Fensterln, ein schöner alter Brauch
"Eines Nachts komm ich zu Dir", hatte ich schon oftmals zu Zenzi gesagt. Immer hat sie nur gelacht. "Das traust du dich nie!!" Jetzt erst! - auf dem Rückzug - fing mein Gehirn wieder an zu arbeiten. Nachdem ich über fünf Zäune gesprungen war, landete ich auf dem Grundstück „Sohnrei“. Herr Sohnrei wohnte im Herzen von München, kam aber schon seit Jahren fast täglich morgens in seinen geliebten Garten und verließ ihn mit Einbruch der Dunkelheit.
Hier fühlte ich mich sicher. Niemand würde sich auf das Eckgrundstück wagen. Auf großen Tafeln entlang am Zaun stand: „Betreten des Grundstücks auf eigene Gefahr
(rot) - Achtung Selbstschussanlage“.
Wir Nachbarskinder wussten das schon bevor wir selbst lesen konnten. Die Größeren warnten die Kleineren. Auch vor dem bösen alten Mann, der zu den Reifezeiten der verschiedenen Früchte auf einer Bank vor dem winzigen Häuschen saß, Pfeife rauchend, mit einem Gewehr über die Knie gelegt.
Ich wusste es besser. Nichts davon stimmte. Nachdem ich ihm als 12-jähriger Bub einmal half, einen schweren mit Mist beladenen Karren zu ziehen, den er von einem Bauernhof weit außerhalb heranschleppte, nahm er mich mit in seinen Garten. Stolz zeigte er mir all sein Gemüse und Obst und erlaubte mir, alles zu nehmen, was ich essen oder probieren wollte .
Darüber hinaus lud er mich ein, immer wenn ich wollte, zu ihm zu kommen. Es war eine sehr magere Zeit - damals nach Kriegsende - und ein paar Kirschen, Pflaumen oder Äpfel, eine Gurke oder eine Tomate, waren großartige Geschenke ... Damals!
Langsam beruhigte sich mein Atem. Hatte man mich erkannt? Was war passiert! Plötzlich gingen alle Lichter an, die Balkonmöbel flogen! "Halt bleib stehen!" Ich schwang mich über das Balkongeländer, hielt mich daran fest, ließ mich nach unten gleiten und kam federnd am Boden auf. Ein paar Riesenschritte, schon ging es über den ersten Zaun. Bis ich schließlich hier anlangt. Nun lag ich also unter den Johannesbeerstauden in Sohnrei’s Garten und lauschte angestrengt in die Nacht.
Hatte man die Polizei verständigt? Dachte man es war ein Einbrecher? Aber auch Fensterln, war eine Straftat, dieser alte Brauch wurde inzwischen als Hausfriedensbruch geahndet.
Vor zwei Stunden als ich loszog, hatte ich nichts von alledem überlegt, „alles war abgeschaltet“. Es trieb mich bei strömenden Regen aus dem Haus, nur mit einer Minibadehose und Turnschuhen bekleidet, eine fast einen Meter lange Latte unterm Arm, die ich brauchte um auf den Balkon im ersten Stock zu gelangen. Gespannt wie ein zum Schuss bereiter Bogen sprang ich über die Zäune durchlief Gärten und endlich landete ich hinter dem Haus in dem sie wohnte. Schon Wochen hatte ich daheim trainiert.
Die Latte schräg 45° an die Hauswand gestellt, Anlauf genommen, ein Stepp auf die Latte, mit einem Sprung erreichte ich das Balkongeländer, jumpte darüber und schon stand ich vor ihrem Fenster.
Zur Sicherheit lehnte ich die Balkonmöbel und einen Liegestuhl vor die Ausgangstüre. Das gab mir bestimmt Zeit genug um zu fliehen, falls Zenzis Onkel Andi aufwachen sollte.
Erol der Unbesiegbare, so nannten wir ihn, aber nur wenn wir zwei allein und sicher waren, dass keiner uns hörte.
Andi war Türke, aber niemand wusste es, denn er sprach so perfekt Bayerisch, dass sogar ein Münchner dachte, es mit einem Niederbayern zu tun zu haben. Zenzi war ein "Fehltritt" Centas, seiner liebsten Freundin, mit der er wie Bruder und Schwester im Waisenhaus aufgewachsen war. Als 14-Jähriger war Andi davon gelaufen und irgendwie nach Simbach in Niederbayern gekommen.
Einige Jahre später, vor 17 Jahren, fünf Monate vor der Niederkunft, war Centa aus der Türkei zu Ihrem „Bruder“ nach Vögelsberg, Nähe Simbach, gereist, um das Baby zu bekommen. Nach der Geburt blieb die junge Frau noch zwei weitere Jahre in Deutschland. Es war einfach Arbeit zu finden - damals. Betriebe, die türkische Arbeitnehmer einstellten, wurden sogar vom Staat bezuschusst.
Als sei sie "unbescholten" fuhr Centa wieder zu ihren Adoptiveltern in die Türkei. Nichts von alledem wusste das Kind.
Andi zog das Mädchen Kreszentia, kurz Zenzi, sehr liebevoll aber auch sehr streng auf. Bis zu ihren elften Lebensjahr dachte Zenzi, Andi sei ihr Vater. Bei der Frage nach ihrer Mutter, erzählte er ihr immer die gleiche Geschichte. " Deine Mama ist damals als du noch ein zweijähriges Baby warst in den Urlaub in die Türkei gefahren und niemehr zurückgekommen.
Doch dann eines Tages, sie hatten damals eine kleine Zweizimmerwohnung über dem Kuhstall des Bauernhofs auf dem Andi arbeitete, war Zenzi allein zu Hause und fand die Holzkiste, die sonst immer verschlossen war, offen. Ein Schuhkarton, den sie als erstes herausnahm, war voller Briefe. Die unterschiedlichsten Adressen waren für sie meist unlesbar: Fremde Namen mit Buchstaben geschrieben, die sie nicht kannte.
Sweeden, Türkei, Simbach konnte sie entziffern, auch viele Stempel gab es wie "zurück", "unzustellbar", "unbekannt verzogen".
Mit zitternden Fingern, vor Angst Papi kommt zurück, öffnete sie auch noch den nächsten Karton. Dieser enthielt Fotos von Menschen, die sie nicht kannte. Bis auf einige - auf denen ein Haus oder Hof und eines auf dem ihr Papi Andy drauf war.
Schon wollte sie die Kiste schließen, da erregte ein Foto, das aus einem Bilderrahmen mit zerbrochenem Glas herausgerutscht war, ihre Aufmerksamkeit. Ein sehr gutaussehender blonder Hüne mit einen kleinem Mädchen auf dem Arm strahlte sie an. Ihr war als stehe er vor ihr und sofort war sie in ihn verliebt. Auf der Rückseite waren einige Worte, wieder für sie unlesbar, geschrieben. Mit pochenden Herzen holte sie sich Schreibzeug aus ihrem Schulranzen und malte einen Buchstaben nach dem andern in ein Heft.
Sorgfältig legte sie das Bild zurück, machte den Deckel zu und hängte das Schloss so ein, dass es aussah, als sei es verschlossen. Von nun an nahm sie jede Möglichkeit wahr, in der Kiste zu stöbern.
Wer könnte mir wohl helfen, dachte sie, ich kenne ja niemanden hier. --
Mehrmals waren sie umgezogen und sie waren nie lang genug an einem Platz, sodass es nicht möglich war, andere Kinder kennen zu lernen oder sogar Freunde zu gewinnen. Papi sagte immer, es sei wegen der Arbeit und diesmal wäre es auch wegen der schönen Wohnung in einem richtigen Haus. Ich bin den Kuhstallgeruch satt und außerdem, denk mal, du kannst in "Landshut“ in die Schule gehen.
Das allerdings passte sehr gut in ihre Pläne.
In Landshut könnte sie das 9. und vielleicht sogar das 10. Schuljahr machen. Im August kam sie in die 7. Klasse in der neuen Schule und durfte an dem B-Kurs für Englisch teilnehmen. Bald würde sie den Brief und alles was sie abgeschrieben hatte, lesen können. Das spornte sie an. Englisch wurde zu ihrem Lieblingsfach und sie zur Lieblingsschülerin ihres Englischlehrers. Ihr Fleiß gefiel ihm und er gewann ihr Vertrauen.
"Wissen Sie was das heißt?", fragte sie den Lehrer und sie zeigte ihm die Worte, die sie in ihr Heft geschrieben hatte.
"Nicht wörtlich, denn dies ist Türkisch, aber sinngemäß steht hier: 'Nie werd ich Euch vergessen, mein Leben, meine einziggroße Liebe.`"
Von da an fragte sie immer öfter „ihren Papi“ nach ihrer Mutter. Nach und nach erfuhr sie die ganze Wahrheit.
Als ihr dann Andi, vorsichtig erklären wollte, dass er nicht ihr Vater sei, überraschte ihn Zenzi damit, was sie schon alles aus den Briefen wusste, die sie zum Teil alleine aber auch mit Hilfe ihres Lehrers gelesen hatte.
Als Onkel und Nichte zogen sie vor zwei Jahren hier in unserer Nachbarschaft ein. Zenzi lernte Floristin in der nahegelegenen Schlossgärtnerei in der auch Onkel Andy arbeitete. Er kam meistens viel später als Zenzi nach Hause, weshalb auch sie zum größten Teil den Haushalt führte und fast täglich Einkäufe erledigen musste.
Es war Liebe auf den ersten Blick, als sie in unser kleines Lebensmittelgeschäft kam.
„Maxl, kümmere du dich mal um das Fräulein! “
„Oh ja Vati, seehr gern“, ----
Schon wollte ich anfangen, von der schönen Zeit mit ihr zu träumen, da riss mich die Polizeisirene in die Wirklichkeit. Es war nur ein kurzes Aufheulen, dann wurde die Sirene abgeschaltet. Ha, dachte ich, das galt sicher mir, damit ich rechtzeitig losrenne. Ahh die Polizisten kennen mich! Sie sind meine Freunde!
Noch über den Zaun und über die Gasse, ich duckte mich hinter einer Eiche und huschte in deren Schatten zur nächsten und weiter.
War ich nicht der Erste dem diese alten Bäume halfen? Denn immer wenn ich ankam, blähte sich dieser auf und wurde, wie es mir schien, doppelt so dick, um mich ausreichend zu schützen.
Von ganz weit hinten oben, an der Mündung der Gasse näherte sich ein helles Licht ..Was nun? Einige Regentropfen erreichten mich trotz des dichten Laubdachs. Da entdeckte ich einen Ast, zog ihn zu mir herunter und verdeckte damit meinen Leib, die Badehose hing noch auf dem Balkon. Ein Schwall Wasser kam auch noch mit und die kleinen Zweige piekten.
"Maxl, Maxl, bist du da?", hörte ich meinen Vater rufen und dann.. "Ja schau’n selber!" Ich atmete so gleichmäßig, so ruhig wie möglich und dachte, sicher kann man mein Herz hören, das wie wild gegen meine Brust schlägt, blinzelte und sah einen Polizisten an meiner Zimmertüre stehen, der sagte „Ja der ist im Bett, das sehe ich!“.
Fast gleichzeitig waren wir angekommen, die Polizei klingelte schon an der Haustüre, während ich schlotternd, nicht nur weil mir kalt war, sondern hauptsächlich vor Erregung, in mein Bett schlüpfte. Dann entfernten sich die Stimmen.
Frierend in einer Wasserlache liegend erwachte ich langsam aus den Träumen. Mein Bett lag, zu einem dicken Ballen zusammengebauscht hinter mir. Den Rosenstrauß, den ich kürzlich zum Geburtstag bekam, presste ich immer noch auf meinen Leib. Auf dem Abstelltischchen neben meinem Bett torkelte die umgefallene Blumenvase und verspritzte tröpfchenweise ihren restlichen Inhalt.
Bei geöffneten Fenster blähte der Wind die Gardine, durch die der helle Mond die ganze Szene belächelte..
Ach ja! meine Kleider? Die hatte ich gestern Abend fein geordnet an den "STUMMEN DIENER" gehängt.
Der jedoch hatte sich diskret umgedreht.
Texte: Umschlagbild von Katja Kortin
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2009
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