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Bis dass der Tod uns vereint




Eigentlich sollte es nur ein ganz normaler Jahresurlaub sein, doch dieses Jahr kam es für Robert ganz anders.
So wie jedes Jahr, fuhr er auch dieses Mal wieder mit dem eigenen Auto in den Urlaub. Er hasste es, wenn er in Hotel- oder Ferienanlagen eingesperrt war und Mietwagen waren absolut nicht sein Ding. Das hatte nichts damit zu tun, dass er mit seinem sündhaft teuren Geländewagen protzen wollte, er fühlte sich nur einfach sicher und wohl in diesem Auto.
Die ersten Tage verliefen auch ganz normal; er hatte in dem Luxushotel eingecheckt und begann die Gegend mit seinem Auto zu erkunden. Robert war nicht der Typ, der sich an den Strand legte, um sich braten zu lassen. Er machte das Theater seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht mit, die am Ende des Urlaubs dessen Qualität an ihrem Bräunungsgrad zu messen pflegten. Nach deren Theorie mussten ja wohl die Patienten der Hautkrebsklinik den allerbesten Urlaub gehabt haben. Robert genoss es vielmehr, in seinem Luxusjeep durch das Land zu fahren und die Ruhe in der vom Tourismus unberührten Natur zu genießen. Hierbei kam ihm sein außerordentlich geländegängiges Auto sehr oft zugute, denn die schönsten Stellen fand er meist dann, wenn er auf felsigen Wegen, fern ab von asphaltierten Straßen, unterwegs war. So geschah es auch an diesem Tag, der sein Leben vollkommen verändern sollte.
Es war wieder einmal ein sehr felsiger und holperiger Weg, den er seinen Jeep steil bergauf quälte. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und die Klimaanlage des Geländewagens durchbrach heulend die ansonsten absolute Stille dieser Berglandschaft, die sich vor ihm auftat. Oben auf dem Berg angekommen stieg Robert aus. Die Hitze schlug ihm zunächst wie ein Knüppel vor den Kopf, als er den klimatisierten Wagen verließ, aber schon im nächsten Moment wurde sein Körper von der angenehmen Bergbriese wieder abgekühlt. Zielstrebig ging er auf ein kleines Häuschen zu, das hier oben inmitten der sonst scheinbar unberührten Natur erbaut wurde. Es war keine Ruine oder verfallene Hütte, wie man sie sonst in solchen Gegenden zu finden pflegt; es war ein liebevoll gebautes und gepflegtes Haus, mit Naturstein verplättelt und mit einer atemberaubenden Aussicht über das gesamte Tal. Wie selbstverständlich nahm Robert vor diesem Haus auf einer kleinen, aus Natursteinen erbauten Bank platz und genoss die Aussicht und die wohltuende Briese, die durch seine Haare wehte. Er war zum ersten Male hier und doch war ihm alles so vertraut, als wäre er hier zu Hause.
Nach einer Weile stand er auf und holte aus einem kleinen Schuppen einen Eimer, der mit einer langen Kette versehen war, ging um das Haus herum und schob die dicke Holzplatte zur Seite, die den darunter befindlichen Brunnen abdeckte, um sich einen Eimer voll frischem Brunnenwasser zu schöpfen. Anschließend füllte er sich ein Glas mit diesem Wasser und trank es, wieder auf der Bank angekommen, genüsslich aus. Erst nachdem er das Glas und den Eimer wieder weggebracht hatte, erschrak Robert. Woher wusste er, wo er den Eimer und das Glas finden würde und woher wusste er von dem Brunnen hinter dem Haus? Erst jetzt realisierte er, dass ihm das alles vom ersten Moment an so vertraut vorgekommen war, obwohl er hier definitiv vorher noch niemals war. Es war wie ein Wink des Schicksals und er verspürte den unwiderstehlichen Zwang, dem auf den Grund zu gehen.
Die nächsten Tage fuhr er täglich zu diesem Bergrefugium hinaus und verbrachte den ganzen Tag dort oben. Es war nicht geplant, er wollte es eigentlich noch nicht einmal, es war mehr wie ein Zwang, wie eine unsichtbare Kraft, die ihn immer wieder dorthin befahl. Es war zwecklos sich dem widersetzen zu wollen und er gab stets nach.
Ein paar Tage später lag er nachts in seinem Hotelzimmer wach. Er konnte einfach nicht einschlafen; er fühlte sich wie in einer Gefängniszelle und der Drang dort auszubrechen, wuchs von Minute zu Minute. Es war kurz nach Mitternacht, als er sich entschloss, das Hotel zu verlassen und zu dem Bergrefugium hinaus zu fahren. Als er dort zwei Stunden später ankam, fühlte er sich wie ausgewechselt. Er wurde ruhig, fühlte sich wohl und geborgen, ja mehr noch, er fühlte sich “zu Hause”. Er ging in das Haus, zündete zwei Kerzen an, die sich, genauso wie die Streichhölzer, in dem kleinen Schränkchen neben dem Kamin befanden und suchte im Schein der Kerzen nach der Bettwäsche. “Die musste doch hier irgendwo in dem Schlafzimmerschrank sein?” Doch der Schrank war leer. Plötzlich erinnerte sich Robert; die Bettwäsche war in dem Wohnzimmerschrank, neben dem Kamin, da dort, durch die Abluft des Kaminzuges, die Bettwäsche nicht stockig wurde. Tatsächlich wurde Robert auch genau dort fündig und er sinnierte auch nicht mehr lange darüber nach, wieso er sich jetzt schon wieder daran erinnern könnte, wo er doch noch niemals hier war. Mit diesem Phänomen hatte er sich inzwischen längst vertraut gemacht und so bezog er einfach nur sein Bett und schlief zufrieden ein.
Am nächsten Morgen dann stand sein Entschluss fest. Er musste den Besitzer dieses Anwesens ausfindig machen und es kaufen. Er wollte ab sofort nur noch an diesem Ort Urlaub machen, an diesem so geheimnisvoll vertrauten Ort.
Es kostete ihn den Rest seines Urlaubs, um den Besitzer, einen alten Mann, der ein paar Orte weiter lebte, ausfindig zu machen und den Kauf unter Dach und Fach zu bringen, aber das war es ihm Wert.
Die Heimfahrt war in diesem Jahr wie eine Folter. Jeder einzelne Kilometer zog sich, als müsse er ihn zu Fuß zurücklegen und mit jedem Kilometer fühlte er ein immer größer werdendes Unbehagen. Dieses Unbehagen steigerte sich derartig, dass er am ersten Arbeitstag sofort nach seinem Prokuristen schicken ließ und ihn in sein Büro befahl. “Sie sind fristlos gefeuert!”, begrüßte ihn Robert aggressiv. Der Prokurist war so vor den Kopf gestoßen, dass er kein Wort herausbrachte. “Es gibt für sie jetzt genau zwei Möglichkeiten”, fuhr Robert fort, “entweder sie packen jetzt auf der Stelle ihre Sachen zusammen und verschwinden, dafür gebe ich ihnen genau dreißig Minuten Zeit, ab jetzt” Robert sah auf seine Armbanduhr und notierte die Uhrzeit, “oder aber sie kaufen mir den Laden ab und feuern mich. Ob sie mir den Laden sofort bezahlen, oder abstottern, ist mir egal. Also: Ihre Entscheidung bitte!” Der Prokurist musste nicht lange überlegen, von dieser Situation hatte er im geheimen schon wie oft geträumt und sich ausgemalt, was für ein Angebot er seinem Chef unterbreiten wolle und wie er ihm dieses Angebot am besten verkaufen könnte. Jetzt brauchte er es ihm noch nicht einmal zu verkaufen, der Vorschlag kam ja direkt von seinem Chef. “Ich dachte da an 1,5 Millionen, also eine halbe Million gleich und den Rest …” “Ist in Ordnung”, unterbrach ihn Robert, “Meine Kontonummer haben sie ja und den Rest erledigen unsere Firmenanwälte. Wenn sie mich jetzt entschuldigen?” Robert schnappte sich seinen Aktenkoffer und den Karton, in den er schon mal vorsorglich seine persönlichen Sachen verstaut hatte, und verließ das Büro.
“Sie haben den Prokuristen gefeuert?”, fragte seine Vorzimmerdame ungläubig und leicht verschüchtert zugleich. “Nicht ganz”, antwortete Robert mit einem breiten Grinsen im Gesicht, “Er hat mich gefeuert!” Mit einem schallenden Lachen ließ er seine Vorzimmerdame hinter sich zurück und verließ fröhlich und erleichtert seine ehemalige Firma. Diese Firma, die einst sein Lebenswerk war und die ihm alles bedeutete, sie war auf einmal zu einem tonnenschweren Felsen geworden, der ihn belastete und zu erdrücken drohte. Nun war er diese Last losgeworden und konnte sich frei und unbeschwert in sein Auto setzen und, wie selbstverständlich, in sein geliebtes Bergrefugium zurückkehren. Die Fahrt zurück war wie eine Fahrt in die Freiheit und mit jedem Kilometer, den er näher an sein “neues” zu Hause kam, fühlte er sich besser und freier.
Robert war gerade an der Stelle angekommen, an der er die asphaltierte Carretera verließ um auf den unbefestigten Bergweg einzubiegen, als er zu grübeln begann. Der alte Mann war seit Jahren nicht mehr auf diesem Anwesen gewesen, und doch war es weder verwildert noch wirkte es verlassen. Man hatte das Gefühl, als sei es die ganze Zeit bewohnt gewesen. Dennoch, er war ja einige Tage da oben gewesen und außer ihm war dort niemand aufgetaucht. Es war merkwürdig und er konnte es sich beim besten Willen nicht erklären, wie so etwas möglich sein sollte. Endlich oben angekommen fand Robert schließlich die Erklärung. Die Haustüre stand offen, und als er eintrat, fand er eine Frau vor dem Kamin in einem Korbsessel sitzend vor. Er wollte gerade die Stimme erheben, um die Frau seines Hauses zu verweisen, als ihm der Atem stockte. Die Frau drehte sich zu ihm herum und begrüßte ihn mit ihrer unglaublich warmen und liebevollen Stimme “¡Hola Roberto!” Robert stand da und brachte kein Wort heraus. Sicher, sie war wohl die mit Abstand schönste Frau, die er je gesehen hatte, aber das war es nicht. Es war vielmehr der Schock, dass er genau diese Frau, die er zuvor noch niemals gesehen hatte, zu kennen glaubte. Es dauerte einige Sekunden, bis er wieder Herr seiner Sinne wurde. Das war doch alles ausgemachter Blödsinn. Er hatte diese Frau noch nie gesehen, und dass er sie zu kennen glaubte, muss wohl schlicht und ergreifend daran liegen, dass sie eine ausgesprochene Schönheit war und es sich bloß um Wunschgedanken handelte. “Hallo!”, sagte er schließlich, als er sich wieder etwas gefangen hatte, “hier muss wohl ein Missverständnis vorliegen. Das hier ist mein Haus und ich heiße Robert und nicht Roberto.” Die Frau lächelte ihn an und es lief ihm heiß und kalt den Rücken herunter. “Sicher ist das dein Haus, Roberto, das streite ich ja auch gar nicht ab. Ich habe hier lediglich in den letzten Monaten gelebt, aber wenn du willst, dann gehe ich wieder. Es ist ja dein Haus.” Richtig, es war sein Haus und er glaubte zu wissen, dass dieses Haus, das er erst vor ein paar Tagen gekauft hatte, schon immer sein Haus gewesen war und er hatte genug damit zu tun, diese wirren Gedanken und Gefühle zu sortieren. Da war jetzt absolut kein Platz für eine mysteriöse Frau, die hier so urplötzlich aus dem Nichts erschien und ihn völlig um den restlichen Verstand brachte. Keine Frage, diese Frau musste verschwinden, je schneller desto besser. “Nein, ich glaube nicht, dass ich dich vor die Türe setzen sollte. Hier ist genug Platz auch für uns zwei”, antwortete er wie hypnotisiert und gegen seinen eigenen Willen, “aber nenne mich nicht Roberto, ich heiße Robert! Wenn du willst, beweise ich es dir. Ich habe hier vor langer Zeit meinen Namen in einen Felsen gemeißelt, komm mit, ich zeig es dir!” In diesem Moment hätte er sich selber ohrfeigen können, nicht etwa deshalb, weil er sich auf die unwiderstehliche Ausstrahlung dieser Frau eingelassen hatte, auch nicht deshalb, weil dieser vermeintlich in den Felsen gemeißelte Name, wohlmöglich nur seiner Fantasie entsprungen sein könnte, denn im Urlaub selbst hatte er dies nicht getan, nein es war ihm deshalb

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martín A. Floessner
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0053-6

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