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Bordfest
Es war viel Arbeit und persönliches Engagement von Inge, dieses kleine Fest auf dem Frachter zu ermöglichen. Ein Wunder, dass es der Kapitän überhaupt gestattete und auch noch zuließ, dass Moses der Schiffsjunge, Jens der Matrose oder einer der Offiziere mithalfen. In dem Aufenthalts-Speiseraum gab es noch nicht einmal Fernsehen, jedoch wurde über die Bordanlage Musik übertragen, die jetzt verstummte.
Inge trat an das Rednerpult, schwenkte mit der Bordzeitung und rief: „Hier drin steht etwas über jeden von euch, wer liest mit mir vor ?“.
Ich fing schon mal an zu lesen was über den Kapitän geschrieben stand. Eine ganze Seite mit Schmeicheleien, Komplimenten und jede Menge Süßholz. Für den „Ersten“ gab’s noch eine halbe Seite. Jeder Offizier bekam sein Sprüchlein, die charmanten viel, die galanten noch mehr. Nie vergaß Inge sich selbst mit einzubringen, jeder begehrte sie, ja nur sie, war sie doch die einzige Frau an Bord. Auch die Matrosen bekamen ihre Verse. Am Schluss nur ganz kurz, er schien wohl nicht mit ihr geflirtet zu haben, der Koch.
Dann las der Matrose Jens vor, was Inge über den Passagier Ingo Morgenstern verfasst hatte. Viel konnte sie über ihn nicht schreiben, außer dass er ein höflicher, zurückhaltender, junger Mann war. Sehr verschlossen und am liebsten alleine und in Ruhe gelassen. Ich war mir sicher, er gehörte nicht zu ihren Verehrern.
Lothar war nur sehr kurz beim Fest. Obwohl wir keine Fahrt machten, war er noch nicht wieder genesen. Gut aber, dass er nicht da war, so brauchte er wenigstens nicht anzuhören, was Inge für ihn gereimt hatte. Außerdem konnte sie sich ungestört (wie sie selbst einmal sagte) „IHRER Mannschaft“ widmen.
"Wau Wau", hörte ich sie in meine Gedanken hinein sprechen, "wird er nur genannt. Den Rocksaum von Inge lässt er nie los, am liebsten säße er auf ihrem Schoss. Er hat wohl Angst, der arme Kleine, so ohne Mutti, so ganz alleine!". Ihre Worte hämmerten in meine Ohren. Ich spürte deutlich, wie in mir die Röte und auch die Wut und Enttäuschung hochstiegen. Jetzt bloß nicht weglaufen. Das musst du durchstehen. Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Dann, Gott sei Dank, waren endlich die letzten Worte verklungen.
„Weiter komm’ste ohne ihr !". Es wurde gelacht und geklatscht und ich schlich mich davon.

Es dauerte eine Weile bis ich mich in meiner Lieblingsecke auf Deck wiederfand. Hierhin zog es mich immer und ich lehnte mich mit dem Rücken an das warme Abgasrohr, das aus dem Maschinenraum kommt. Hier war es ziemlich laut von den Dieselaggregaten und schon manches Mal schrie ich meinen Kummer oder meine Sehnsucht in den Wind.
Ja Inge, das hast du gut gemacht, bist mein „Mutti-Ersatz“. Ha, vom Alter her würd’s ja passen. Bisher war ich immer "Bärli" für dich.. Aber da musste ja eure Wohnung in München aufgelöst, verkauft, verschenkt und entrümpelt werden.
Bärli hilfst du hier, bring das nach unten und dies zu mir. Lotharchen lass das doch Bärli machen, der kann es, und der macht es am besten.
Bärli funktionierte prima, besonders wenn Lothar allein zur Nachtschicht fuhr und Bärli seine Streicheleinheiten bekam.
Ich redete mir meinen Frust von der Seele. "Du bist ein Bär", hast du dann immer gesagt, "von Liebe hast du keine Ahnung und von Erotik ?! Kennst überhaupt das Wort ?".
Nein, ich kannte es nicht ! Aber jetzt weiß ich was Liebe ist.
Hatten die Nächte mit dir etwas mit Liebe zu tun ? Doch eher nicht ! „Es waren Lektionen !“.
Der Wind riss mir die Worte aus dem Mund. Arbeiten, ja das habe ich gelernt und davon versteh ich mehr als jeder von euch beiden Schauspielern mit zwei linken Händen. Lothar war beim Film sogar ein ziemlich bekannter Kinderstar gewesen, aber auch Inge hatte ich schon in einem Kriegsfilm in einer ganz kleinen Rolle gesehen. Aber das war Vergangenheit. Wahrscheinlich hatten sie, bedingt durch den Krieg, den Anschluss verpasst. Trotzdem führten sie ein ganz angenehmes Dasein. Lothar war seit einigen Jahren in einer Vier-Mann-Band Bassist, er spielte toll und leidenschaftlich, sprang oft auf seine Bassgeige, wirbelte sie wie einen Kreisel, umarmte und liebkoste sie als sei sie seine Geliebte.
Inge trat im Studio 15 auf, allerdings nur an den Wochenenden. Sie war sehr beliebt und bekam immer großen Beifall, wenn sie mit Ihrer rauchigen, tiefgelagerten Stimme sang: “Voa dear Lateane”.
„Der Spatz von Paris in Schwabing“, nannten sie die Leute vom „Studio 15“.
Klar, dass ich Bäckergeselle mich geschmeichelt fühlte, in diesen Kreisen aufgenommen zu sein.
Manchmal fuhren wir morgens nach einer langen Nacht mit Lothars Satan, so hieß sein schwarzer Mercedes, ein Vorkriegs-Modell, zum Kaffee trinken an den Starnberger See, an den Ammersee oder an einen der anderen Osterseen.
„Warum eigentlich ?“ recherchierte ich jetzt in Gedanken. Einige Male war noch gar kein Café oder Restaurant geöffnet und immer ist jemand mitgefahren, mit dem Lothar etwas zu erledigen hatte, während Inge und ich im Auto warten sollten. Beim ersten Mal war es eine Dame. Sie saß schon lange bei Inge und mir im Club am Tisch, während Lothar noch spielen musste und wurde mir als eine alte Bekannte vorgestellt. Sie war so stark geschminkt, dass ihr Gesicht puppenhaft wirkte. Sie musterte mich lange mit zwei unbeschreiblich hellen, glasigen Augen. An meinen Armen kroch eine Gänsehaut hoch. (Jetzt wieder genau wie damals.) Inge rettete mich mit den Worten: „Hey Edda, friss mir doch mein Bärli nicht auf !". Wir lachten, aber sympathisch war sie mir nicht.
Am Aschermittwoch machten wir unseren nächsten Ausflug. In der Faschings-Dienstag-Nacht hatte ich an der Bar geholfen. Ich musste Getränke auffüllen, Leergut wegbringen, Aschenbecher saubermachen und alles erledigen, was man mir anschaffte. Ich war müde und wollte nach Hause.
Sie hatten mir 20 Mark gegeben, die ich schnellstens in mein „Sparkästchen Kanada“ legen wollte, aber Lothar überredete mich: „Es geht nach Klein-Walser-Tal !“. Nur das brauchte er zu sagen.
Ein gutaussehender älterer Herr im schwarzen Ledermantel saß vorne bei Lothar. Außer seinen Namen hatte er zu mir noch nichts gesagt. Er war schon ein komischer Kauz, dachte ich. Inge saß mit mir auf dem Rücksitz. Dauernd knuffte, zwickte oder kitzelte sie mich und wir alberten herum, bis Lothar mit gespielter Schulmeister Stimme wieder einmal sagte: „Wollt ihr euch gefälligst benehmen, ihr Kindsköpfe !“. Dann saßen wir still und brav mit Unschuldsmiene, gekreuzten Armen und Beinen, wie zwei Spatzen auf dem Zaun.
Als wir ankamen, stieg Lothar aus und der Ledermantel (so nenn ich ihn, denn seinen Namen, irgendwas mit ktscheck, konnte ich noch nicht einmal in Gedanken aussprechen).
Lothar entschuldigte sich bei Inge: „Bleibt ihr hier, es dauert nicht lang“.
Sie nahmen einen Koffer oder auch andere Dinge aus dem Kofferraum. Was, konnte ich nicht sehen. Sobald die Männer den Kofferraum zugemacht hatten und sich entfernten, stürzte sich Inge auf mich und nahm mich voll in Beschlag, so dass ich nicht einmal hinterher schauen konnte. Wir küssten uns gerade, da klopfte es am Seitenfenster, und wir fuhren erschrocken auseinander.
Ein hübsches junges Mädchen sagte: „Guten Morgen, ich soll ausrichten, es hat sich was geändert, Sie möchten bitte reinkommen, frühstücken“.
Sofort stieg ich aus; denn ich hatte Gesine erkannt. Noch bevor ich sie begrüßen konnte, legte sie bedeutsam einen Finger an den Mund und ich wusste, ich sollte nicht verraten, dass ich sie kenne.
„Ist das hier schön !“ rief ich aus, um meine momentane Befangenheit zu überspielen. Ich streckte, räkelte mich in der frischen Luft und brummte wie ein Bär. Dies war einer der Gründe; warum Inge, mich Bärli nennt. Mit den Worten: „Komm benimm dich Bärli!“
nahm mich Inge an der Hand und wir gingen durch eine Gartentüre auf eine Anordnung von undurchsichtigen Büschen, kleinen Bäumen und Sträuchern zu. Erst als wir diese umrundet hatten, konnte man 20 - 30 Meter weiter oben ein prachtvolles Landhaus sehen.
Gesine führte uns über einen mit großen Kieselsteinen ausgelegten Weg bergan. Viele mit Tannenzweigen zugedeckte Rabatten wechselten mit Hecken und manchmal Latschen ab. Der Weg war schneefrei und gestreut. Es ging ein paar Stufen hoch zu einem überdachten Podest. Weiter in die gleiche Richtung schauend, sah ich ebenfalls einen Weg, eine Gartentüre und davor eine asphaltierte Straße.
Ich hatte schon den Mund geöffnet um Gesine zu fragen: „Wieso müssen wir den langen Weg zum Hintereingang kommen wenn hier doch die Straße direkt vor dem Haus vorbei führt ?“. Aber Gesine öffnete eine mit Intarsien eingelegte und mit schmiedeeisernen Beschlägen versehene Haustüre, sagte "bitte" und gab mir keine Gelegenheit meine Frage zu stellen.
Wir betraten eine riesige Bauernstube, in der ein imposanter Kachelofen dominierte. An einem großen runden Tisch waren acht Stühle, jetzt zähle ich im Geiste nach, angeordnet. Es saßen bereits Lothar, der Ledermantel, noch zwei andere Herren und eine voluminöse, mit einem Dirndl bekleidete Mitvierzigerin.
Die Möbel, alle aus Holz, waren grün lackiert und mit "Lüftl-Malerei" versehen.
Edda, „Die Puppenhafte“, die ich schon aus dem Studio 15 kannte, es schien mir, als sei sie heute noch mehr geschminkt, besonders die Augendeckel, (so sagen wir zu den Liedern), diese schimmerten „Bleu“ und die Wimpern! „Ui“ es sieht aus als hätte sie kleine Besen daran befestigt, begrüßte Inge und flüsterte ihr etwas zu. Eine dralle junge Frau brachte Kaffee. Niemand hatte mich aufgefordert Platz zu nehmen und so stand ich, von einem auf den anderen Fuß chanchierend, ein paar Schritte abseits und hatte mir schon ausgerechnet, für mich ist da kein Platz; denn auf dem Tisch vor den zwei unbesetzten Stühlen war nur noch ein Gedeck aufgelegt. Vor dem anderen freien Platz stand ein Korb mit Semmeln. Verschiedene Platten und Etageren mit Wurst, Käse, Rührei und weiß Gott was noch waren auf dem Tisch verteilt.
Inge kam zu mir und ließ mich wissen, man habe eine ziemlich lange, wichtige Besprechung, das würde mir bestimmt keinen Spaß machen und ich könne mit der reizenden jungen Dame (dabei zeigte sie auf Gesine) im gleich angrenzenden Kaminzimmer frühstücken.
Das war zwar alles recht lieb, oder besser „süß“ gesagt, jedoch Widerspruch duldete das keinen, dies spürte ich genau.
„Bitte richte dich drauf ein, es kann lange dauern, sollten wir über Nacht bleiben müssen, können wir ja später noch darüber reden.“
Ich nickte und ging mit Gesine vorbei an dem Kachelofen, um den teilweise eine Bank führte, dann durch eine Türe und wir betraten ein sehr schönes, mit Biedermeiermöbeln eingerichtetes Zimmer. Der offene Kamin war auf der Rückseite des Kachelofens eingebaut. Das Feuer brannte und es war angenehm warm im Raum. Nimm Platz forderte mich Gesine auf und machte eine Handbewegung, die mir sagte, wähle selbst auf welchen Stuhl. Ich setzte mich so, dass ich das Feuer vor mir hatte, denn so etwas sah ich zum ersten Mal in meinem Leben. Rote, grünlich blaue und goldgelbe Flammen züngelten um das Holz. Vor dem Feuerplatz stand ein aus Eisen geschmiedeter Korb, gefüllt mit gespaltenen Birkenstämmchen.
„Mei“, dachte ich damals, hier würde ich auch wohnen wollen.
„Durch diese Türe“, Gesine deutete nach links hinter mir, „kommst du auf einen kleinen Flur und da am Ende ist das Bad.“
Ich nickte und dachte: Hoffentlich ist da auch eine Toilette.
Wie sie wusste, was ich suchte, war mir sowieso ein Rätsel. Bevor ich ging, fragte ich sie:„Warum wolltest du nicht, dass ich dich erkenne ?“.
„Die blöde.“, es folgte ein Tiername, “hätte dich bestimmt nicht mit mir alleine gelassen.“
Sie fauchte, wie es Katzen tun. Ich floh erschreckt durch die besagte Türe. Erfrischt kam ich zurück und wie von Zauberhand war auf der Anrichte das gleiche schöne Frühstück aufgebaut, das ich vorher in der Bauernstube gesehen hatte. Wir aßen, ich trank Kaffee und Gesine Kakao.
Bist ja auch noch ein Baby, dachte ich, sagte aber: “Schöne Musik hast du hier !“. GLAUBE MIR lief vorher und jetzt MOLIN ROUGE. Satt von der guten Brotzeit, müde, übernächtigt, setzte ich mich auf das Chaiselonge.
Unentwegt schnatterte Gesine.
„Ich lerne den Verkauf in einem Radio-Fach-Geschäft, in der Schallplatten Abteilung, da muss man wissen, was neu auf dem Markt ist. Meistens nehme ich mir die neuersten Schlager, die mir gefallen, anstatt meinen Lohn, mit nach Hause.“
"Wo wohnst du jetzt, hier ?"
„Nein, ich wohne immer noch mit meinen Eltern in der Fasanerie, da wo wir immer wohnten.“
„Wie kommst du dann hier hin ?“
"Das sind meine Paten. Meine Tante, sie ist die Schwester meiner Mutter !“
Nun erzählte sie von ihrer Kindheit, die sie, bis sie 10 Jahre alt war, hier verbracht hatte.
Die direkte Wärme vom offenen Feuer tat das Unvermeidliche, immer wieder fielen mir die Augen zu.
„Als wir dann nach München zogen, kam ich in die gleiche Schule in die du gingst, nur du warst in der Achten als ich in die Fünfte kam. Ich war soo in dich verliebt.“
Diese Worte kamen von ganz weit her und jemand sagte: „Und warum hast du mir dann immer die Zunge rausgestreckt ?“.
„Eben deshalb, - weil ich dich liebe !“ und wieder streckte sie mir die Zunge raus.
„Das geht aber nicht weil, erstens ...“, lange sagte ich nichts und dachte: Lotte ! (Wie kam ich jetzt nur wieder auf Lotte. Sie war und würde immer meine erste große Liebe bleiben),
„weil, ja weil du erst 15 bist !“
Sofort kam von ihr: „Aber im November 16 !“
„Das ist immer noch fast in einem Jahr !“
„Nee ein Halbes.“.
„Also gut 8 Monate“, und wieder machte ich eine Pause.
„Zweitens, in spätestens neun Wochen bin ich weg, ich gehe zu meinem Freund nach Kanada.“

Mit einem Satz saß Gesine auf meinem Schoß, schlang ihre Arme um meinen Hals und weinte. „Bitte bleib hier, bitte bleib doch bei mir, jetzt da ich dich endlich wieder hab. Bitte geh nicht fort !“.
Ihre Stimme war mir so nah und mir war, als spürte ich jetzt noch die Wärme ihres Körpers, nahm den Duft ihrer Haare auf und „ihre“ Tränen liefen über „mein“ Gesicht und ich schaute in Lottes himmelblauen Augen.

Ein Dieselaggregat startete und meine letzten Gedanken, noch in Trance, „ich bleib hier bei ihr“ und in die Wirklichkeit zurückkehrend, „zu spät, du bist in Kanada ! Hier wo mein Freund ist und wo Milch und Honig in Bächen fließen und die gebratenen Tauben direkt in den Mund fliegen.“
Müde verließ ich meinen Platz und verschwand in der Kabine. Weit gereist war ich ja in meinem Leben noch nicht. In der Schule ging unser Geographie-Unterricht über Europa nicht hinaus. Wäre mein Freund nach China gegangen oder nach Australien, wäre ich jetzt „genau dahin“ unterwegs. Mit diesen Gedanken schlief ich bald ein.

Schon lange hatten wir Fahrt aufgenommen. Das spürte ich, weil die stetige Vibration verbunden mit einem gleichmäßigen tiefen Brummen durch das Schiff ging. Dies beruhigte mich immer: Es geht weiter !


Aber erst in der nächsten Folge
Bitte lesen Sie Teil III
Der Freund in Kanada
„Zwischenstation“

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Tag der Veröffentlichung: 09.04.2009

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