen Cops – ein uralter, unsterblicher Instinkt zwingt uns in unsere sicheren, weißen, mit billigen Plagiaten namhafter Künstler und Urlaubsimpressionen behangenen vier Wände. Langeweile ist die wirkungsvollste Waffe gegen jede Form von Furcht, denn ihre Grundlage bildet das simple Paradoxon, dass, wo nichts geschieht, auch nichts passieren kann.
Die Situationisten betonten immer wieder, dass Architektur uns psychologisch beeinflusst, dass Raum und Zeit als Masken des eigenen Selbst agieren –klar- und schenken wir ihren Worten Glauben, folgt daraus, dass das Spielen mit diesen Masken uns verändert, dass das Umherstreifen („derrivé“ im Situationisten-Jargon) im urbanen Raum eine Praxis zur direkten Beeinflussung unserer Wahrnehmung ist und das Küsse in diesem Akt ebenso essentiell wie Hammer und Meißel oder Spraydosen sein können.
In einer Welt, die uns die Götter stahl, ist viel freier Stahlbeton, den wir in ein Pantheon unserer Visionen verwandeln können, wir kneten wie Ton am Trümmerhaufen postkapitalistischer Schmach, lassen die baudelairschen Alpträume Wirklichkeit werden.
Graffiti scheint eine Version moderner Hieroglyphen zu sein, die den öffentlichen Raum als Leinwand benutzt, um ihn genau an der Schnittstelle zwischen Kunst und Vandalismus zu verschönern. Wenn moderne Architektur, die wie Nietzsche weiß, sowohl dionysische als auch apollinische Elemente miteinander verbindet, der vollkommene Wille zur Macht ist, was macht dann Graffiti mit diesem Willen? - Sie entzaubert dessen Wirkung wie ein heiliger Narr.
Für Babylon ist die Graffitikunst ebenso „barbarisch“ wie die Gotik für die christlichen Prüden des 15. Jahrhunderts – vielleicht wird „Sachbeschädigung“ ja auch einmal synonym für die Kunst unserer schmählichen Zeit sein.
Es ist die Dialektik der Aufklärung, die aus derartigen Bewegungen spricht, die Eroberung und Wiederentdeckung der entzauberten Welt, in der alles gleichsam banal und langweilig erscheint, durch die barbarischen Kräfte im aufgeklärten vernünftigen Bewusstsein des 21. Jahrhunderts.
Gerade diese Dialektik macht das ganze so tragisch: eine Bewegung lässt sich nur schwerlich auf ewigen Karten nachvollziehen, und es muss betont werden, dass Ausbrüche wie dieser durch keine rationale Kraft im Universum „erklärt“ werden können – sie wissen einfach nicht, was sie tun. Und auf einer instinktiven Ebene scheint das auch das richtige zu sein.
Psychogeographie, das Umherwandeln in den Tempeln der Langeweile, um diese in Paläste der Lust, der Zerstörung oder des Diebstahls zu verwandeln – das ist es, was wir suchen. Poetischer Terrorismus: ich liebe es, gute Gedichte auf dem Stahlbeton einer Polizeiwache zu lesen. Eine Sauftour durch öde Gassen, Erlebnisse und Begegnungen genau dort, wo man eigentlich nichts erwartet, nur der Mond wird Zeuge unserer wütenden Kräfte sein: „salute luna, salute cuidad!“
- wie eine sozialistische Wanderjugendgruppe einst röhrte: „Ihr hab zwar die Macht, aber uns gehört die Nacht!“
3. Radikaler Monismus
„Wahrlich, diejenigen, die da glauben, dass Vishnu, der Schoß des Universums, ein anderer ist als Mahadev [d.h. Shiva] irren und verstehen die Veden nicht.“
Radikaler Monismus ist einer der dreißig Vögel Attars (si murgh), der von der göttlichen Immanenz zu berichten weiß, ein hermetischer Götterbote, eine spirituelle Mausefalle der Scharlatane und Abtrünnigen.
Schon die Mysten von Eleusis mussten sich eingestehen, dass ihnen durch verabreichen des kykeon nichts anderes bewusst wurde als die Einheit des Vielen, selbst der angesehene Cicero wurde dieser Tage zum radikalen Monisten („wir sahen den Beginn und das Ende des Lebens und erkannten, dass sie eins seien“).
Der Mythos des Monismus definiert sich selbst als Geschichtenerzähler, als numinöser Namensspiegel, >>ich war ein Schatz und wollte gefunden werden, also schuf ich die Welt<< wie Allah einmal gesagt haben soll.
Radikale Monisten wie die Bruderschaft des „Sieben Zirkel Koran“ („for ALLAH and man are one“) bilden das Fundament eines uralten Myteriums, das sich wie zäher Kaugummi durch die okkulten Traditionen des Globus zieht, ein Aufblitzen der Erkenntnis und spirituellen Schönheit im gähnenden Moloch von Nicht-Geschichte, Einheit des Vielen und Verschmelzung der Gegensätze, parasitäre Existenz, kalter Schweiß, kosmische Epiphanien.
Diejenigen, die glauben, dass das taoistische Ying und Yang-Symbol ein Zeichen der dualistischen Natur allen Erkennens ist, verstehen nicht, dass es sich selbst in der Auflösung begreift. Dieser Archetypus, den die Europäer als Ourobouros darzustellen pflegten, bedeutet wunderbare blake’sche Ewigkeit, Verschmelzung, nicht Trennung, Auflösung in der Form einer Null, die wahre Eins, der definitve Anfang im Zyklus des Chaos und der klaffenden Leere.
Ein großer Monist unseres Kulturkreises war der antike Heraklit, der vehement darauf beharrte, dass das Orakel von Delphi nicht bejahe oder verneine, weder ausspricht noch verbirgt, sondern bedeutet – eine semantische Schatztruhe, und Heraklit wusste, dass der Monismus eines der letzten Geheimnisse des Universums ist. („Die nicht auf mich, sondern auf das Wort hören, stimmen überein, das Weise ist zu wissen, alles ist eins.“)
Die Einheit des Mikrokosmos-Makrokosmos-Symbolismus ist zu allen Zeiten eine Art Speerspitze magischer Avantgarden gewesen, eine fundamental-psychedelische Tatsache.
Jene, die dieses mysteriösen Schimmer des EINS empfinden, wissen um die Freuden des Heiligen, dass sie wie eine Nussschale penetrieren, um zum Kern zu gelangen, den vier Richtungen des Herzens mit dem Zentrum als fünfter.
Ich sehe all die ungeahnten Freiheiten, die Hermes’ Zauberkoffer birgt, die Träume im Schatten revolutionärer Häresien.
Die alten Ismaeliten kamen in ihrem Verständnis von „ta’will“ als einer spirituellen Hermeneutik zum selben Ergebnis wie die christlichen Gottesfreunde um Meister Eckehart, die Schale muss aufgebrochen werden, will man zum Kern gelangen!
Wir alle haben Teil am kosmischen Drama, wir alle können spüren, wie das Leben eine Fehde mit dem Tod eingeht, nur um auf einer anderen Ebene als EINS wieder aufzuerstehen, als Kind des Chaos, das blüht und verdirbt, wieder und wieder – doch nur wenige sind in der Lage zu erkennen, dass darin unsere Möglichkeit liegt, Imagination tatsächlich zu benutzen, um das Blau des Himmels zu verändern, und wenn du Gott fragst, wer er ist, wird er „DU“ antworten.
Du bist bereits der Imam-des-eigenen-Selbst, ein Monist und Einfaltspinsel, eine schwebende Gottheit, wie von Seidenmalerei realisiert, aber dennoch greifbar wie ein Busen oder eine handvoll Erde.
Wer den Pfad der linken Hand, den Weg des Saturns gegangen ist, weiß um die Präsenz von Dualismen, doch begreift er ebenso, dass darin ein Monismus begründet liegt, der alles Sein zur kosmischen Einheit erhebt. Wir sind Abbilder des Göttlichen, und die Spiegel der göttlichen Namen existieren nur solange, wie sie gesehen werden – Rilke drückte das so aus: „Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? – ich bin dein Krug, wenn ich zerscherbe…“
Man erzählt sich eine Geschichte um die Aghoris, eine radikal-tantrische Sekte des indischen Subkontinents, die ihre Epiphanien im Trinken aus Schädeln und im Rauchen von Eisenhut und Kobragift suchen: Der erste Aghori war ein Unberührbarer, der zu einem Tempel ging und unverfroren seine Füße auf einen shiva-lingham legte, der dort verehrt wurde. Die Brahmanen gerieten außer sich, konnten ihn jedoch nicht davon abbringen, da sie ihn, als Unberührbaren ja nicht einfach aus dem Tempel ziehen konnten. Also versuchten sie auf ihn einzureden: „Dafür wirst du büßen! Wie kannst du ausgerechnet deine Füße, dieses unreinste aller Körperteile, auf unsere heilige Gottheit legen? Willst du nicht doch lieber gehen, ehe Shiva dich seinen Zorn spüren lässt?“ Der Aghori zeigte sich davon unbeeindruckt, bot den Brahmanen aber ein Geschäft an: „Zeigt mir einen Ort, an dem Gott nicht ist, und ich werde meine unreinen Füße dort ablegen!“
Als Quantenphysiker wie Erwin Schrödinger oder Niels Bohr der immanenten Bedeutung ihrer Entdeckungen gegenüberstanden, nahmen ihre Erklärungsversuche äußerst spirituelle Untertöne an, manche verfassten regelrechte Traktate zu Ehren des göttlichen Quantums.
(siehe dazu vor allem Hans-Peter Dürr – Physik und Transzendenz & Capra – Das Tao der Physik)
Während der geadelte Bohr das Ying-Yang in sein Familienwappen aufnahm, schrieb Schrödinger Bücher wie etwa sein „Was ist Leben?“, vollkommen philosophisch und metaphysisch, der Physiker schien erwachsen geworden zu sein.
Doch da war noch die Schule der Pataphysiker um Alfred Jarry, da waren die Surrealisten, die auf „die Geistigkeit aller Substanz“ hinweisen wollten, da war Bucky Fuller, der andauernd vom Universum (d.h. der Einheit) sprach, und sagte, dass diese Einheit pluralistisch, aber mindestens zweifach war, da kamen die ganzen Interpretationen der quantentheoretischen Erkenntnisse, von denen das Kopenhagener Theorem nur das Bekannteste ist.
Der Monismus ist in dem Sinne nichts Exotisches, nichts Orientalisches oder dergleichen, sondern eine Schlussfolgerung zu der renommierte Wissenschaftler und Künstler gleichermaßen kamen – wie die Chaosforschung, die eben darin – im Chaos – das allgemein-gültigste Prinzipsehen: nichts anderes bedeutet Radikaler Monismus.
4. Eine Phänomenologie des Rausches
Baudelaire erteilte uns Suchenden in seinem Pariser Spleen einmal einen guten Rat, den Rat fortwährend berauscht durchs Leben zu gehen, ob vom Wein, der Poesie – ganz wie es beliebt, doch die Nüchternheit scheint der von Gott gegebene Feind jeder menschlichen Regung zu sein.
Nehmt den Wahnsinnigen ein Mittel, warnte der Surrealist Artaud einmal die Opportunisten, und sie werden zehntausend neue erfinden und wahrlich, das Erfinden von Räuschen ist mehr als bloßer Volkssport, denn hier scheint die Notwendigkeit selbst am Werke zu sein.
Die Autopoesie des Rausches ist es, die den Menschen schöpferisch tätig werden lässt, jenes dionysische Fragment der Leidenschaft nach Leben, tragischer Durst, wie von Bilsenbier verursacht. Die betrunkenen Sufis erzählen vielleicht ein einziges endloses Märchen der Mystik des Rausches, trunken von Wein, Poesie oder Gott – ganz wie es beliebt.
Im Frühling der frischen Rebentriebe und wachsenden Hanfpflanzen finden wir unsere prima materia der Apostasie, ein Tag ohne Trunkenheit ist ein verlorener Tag.
Die Fang aus den Urwäldern Zentralafrikas haben eine ziemlich konkrete Lebensphilosophie, die in etwa wie folgt lautet: es ist nicht nur Gutes in der Welt, sonder auch Böses, und deshalb müssen wir feiern!
Denn hier erblicken wir das Jenseits, hier bestätigt sich das Dasein als Geschenk der Ambrosia labenden Götter, und wir verstehen, warum sich das Universum lohnt.
Hier vergessen wir die einsamen Stunden und harten Arbeiten, hier finden wir Vergessen und Erinnerung, das größte Mysterium ist unsere Neurochemie, die dazu befähigt ist, das Hirn in einen Energiestrom der hedonistischen Verzückung zu verwandeln, tanzende Moleküle, taumelnde Transmission, oh du Göttin der berauschten Gemüter, feiern wir die Existenz!
Der große Dichter, Astronom und Mathematiker Omar Khayyam wusste, dass es keinen besseren Zeitvertreib gibt als Wein um auf den Tod zu warten.
Denkt an Artaud: die Räusche sind so vielfältig und transzendieren das Gebiet der Rauschgifte und Betäubungsmittel bei Weitem, hier eine Liste erstellen zu wollen, wäre eine absurde Unternehmung.
In unserer Kultur scheint das Fest jedoch zu einer Art bloßem Substitut geworden zu sein, als wäre der Rausch in einem gesunden Leben nicht inbegriffen. Diese Hornochsen, da leidet die Hälfte des Volkes an Depressionen und sie sehen keine Zusammenhang zwischen ihrer Raucherdiskriminierung, den ständigen Predigten gegen das Trinken, ganz zu schweigen vom Verbot der wirklich wirkungsvollen Drogen, als wäre es ein Verbrechen das Leben zu feiern.
Zu unserem Glück übersteigt unsere Kreativität ihre Beschränktheit bei weitem und wir kennen mehr als nur eine handvoll Wege um auf unsere Kosten zu kommen.
Wo Feiertage, Feierabende ihrem Sinn und Zweck beraubt werden, warten wir auf, um das Leben in jenen hohen Seelentaumel zurückzuführen, aus dem es ursprünglich übergequollen sein muss – eine überlaufener Schaumwein aus ekstasis und entheosiamsos, sich jeder Erinnerung an Vernunft und Verstand beraubend, tune in, turn on, drop out!
Läutern wir also unsere Pforten der Wahrnehmung, haben wir Teil an unserer unverdienten Gnade, denn es lohnt sich, das Universum.
5. Les enfants sauvage
„Lange Zeit haben die Frauen zusammen mit den Künstlern, den Kindern und den Irren das Privileg genossen, schreien, singen, weinen und gestikulieren zu dürfen, irgendetwas zu reden und das auszuplaudern, was man nicht sagen darf. Seit sie dank der Industrialisierung das unschätzbare Recht errungen haben, in den Fabriken zu arbeiten, einen Lohn zu verdienen, ein Unternehmen zu leiten und eine Fliegerstaffel zu führen, während die Künstler zu Funktionären der kulturellen Werbung wurden, bleiben nur noch die Kinder und die angeblich Geisteskranken übrig, um verschwommen die Spiralen dieser der Macht entkommenen Sprache auszudrücken.“
- Raoul Vaneigem
Die Wolfskinder und wilden Männer, das ganze Arsenal an wirren „Freaks“, Mainaden und berauschten Ekstatikern, die pseudobiologische Gattung des „homo ferus“, die vielen Geschwister Kasper Hausers – ein dimensionsloser Punkt in dem fehlenden Ereignis menschlicher Evolution.
Jene, die die andere Seite gesehen haben wissen um die Präsenz von bakara, sie haben sich jenseits von ratio und den üblichen Definitionen von Erkenntnis ein Wissen angeeignet, das jeder Sprache, sei sie auch noch so poetisch, entbehrt und wenn sie aus diesem Hades allen Seins wieder aufsteigen liegt etwas von Wahnsinn in ihren blumigen Augen.
Man mag den Wolfskindern eine kulturelle Verantwortung, wie wir das verstehen, aberkennen, aber Romulus und Remus beweisen, dass sie immerhin in der Lage sind Weltimperien zu errichten.
Die ganze Geschichte verdichtet sich zu einem Punkt, nicht mehr als der Flügelschlag eines Schmetterlings oder das Grillen einer Zikade, doch in diesem Wunderland der wüsten Gebärden und haarigen Sitten kann niemand ohne eine Vision zu echter Humanität gelangen: im Spiegel ihres obsessiven Spiels seid ihr die Wilden.
Verwahrloste Außenseiter, körperlich derangiert und fortwährend berauscht, eine tollwütige Tarantella der Verzückung tanzend, verführt von Wein und Amanita, der sie manchmal dazu verleitet in rasender Obsession Rehkitze oder Familienväter zu zerreißen, jene Silbe –mania- wie ein Mantra im Kopfe rezitierend.
Keiner der Möchtegern-Historiker, Philologen oder Ethnologen hat verstanden, wer die Griechen waren, was sie ausmachte – aber alle sind sich einig, dass sie die Wiege unserer eigenen Kultur sind, dass wir die Abbilder von ihnen in uns selbst anstarren, wenn wir sie wie beschämte Voyeure bei ihren orgiastischen Bacchanalien und Rasereien beobachten.
Das letzte Überbleibsel ihrer Kultur, dass durch die Hagzussen und Zaunkönige hinweg das gesamte Mittelalter überlebte, haben die aufgeklärten Neuzeitler unter ihrem Hexenhammer gerichtet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und doch sind sie immer noch nicht gestorben.
Noch taucht immer mal wieder ein verwildertes Kind in einer unschuldigen Dorfgemeinschaft auf, noch wissen sich die Wahnsinnigen zu begegnen, Blicke über den Esstisch schleudernd, sonderbare Monologe von sich gebend, in irgendeiner namenlosen Psychiatrie dieses Planeten.
Aber ihr Emblem bleibt unvergessen, ihre rohen Sitten werden selbst in den feinen Herrenhäusern sorgloser Aristokraten kultiviert, wovon ein Gilles de Rais oder Marquis de Sade nur die popkulturelle Speerspitze zu formen scheint.
Von Ekstase tief erfüllte Pupillen, giftigen Efeu kauend, in einer überladenen Vollmondnacht, kommen die Wilden und ihre Kinder noch des Nachts zusammen, drehen sich ums Feuer, ihre Glieder wie pralle Erektionen oder psilocybinhaltige Pilze dem Himmel entgegen schießend –sie fliegen übers Kuckucksnest in ein Land der für uns ungeahnten Freiheiten.
Der Wahn ist das Signum der Prophetie, das Gekicher des Narren, der am Abgrund spazieren geht, prophetischer Taumel des göttlichen Scheins, das nur erleuchtet, weil das menschliche Licht schon lange untergegangen ist.
Der Wahnsinn macht den Mensch erst vollkommen, meinte Bataille in einer Meditation über Nietzsche, wie phonetische DADA-Wortkunst – uhuh, ieh, eha, mehm – schallendes Gelächter, das jede Wägung des Verstandes weglacht: das Wunderbare der Surrealisten ist Taumel, Wahn, mentales Feng-Shui.
Zenmönche versuchen durch irrationale Rätsel an die Grenzen des Verstandes zu kommen, und dort wartet es auf sie: das Lachen, das nur der göttliche Schelm kennt, das wahnsinnige Gebärden direkter Gotteserkenntnis – wie wenig Sinn es macht, davon zu schreiben!
Magische Worte – Chaos, Wahn, Wildheit und Verzückung, wie nah liegt doch alles bei einander, dieser theatralische Rausch der direkten Erfahrung des allumfassenden Plasmas, die Zone an dem die gewöhnlichen Gesetze von Raum und Zeit enden: hier haben sie nie existiert.
6. Kunst als Agiationstaktik
Ich betrat einmal einen Baumarkt, um Materialien zum „moon shinen“, zum illegalen Schnapsbrennen, zu besorgen. Es dauerte nicht lange, bis der Verkäufer merkte, dass ich mich nicht wegen meines Heizsystems, um all die Kupferrohre kümmerte. Irgendwann siegte die Neugier: „Wofür brauchen Sie das denn?“ wollte er wissen. „Ich bin Künstler und arbeite an einer trompe l’oleil“ entgegnete ich ihm.
Das war alles. Künstler. Er schien zufrieden.
In diesem Moment begriff ich instinktiv, dass Kunst so ziemlich alles rechtfertigen kann. Ich erinnerte mich an einen Typen auf der documenta, der ein Hanffeld inmitten Deutschlands anlegte und behauptete es sei Kunst. Nach langem juristischen Hin und Her musste das Feld entfernt werden, aber er blieb immerhin straffrei.
Die Situationisten sollten für irgendeinen reichen Heini eine psychogeographische Stadt auf einer Insel entwerfen. Sie forderten von ihm, im Falle einer Kollaboration alle Freiheiten über diese Stadt zu haben und sie im Fall der Fälle auch sprengen zu dürfen.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzten: das Gottesdiensttheater Johannes Baaders, die Notre Dame Stürmung zur Ostermesse in Paris, die wirren Aktionen Christoph Schlingensiefs – wenn eine Kraft im Universum das Potential in sich trägt, Hassan Ih-Sabbahs Mantra „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!“ zu verwirklichen, dann doch die Kunst.
Poetischer Terrorismus – sie will alle Freiheiten haben, sie will nicht nur schöpfen, sondern auch zerstören, sie will Urheberrechte verletzen, dekonstruieren, Tabus brechen und öffentlich schimpfen, die Kunst ist die Verführerin des Lebens, wie Nietzsche wusste.
La vie boheme, die Elite des Lumpenproletariats ist befähigt, das Leben in all seinen kostbaren Augenblicken zu genießen, und darzustellen, was für kleine Geister unvorstellbar bleibt.
Es gibt immer Ärger: Andre Breton stellte den Amoklauf als Kunst dar und Karl Heinz Stockhausen kassierte Schelte, weil er den 11.09.01 für das größte poetisches Kunstwerk hielt. Die Bienchen und die Blümchen, die Flugzeuge und die Welthandelsimperien, alles hat das Potential uns aus der Negation einer banalen Existenz zu befreien.
Sie, die Kunst, wirft uns Kusshände zu und wir als wahnsinnige Narren sind gerne bereit mit ihr eine wilde Amour Fou einzugehen, wir lieben ihre Offenheit für Missbrauch.
Wir wissen natürlich, dass alles der Ebene privater Imagination angehört, dass die Moral verwaltbar wie die Politik oder die Ökonomie ist und dass wir die Schöpfer unserer eigenen archetypischen Götter sind - die Metapher regiert auf den niederen Regionen der abstrakten und semantischen Bilderwelt. Somit haben wir das unentwendbare Recht alles zu denken, dichten, ritzen, ätzen, schitzen, singen, tanzen, penetrieren was uns beliebt. Das Gesetz von Thelema ist keine Parodie katholischer Strenge, sondern eine wilde Lockung zur Freiheit. Wer diese universelle Gleichung wirklich versteht, wird ausbrechen aus den Schlössern, die einst als reale Bauten existierten, doch nunmehr lediglich Tempel in unseren Köpfen sind, er wird die Polizisten des Geistes und die Päpste der Seele kidnappen und unmoralische Lösegeldforderungen verlangen.
Für jene, die in das Reich der gläsernen Kugel abgetaucht sind, hat alles seine glänzende Bedeutung verloren – hier halten wir die weltliche Zeit mit Dolchen und Giften in Schach, eine Insurrektion im Namen der Kunst als schöngeistiger Dandy-Zeitvertreib der Arbeitsscheuen und Nutzlosen.
7.Nichts
Über allen Pantheonen thronend, doch weder Gott noch sonst eine Entität, mehr Prinzip als Syntax. Ursprung des Universums als creatio ex nihilo, der unbewegte Beweger, der alles bewegt.
Das Nichts ist ein grauer Schleier über den Schatten von Babylon, das paradoxe Koordinatensystem des Weltenalls, mehr ein Verb als ein Nomen, weder Ding noch Substanz, nicht Dies, nicht Das, ein schimmerndes Band, das alles ansaugt wie ein Vakuum.
Christian Morgenstern berichtete vom Lattenzaun, mit Zwischenraum hindurch zu schauen, jener Metapher für die klare Eindringlichkeit der Welt ins Dasein, ex nihilo, aus dem Nichts.
Die weisen Taoisten kennen unzählige Erzählungen von jenem Ground zero, der Leere zwischen den Speichen, die das Rad erst zum Rad macht.
Sunyata, die zenbuddhistische Illumination durch Nichts, nichts weiter, nur dies, nur so. Ohne Beweggrund bildet die Null das Zentrum, um das sich diese kleine Welt dreht, eröffnet das Orakel des Tarot als tanzender Narr, der am Abgrund entlang schlendert:
Der Esel sieht in den Brunnen und der Brunnen in den Esel, wie die Mönche sagen. Meister Eckhart, jener große Mystiker, wusste, dass Gott nichts ist, die Einheit des Monismus in einer gähnenden Leere, dem Abgrund, den man nicht zu lange betrachten soll.
Man erzählt sich diese Geschichte vom Gelben Kaiser, der auf einer Reise seine geliebte Zauberperle verlor. Er sandte Vernunft aus, sie zu finden, doch Vernunft fand sie nicht. Er sandte Schauen aus, sie zu finden, doch Schauen vermochte es nicht. Er sandte das Wort aus, sie zu finden, doch auch das Wort konnte die Zauberperle nicht wieder herbeischaffen. Endlich sandte er Nichts aus und Nichts fand sie. „Seltsam fürwahr, “ sprach da der Gelbe Kaiser, „dass ausgerechnet Nichts sie zu finden vermocht hat.“
„Alle Dinge entspringen dem Sein“ sagt Laotse, „außer das Sein, das entspringt dem Nicht-Sein.“
Es ist ein göttliches Spiel, in Gang gehalten von Maya, der Täuscherin des Universums, die integrale Funktion jedoch ist ein weißes Blatt Papier.
Martin Heidegger erkennt am Beispiel des Wasserkrugs: „Das Wesen der fassenden Leere ist in das Schenken versammelt.“
8. Die Entführung der Mania
In griechischen Zeiten war mania Inbegriff des Göttlichen, jener höchst willkommene Ruf aus den vordersten Reihen des Olymp, ein Artefakt, das nicht nur dem delphischen Orakel und den bacchantischen Mainaden vorbehalten blieb, sondern von der ganzen antiken Öffentlichkeit zelebriert wurde.
Es gab, wie auch in Proto-Ägypten, Festumzüge und Karneval, in deren Mittelpunkt närrisches Treiben und die tragischen Elemente standen, wie sie den Griechen nun mal eigen waren.
Dann kam die Bibel und behauptete, dass die Narren in ihrem Herzen sprechen, dass es keinen Gott gibt. Sie verteufelten mit Schellen behangene Irre, was nur logisch erscheint, denn wie kann man die Konkurrenz wirkungsvoller ausschalten, als ihre Traditionen zur Blasphemie zu erklären?
Die Heiden blieben bei ihrem Metier. Die Gottestrunkenen sollten in den nächsten Jahrhunderten reichlich gehängt werden, denn Häresie war mit ihrem revolutionären Charakter ein beliebtes Todesurteil der Inquisition.
Ab dem 15. Jahrhundert dann, rücken die Irren weitläufig in die christlichen Augen eines gebeutelten Europas.
Nihilismus ist Wahnsinn: der Nihilist schneidet seine Ohren ab und umart gezüchtigte Pferde, er ist eine direkte Inkarnation von Dionysos, getötet und wiederauferstanden, und er fühlt sich auch entsprechend. In seinem Destillierkolben blubbert die Weisheit der Jahrtausende und er lässt sie verdampfen, all die feinen, edlen Tugenden veraschen rückstandslos: hier ist das Nichts, die gähnende Leere des Chaos, eine seiner vergessenen Sommernachtsträume.
Er hat den Hades besucht und als er diesem Flammenmeer wieder entstieg lag ein Glanz von Wahnsinn in seinen Augen, der Zweimalgeborene, der all die verborgenen Welten kennt, „jene Kristallkugel, die für alle leer ist, ist in seinen Augen gefüllt mit der Dichte eines unsichtbaren Wissens“ wie Foucault sagt.
Er segelt einer neuen Welt entgegen, wie ein hoffnungsloser Matrose, seine Träume tragen eine seltsame Patina, wie bronzene tote Augen oder ein Marmor der Vergänglichkeit,
9. Alles Heil Discordia!
Bekennerschreiben xyz: (zum Ausschneiden und verschicken)
Eris ist so ne Sache: man kann nicht von ihr sprechen, ohne sich automatisch in unüberwindbare Widersprüche zu verwickeln – das liegt an der Natur der Sache. Eris ist nicht wie andere Götter. Wer sie kennen lernt, befindet sich fortan im Krieg (immerhin ist sie die Schwester von Ares)…mit der Welt, seinem Ego, seiner Ungewissheit, aber wie Heraklit (einer ihrer treuesten Jünger) wusste, ist der Krieg aller Dinge Vater.
Die meisten, die sie jemals trafen, unterhalten seitdem sexuelle Beziehungen zu ihr, für sich genommen schon seltsam genug, und sie fangen an wirres Zeug zu reden.
Ich las einmal in Mircea Eliade’s Klassiker zum Thema Schamanismus und musste feststellen, dass diese zitternden, singenden, tanzenden, närrischen Zauberer allesamt ihre Jünger waren. Ihr Einfluss muss in jenen Tagen groß gewesen sein und wer sich einmal mit der Historie des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt, wird feststellen, dass ihr Einfluss immer noch gigantisch ist, und von Tag zu Tag zu wachsen scheint.
Sogar so renommierte Wissenschaftler wie Carl Gustav Jung und der Nobelpreisträger für Physik Wolfgang Pauli lernten sie kennen. Sie nannten sie, nach einem alchemistsichen Vorbild, die „anima mundi“, in Indien wird sie als Kali verehrt, als düsteres Weibsbild, behangen mit Beinen und einer Kette aus abgetrennten Köpfen, wie sie sich selbst den Kopf abhackt und auf dem toten Shiva rumtrampelt. Die tibetischen Lamaisten nennen sie, ebenso wie die Primitiven von den Kanarischen Inseln, Tara.
Im archaischen Europa wurde sie als Freya gefeiert, der nichts über ein Schäferstündchen mit den geilen Zwergen ging, die ihr dafür die unglaublichsten Accessoires schmiedeten.
Robert Ranke-Graves folgte ihrer Spur in seinem Buch „Die Weiße Göttin“ und förderte erstaunliches zutage. Ich schreibe das, um zu zeigen, dass die Diskordier nicht etwa eine sinnlose Spaß-Religion ins Leben riefen, sondern einer der ältesten Wunder der Menschheit wiederentdeckten – den matriachalischen Wahnsinn, den die Griechen „mania“ nannten. Dionysos ist noch so ein Kandidat, er ist keine Inkarnation von Eris, aber wahrscheinlich einer ihrer ersten Anhänger. Er kleidete sich in Frauengewändern, und versammelte blutrünstige Mainaden um sich, berauscht und heiter zogen sie um die Welt, um ihre frohe Botschaft zu verbreiten und Kriege zu führen (wie gesagt, die Schwester von Ares), -etwa vorstellbar wie eine antike Version der Merry Pranksters, es war ein Fest in jenen Tagen.
Heute ist die zwieträchtige Lady immer noch am Werk, dem Mathematiker und Romancier Lewis Carroll stellte sie sich als „Alice Lidell“ vor, dem Begründer des Surrealismus Andre Breton erschien sie als „Nadja“, die Dadaisten identifizierten sie mit Dada selbst, in der Quantenphysik tauchte sie zeitweilig unter dem seltsamen Namen „Zustandsvektor“ auf und einem Freund von mir begegnete sie mit solch einem merkwürdigen Namen, das ich mich nicht mehr richtig erinnern kann – „Naxak“ etwa.
Ich lernte sie, ebenso wie Friedrich Nietzsche, als „Ariadne“ kennen, die hübsche Mondgöttin, die Dionysos zur Frau nehmen sollte. Niemand weiß genau, was damals vor sich ging. Der legendäre Ariadnefaden sollte ihren geliebten Theseus aus dem Labyrinth des Minotaurus führen, aber was war passiert? Wer den Sprung macht, und die liebliche Ariadne von Naxos mit Eris herself identifiziert hält wahrscheinlich alles für möglich, eine Begebenheit, durch die dünnen Spuren von hinlänglichen Mythologen komplett verwischt. So kanns gehen, aber wen juckt’s?
Was nun die Hymnen auf Eris angeht, so mangelt es zweifelsohne nicht an ihnen – egal, ob sie sich als diskordische Traktate deklarieren oder in der Verkleidung eines Kinderbuchs daherkommen, der lieben Göttin sind alle Mittel recht, um die gutbürgerlichen Anerisier kopfzuficken.
Was sie will, ist unbekannt, aber sie ist so gottverdammt sexy, das wir als ihre Jünger alles in unserer Macht stehende tun werden, um Discordia, der Allerschönsten, an ihr Ziel zu helfen, wir sind ihre Fußabtreter, ihre Postboten und Chauffeure – ihr hochverehrten Graugesichter, versucht also nicht uns zu verarschen.
Mit diskordischen Grüßen
Die nihilistische Anarchisten Horde (NAH)
Heil Eris!
Eine Visualisierung des Internets
10. Cyberpunk Gnosis
„Communication doesn’t communicate“
-Hakim Bey-
Ich halte viel von Kommunikation und bin der festen Überzeugung, dass wir unbedingt alle mehr miteinander reden sollten.
Andererseits hat Kommunikation auch so seine Schattenseiten: Kommunikation ist so ein Ding, dass automatisch ein neues Paradigma wird, sobald es sich technologisch weiterentwickelt, ein neuer status quo, dessen sonderbare Eigenheit darin besteht, dass jedes „davor“ undenkbar wird.
Stellt euch vor, was es bedeutet hat zu lesen, zu schreiben, zu wissen vor 1456 – der Buchdruck ist so eine Form von Hardware, die für uns selbstverständlich ist, doch „davor“ waren Buchstaben ein unendlich viel größeres Mysterium, Wissen ein Privileg der Wenigen und alles hatte vielmehr einen tradierten Charakter.
Wir wissen zwar, dass mündliche Überlieferung einen tiefsitzenderen Wandel verursacht als jede andere Form von Kommunikation, aber in dem Maße, indem unsere Medien zunahmen, schwand jede Überzeugung. Wer braucht eine geheime Tradition von Gilden und Gesellschaften, wenn er alles aus „Blablabla für Dummies“ - Büchern lernen kann? Wissen ist heutzutage suspekter als jemals zuvor, Information haben wir sogar im Überfluss.
Wir lesen hunderte von Büchern, extrahieren daraus die Quintessenz und bauen Paläste drauf: das Wichtige ist, dass Kommunikation und Information die tragenden Eckpfeiler von Evolution sind.
Solange die Tradition um ein mündlich überliefertes oder gar instinktives Wissen besteht, ändert sich wenig. Je größer aber der Input wird, umso höher wird der Turm von Babel, umso schneller wird die Rotation von „Fortschritt“ – informelle Rückkopplung, Negentropie.
Dieser Fortschritt bedeutet soviel wie eine unverdiente Gnade für das Individuum, jede technische Weiterentwicklung der Informationsindustrie bedeutet ein Update des Individualismus.
Und deshalb gibt es diese ganzen dystopischen Realitäten, die Kontrolle des Staates, der allumfassende Panoptismus der führenden Mächte des Universums: je freier und unabhängiger ein Individuum wird, umso schwerer und wichtiger wird es, dieses Individuum zu kontrollieren.
Stasi 2.0, dieses Thema wird heute zum zentralen Punkt von Rebellion, denn hier, im Spektakel, kann man nichts erleben, wenn es nicht erst vermittelt wurde.
Die Vermittlung als Medium zu durchbrechen, bedeutet Autonomie und das ist es, was sie verhindern wollen. Marketing ist das Zauberwort.
Ihre Verantwortung ist es, zu verhindern, dass wir nicht mehr auf sie angewiesen sind, in dem sie eine Scheinbeziehung mit uns führen und ihr Image pflegen. Das ist es: ein Image, ein Bild, die vermittelte Vorstellung von Realität.
Und hier scheidet sich der Geist: das außer Kontrolle geratene soll wieder funktionieren, und mehr noch, die ursprünglich unabhängigen Zellen werden rekuperiert und als Produkt des Kapitals wieder in den Kreislauf eingeführt wie ein schmerzhafter Katheter.
Da stehen wir heute so gut wie 1456, zu Gutenbergs Zeiten, nur in düstererer und schmerzhafterer Form. Jedes Medium neigt als organisches Prozedere dazu außer Kontrolle zu geraten - Sprache, Bücher, das Netz.
Sie also ratifizieren die Symbole, belegen sie mit Kopierrechten und Urheberschaften und versuchen so, die Kontrolle durch das Medium zu beeinflussen – Werbung, Bürokratie, all ihre langweiligen Auswucherungen und Krämpfe.
Sobald der Mensch jedoch den Kreislauf allen biologischen Lebens verlässt und sich in der Rolle des bloßen Konsumenten wieder findet, hat er all seinen Individualismus, seine Freiheit, seine neuen Möglichkeiten verloren.
Deshalb muss er produzieren, mehr noch: schöpfen, um nicht zu verschwinden. Kreativität ist selten, wie die Hacker wussten, niemand muss das Rad neu erfinden, aber ebenso darf man nicht zum bloßen Beobachter des Spektakels werden.
Darin liegt die große Aufgabe, die wir zu meistern haben. Das Internet als Medium soweit zu befreien, wie es nur irgend möglich erscheint.
Zeiten ändern sich. Leary feierte den Computer in den Siebzigern als totale Neuro-Freiheit, die einem als künstliche Intelligenz einen Großteil der Arbeit abnimmt, beinahe die gesamte linke Hirnhälfte.
Hakim Bey warnte dann in den Neunzigern davor, dem neuen Medium allzu viel zuzutrauen. Sein Argument war, dass seine drei liebsten Beschäftigungen Drogen, Sex und Steuerhinterziehung durch das Netz nicht befriedigt werden könnten. Nun, es könnte.
Aber dafür brauch man Engagement. Ich weiß aus Erfahrung, dass man im Internet so ziemlich jede Droge bekommen kann, der Platz der größtmöglichen Nichtlokalität ist schließlich der der reinen Anonymität. Als Research Chemical gelangt man dort problemlos an LSD, Ketamin, DMT, Mephedrone, 2-CB, Pilze undundund. Nur so als Illustration.
Was nun den Sex angeht, so verfügt das Internet über eine Vielzahl von communities, die nur dieses Thema im Kopf haben. Hier lässt sich alles finden. Und die Steuerhinterziehung: die ganze Homecomputerindustrie entstand letztlich aus dem Betrug heraus: Steve Wozniak, der Erfinder von Apple I, verkaufte vorher Black Boxes, die auf einer Trillerpfeife aus der Cornflakes-Packung basierten, die dieselbe Frequenz produzieren konnte, wie das Vermittlungsnetz einer amerikanischen Telefongesellschaft. So konnte man für 15 Dollar kostenlos telefonieren.
Heute erfreut sich Lockpicking größter Beliebtheit: Schlösser knacken als Volkssport. Zwar keine direkte Steuerhinterziehung, aber ein wichtiges Mahnmal auf dem Weg zu Vaneigem’s Kostenlosigkeit des Lebens, das zukünftige Paläolithikum, der elektroneurologische Potlatch.
Das Internet trägt also durchaus das Potential in sich als permanente, sicher immer wieder selbst wandelnde autonome Zone reale Bedürfnisse zu befriedigen.
Wir müssen uns bloß von der Rolle des reinen Konsumenten-Daseins distanzieren, anfangen das Internet wirklich zu nutzen, um darin die Seligkeit zu finden, die wir suchen.
Keine Cyberpunk-Gnosis! Niemals sollte die virtuelle Realität zur Flucht werden, keine Droge sollte das. Vielmehr soll Information einem das Brett vor den Kopf stoßen, die Augen ob der unzähligen Möglichkeiten öffnen.
Das Internet ist durch und durch mystisch. Die quantenphysikalische Nicht-Lokalität ihrer Systeme, das außer Kontrolle geratene Chaos, Vedanta und Tantra – das Gewebe, das verbindet, ein Myzelium der ungeahnten Freiheiten, ein Netz aus Juwelen.
Individualismus bildet die genaue Schnittstelle zwischen Mystik und Anarchie. Das Netz kann sie uns zeigen. Genau genommen ist es die totale Verkörperung von Individuum mit allem was dazu gehört: die Kostenlosigkeit als open source, verbotenen Frequenzen anstimmend, das Panoptikum ad absurdum führend (man denke an den Fingerabdruck Schäubles durch den CCC).
Das Web ist ein Wunderbasar der seltsamen Zusammentreffen, offene communities mit sonderbaren Fetischen, ein Spielplatz des Eigners oder Übermenschen. Wir müssen lediglich lernen, ihn jenseits von körperverachtender Metaphysik nutzen zu lernen.
Hesses Glasperlenspiel, ein Abakus der ungeahnten Freiheiten, die Mathematik der Ekstase.
Wahre Kommunikation. Nicht diese pseudo-wirklichen Profile, e-Bay und all die wuchernden Emotionen – wir brauchen Innovation, oder wollt ihr dem MIT, CERN oder der Regierung auf ewig die Rechte an Information überlassen?
Das Netz ist der fraktale Punkt der Existenz, an dem sich unser Sein zu einer bloßen Epiphanie der Eindringlichkeit verdichtet: keine Grenzen mehr.
Ein halblebendiger Virus in den Wirren von Babylon, voll von Kinderporno, Betrug und criminal intentions, unkontrollierbar, sodass die logischste aller Handlungen das Mitmischen im kosmischen Dilemma des Cyberspace besteht.
Mit simplen Programmiersprachen können wir für unsere Augen jegliche Werbung aus dem virtuellen Raum verbannen – Verbannung, jenes Konzept, das sie allzu gerne für jede Art von Prolbemfall unsererseits verwanden, wird für uns zur Bestimmung in dieser joyc’schen Odyssee – die Freiheiten sind da, sie müssen nur genutzt werden.
Die gnostischen Radikalismen aus Askese und Fresssucht, die sie uns vermitteln wollen, sollten uns nicht interessieren, das internet darf nicht zu einer Erweiterung des Fernsehens verkommen, indem für uns heute absolut keine Möglichkeit mehr zur Selbstentfaltung liegt.
11. Anarchistic Dimensions – Notwendige Denunziationen
„Jeder Mystiker ist empfänglich für Anarchie“
–Paul Valéry-
In den anarchistischen Kreisen, in denen ich mich lange Zeit bewegte, gab es eine offenkundige Diskrepanz verschiedener Oppositionen im Dienste der „Sache“ – da waren die Anarchisten, denen offenbar ein elitärer Pragmatismus eigen war, ein ungeschriebenes Dogma der Anarchie, das sie scheinbar irgendwoher (ich weiß nicht woher) hatten. Sie hielten Drogenkonsum jeder Art für konterrevolutionär, kleideten sich einheitlich in schwarzen Klamotten linker „Marken“, schimpften auf Crimethink und solche Gruppen und waren fest davon überzeugt, das man nur mit eiserner Faust zum Sieg gelangen würde.
Ich würde gerne Herkunft und Anschauungen dieser Leute eingehend analysieren und aufzeigen, woher ihr Argwohn kommt, aber ich kann es nicht, ich bin nicht in der Lage reflektiv über sie zu schreiben, weil ich es nicht verstehe – beim besten Willen nicht.
Also bleibt mir nicht viel anderes übrig, als sie heftig zu denunzieren, weil sie scheinbar nicht verstanden haben, was wir (als drogenverseuchte, bunte Gedankenverbrecher und Müßiggänger) von Autonomie und Anarchie halten.
Ich sah einmal dieses Graffiti: „Anarchie ist nicht Chaos“, verziert mit Hammer und Sichel und dem obligatorischen A – oh Mann, alles ist Chaos und Anarchisten sind selbsternannte Propheten desselbigen, Anarchie impliziert es.
Diese Menschen lesen nach wie vor Bakunin und Marx und glauben, in solchen Büchern irgendeine Theorie zu finden, die für unsere postmoderne Schmach zutreffend ist. Guy Debord meinte, dass Langeweile immer konterrevolutionär ist und jetzt sagt mir, was diese nüchternen, atheistischen Postpopelkommunisten anderes verkörpern als boredom in Reinkultur. Für sie wird es niemals die Meere aus Limonade, die orgiastischen Genüsse des Lebens, die Champagnerrevolution geben, die uns vorschwebt.
Sie glauben allen ernsten, dass Alexander Bergmann ein Anarchist war, wir sind fest davon überzeugt, dass er selbst im Auftrag des verschmähten Spektakels handelt.
Ihnen fehlt es gänzlich an Individualismus, Spiritualität, einem Rauschbewußtsein und einer gesunden Verdauung.
Scheinbar wussten sie nicht, dass die autonome Bewegung ihren Ursprung bei den „Haschrebellen“ und dem „Berliner Blues“ hat; dass sich die ersten Autonomen in Christiania versammelten, dem Amsterdam der Abtrünnigen; dass die Maiaufstände von Paris eine direkte Folge der gezielten Propaganda der SI waren.
Sie haben noch niemals etwas von Gustav Landauer gehört, scheinbar haben sie auch Erich Mühsam an den entscheidenden Stellen nicht gelesen, vom Poststrukturalismus ganz zu schweigen, Nietzsche ist für sie ein Nazi und jede spirituelle Dimension ist schlecht, Max Stirner war ein Arschloch, schließlich sagt das auch der Bergmann – so müssen wir uns diese Hohlköpfe vorstellen.
Ich habe mehr Selbstverwaltung bei Hip-Hop Jams gesehen, als auf ihren Treffen vorhanden war, ich habe ihren endlosen Diskussionen lange zugehört, aber bin schließlich aufgestanden und habe angefangen zu leben, wovon diese Hagestolze jetzt noch reden, endlos theoretisiert, bis zu Unkenntlichkeit durchgekaut.
Vielleicht werdet ihr denken „oh, die Revolution frisst ihre eigenen Kinder, die machen sich jetzt gegenseitig fertig, anstatt den gemeinsamen Feind, das Kapital zu sehen.“
Für mich aber sind sie der Feind, ein Teil dessen, gegen das ich immer ankämpfte, sie selbst sind die Diplomaten des Spektakels, Päpste der Seele, ich brache keine neuen Priester, keine Polizei in meinem Kopf.
Ich will nicht behaupten, zu wissen, was Anarchie ist, aber der blutleeren Idee, der sie folgen, kann ich nichts abgewinnen.
Immerhin impliziert Anarchie Chaos und das ist niemals gestorben. Ein Pattern der Unendlichkeit, just in diesem Moment aus der Zeit herausgebrochen.
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Zur Erklärung:
Mein Denken und Schreiben zentriert sich immer wieder um die gleichen Themen, ein magischer Kreis des Vergessens und der Erinnerung scheint in jedem Augenblick von neuem zu entstehen, wie ein alles zerstörender Hurrikan, doch da ist das Auge im Orkan, da ist Heiterkeit im Chaos, da ist Frieden im Krieg.
Es beschäftigt sich vor allem mit Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen, Ausgrenzungen.
Für die abendländische Zivilisation war Ausgrenzung immer eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg beim Erbauen der eigenen Traumgebilde und Hirngespinste. Deswegen interessieren mich die Ausgegrenzten so sehr – all die Frauen, Künstler, Wahnsinnigen, verwilderten Kinder, Satanisten, Orientalen. Die wirren Behauptungen und Unterstellungen haben sich in den vergangenen Jahrhunderten nur wenig geändert – lediglich neue Euphemismen wurden erfunden, um das „gänzlich Andere“ zu unterdrücken.
Nun, viele Schriftsteller schon haben sich mit diesen imaginären Grenzen (wie alle) auseinandergesetzt, Strukturalisten wie Foucault und Levi-Strauss, der alte Bataille, Friedrich Nietzsche, Sloterdijk um nur einige zu nennen, und sie alle ermöglichten uns unabdingbare Voraussetzungen, um zu verstehen, was sich dahinter verbirgt. Wirklich verbirgt.
Wir mussten alles über Bord werfen, um diese Anfeindungen verstehen zu können, denn erst im Licht des gänzlich Anderen wirken sie, die Anderen, vollkommen normal. Wir ließen Moral, Glaube, Wissenschaft, den Verstand, die semantische Bedeutung unsere langweiligen Art von Sprache, all die Sachen, deren Mangel sie an den Ausgegrenzten festzustellen glaubten, hinter uns und beäugelten die Verrückten, und sie schienen gleichsam Brüder und Schwestern zu sein, von der Gesellschaft lediglich durch das dünne Band der Verachtung getrennt, diffamiert Menschenfleisch zu essen oder den Satan anzubeten, doch letztlich sind wir mindestens ebensolche Barbaren wie all die Kinder, Frauen, Künstler und gefährlichen islamischen Terroristen.
Der Grund unserer Beschuldigungen scheint Angst zu sein, Angst auf jene, die im Paradies verblieben sind, aus dem wir so schuldig von unserem engstirnigen Vatergott vertrieben wurden. Unsere Mittel sie zu bekriegen sind keine anderen, als jene, die wir ihnen immer wieder unterstellen: Magie, Hexerei, schwarze Künste.
Wenn ich an den Landstrichen westlich von Aachen entlang laufe, überschreite ich eine imaginäre Grenze, die viele realpolitischen Geschehnisse für mich verändert. Auf einmal darf ich Gras rauchen, ohne verhaftet zu werden; meinen Kindern steht eine angemessene Bildung zu und es gelten von da an niederländische Bestimmungen. Aber wenn ich nach einer Grenze suche, die diesen Zustand erklären könnte, werde ich nichts finden, das Gras, das Blau des Himmels hat jenseits nicht die Farbe verändert, alles bleibt wie es war. Die Grenze befindet sich lediglich in meinem Kopf.
Wenn ich ungefragt ein Haus baue, wird schon bald ein Vertreter der Interessen der Regierung zu mir kommen, und mir eine Zettel zeigen, auf dem steht, dass ich gegen Paragraph soundso verstoße, weil dieser Landstrich Eigentum eines x-beliebigen Herren ist. Mehr nicht. Ein Zettel, von dem der ganze Zauber ausgeht, und der solche Dimensionen des Realen annehmen kann, dass ich aufgrund dieses Zettels inhaftiert werde.
Wer will da behaupten, die Primitiven seien die Einzigen, die erfolgreich Zauberei und Aberglauben anwenden? Wir haben uns in den letzten zehntausend Jahren wenig von der Stelle bewegt, so Leid es mir tut. Wir sind immer noch der haarige, berauschte Affe geblieben, der auf das Wetter schimpft und seine Götter verleugnet.
Die Grenzen ihrer Träume sind nicht gestürzt worden, sie haben nie existiert. Das ist meine Aussage, alles andere ist lediglich Poesie, Schmuck, teuflische Kunst.
Doch wer eines Tages aufwacht, in den Spiegel schaut und sich ganz doll konzentriert, wird die Augen eines Kindes, eines Persers, einer Frau oder eines Künstlers annehmen, er wird in ihren Augen nun ein Krimineller sein, aber hinter den unzähligen Masken wird er das wahre Selbst erkennen, angehalten von einem obsessiven Spiel, jenseits der Grenzen aus Angst und Gesetz:
1. Wahnsinn (psychologisches Element)
2. Frauen (sexuelles Element)
3. Kinder (pädagogisches Element)
4. Orientale (kulturelles Element)
5. Wilde (sittliches Element)
6. Künstler (ästhetisches Element)
Das Gesetz der Fünf – man kann diese Themen wild durcheinander würfeln, sie kennen nicht jene regressiven Elemente, die wir immer auf sie projizieren wollen. Unsere Unterlegenheit auf psychologischer, sexueller, pädagogischer, kultureller und sittlicher Ebene versuchen wir durch diese Elemente zu komprimieren, wir wollen von unserer eigenen Verweigerung ablenken, unsere geistigen Defizite dadurch kaschieren, dass wir mit nacktem Finger auf den Idioten zeigen, den Ketzer, den Barbaren, die Nymphen und Quälgeister.
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2009
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