„Peter, komm her, ich habe einen Auftrag für dich.“
Der Angesprochene tat wie ihm geheißen und begab sich eiligst zu seinem Chefredakteur, der in der Tür zu seinem Büro stand, die Zigarre auf Halbmast, die Ärmel hochgekrempelt, halt genau so, wie man sich einen Chefredakteur einer größeren Zeitung so vorstellt. Gut, die Zigarre war in Wirklichkeit ein Kugelschreiber, aber die Hemdsärmel waren wirklich...
Nein, seien wir ehrlich, es war nicht so. Peter Braun war auch kein rasender Reporter, er war Volontär bei einer kleinen lokalen Zeitung, und er hatte bislang noch nichts großes geleistet. Er ging dahin, wohin er geschickt wurde, und wenn ein kleiner Bericht dabei heraussprang, um so besser, aber das klappte nicht immer. Mal sehen, was der Chef diesmal von ihm wollte.
„Was gibt´s, Herr Maurer?“
„Komm rein, setz dich. Folgendes: Du kennst das Altenheim in der Sonnenstraße?“
„Nun ja, ich weiß, dass da eins steht, war aber noch nie da.“
„Gut. Ich schon, meine Mutter besuchen, die dort seit zwei Jahren wohnt. Fühlt sich wohl, ist ganz zufrieden, könnte besser sein, egal, darum geht es jetzt nicht.
Als ich am Wochenende wieder bei ihr war, da hat sie mir von einem neuen Mitbewohner erzählt, angeblich alter Adel. Der Kerl ist über 90 und hat die ersten 70 Jahre auf diesem Planeten wohl in einer Art Elfenbeinturm verbracht. Mit einem goldenen Löffel geboren, nie das wirkliche Leben kennen gelernt, nur selten beim Fußvolk gewesen, das Übliche halt.“
„Aha, und was hat das mit mir zu tun?“
„Du wirst den alten Knacker besuchen und dich mit ihm unterhalten. Schau mal, ob du da nicht eine Geschichte rausholen kannst. Persönliches Drama, alte Liebschaften, von mir aus ein vergrabener Schatz, ganz egal. Mach was draus.“
„Öh, okay, ich versuch mein Bestes.“
„Schön, du hast drei Tage.“
„Gut, ich muss nur noch...“
„Noch zwei Tage, 23 Stunden und 59 Minuten. Tick tock tick tock...“
„Bin schon unterwegs.”
Den Gesprächstermin so kurzfristig zu bekommen gestaltete sich überraschend einfach. Er ging an die Rezeption des Heims und fragte nach Herrn Schneider, denn unter diesem Namen sollte sich der alte Herr eingeschrieben haben. Er stimmte einem Interview bereitwillig zu, und so traf man sich im Garten auf einer der Bänke im Schatten eines schönen Lindenbaumes und dann begann das Gespräch.
„So, Herr Braun, jetzt erklären Sie mir noch einmal, was Sie von mir wollen.“
„Ja, hmmm, wenn ich das so genau sagen könnte. Was haben Sie denn so erlebt in Ihrem Leben?“
„Junger Mann, Sie haben ja eine beeindruckende Art zu fragen. Wissen Sie überhaupt, warum Sie hier sind?“
Da hatte er ihn natürlich erwischt. Wusste er nämlich selber nicht. Mach was draus, hatte der Chef ihm gesagt. Was denn, bitteschön? Als ob jeder was zu erzählen hätte, nur weil er zufällig schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Aber er wollte nicht direkt aufgeben, also versuchte er es auf andere Weise.
„Okay, Sie haben recht, konkrete Fragen kann ich nicht stellen. Tja, wissen Sie was? Ich lege meinen Block jetzt mal weg, und wir unterhalten uns so ein wenig. Vielleicht ergibt sich ja was. Mich würde zum Beispiel interessieren, wo Sie herkommen.“
Und dann fing der alte Mann an zu erzählen...
Wie sich im Laufe des Vor- und dann des immer später werdenden Nachmittags herausstellte, hieß Herr Schneider gar nicht so sondern ganz anders. Sein voller Name war allerdings so lang, dass ihn sich Peter gar nicht erst zu merken versuchte, und da er sich keine Notizen machte, fiel er ihm auch am Abend nicht mehr ein, als er alles niederschreiben wollte, was er so vernommen hatte. Bleiben wir der Einfachheit halber bei Schneider.
Herr Schneider war also tatsächlich so etwas wie alter Adel. Die Vorfahren ließen sich wohl bis Anfang des 12. Jahrhunderts zurückverfolgen, das Geschlecht derer von... Schneider stammte ursprünglich aus Niederbayern, war dann irgendwann im 16. Jahrhundert in die Schweiz ausgewandert und lebte dort hervorragend von dem Geld, das man sich bis dahin erwirtschaftet hatte. Im schweizerischen Exil, wenn man es denn so bezeichnen möchte, bezog die Familie dann ein abgelegenes Schloss im Berner Oberland in Sichtweite aber doch ein wenig entfernt von der berühmten Eiger Nordwand. Mit teilweise dubiosen Finanzgeschäften häuften sie dabei ein immer größer werdendes Vermögen an, und Mitte des 19. Jahrhunderts war die Familie schließlich so reich, dass sie sich, so sie denn gewollt hätten, vermutlich das ganze Kanton Bern hätten kaufen können, das taten sie natürlich nicht.
Sie verleibten sich aber das kleine Dorf ein, das unter ihrem Schloss angesiedelt war mit seinen rund 1500 Einwohnern. Und schotteten dann zunächst das Dorf von der Umwelt und dann sich von dem Dorf ab...
Herr Schneider kam kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges zur Welt, seine Mutter war eine überaus ängstliche Frau, nicht notwendig wegen der folgenden Kriegswirren, vielmehr wegen der schon tragisch zu nennenden Familiengeschichte. Herr Schneider war nämlich ihr fünftes Kind, und keines der ersten vier hatte seinen zweiten Geburtstag erlebt. Und wenn es auch kein Königshaus war, so war der Familie an einem Fortbestand der Sippe doch sehr gelegen. Also wurde der kleine Kerl so sehr behütet wie es nur möglich war, sogar ein Doktor zog in das Schloss, der besseren Erreichbarkeit wegen. Wehe, wenn der Junge nur mal hustete, sofort war der Mediziner zur Stelle, um ihm etwas zu verabreichen.
Dementsprechend entwickelte sich der Knabe nicht eben gut, er war kränklich und blass, was auch daran lag, dass er praktisch gar nicht vor die Tür gelassen wurde. Bis zu seinem 19. Lebensjahr wurde er privat unterrichtet, dann wollte er studieren gehen. Das scheiterte an dem Veto seiner Mutter, die ihm zwar mittlerweile Spaziergänge in den Bergen gestattete, natürlich nur in Begleitung seiner „Leibgarde“, aber sie hätte ihn niemals an eine Universität gelassen. Das tapfere Schneiderlein (dieses schlechte Wortspiel sei mir gestattet) fügte sich in sein Schicksal und verkehrte hauptsächlich nur mit den Leuten aus dem Dorf, mit denen ihn Mutter umgab, und die sozusagen seine verlängerten Körperteile waren. Er hatte zwei kräftige Burschen, seine „Arme“, die ihm alle schweren Tätigkeiten abnahmen. Er hatte zwei drahtige Jungs, seine „Beine“, die für ihn sämtliche Gänge erledigten, die er nicht unbedingt selbst erledigen musste. Er hatte sogar „Augen“ und „Ohren“, zwei Geschwisterpaare, die sich ab und an in der Umgebung herumtrieben und ihm Klatsch aus dem Dorf erzählten.
Was er allerdings nicht hatte, waren... nun ja, die Körperteile aus der unteren Region, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kontakte zu fremden Menschen waren ihm streng untersagt, und etwas mit den Angestellten anfangen, das konnte er auch nicht.
Als unser Herr Schneider dann im besten Mannesalter war, da tobte überall der zweite Weltkrieg. Das heißt, nicht ganz überall, in dem kleinen abgeschiedenen Dorf und dem noch abgeschiedeneren Schloss bekam man das kaum mit. Die Vierziger kamen und gingen vorüber, plötzlich war man in den wilden Fünfzigern, dann kamen die Swinging Sixties, und Herr Schneider bemerkte das kaum. Bis zum 21. Juli 1969, als zum ersten Mal ein Mann den Mond betrat.
Denn während unzählige Menschen weltweit Zeuge dieses unerhörten Ereignisses wurden, ging im Berner Oberland das Leben der Mutter von Herrn Schneider zu Ende. Ganz plötzlich. Morgens noch gefrühstückt, danach gelesen, dann wollte sie ins Bad, übersah eine Treppenstufe, pardauz, ein fataler Sturz, und Herr Schneider war ein Waise (sein Vater war schon vor langer Zeit verstorben). Und hier zeigte sich nun der fatale Denkfehler, denn er war der Letzte seiner Familie, so lange behütet und von der Welt abgeschirmt, bis er nicht mehr außerhalb seiner ihm bekannten Umgebung funktionieren konnte. Wenigstens hatte er noch Zugang zu dem Geld.
Und nun, mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, betrat er sie zum ersten Mal. Er ging zum ersten Mal alleine ins Dorf, es war eine Katastrophe. Er bereitete sich zum ersten Mal selber das Essen zu, ungenießbar. Er versuchte zum ersten Mal, eine kleine Arbeit im Schloss selber zu erledigen und verletzte sich dabei. Aber er tat auch etwas anderes zum ersten Mal, er gab nämlich zum ersten Mal nicht direkt auf, wenn es nicht funktionierte.
Er war zumindest vernünftig genug einzusehen, dass er noch viel zu lernen hatte, und er entschied sich für das „linke Bein“. Den Kerl hielt er bei sich, die anderen schickte er weg. Und mit Hilfe dieses Helfers und viel Geduld und Ausdauer lernte er in den nächsten Jahren das Leben kennen...
„1977, ich war in der Zwischenzeit schon 64 Jahre alt geworden, da hatte ich es endlich geschafft“ fuhr der alte Mann fort, „da fühlte ich mich sicher und des Lebens gewachsen. Ich schickte meinen treuen Freund, denn das war er in der Zwischenzeit geworden, nach Hause zu seiner Familie und beschloss, den Rest meines Lebens endlich für mich selber zu sorgen. Am Tag, als mein Bein fortging, da machte ich hinter ihm die Pforte zu und weinte bitterlich. Aber ich fing mich dann auch wieder und ging nach oben in meine Gemächer, packte einige Koffer und zog hinaus in die weite Welt.“
„Und wo sind Sie dann hingegangen?“
„Tja, junger Mann, es wäre sicherlich ein schönes Ende für meine Geschichte, wenn ich jetzt verkünden könnte, ich sei 30 Jahre um die Welt gezogen, hätte alle Kontinente bereist, wäre über alle Meere gefahren und hätte von Nord- bis Südpol alles gesehen, was uns die Erde bietet. Aber leider“, er atmete tief durch, „leider bin ich nur bis Grindelwald gekommen. Das war eine Weltreise von wenigen Kilometern. Dort habe ich mich für eine Woche in einem Hotel eingeschrieben und bin nach zwei Tagen wieder zurück ins Schloss. In dem Schloss habe ich dann bis vor wenigen Wochen gelebt, aber mittlerweile bin ich zu alt dafür. Ich habe mich dann hier angemeldet, meine letzte Chance, noch mal aus meinem Dorf wegzukommen. Bisher geht es, aber das liegt vermutlich daran, dass ich hier wieder „Beine“ und „Arme“ habe. Ohne geht es nicht mehr.“
Peter Braun bedankte sich und ging nach Hause. Eine saudoofe Geschichte mit einem enttäuschenden Ende. Das konnte er doch keinem anbieten. Er schüttelte auf dem Heimweg unaufhörlich den Kopf...
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2009
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Widmung:
Beitrag zum 7. BookRix-Wortspiel
Jeder fängt mal klein an...