Kurz nach seinem dritten Geburtstag fing er an, Schwierigkeiten zu machen. Hatte es vorher nur das übliche Geplänkel gegeben, wenn es Zeit war, schlafen zu gehen, war es nun mit den gemütlichen Abenden der kleinen Familie endgültig aus.
"Mag nicht", brüllte er und bemühte sich vergeblich, den Armen seiner Mutter zu entkommen. "Will nicht! Will nicht! Unter meinem Bett! Unter meinem Bett!"
"Was ist unter deinem Bett?" fragte seine Mutter verständnislos. "Da ist nichts. Komm nur und sieh selbst!"
Sie nahm den widerstrebenden Tobias an der Hand und ging mit ihm ins Kinderzimmer. An der Wand stand das weißlackierte Kinderbett aus Holz mit warmen, rotkarierten Bettdecken. Sie holte die Taschenlampe aus dem Schrank und leuchtete unter dem Bett umher.
"Siehst du", sagte seine Mutter. Da ist nichts. Gar nichts."
Sie wurde neugierig. "Was ist denn so Schreckliches unter deinem Bett, Tobias?" fragte sie den Kleinen.
"Ein Ungeheuer! Hat gesagt, will mich beißen!" brüllte Tobias erneut und versuchte zu entfliehen.
Seine Mutter wurde ärgerlich. "Da ist nichts unter deinem Bett, Tobias", sagte sie bestimmt. "Wir haben es beide gesehen. Und jetzt wirst du schön schlafen. ich will deinem Vater nicht erzählen müssen, dass du mir heute solche Schwierigkeiten gemacht hast!"
Von nun an herrschte einige Tage Ruhe. Tobias war ohnehin ein eher stilles Kind und forderte ernstere Erziehungsmaßnahmen nur selten heraus. Erst als ihn - vier Abende später - sein Vater zu Bett bringen wollte, fing es erneut an.
Sein Vater war an diesem Abend von der Arbeit im Versicherungsbüro müde und erschöpft, wie fast immer. So gab er Tobias kurzerhand einen Klaps auf den Po, steckte ihn ins Bett, löschte das Licht und ging hinaus. Die Tür schloß er an diesem Abend ganz, ließ sie nicht wie sonst einen Spalt weit offen. Müde schüttelte er den Kopf. Was hatte der Junge nur? Ein Ungeheuer unter seinem Bett! Lächerlich! In seinem Alter ließen sie Tobias weder Fernsehen noch DVDs gucken, noch erzählten sie ihm irgendwelche Schauermärchen.
Er lauschte an der Tür. Außer dem leisen Schluchzen von Tobias, der sicher bald einschlafen würde, war nichts zu hören.
Als seine Mutter ihm am nächsten Morgen beim Waschen half, bemerkte sie zwei daumennagelgroße blaue Flecken - ungefähr einen Zentimeter unterhalb jeder Brustwarze einen. "Ungeheuer", sagte Tobias darauf. "War unter meinem Bett".
"Blödsinn, Ungeheuer", schimpfte seine Mutter. "Du hast gestern irgendwo nicht aufgepasst. So einfach ist das."
In der nächsten Nacht erschien Tobias gegen halb drei im Schlafzimmer der Eltern und behauptete, nicht schlafen zu können. "Unter meinem Bett. Das Ungeheuer", murmelte er verstört.
Seine Mutter brachte ihm selbstverständlich wieder ins Bett und befahl ihm, sofort einzuschlafen. Ohne eine gewisse Strenge kam man in der Erziehung nicht aus. Man durfte kleinen Kindern nicht einfach jede Phantasie durchgehen lassen. Sonst schoß sie allzu sehr ins Kraut, und eines Tages konnten sie Wirklichkeit und Phantasie nicht mehr auseinander halten.
Eines Abends hatte Tobias sie so sehr genervt, dass er von seinem Vater eine richtige Tracht Prügel erhalten hatte und ohne Abendessen und Gute-Nacht-Kuß ins Bett gesteckt worden war. In dieser Nacht hörten sie ihn schreien. Aber niemand ging zu ihm.
Am nächsten Morgen hing sein linker Arm seltsam verdreht herunter. "Was hast du denn da gemacht?" fragte seine Mutter fassungslos. "Unter meinem Bett", erklärte Tobias weinend. "Das Ungeheuer hat mir den Arm umgedreht."
Unruhig geworden, suchte sie noch einmal das gesamte Kinderzimmer ab, rückte das Bett von der Wand, sah zwischen den Kissen und Decken nach, guckte in die Schränke und rückte auch sie ab, um dahinter nachschauen zu können. Nichts war zu finden. Absolut nichts.
Am Abend erzählte sie ihrem Mann von der Geschichte. Sie war mit Tobias zum Arzt gegangen, und der hatte eine schmerzhafte Verstauchung festgestellt. Tobias Vater schäumte vor Wut und Tobias erhielt am nächsten Morgen, bevor sein Vater zur Arbeit ging, die zweite Tracht Prügel wegen des Ungeheuers.
Den Tag über war er still und verschlossen, spielte meistens in seinem Zimmer, wo er vorwiegend mit Malen beschäftigt war. Einmal trat seine Mutter in sein Zimmer und blickte ihm über die Schulter. Rasch versuchte er, ein anderes, bereits benutztes Blatt seines Zeichenblocks über das angefangene Bild zu ziehen. Aber seine Mutter war schneller. Schweigend hielt sie die Zeichnung in der Hand. Ein kreisrundes, tiefschwarzes Gebilde war auf dem Bild zu sehen, mit glutroten Augen. Dazu hatte das merkwürdige Wesen mindestens achtzehn Beine und einen riesigen Rachen, aus dem liebevoll gestaltete, mörderische Zähne hervorblitzten. "Und?" fragte die Mutter. "Was ist das, Tobias?"
Tobias schwieg trotzig. Seine Mutter bemühte sich, einen ruhigen Ton anzuschlagen. "Wenn es das sein soll, was sich angeblich unter deinem Bett versteckt hält", sagte sie und zerriß das Blatt in kleine Fetzen, die sie in ihre Schürzentasche stopfte, "sagen wir deinem Vater besser nichts davon. Und du hörst jetzt zu malen auf und hilfst mir in der Küche."
Als sie Tobias an diesem Abend ins Bett brachte, zitterte er vor Angst am ganzen Leibe, weinte heftig und flehte seine Mutter an , doch heute Nacht bei ihnen schlafen zu dürfen.
"Hat gesagt, heute sterb' ich", schluchzte er. "Mami, was ist Sterben? Was schlimmes?"
Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: "Nein, nein. Sterben - das ist was sehr Schönes. Da siehst du mal, dass du überhaupt keine Angst vor dem Ungeheuer zu haben brauchst!"
In dieser Nacht schliefen sie beide sehr unruhig. Ruhelos wälzten sie sich im Bett hin und her, bis sie aufstand, um ihren Mann nicht noch ärgerlicher zu machen, der sie schon zweimal angeknurrt hatte, nun endlich Ruhe zu halten.
Er hatte morgen zwei wichtige Abschlüsse zu tätigen und musste einen klaren Kopf haben. Vorsichtig schlich sie in die Küche, um ein Glas warme Milch zu trinken. Als sie an Tobias Zimmer vorbei kam, blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Widerwärtige Geräusche drangen aus dem Raum. Ein heiseres, wütendes Knurren erfüllte die Luft, dazu schneidend scharf das hohe, hilflose Wimmern von Tobias. Sie hörte ein dumpfes Poltern, so als zerre jemand an einem Körper herum. Zitternd griff sie nach der Türklinke.
Nur einen winzigen Spalt weit hatte sie die Tür geöffnet, als aus dem wütenden Knurren ein rasendes Gebell wurde. Einer Ohnmacht nahe schloß sie die Tür wieder. Durch den Türspalt hatte sie im Halbdunkel des Zimmers eine dunkle, sich windende Gestalt wahrgenommen, die sich in Tobias Bett breit gemacht hatte. Wo war Tobias? Wie von Furien gehetzt, rannte sie den Flur entlang zurück ins Schlafzimmer, riß ihren Mann aus dem Bett, der ihr, noch völlig verschlafen, in den Flur folgte. Hastig berichtete sie ihm , was geschehen war. Das Wimmern hatte jetzt aufgehört. An seine Stelle war ein scheußliches Knirschen, ein widerliches Schmatzen getreten, nur unterbrochen von einem lang anhaltenden Schlürfen. Plötzlich löste sich ein Schrei aus diesen Geräuschen, ein Schrei von solcher Grausamkeit, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatten. Das Schmatzen wurde zu einem rasenden Stöhnen, dann hörten sie wie jemand mit dumpfem Aufprall mehrmals etwas gegen die Wände schleuderte. Dann herrschte Stille. Drinnen schien sich nichts mehr zu regen. Ihr Mann griff nach der Klinke, drückte die Tür auf und schaltete das Licht ein.
Sprachlos starrten sie auf das entsetzliche Bild, das sich ihnen bot. Als Tobias Mutter sein Ausmaß begriffen hatte, sank sie lautlos zu Boden. Ihr Mann reagierte überhaupt nicht darauf. Er machte noch ein paar Schritte, bis er mitten im Zimmer stand. Überall klebte Blut. An den Wänden, selbst an der Decke. Und unter dem Bett. In einer großen Blutlache lag das, was von Tobias übrig geblieben war.
Irgend etwas ... etwas Teuflisches hatte in rasender Wut Zähne und Klauen in seinen Körper geschlagen, hatte tellergroße Stücke heraus gerissen und an die Wände geschleudert . Sein Körper war zum Teil bis auf die Knochen entblößt. Ein Übelkeit erregender Gestank nach Blut hing in der Luft. Sein Vater wandte sich langsam um, trat auf etwas und hob es auf. Es war Tobias Arm. Sorgfältig bettete er ihn auf die Fensterbank.
Seine Frau war wieder zu sich gekommen.
Er hockte sich neben sie und sah sie hilflos an. Plötzlich versuchte sie Worte zu formen. Er blickte auf ihren Mund, versuchte zu verstehen. Und dann verstand er plötzlich.
"Unter meinem Bett", wimmerte sie mit einer Stimme, die nicht mehr ihre war.
Tobias kreischte plötzlich. "Unter meinem Bett! Das Ungeheuer! Hilf mir, Mami! Bitte, hilf mir!"
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2009
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