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Prolog: Far Away from Happiness oder Dem Himmel so fern

Bunny lag nun schon eine ganze Weile so auf dem Bett. Der Tag war nicht unbedingt anstrengend gewesen, aber das zierliche Mädchen fühlte sich vollkommen erschöpft; ausgelaugt; unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Und trotzdem war es ihr unmöglich einzuschlafen. Noch nie in ihrem Leben war ihr das passiert, sie hatte immer schnell den Weg ins Land der Träume finden können. Doch heute war es anders. Bunny zuckte kurz zusammen, als sie darüber nachdachte. Ei­gentlich ging es ihr schon eine Weile so schlecht, weshalb sie auch ständig zu spät zum Unterricht kam. Was sie ja auch früher getan hatte, doch seit drei Monaten umgab sie beinah ständig diese in­nere Unruhe. Aber heute, heute war es besonders schlimm. So sehr sie es sich auch wünschte, ihre Gedanken hielten sie fest in der Gegenwart, machten es unmöglich, sich in die rettende Traumwelt zurück zu ziehen. Minuten vergingen, doch Bunny rührte sich nicht. Sie hatte keine Kraft mehr dazu. Auf dem Rücken liegend, die Arme weit ausgestreckt, den Blick starr nach oben gerichtet, war das Mädchen in einer anderen Welt gefangen. Einer Welt, die sie innerlich beinah zerriss.

In ihrem Kopf war ein solches Durcheinander, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Zwanghaft versuchte sie eine Struktur zu finden, doch vergebens. Seufzend schloss Bunny die Augen und ließ den ohnehin wirren Gedanken ihren Lauf. Warum nur kann ich nicht mehr klar denken? Warum nur? Doch es brachte nichts, niemand konnte ihr darauf eine Antwort geben. Niemand außer ihr selbst. Doch umso mehr Bunny versuchte, ihr Gefühlschaos nachvollziehen zu können, desto mehr verschwammen ihre Gedanken, als würden sie sich über sie lustig machen. Eine kleine Träne bahn­te sich ihren Weg über die Wange der jungen Frau und hinterließ einen nassen, glitzernden Film. Erneut versuchte sie mit all ihrer Kraft, eine Lösung zu erzwingen, einen Ausweg aus diesem De­saster zu finden. Doch das Einzige, was sie umfing, war noch mehr Schmerz. Noch mehr, als sie schon jetzt nicht mehr ertragen konnte. Langsam wurde das Bild vor ihrem inneren Auge deutlicher und das junge Mädchen zog scharf die Luft ein. Augenblicklich verkrampfte sich ihre gesamte Muskulatur, ihre Hände krallten sich verzweifelt in die Bettdecke unter ihr, sodass die Knöchel weiß hervor traten. Doch davon merkte die Siebzehnjährige nichts. Ihr Blick war fest auf ihr Gedan­kenbild gerichtet. Es war eine Erinnerung unter Tausenden und doch hatte sie sich tief in Bunnys Seele eingebrannt. Mitten in ihr Herz.

„Minako, warum gehen wir denn hier lang? Die nächste Bushaltestelle ist doch in der anderen Rich­tung.“ Verwirrt musterte sie ihre beste Freundin, die vergnüglich grinsend ihre Schultasche hin und her schwenkte. „Ganz einfach, wir müssen den Jungs doch ihre Hausaufgaben bringen. Immerhin sind sie krank!“ Genervt verdrehte das blonde Mädchen die Augen, folgte Minako jedoch trotzdem widerwillig. Oh ja, krank trifft Seiyas Persönlichkeit sehr präzise. Wenn Bunny auf eines so absolut keine Lust hatte, dann auf einen Besuch bei den Kous. Mit Taiki kam sie ja klar und Yaten konnte, wenn er wollte, auch echt nett und hilfsbereit sein. Aber wenn sie schon an Seiya dachte, hätte sie direkt den nächsten Hydranten kräftig treten können. Wobei das bei ihrer Tollpatschigkeit wohl eher zu einem gebrochenen Fuß geführt hätte. Wutschnaubend und mit finsterem Gesicht folgte Bunny ihrer ebenfalls blonden Freundin, deren gute Laune seit Schulschluss schon fast nicht mehr zu ertragen war. Okay, ich freu mich auch, dass dieser ganze Mist für heute rum ist. Aber Minako übertreibt doch total. Immerhin ist heute Montag und das heißt, wir müssen das alles noch vier ganze Tage ertragen! Bunnys Blick wurde noch finsterer, als sie sich dessen bewusst wurde. Und warum genau noch mal wollte Minako ihr schon am Anfang der Woche die Laune verderben?!

Ein leises Kichern holte sie aus ihrem Gedanken. Jetzt erst bemerkte sie, dass das Mädchen vor ihr an der letzten Ecke stehen geblieben war. Unwirsch stemmte Bunny die Hände in die Hüften und betrachtete Minako skeptisch, während diese schnell ihre Schuluniform gerade strich und dann mit Hilfe eines Handspiegels den korrekten Sitz ihres Make-Ups überprüfte. Das Schnauben hinter ihr ließ sie hastig den Spiegel verstauen und verlegen sah sie Bunny an. „Können wir dann?“ Kopf­schüttelnd ging sie an der verdatterten Minako vorbei, allerdings musste sie ihrem Unmut doch ir­gendwie Luft machen. Sollte sie Seiya wirklich über den Weg laufen – und Bunny betete dafür, dass sie das nicht tat – wäre so eine Vorbelastung nicht das beste Mittel, um ihn zu ignorieren. Wenn sie Pech hatte, würde sie ihm sogar das Genick brechen. Wobei, wieso eigentlich Pech? Grin­send drehte sie sich zu Minako um, die immer noch wie erstarrt an der Hauswand stand. „Kommst du endlich? Man könnte meinen, du würdest dich für Yaten so aufdonnern.“ Die Augen der ande­ren weiteten sich und hastig lief sie hinter Bunny her. „Du spinnst doch, wir sind nur gute Freunde.“ Achselzuckend ging das Mädchen weiter, sie hatte ganz andere Sorgen. Hätte sie in Minakos Gesicht gesehen, wäre ihr vielleicht die plötzliche Röte darin aufgefallen.

Am Hoftor angekommen, zögerte Bunny. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie beschlich sie ein seltsames Gefühl. Natürlich, sie hatte immer noch Angst, Seiya über den Weg zu laufen, aber das war noch nicht alles. Wie sie da so stand und das Gebäude musterte, wurde ihr beinah warm ums Herz. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Nein, wie könnte sie etwas gut finden, in dem ihr schlimmster Albtraum lebte? Das war doch absurd. Langsam öffnete sie das Tor, dass Minako wieder hinter sich zu geworfen hatte und betrat vorsichtig den Hof. Von ihrer Freundin war nichts zu sehen, sie muss­te wohl schon im Haus verschwunden sein. Bunny seufzte. Eigentlich war es ihr sehr recht, dass Minako das alleine erledigte. Das minimierte ihre Chance, versehentlich in diesen Idioten hinein zu rennen. Aber irgendwie, und das beunruhigte Bunny sehr, wollte sie genau das. Verwundert legte die Siebzehnjährig die Hand an die Stirn. Da schien doch was im Argen zu liegen, sie würde doch nie und nimmer freiwillig Seiya begegnen wollen. Es enttäuschte sie beinah, als sie keine erhöhte Temperatur oder Fieber bei sich selbst feststellen konnte. Erneut seufzte das blonde Mädchen. Was brachte es, darüber nachzudenken? Sie würde ja doch nicht des Rätsels Lösung finden. Also lehnte Bunny sich an die Wand gegenüber der Haustür und wartete. Irgendwann musste Minako ja wieder da raus kommen. Oder etwa nicht?

Die Zeit verging und ihre Freundin war immer noch nicht wieder aufgetaucht. Verwundert stellte Bunny mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, dass bereits eine Viertelstunde ins Land gegan­gen war. Wo blieb Minako nur? Es konnte doch nie und nimmer so lange dauern, die Hausaufgaben abzugeben. Oder saß sie gerade im Wohnzimmer bei Kaffee und Kuchen? Immerhin war sie eine alte Bekannte, Yatens beste Freundin. Na ja, viele hatte er ja nicht zur Auswahl. Nach weiteren fünf Minuten meldeten sich Bunnys Beine; sie waren es Leid, so sinnlos in der Gegend herumzustehen. Mürrisch stieß sie sich von der Wand ab und trat in Zeitlupe auf die Eingangstür zu. Wenn Minako nicht bald heraus kam, würde sie wohl klingeln müssen. Die Schritte der jungen Frau wurden klei­ner, je näher sie ihrem persönlichen Tor zur Hölle kam. Endlich, nach unsagbar langer Zeit stand sie nun auf dem schwarzen Fußabtreter, der sie ironischerweise 'Willkommen' hieß. Bunny schluckte schwer, während ihre Hand sich langsam der Türklingel entgegen streckte. Nur noch Zentimeter und sie würde ihn berühren, würde ihr persönliches Armageddon herauf beschwören, da war sie sich sicher. Kurz bevor ihr Finger jedoch den kleinen Knopf berührte, hörte die Blondine leise Stimmen. Hastig drehte sie sich um und ging ihnen nach; alles war besser, als dieses verdammte Haus zu betreten. Erst jetzt bemerkte sie, dass ein kleiner Weg rechts am Haus vorbei führte, der an einer hohen He­cke entlang nach hinten führte. Neugierig folgte das Mädchen ihm und schon bald erblickte sie in einiger Entfernung einen wunderschönen Garten. Er war nicht groß und Bunny konnte nur diesen kleinen Ausschnitt sehen, während sie sich zwischen Hauswand und Hecke hindurch schlängelte, doch man sah ihm deutlich die Liebe an, mit der er gepflegt wurde. Wie in Trance wanderte sie wei­ter, die lauter werdenden Stimmen zweier Personen ignorierend. Gerade in dem Moment, als sie den kleinen Weg verlassen hatte und nun im Garten selbst stand, bereute sie diesen Schritt. Hastig griff die junge Frau sich an die Brust, als ein Stich ihr Herz durchfuhr und sie geräuschvoll nach Luft japsen ließ. Sie hatte sowas noch nie gefühlt, noch nie solch einen Schmerz verspürt wie in diesem Moment. Und doch konnte sie ihren Blick nicht von den beiden abwenden, die kaum fünf Meter von ihr entfernt auf einem Steinplateau saßen.

Liebevoll streichelte Kakyuu durch Seiyas Haare, während er, die Augen geschlossen und mit ei­nem glücklichen Lächeln, neben ihr auf dem Rücken lag. Seine Hände waren hinter dem Kopf ver­schränkt, den er wie selbstverständlich auf ihre Oberschenkel gelegt hatte. „Und was genau sollst du noch mal haben?“, grinste Kakyuu, während sie spaßeshalber ihre Hand so in die Luft hielt, dass sie ihm die warme Frühlingssonne raubte. Überrascht von der plötzlichen Kälte schlug Seiya die Augen auf, doch schon Augenblicke später griff er, wieder lächelnd, nach ihrer Hand. Sanft hielt der Achtzehnjährige sie an seinen Mund und küsste jeden einzelnen von Kakyuus Finger, bevor er sie auf seine warme Brust legte. Das rothaarige Mädchen biss sich verlegen auf die Lippen, als sie seinen regelmäßigen Herzschlag spürte. Doch dann tippte sie lachend auf seine Nase. „Oh Mann, kannst du nicht einmal eine Frage beantworten, ohne mich aus dem Konzept zu bringen?“ Seiyas Grinsen wurde breiter, als er zu ihr nach oben blinzelte. Das warme Sonnenlicht ließ ihr Haar wie Feuer um ihren Kopf erscheinen und wenn sie nicht hier im Garten gewesen wären, er hätte wer weiß was mit ihr angestellt. „Keine Angst! Es ist nicht so ernst, dass ich nicht das hier tun könnte.“ Zärtlich legte er eine Hand in ihren Nacken und zog sie ein wenig zu sich herunter, während er selbst sich vorsichtig von ihren Beinen hoch drückte. Bunnys Herz klopfte wie wild, als sie das Spektakel mitbekam, aber sie spürte nicht diesen Hass ge­genüber Seiya. Ehrlich gesagt wünschte sich ein Teil von ihr, jetzt an Kakyuus Stelle zu sein. Nein, wenn sie Seiya ansah, dachte sie nicht an ihre Feindschaft, an ihren ständigen Zoff. Viel eher dachte sie an... an das Meer?! Würde ihre Brust nicht Gefahr laufen zu zerreißen und damit ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich lenken, wäre Bunny garantiert aufgefallen, was für einen Quatsch sie da gerade dachte. Und trotzdem erfüllte sie sein Anblick mit einem anderen Gefühl, als sie sonst kann­te. Langsam glitt ihr Blick nach oben zu Kakyuu und das blonde Mädchen erschrak, als plötzlich und unerwartet ihr Blut anfing zu kochen. Sie kannte das rothaarige Mädchen, sie war eine von Mi­nakos Freundinnen. Genauso wusste sie, dass Seiya und sie seit einem dreiviertel Jahr zusammen waren. Dass sie... glücklich... waren. Warum also spürte sie plötzlich sowas? Bunnys Herz setzte beinah aus, als sich die Lippen des Liebespaars vor ihr fast berührt hatten. Das konnte doch unmög­lich sein. Eine Träne fiel aus ihren verzweifelten Augen zu Boden, denn sie wusste, was sie emp­fand. Nicht für Seiya, da ihr dieses Gefühl so unerklärlich und fremd war. Nein, für Kakyuu. Plötz­lich drehte sich alles in ihr, ihr Blick verschwamm und hilfesuchend lehnte sie sich an die Haus­wand, die wie eine Stützte links von ihr aufragte. Eine weitere Träne lief über ihre Wangen, als sie wagte, das zu denken, was sie niemals für möglich gehalten hätte. Ich.. ich hasse... Kakyuu.

„Bunny, da bist du ja!“ Minakos Stimme hinter ihr ließ das blonde Mädchen sich abrupt aufrichten. Und nicht nur sie. Mit starrem Blick sah sie hinüber zu Kakyuu und Seiya, die sie aus großen Au­gen ansahen. Sie registrierte es mehr nebenbei und doch fing ihr Herz wieder an zu pochen. Sie sah die Überraschung in Kakyuus Augen, während sie erneut über Seiyas Haare strich. Dessen Blick war allerdings mehr als verwirrt. Hätte Bunny es nicht besser gewusst, hätte sie ihn als panisch ge­deutet. Aber warum sollte er das fühlen, immerhin hatte sie die beiden nicht bei etwas Unanständi­gen erwischt. Es war doch völlig normal, seine Freundin auch küssen zu können. Hart schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter, als Minakos Hand unerwartet ihre Schulter berührte. Erst jetzt drehte sie den Kopf um. Sie wusste, sie würde erbärmlich aussehen, doch das war jetzt sowieso nicht mehr zu ändern. Und vielleicht konnte Minako ihr ja helfen. Helfen, dieses Chaos zu verste­hen. „Ist was passiert? Deine Augen sind ja ganz rot!“ Vorsichtig drehte die Blondine ihre Freundin mit den zwei Zöpfen zu sich herum und musterte sie fragend. Doch Bunny senkte nur den Kopf zur Sei­te. Ich weiß doch selbst keine Antwort! Was ist nur mit mir los? Unerwartet kam plötzlich eine an­dere Person hinter Minako hervor und hielt ihr ein Taschentuch entgegen. Vorsichtig blickte das Mädchen nach oben und lächelte Yaten zaghaft an, bevor sie dankbar das Papiertuch aus seiner Hand nahm. Seine Stimme klang verschnupft, aber doch aufmunternd. „Keine Sorge, es gibt gute Medikamente dagegen.“ Fragend blickte sie ihn an, nachdem sie sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte. „Na gegen deinen Heuschnupfen.“ Noch immer verständnislos starrte die Siebzehn­jährige ihn an, bevor sich ein scheues Lächeln auf ihre Lippen schummelte. Yaten hatte ihr so eben die Ausrede für ihr Geheule geliefert; sie merkte es an Minakos Griff, der langsam lockerer wurde. „Wenn du Heuschnupfen hast, solltest du vielleicht nicht im Garten herum spazieren, Bunny!“, hörte sie die Stimme ihrer Freundin, doch sie klang eher besorgt als tadelnd. Stumm nickte sie und ließ die beiden in ihrem Glauben. Wie es in ihr drinnen aussah, verdrängte sie einfach für den Moment.

„Seiya, du solltest auch mal wieder rein kommen, sonst holst du dir gleich die nächste Grippe. Und Kakyuu möchte garantiert auch nicht deine Bazillen abbekommen.“ Wieder in seinen gewohnten Ton verfallend, richtete Yaten das Wort an seinen Bruder, der immer noch mit großen Augen zu ih­nen herüber starrte. Erst jetzt kam er wieder zu sich und setzte sich senkrecht auf. Kakyuu kicherte amüsiert, sein Gesichtsausdruck war einfach göttlich. Und wie sie Seiya kannte, würde er sofort Kontra geben. Erwartungsvoll sah Yaten seinen älteren Bruder an, doch dieser stand ohne Wider­worte auf. Das Erstaunen war eindeutig in den Gesichtern seiner Freundin und den anderen zu se­hen. Nur Bunny wagte es nicht, sich erneut nach ihm umzudrehen. Zu sehr rebellierte ihr Inneres und die Szene, die sie beobachtet hatte, brannte sich schmerzhaft in ihr Herz ein. Sie konnte es sich nicht erklären und doch verletzte sie dieser Anblick. Bunny konnte den Blick des jungen Mannes in ihrem Rücken spüren und unmerklich glitzerten ihre Augen erneut, ließ sie schnell den Kopf sen­ken. Doch da zog Minako sie schon sanft am Handgelenk mit sich, den Weg wieder zurück, bis sie vor der Hofeinfahrt standen. Doch während Bunny immer noch den Blick gesenkt hielt, konnte ihre Freundin gar nicht genug vom Anblick des jüngsten Kou-Bruders bekommen. Seine smaragdgrünen Augen fesselten sie beinah und augenblicklich umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Ein lautes Räus­pern vom Haus her ließ die drei ihren Blick herum schwenken. Taiki stand in der Tür, mit einem di­cken Schal und Bademantel bekleidet, und sah streng zu ihnen herüber. „Danke, dass ihr uns die Hausaufgaben vorbei gebracht habt, aber vielleicht solltet ihr jetzt besser gehen. Sonst werdet ihr noch krank und wir werden niemals gesund.“ Auch seine Stimme näselte ein bisschen und wie um das zu unterstreichen, nieste er nach seiner Ansprache laut. Yaten seufzte kurz und drückte Minako schnell an sich, bevor er seinem Bruder ins Haus folgte. Doch anstatt diese wieder zu schließen, schaute Taiki erwartungsvoll zum Garteneingang. „Du auch, Seiya!“

Erst jetzt bemerkte Bunny, dass sowohl Kakyuu als auch Seiya vor ihr im Hof standen. Bei seinem Anblick nahm ihr Herzschlag erneut ein rasantes Tempo an, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Sanft zog Kakyuu ihren immer noch verdattert ausschauenden Freund zu sich heran und legte seine Arme um ihre Hüfte. „Mir ist egal, ob ich krank werde“, hörte Bunny sie leise und augen­blicklich spürte sie wieder diesen Hass in sich aufwallen. Was war nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so! Doch Minako erlöste sie von ihren Gedanken. Jetzt wo Yaten im Haus verschwun­den war, hatte sie keinen Grund mehr, länger hier zu sein. Mit einem freundlichen Lächeln drehte sie sich zu den beiden anderen und winkte ihnen zu. „Bis demnächst dann. Und gute Besserung!“ Dann nahm sie Bunnys Hand und zog sie mit sich auf die Straße. Einem inneren Impuls folgend blickte diese zurück... und ihr Herz verkrampfte sich aufs Neue. Das letzte, was sie sah, war Seiyas nicht zu deutender Blick, bevor sie mit tränenverschleierten Augen dem Liebespaar ihre Privatsphä­re ließ.

Mit einem Ruck schoss Bunny auf und presste ihre Hand an die Brust. Mit weit aufgerissenen Au­gen starrte sie ins Leere, versuchte verzweifelt, den Schmerz zu unterdrücken. Doch ohne Erfolg. Nach Luft japsend jagte ihr immer noch das Bild von Kakyuus und Seiyas sich nähernden Lippen durch den Kopf, verbunden mit diesen neuen, unangenehmen Gefühlen. Langsam, ganz langsam bekam sie wieder die Kontrolle über ihren Körper und der Schmerz in ihrem Herzen wurde schwä­cher. Die Siebzehnjährige nahm vorsichtig die Hand herunter, atmete mehrere Male tief ein und mit jedem Atemzug wurde es erträglicher. Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre vor Schmerz zerbisse­nen Lippen, als sie den Blick aufrichtete, der wie durch Magie zum Fenster hinüber glitt: Der Mond sah tröstend durch das offene Fenster zu ihr herein. Zögerlich stand Bunny auf und setzte sich davor, auf die weiße Polsterbank. Eine sanfte Brise umwehte sie, spielte mit ihren zerzausten Haaren, doch das nahm sie nur am Rande war. Ihr Blick war stur auf den Mond und seine funkelnden Schätze geheftet, die ungetrübt das Firmament erhellten. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie tröstete sie dieser Anblick. Er war ihr so vertraut, als wäre er ein alter Freund. Jemand, mit dem sie etwas verband.

Ein kleines Glitzern erschien in ihren Augen, als sie flehend ihre Hände faltete, stets den Blick nach oben gerichtet. „Bitte, wenn du mich hören kannst, hilf mir! Ich versteh das alles nicht.“ Ihre Stimme war leise und doch klar, obwohl ihr schon die ersten Tränen die Wangen herunter rannen. Konzentriert schloss sie die Augen und senkte den Blick. „Bitte, lieber Mond. Schenk mir Ge­wissheit. Gewissheit über meine Gefühle.“ Stumm saß sie noch eine ganze Weile so da, bevor sie zurück in ihr Bett ging und augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. So merkte sie gar nicht, wie eine einzelne Sternschnuppe über den Himmel flog und schließlich in der Atmosphäre verglühte.

 

Kapitel Eins: Angels never cry oder Mein Engel im Sonnenschein

3 Monate später

„OH NEIN! ICH KOMM SCHON WIEDER ZU SPÄT!“ Ikuko seufzte laut in der Küche. Jetzt war Bunny schon 17 Jahre alt und sie hatte es immer noch nicht geschafft, einmal pünktlich in der Schu­le zu erscheinen. „Was hab ich bei diesem Kind nur falsch gemacht?“ Kopfschüttelnd hörte sie schnelle Schritte den Flur entlang kommen, dem ein heftiges Poltern folgte. Ikuko seufzte erneut und blickte aus der Küche heraus. Ihr bot sich das übliche Bild: Bunny lag am Ende der Treppe, Arme und Beine von sich gestreckt wie ein toter Käfer. Ihren Augen nach zu urteilen, drehte es sich noch immer ein wenig in ihrem Kopf. Am oberen Treppenabsatz konnte man währenddessen noch einen von Bunnys rosa Häschen-Hausschuhen liegen sehen, der andere hing noch an ihrem Fuß. Resignierend fuhr ihre Mutter sich über die Augen, während Bunny sich mit rotem Gesicht aufrich­tete, hastig ihre Schuhe überstreifte und mit einem weiteren Schrei aus der Tür verschwand. War ja nicht das erste Mal, dass sie im morgendlichen Stress die Treppe hinunter gesegelt war!

Bunny rannte, so schnell sie konnte, schließlich wollte sie nicht schon wieder zu spät kommen. Mühsam drängte sie sich durch die Menschenmassen, die genau wie sie selbst auf dem Weg zur Ar­beit waren. „Hallo! Entschuldigung, darf ich mal durch?... Entschuldigung!“ Mit dem Unterschied, dass sie wohl alle nicht zu spät kommen würden. In ihrem Kopf hörte das Mädchen mit der unver­wechselbaren Frisur schon Frau Haruna, die in mahnendem Tonfall sagte: „Bunny Tsukino, das ist bereits das fünfte Mal diese Woche. Wenn du weiterhin gedenkst meinen Unterricht durch dein Zu­spätkommen zu stören, kannst du morgens gerne ausschlafen.... WEIL DU DANN DEN GANZEN NACHMITTAG NACHSITZEN WIRST.“ Sie schluckte laut und beschleunigte ihr Tempo noch ein wenig, trotz der vielen Menschen auf der Straße. „Warum kann ich auch einfach nicht pünktlich aufwachen?“ Sie seufzte laut und griff sich an den Kopf. „Wenigstens ist heute Freitag, schlimmer kann's doch gar nicht mehr kommen.“ Sie erinnerte sich an ihren 'Start' in den Tag und die unange­nehme Begegnung mit dem Fußboden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich Bunny das Hinter­teil, während sie durch das Treppenhaus der Schule rannte. „Das gibt einen netten Fleck!“ „Hey Bunny, kann man dir zur Hand gehen?“ Wütend drehte sie sich zu Seiya um, der plötzlich ne­ben ihr auf der Treppe zum zweiten Stock auftauchte. Sein anzügliches Grinsen ließ noch mehr Wut in ihr aufsteigen und mit erhobenem Kopf beschleunigte sie ihre Schritte. Seiya sah sie irritiert an. Obwohl dieses Mädchen immer wieder betonte, wie unsportlich sie doch sei, waren ihre Sprints doch nicht von schlechten Eltern. Irgendwie musste er lächeln, als er ihren Hintern vor sich hin und her wa­ckeln sah. Na ja, immerhin hatte die Siebzehnjährige fast zwölf Jahre Erfahrungsvorsprung in punc­to Unpünktlichkeit. Er legte einen Zahn zu und war nun wieder mit ihr auf gleicher Höhe, als sie den zweiten Stock erreichten... und Bunny prompt an der letzten Stufe hängen blieb. Mit einem lau­ten Schrei fiel sie der Länge nach hinunter. Ängstlich kniff Bunny die Augen fest zusammen, wäh­rend der Boden immer näher kam. Oder auch nicht.

„Alles okay bei dir?“ Langsam öffnete sie wieder die Augen und starrte Seiya ins Gesicht. Er sah ir­gendwie anders aus, nicht so wütend und abweisend wie sonst. Irgendwie wirkte er besorgt. Be­sorgt?? Bunnys Augen weiteten sich, als sie bemerkte, dass Seiya sie aufgefangen hatte und sie ge­rade in seinen Armen lag. SEINEN WAS? Blitzschnell wand sie sich aus seinem Griff und sprang wieder auf ihre eigenen Füße. Hoffentlich hat uns niemand gesehen. Beschämt wischte sie sich den imaginären Staub von den Klamotten; die junge Frau hatte nicht den Mut, Seiya in die Augen zu se­hen. „Na ja, wenn du so aufspringen kannst, kann dir ja nicht viel passiert sein.“ Er verschränkte grinsend die Arme hinter dem Kopf und ging gemächlichen Schrittes weiter den Flur entlang. Bun­ny sah ihm verwundert hinterher. Kein Spruch? Kein 'So doof kannst doch nur du sein'? Nichts? Nachdenklich biss sich das Mädchen auf die Unterlippe, während sie versuchte, ihn wieder einzu­holen. Was bei seinem gemütlichen Tempo auch kein wirkliches Problem war. Sie sollte sich wirk­lich bei ihm bedanken. Aber irgendwie wunderte sein Verhalten das Mädchen viel zu sehr. Vielleicht ist Seiya ja krank.

Bunny musterte ihn unauffällig von der Seite, während sie schweigend bis ans andere Ende des Flurs gingen, wo sich ihr Klassenzimmer befand. Nein, krank sah Seiya eigentlich nicht aus, mit diesem breiten Grinsen in seinem Gesicht. Eigentlich sah er richtig gut aus, wenn er nicht diesen verhärmten Gesichtsausdruck hatte. Schnell senkte sie den Blick, sie spürte das Blut schon in ihre Wangen schießen. Sei nicht dumm, Bunny, es ist Seiya. Selbst wenn er noch so gut aussieht, ihr werdet nie auf einen grünen Zweig kommen. Und jetzt konzentrier dich lieber wieder auf den Auslö­ser seiner guten Laune. Das ist doch nicht normal. Nachdenklich legte sie den Finger an die Unter­lippe und ließ das Geschehene Revue passieren. Schlecht ging es Seiya also nicht. Und bei seinem Sprinttempo schien es ihm auch körperlich gut zu gehen. Woher kam also dieser angenehme Wan­del? „Na super!“ Verwundert blickte Bunny hinter sich, wo seine Stimme her kam. Seiya stand vor einem Zettel an der Tür zum Klassenraum. Moment, warum stand er dort und sie hier? Augenblick­lich wurde Bunny rot wie eine Tomate und schlich leise wieder zu dem Schwarzhaarigen zurück. Da war sie so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie direkt am Raum vorbei gelaufen wäre. Super Bunny, heute ist einer deiner besonders peinlichen Tage. Hoffentlich hat er's nicht gemerkt. Seiya währenddessen starrte immer noch auf den Zettel, der vor ihm hing. „Was ist das?“, hörte er Bunnys fragende Stimme neben sich. Er schmunzelte. Warum konnte dieses Mädchen nicht einmal selbstständig denken? „Lies selbst, es scheint ein Liebesbrief an uns zu sein.“ Er spürte ihren ver­wunderten Blick auf sich und wollte sich gerade wieder über sie aufregen, als: „An Bunny Tsukino und Seiya Kou: Da ihr mal wieder zu spät seid und das in dieser Woche zum fünften Mal (wie übri­gens jede Woche, seit das Schuljahr begonnen hat), habe ich mir zum Dank eine kleine Aufgabe für euch ausgedacht.“ Bunny schluckte, bevor sie weiter lesen konnte. „Während ihr wartet, könnt ihr ein kleines Gedicht auswendig lernen. Ihr findet es in eurem Buch auf Seite 13. Dort findet ihr auch die Aufgaben, die ihr bis Montag bitte erledigt habt und dann bei mir abgeben werdet. Ja, ALLE Aufgaben. Vielleicht wird euch das eine Lehre sein, das ständige Nachsitzen scheint ja keinen allzu großen Eindruck auf euch zu machen. Hochachtungsvoll, Fr. Haruna.“

Irgendwie musste er lächeln. Ob sie wohl absichtlich laut vorgelesen hat? Nein, dafür war es dann doch zu leise. Irgendwie ist Bunny so anders als andere Mädchen. Ach, vergiss es, das ist nur 'ne Phase, ihr zickt euch doch sowieso nur ständig an. Starr vor Schreck stand Bunny noch vor dem Schrieb, während Seiya sich mit einem Seufzen an die Wand lehnte und daran herunter rutschte. Wenig begeistert schlug er sein Buch auf und fand auch recht schnell Seite 13 – die Seite der Apokalypse. Der Blick des Schwarzhaarigen verfins­terte sich. Er wusste gar nicht, was er schlimmer finden sollte, dieses Gedicht oder die 20 Aufgaben, die drunter standen. Nachdenklich zupfte er an seinem Ohrläppchen, während sein Blick nach oben glitt. „Mach den Mund zu, Bunny, sonst werden die Milchzähne sauer.“ Die Angesprochene, wel­che mit noch immer heruntergefallener Kinnlade den Zettel anstarrte, löste sich von dessen Anblick, starrte erst einige Sekunden lang Seiya an, bis ihr Gehirn seinen Kommentar verdaut hatte. Genervt verdrehte sie die Augen und schloss den Mund. Dann riss sie ihm das Buch aus der Hand und ließ sich in einiger Entfernung zu ihm auf den Boden sinken. Eigentlich war Seiya ziemlich wütend auf Bunny, was fiel der ein, einfach sein Buch zu mopsen? „Gib das...“, setzte er empört an und streckte seine Hand nach dem Buch aus, als er den versteinerten Blick der Siebzehnjährigen wahr nahm. Und wie ihre Lippen stumm drei kleine Worte formten. „Oh mein Gott!“ Seiya konnte nicht anders, er musste lauthals lachen. Doch ein eisiger Blick von ihr ließ ihn sofort verstummen. Aufgebracht drehte sie das Buch zu ihm hin und tippte auf die Seite ihres Verderbens. „Das sind 20 Aufgaben, also was zum Teufel findest du daran lustig, Idiot?“ Schnell drehte sie das Buch wieder zu sich und starrte traurig die Seite an. „Mir ist da eher zum Heulen zumute.“ Über­rascht legte Seiya den Kopf schief, während er es in Bunnys Augen glitzern sah. Meinte sie das ge­rade ernst?

Melancholisch sah Minako aus dem Fenster. Bunny war schon wieder zu spät gekommen. Ihr Blick glitt über den Doppeltisch neben ihr und dann eine Reihe dahinter. Und von Seiya war auch mal wieder keine Spur. Sie seufzte laut, während ihr Blick abwesend wieder die Vögel vor ihrem Fens­ter beobachtete. Warum streiten sie sich nur andauernd? Es war Minako einfach unbegreiflich. Sie kannte Bunny schon seit der ersten Klasse und die beiden waren immer beste Freundinnen gewesen. Das Mädchen mit den zwei blonden Zöpfen war wie eine Schwester für sie. Eine Familie, die Mina­ko zuhause manchmal vermisste, wenn sie wieder einmal in das verlassene Haus am Stadtrand zu­rückkehrte. Und in all dieser Zeit, all diesen zwölf Jahren hatte Bunny niemals auch nur im Gerings­ten Probleme gehabt, Freunde zu finden. Durch ihre naive und fröhliche Art hatte sie die Leute im­mer innerhalb kürzester Zeit um den Finger gewickelt, sogar die verschlossensten unter ihnen in Se­kunden zum Auftauen gebracht. Und wenn ihre blonde Freundin nur ein wenig Interesse am ande­ren Geschlecht gezeigt hätte, hätte sie trotz ihrer gelegentlichen Unwissenheit und Unsportlichkeit bestimmt eine große Anzahl an Verehrern gehabt. Also wie konnte man sich erklären, dass Seiya und Bunny wie Feuer und Wasser waren? Wo liegt das Problem?

Sie zermarterte sich jetzt schon eine Weile den Kopf darüber, aber Minako kam einfach nicht auf des Rätsels Lösung. Lag es vielleicht an Seiya? War er einfach zu kompliziert, um es mit Bunny auszuhalten? Verwundert über ihre eigene Überlegung schüttelte Minako den Kopf. Nein, Seiya konnte auch nicht das Problem sein. Sie kannte ihn so lange wie Yaten, na ja, vielleicht eine Minute länger, aber er war ihr nie kompliziert vorgekommen. Gut, der Schwarzhaarige war manchmal sehr direkt und merkwürdig, aber das war ihr Freund auch. Ein schiefes Grinsen legte sich auf ihre Lip­pen. Eigentlich war Yaten um einiges seltsamer als sein Bruder, wenn sie es recht bedachte. Er be­stand darauf, dass seine Familie nichts von ihnen beiden wusste, obwohl sie jetzt mehr als ein Jahr lang zusammen waren. Noch an dem Abend ihrer ersten Begegnung waren sie sich auf der Straße begegnet und kaum 24 Stunden später saßen sie auf Minakos Terrasse in der Hollywoodschaukel. Ihr Grinsen wurde brei­ter, als sie sich an ihren ersten Kuss erinnerte, inmitten all dieser herrlich duftenden Kinmokusei. Es war wirklich seltsam, wie Yaten und sie sich blind verstanden, sowas hatte Minako noch nie erlebt. Immerhin hatte sie schon einige Beziehungen gehabt und im Vergleich zu denen war Yaten beinahe harmlos. Wieder stieg dieses warme Gefühl in ihr auf und Schmetterlinge flatterten durch ihren Bauch. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Na ja, und obwohl Yaten eigentlich ein ausge­sprochen schwieriger Charakter war und noch dazu eine Abneigung gegen so gut wie alles hatte, war er nicht viel anders als seine Brüder. Und sie kam schließlich mit ihnen allen gut aus. Alle drei waren gut erzogen, sahen klasse aus und waren umgängliche Typen. Wobei, wenn sie einmal ge­nauer nachdachte... Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor ein paar Wochen wieder einmal zu Besuch war.

Es war ein Freitag Abend, Bunny hatte erst später Zeit und Kakyuu wollte sich eigentlich mit Seiya treffen. Minako seufzte. Seit die beiden zusammen waren, konnte man die Rothaarige fast gar nicht mehr alleine treffen. Entweder war sie in der Schule oder Seiya war bei ihr. Oder Minako traf sie zufällig, wenn sie Yaten besuchen wollte. Aber egal wie, Kakyuu hatte nur noch selten Zeit für ihre Freundin. Die junge Frau seufzte, diesmal lauter, was ihr Freund natürlich sofort bemerkte. Liebe­voll strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sie fragend an: „Geht's dir gut? Du siehst irgendwie traurig aus.“ Sein mitfühlender Blick ließ ihre Augen strahlen und ein kleines Lä­cheln legte sich auf ihr Gesicht. So viel Gefühl zeigte er nicht oft und Minako war sehr stolz darauf, dass sie die Einzige war, der sich Yaten jemals geöffnet hatte. „Schon okay, ich würde nur gerne mal wieder was mit Kakyuu machen. Seit Seiya und sie zusammen sind, seh ich sie nur noch sel­ten.“ Sie seufzte kurz auf.

„Vielleicht hast du ja heute Glück.“ Taiki am anderen Ende des Tisches sah von seinen Büchern auf und blickte hinüber zu Yaten und Minako. „Sie wollte sich nachher mit Seiya treffen, aber der kommt heute sicher nicht mehr aus seinem Versteck.“ Sein vielsagender Blick glitt hinüber zum Zimmer seines schwarzhaarigen Bruders. Verwundert musterte Minako den Braunhaarigen. „Wie meinst du das?“ Diesmal war es ihr Freund, der sich seufzend in seinem Stuhl zurück warf. „Ach, Seiya ist manchmal einfach seltsam. Einerseits siehst du ihn tagelang gar nicht in dieser Wohnung und an anderen Tagen verlässt er sein Zimmer nur noch zum Essen. Und manchmal nicht mal das. Ich glaube, er wäre gerne wieder mit Kakyuu auf einer Schule. Da könnte er sie wahrscheinlich Tag und Nacht...“ „Das ist unlogisch, Yaten“, unterbrach Taiki seinen Bruder, bevor der noch detaillier­tere Berichte über Seiyas und Kakyuus Beziehung auspacken konnte. Und das vor einer Dame. „Er­klär mir dann mal, warum er an solchen Tagen nicht mal sie in sein Zimmer lässt. Kakyuu kann bit­ten und betteln, aber er öffnet niemandem die Tür.“ Minako war noch überraschter als vorher, zö­gernd drehte sie sich zu Yaten um, der über die Aussage seines Bruders nachdachte. „Seit wann ist er denn so?“ Sie begann langsam wirklich, sich Sorgen um Seiya zu machen. Und eigentlich auch um Kakyuu, sie musste ja sehr unter dieser Sache leiden. „Hm... Etwa seit wir an eurer Schule sind.“ Er schaute unsicher Taiki an, doch dieser nickte zustim­mend. „Es ist irgendwie seltsam, Seiya hat sich früher nie so verhalten. Er war immer der Extrover­tierte von uns und plötzlich zieht er sich wortlos in sein Zimmer zurück. Ich hab keine Ahnung, was er da macht und wahrscheinlich möchte ich es auch gar nicht wissen, aber manchmal hör ich ihn auf der Gitarre herum klimpern. Verstanden hab ich allerdings nie was.“ Wieder sah er zu seinem braunhaarigen Bruder, der langsam seine Bücher zurück in die Tasche packte. „Nein, tut mir Leid. Ich hab nur ein paar Wörter gehört, aber ansonsten nichts. Ich kann nicht mal sagen, ob es ein trau­riges oder ein fröhliches Lied war.“ Er hing sich die Tasche über die Schulter und lächelte Minako noch einmal zu. „Ich muss dann los, mein Kurs fängt gleich an. Habt viel Spaß und macht euch nicht zu viele Sorgen um Seiya!“ Mürrisch blickte Yaten ihm hinterher. „BÄH, so viel Kultur ist nichts für mich.“ „Was ist schon was für dich?“, rief sein Bruder ihm noch lachend über die Schul­ter zu.

Als Taiki verschwunden war, sah Minako noch lange den Treppenabsatz an. Sie wusste einfach nicht, was sie über Seiyas Verhalten denken sollte. Ein sanfter Druck unter ihrem Kinn ließ sie sich herum drehen. Yatens grüne Augen wirkten besorgt, während sie ihr Gesicht musterten. „Er hat Recht. Wenn Seiya wirklich Probleme hat, wird er uns schon davon erzählen.“ Er lächelte sie liebe­voll an und in seinen Augen leuchtete plötzlich etwas anderes auf. „Du bist einfach zu gut für diese Welt, hab ich dir das eigentlich schon mal gesagt?“ Jetzt musste auch sie lächeln, obwohl das The­ma noch nicht vom Tisch war. Aber Yatens Augen machten ihr ein mehr als eindeutiges Angebot, dem sie schwerlich widerstehen konnte. Langsam schob sie sich auf seinen Schoß, ihr Gesicht be­drohlich nah vor seinem, und legte die Hände an seine Wangen. Yatens Herz setzte einen Moment aus, seine Augen weiteten sich überrascht, als er Minakos Atem auf seiner Haut spürte. „Du machst mich wahnsinnig!“, hauchte sie leise, bevor sie quälend langsam ihre weichen Lippen auf seine drückte. Fasziniert brauchte Yaten ein paar Sekunden, bis das Adrenalin in seinem Gehirn angekommen war und sanft legte er seine Hände um Minakos schmale Taille, drückte sie fester an sich. Ohne Wider­stand ließ sie ihn gewähren und rutschte ein Stück näher an ihn heran. Durch die Reibung zuckte Yaten kurz zusammen, bevor seine Hand langsam unter ihr Top glitt. Ein leises Schnurren entfuhr der jungen Frau, während ihre Finger sacht seinen Nacken hoch und runter strichen. Sofort bemerkte sie die Gänsehaut, die sich dort bildete und beinah hätte sie laut gelacht. Auch wenn er manchmal unsensibel war, mit dieser simplen Sache machte man aus diesem schwer zähmbaren Löwen ein Katzenbaby. Gut nur, dass außer ihnen niemand zu Hause war. Zögernd begann Minako ihr Becken an Yaten zu reiben. Was wiederum die gewünschte Wirkung hatte. Zielstrebig streichelte seine Hand ihren Bauch hinauf, glitt unter ihren Spitzen-BH und kniff kurz in ihre Knospe. Erregt löste Minako den Kuss und legte den Kopf in den Nacken. Sie biss sich auf die Lippe, um ja nicht noch mehr verräterische Töne von sich zu geben. Doch jetzt begann der Achtzehnjährige einfach, ihr Dekolleté mit seiner Zunge zu verwöhnen. Minako spürte, wie sie feucht wurde und sie war sich sicher, dass er es auch merkte. Du kleiner Schlawiner, lächelte sie, macht dir wohl Spaß, mich so zu quälen.

Das Klimpern eines Schlüssels ließ sie augenblicklich auseinander springen. Verwundert blickte Seiya die beiden an, während sie ihn mit gerötetem Gesicht entgegen starrten. Was ihn ziemlich nervte. „Ist was? Bin ich ein Dämon oder ein Vampir oder sowas?“ Synchron schüttelten die beiden den Kopf und sahen ihn unschuldig an. Fehlt nur noch, dass sie anfangen zu pfeifen. „Hab ich euch bei irgendwas gestört?“ Ihr Kopfschütteln kam einfach zu schnell, um überzeugend zu wirken. Seiya lächelte. So viel also zum Thema 'platonische Freundschaft', lieber Bruder. „Wir sind nur so erstaunt, dass du dein Zimmer verlassen hast.“ Yaten sah ihn aus großen Augen an. „Es ist wegen Kakyuu, oder?“ Minakos Satz brachte die Antwort auf Seiyas Lippen zum Verstummen. Kakyuu. Irgendwie brannte ihr Name heute wieder in seinem Inneren. Er konnte sie nicht sehen. Nicht an einem Tag wie diesem. „Ich hab Hunger, ist das verboten?“ Wütend riss er die Schränke ihrer eigenen, kleinen Küche auf und schüttete Cornflakes in eine Schale. „Oh, ähm, nein.“ Minako und Yaten sahen sich verwundert an. Wieso war er plötzlich so wütend? Sie hatten doch gar nichts getan. Oder? Noch immer wutent­brannt griff der Achtzehnjährige sich einen Löffel und stapfte zurück in sein Zimmer. Die Blicke der anderen beiden folgten ihm, bis die Tür zu Seiyas Zimmer mit einem lauten Knall zu fiel und der Schlüssel im Schloss knarrte. Immer noch mit großen Augen sahen die beiden sich an. „Haben wir was Falsches gesagt?“ Unsicher legte Minako den Kopf schief, doch zuckte ihr Freund nur mit den Achseln. „Keine Ahnung, ich hab den noch nie verstanden. Ist wahrscheinlich auch besser so.“ Langsam stand er auf und hielt ihr die Hand entgegen. „Komm, lass uns in mein Zimmer gehen, bevor Seiya auffällt, dass er gar keine Milch über die Cornflakes geschüttet hat.“

Gerade als Minako seine Hand ergreifen wollte, klingelte es an der Tür. Der junge Mann atmete tief ein. „Na dann mal los.“ Sie sah ihn irritiert an, doch als ihr Freund die Treppe hinunter ging und die Tür öffnete, verstand sie sein Problem. „Hey!“, erklang eine sonore Stimme und löste in der Achtzehnjährigen gleichzeitig Freude und Trauer aus. „Es tut mir Leid, Kakyuu, aber er hat heute wieder einen dieser Tage. Du weißt schon!“ Es fiel Yaten schwer, so mitfühlend zu klingen. Er wusste nicht warum, aber eigentlich konnte er das nur bei Minako von selbst. Und wenn es die Situation erforderte. So wie jetzt. „Oh, ich verstehe!“ Sie konnte die Traurigkeit in der Stimme ihrer Freundin beinahe greifen, so unüberhörbar war sie. Was war nur mit Seiya los, dass er Kakyuu so leiden ließ? Schnell löste sie sich aus ihrer Starre und gesellte sich an Yatens Seite.„Kakyuu, wie schön dich wiederzusehen! Wir hatten beide in letzter Zeit viel zu tun, was?“, setzte sie ihr fröhlichstes Lächeln auf. Die Augen ihrer rothaarigen Freundin leuchteten kurz auf. „Minako, oh wie schön! Du hast nicht zufälligerweise Zeit? Ach, was frage ich? Ihr zwei wollt sicher einen netten Abend miteinander ver­bringen.“ Sie wollte sich schon umdrehen, als Minako ihr Handgelenk festhielt. „Wieso kommst du nicht nachher ins Crown? So um acht? Dann können wir wieder so richtig tratschen.“ Ihr Zwinkern erreichte anscheinend Kakyuus Herz, denn das Strahlen in ihren Augen wurde stärker. „Bunny kommt nachher übrigens auch noch.“ Und verschwand sofort wieder. „Oh... ich will euch aber nicht stören.“ Sie drehte das Gesicht leicht ab. „Tust du nicht, wirklich! Bitte, Kakyuu, so wie in den al­ten Zeiten, ja?“ Seufzend gab diese nach. „Also schön. Wenn du dir was in den Kopf gesetzt hast, setzt du es auch durch.“ Sie lächelte wieder, doch es erreichte nicht ihre Augen. „Bis um acht dann.“

Genervt schmiss Yaten die Tür hinter ihr zu. „Wie ich es hasse, Seiyas Sekretär zu spielen. Tut mir Leid, Herr Kou ist leider in einer wichtigen Besprechung. Kann ich ihm etwas ausrichten?“ Abwertend schnalzte er mit der Zunge. „Lass uns bitte in mein Zimmer gehen, ich ertrage das alles langsam nicht mehr.“ Theatralisch schlug er sich die Hand vors Gesicht und drehte sich um. „Minako?“ Wo war sie plötzlich? Seine Freundin klebte mit einem Ohr an der Tür. Ich werd schon noch herausfinden, was das Pro­blem ist, so wahr ich Minako Aino heiße. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht wenigstens etwas er­fahren würde. Plötzlich spannten sich ihre Muskeln an. War das nicht eine Gitarre? Sie presste ihr Ohr noch fester an die Tür und rutschte langsam hinunter zum Schlüsselloch. Jetzt konnte sie ihn deutlich verstehen und auch sehen. Seiya lag auf seinem Bett, die Gitarre in der Hand und zupfte darauf herum. Minako kannte sich nicht gut genug mit Musik aus, um sagen zu können, ob er im­provisierte oder einfach wahllos Töne spielte. Aber es klang erstaunlich gut. Und unsagbar traurig. Wenn sie sich das Durcheinander in seinem Zimmer ansah, war das auch mehr als nachvollziehbar. Mein Gott, der stellt ja sogar Bunny in den Schatten, wenn sie wieder was zum Anziehen sucht. Kopfschüttelnd konzentrierte sie sich wieder auf Seiya. Bildete sie sich das nur ein oder bewegte er den Mund? Leise, ganz leise hörte sie plötzlich seine Stimme. Sie verstand nicht viel, obwohl es Englisch zu sein schien. Und Minako war sehr gut darin. Sie schloss die Augen und versuchte alle anderen Geräusche auszublenden. Und tatsächlich. Langsam meinte sie seine Stimme deutlicher zu hören. Und es war schön. Sehr schön sogar. Auch wenn Seiyas Stimme nicht mehr als ein Flüstern war und sie den Text kaum hörte, befiel auch Minako eine melancholische Stimmung. Es zerriss ihr beinah das Herz, so traurig war das Lied. Sie konnte sich nicht bewegen und sanft klangen die letz­ten Akkorde der Gitarre nach, als Seiya noch den letzten Satz sang, den Minako deutlich verstehen konnte: „I wish you were mine, Angel in that sunlit hall.“ „Da bist du ja!“ Erschrocken fuhr Minako hoch, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. „Mein Gott, hast du mich erschreckt!“ Yaten lächelte, als sich ihr Gesicht rot vor Scham färbte. „Haben wir etwa gelauscht?“, fragte er provozierend, woraufhin Minako noch verdatterter aussah. Doch be­vor er weiter fragen konnte, lagen ihre Arme um seinen Körper, eine Hand auf seinem Hintern. An­griff ist noch immer die beste Verteidigung. „Willst du reden oder etwas anderes machen?“ Grin­send leckte sich Yaten die Lippen und zog sie näher an sich heran. „Was eine Frage!“ Mit der Ha­cke stieß er die Tür zu seinem Zimmer auf.

Sie bebte innerlich, während ihre Erinnerungen an das, was danach passiert war, wieder hoch ka­men. Beinah hätte die Achtzehnjährige vor Schreck los geschrien, als sich eine Hand um ihre eigene legte. Langsam drehte sie den Kopf und sah in Yatens grüne Augen, die sie fragend musterten. Sie konnte nicht anders, Minako musste lächeln. Er machte sie glücklich und egal was passierte, er war immer für sie da. „Danke!“, flüsterte sie leise und drückte sacht seine Hand. Verwundert musterte er sie. Minako war heute so abwesend, über was zerbrach sie sich nur den Kopf? Und wofür dankte sie ihm? Sie sah die Frage in seinen Augen und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dann nahm sie einen Stift und malte etwas in das Heft ihres Freundes. Eigentlich hasste Yaten es, wenn man sein Heft bekritzelte und noch mehr hasste er es, wenn man seine Fragen nicht beantwortete. Doch das Herzchen, das Minako ge­malt hatte, ließ ihn seinen Unwillen wie durch Magie vergessen. Diese Frau war einfach etwas ganz Besonderes.

„Weinst du?“ Bunny schrak zusammen, als sie Seiyas Stimme neben sich hörte. Sie war ruhig und warm, und doch schien er innerlich erregt. Macht er sich wirklich Sorgen um mich? Er klang näher als vorher, doch sie traute sich nicht aufzusehen. Ich sitze hier wie ein kleines Mädchen und weine. Nur weil ich ein Gedicht auswendig lernen und ein paar Aufgaben machen soll. „Hey!“ Wieder hörte sie ihn, diesmal dichter neben ihrem Ohr. Du bist eine Heulsuse, Bunny Tsukino, und du bist schwach. Schon beim geringsten Druck fällst du zusammen wie ein Kartenhaus. Ihre zwei Zöpfe flogen durch die Luft und das Buch fiel zu Boden, als sie hastig den Kopf schüttelte und dann ihr Gesicht hinter ihren angezogenen Beinen versteckte. Stumm liefen ihr die Tränen die Wangen hin­unter, sie versuchte jeden Ton zu unterdrücken. Wenn Seiya merkt, dass du wirklich weinst, wird er dich ein Leben lang auslachen. Also reiß dich zusammen. Warum weinst du überhaupt? Krampfhaft versuchte Bunny aufzuhören, aber es ging nicht. Sie bekam sich einfach nicht unter Kontrolle.

Seiya war immer noch irritiert, wie er Bunny so vor sich sitzen sah, die Beine angewinkelt, das Buch auf ihren Knien und die Hände um die Knie geschlungen. Als müsste sie einen Schutzwall um sich errichten. In diesem Moment war sie nicht mehr Bunny, das unglaublich nervige Mädchen, das unsportlich und laut und permanent unpünktlich war. Das Mädchen, das ihn dauernd ärgerte und wegen dem er ständig zu spät kam. Seiya hielt abrupt in seinen Gedanken inne. Was hatte er da ge­rade gedacht? 'Wegen dem er ständig zu spät kam?' Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, während er darüber nachdachte. Ja, er kam seit einem halben Jahr immer zu spät und es war das erste Mal in seiner gesamten Schulzeit. Aber es war doch nicht wegen Bunny. Meistens fuhr ihm der Bus vor der Nase weg oder Kakyuu kreuzte seinen Weg oder der Wecker war auf unerklärliche Weise später gestellt oder... Seiyas Augen weiteten sich. Manipulierte er sich vielleicht selber? Waren all das Ausreden, um mit Bunny alleine sein zu können? Wieder blickte er auf das traurige Mädchen neben sich, das so gar keine Ähnlichkeit mehr mit der Furie hatte, die er kannte. Nein, in Momenten wie diesen war sie nicht mehr Bunny. Sie war ein trauriges, zerbrechliches Wesen. Der Engel im Sonnenschein, auf dessen erneutes Erscheinen er seit seinem ersten Tag hier sehnsüchtig wartete. Zaghaft schob er sich näher an sie heran. Wie in Trance hörte Seiya seine eigene, vorsichtige Stimme. „Weinst du?“

Ein Zucken ging durch Bunnys Körper. Hör endlich auf zu weinen. Du kannst doch nicht einfach immer los heulen. Es gibt Millionen Menschen auf der Welt, denen es schlechter geht als dir. Also reiß dich gefälligst zusammen. Rumheulen bringt dich auch nicht weiter. Ein Arm legte sich plötz­lich um ihre Schulter und zog sie zu sich herüber. Verwundert blickte Bunny auf und sah in Seiyas Augen. Es war wieder dieser Blick von vorhin. Und doch wirkte er traurig, nicht mehr so freude­strahlend wie noch Minuten zuvor. Bunnys Augen füllten sich erneut mit Tränen, als sie den Blick wieder senkte. Toll, jetzt hat er mich weinen sehen. Auf Wiedersehen, Leben, ab sofort bin ich das Gespött der Schule. Stumm rannen ihr wieder die Tränen aus den Augen. „Ist schon gut, Schätz­chen!“ Seiya zog sie wieder näher an sich heran, doch Bunnys Körper versteifte sich völlig und un­sicher starrte sie ihn erneut an. Er musste lächeln, als er die Frage in ihren Augen sah. Warum? Sanft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die an ihrer feuchten Wange klebte. Er wusste es ja selbst nicht. „Ich verspreche dir, ich verrate es niemandem, Schätzchen.“ Bunnys Augen weiteten sich bei seinen Worten. Seiya musste wirklich krank sein. Seit wann war er so nett zu ihr? Und seit wann nannte er sie 'Schätzchen'? Oder vielleicht hatte er einen genetischen Klon. Ihr Vater hatte ihr etwas von einem Schaf erzählt, Polly oder so. Vielleicht waren sie ja mitt­lerweile bei Menschen auch soweit? Zart und doch bestimmt zog sein Arm sie näher an sich heran und Bunny konnte nicht mehr widerstehen. Mädchen, wach auf. Es ist Seiya und kein Prinz auf ei­nem weißen Pferd. Es ist nur Seiya, schrie es verzweifelt in ihrem Inneren, doch seine Wärme und sein sanfter Druck ließen sie widerstandslos an seine Brust gleiten. Sie brauchte so dringend jeman­den, der ihr Halt gab. Der Geruch seiner Uniform stieg in ihre Nase und ließ sie die Augen schlie­ßen. Wie ein wunderschöner Tag am Meer.

Seiya merkte, wie sich ihr Atem langsam beruhigte, sie löste ihre Fetus-Stellung ein wenig und auch ihre Hände an seiner Brust ballten sich nicht mehr zu Fäusten. Vorsichtig strich er ihr übers Haar. Was tust du Idiot da? Das ist Bunny, BUNNY. Nicht Kakyuu. Bist du jetzt schon so notgeil, dass du fremd kuschelst? Es gab keinerlei vernünftige Erklärung für sein Handeln. Auch in seinem Inneren schrillten die Alarmglocken, aber das war ihm vollkommen egal. Er konnte sie nicht wei­nen sehen und wenn der Grund noch so nichtig war. Engel weinen nicht. Gerade als er das sagen wollte, unterbrach ihn Bunnys kaum wahrnehmbares Flüstern: „Danke!“ Verwundert blickte er auf sie hinab, doch ihre blauen Augen waren immer noch geschlossen. „Wofür?“, flüsterte er in der gleichen Lautstärke. Es kam ihm unpassend vor, die Stimme zu erheben. „Für das hier!“ Ein Lä­cheln legte sich auf ihre Lippen, während sie weiter sprach. „Und für vorhin.“

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Tag der Veröffentlichung: 20.04.2013

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