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Reiner und ich hatten zu den ersten gehört, die sich über Internet in die Listen eingetragen hatten. www.rento-kill.de lautete die online-Adresse, die uns zu neuem Wohlstand verhelfen sollte. Und wir waren dann auch am Montag, an den Ausgabeschaltern der Arbeits- und Sozialagenturen bei den ersten. Kurz nach sechs Uhr früh hatten die Angestellten mit der Verteilung der Waffen begonnen: Der Ansturm war gewaltig.

Nachdem der Beamte unsere ID-Karten mit dem Computer überprüft hatte, reichte er uns nacheinander zwei Schnellfeuergewehre über den Tresen. „Sie wissen ja“, erklärte er, während er irgendwo weiter unten herumkramte und jedem schließlich noch zwei Packungen mit Patronen gab. „Das Sozialministerium erhöht beim Nachweis von 50 abgeschossenen Objekten die folgenden Einzelprämien um jeweils zehn Prozent. „Wer zuerst schießt, kassiert zuerst. Geben Sie jeden Abschuss mit der dazu gehörigen ID-Nummer in ihren Computer oder in ihren Laptop ein. Und gucken Sie bei Ihrer Internet-Anmeldung noch mal nach, ob Sie Ihre Kontonummer mit Bankleitzahl angegeben haben. Sonst sehen Sie kein Geld.“

Reiner öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber der Mann hinter dem Schalter kam ihm zuvor: „Keine Barzahlung“, sagte er knapp. „Das Geld wird überwiesen. Online. Der Nächste bitte.“

Wir hingen uns die Gewehre über die Schulter und drängten uns an der wartenden Schlange vorbei zum Ausgang. Draußen schien die Sonne: Es versprach, ein warmer Junitag zu werden. Reiner wirkte auf einmal unschlüssig. „Und jetzt?“ fragte er, als wir auf der Straße standen. Ich zuckte mit den Achseln. „Gehen wir erst mal einen trinken“, schlug ich vor, „Das erhöht die Treffsicherheit.“ Reiner erklärte sich einverstanden, und so suchten wir die nächste Kneipe auf und begannen uns einen Schlachtplan zurecht zu legen.

„Wie teilen uns die Stadt in zwei Hälften“, meinte ich, „du fängst hier im Süden an, während ich den Norden übernehme.“

Reiner blickte mich misstrauisch von der Seite an. „Willst du mich verscheißern? Der Norden ist die bessere Gegend, das weißt du ganz genau! Da gibt’s allein fünf Alten- und Pflegeheime und das Großklinikum mit angegliederter Siechenabteilung!“

Ich wehrte sanft ab. „Reg’ dich nicht künstlich auf“, erwiderte ich. „Morgen tauschen wir die Regionen und außerdem – hier im Süden haben die meisten Alten das noch gar nicht mitgekriegt. Die laufen dir noch wie von selbst vor die Flinte.“

Wir machten aus, uns gegen halb eins in unserer Stammkneipe „Zum Alten Kämpfer“ zu treffen. Um Erfahrungen auszutauschen und vor allem, um festzustellen, wessen Trefferquote am höchsten war. Der sollte dem andern dann eine Flasche Edelkorn ausgeben. Reiner stieg winkend in die nächste U-Bahn und dampfte ab.

Und ich ging gleichfalls zur Arbeit. „Rento-Kill – as much as you will!“ leuchtete es Rot auf Gelb von Mauern und Hauswänden. Die organisierte Tötung von Rentnern, von Menschen über sechzig war durchaus nicht geheim behandelt worden; im Gegenteil: Es handelte sich um ein staatlich finanziertes Regierungsprogramm, von dem man sich eine drastische Senkung der Sozialausgaben versprach. Auch erklärten Politiker ganz unterschiedlicher Parteien ganz offen, dass man großzügig darüber hinweg sehen werde, wenn versehentlich einmal ein 59-jähriger oder eine 56-jährige erlegt wurde. Jawohl, das Programm sei so angelegt, dass nur Leute über sechzig . . . aber schließlich, diese Leute würden ja irgendwann auch einmal sechzig, und so genau käme es nicht darauf an. Die sollten sich eben so lange in ihren Wohnungen aufhalten. Es gehe um das große Ganze.

Die Regierung sorgte dafür, dass automatische Schnellfeuergewehre und Maschinenpistolen (aus Bundeswehrbeständen) an alle interessierten männlichen Bürger zwischen achtzehn und fünfunddreißig ausgegeben wurden. Einzige Voraussetzung für den Erhalt einer Waffe war ein einwandfreier Leumund und selbstverständlich keine Vorstrafen. Dem von den üblichen Skeptikern vorgetragenen Hinweis, die Rentner könnten sich in abgelegenen Regionen in Sicherheit bringen, oder sich in ihren Wohnungen verschanzen, begegnete der Sozialminister in einer vielbeachteten und zur besten Sendezeit übertragenen Fernsehansprache mit der Erklärung, die von der Aktion betroffenen Zonen seien – nach Möglichkeit – von der Polizei hermetisch abgeriegelt worden und überdies würden ab sofort an Personen über sechzig keine Getränke und Nahrungsmittel mehr abgegeben werden. Strom und Wasser würde man abstellen. „Hunger und Durst werden sie auf die Straße treiben. Diese Maßnahmen fallen uns nicht leicht. Dennoch wünschen wir allen redlichen Schützen: Ihr guten Bürger - Feuer frei!!“

Selbst die Kirche schaltete sich ein: In einer vielbeachteten Rede des Erzbischofs von Limburg (seine Eminenz war 74, aber hier, wie in einigen anderen Fällen, griff eine Ausnahmeregelung des novellierten Abschussgesetzes (AbSchG § 3 Abs. 2 Ziffer 7), die Personen verschonte, die für Staat und Gesellschaft von unabdingbarer Wichtigkeit waren) . . . also, wie gesagt - der Bischof hatte in einer Ansprache zu bedenken gegeben, dass ein würdiger und sauberer Tod einem Leben in Armut und Schmutz zweifellos vorzuziehen sei. Die evangelische Landeskirche ließ durch einen Pressesprecher eine Erklärung verlesen, in der das zutiefst soziale Moment des sozialverträglichen Frühablebens - man versuchte, den Begriff „erschossen werden“ zu vermeiden - besonders betont wurde.

Überdies habe ja schließlich auch unser Herr Jesus Christus den Kreuzestod im Alter von rund 32 Jahren erlitten und seinen Angehörigen oder Anhängern somit jegliche Kosten für seine Altersversorgung erspart.

Ich schlenderte langsam in Richtung Stadtzentrum, eine halbe Stunde lang, ohne außer ein paar spielenden Kindern eine einzige Menschenseele zu entdecken. Ich konnte warten. Irgendwann mussten sie aus ihren Löchern kommen.

Das erste Objekt erwischte ich zwischen einigen Mülltonnen eines Wohnblocks der Gerhard-Schröder-Siedlung, wo ein kleiner, weißhaariger Mann nach essbaren Abfällen suchte. Er bemerkte mich gar nicht. Ich schoss, ohne lange zu zielen und traf ihn genau zwischen die Schulterblätter. Langsam sackte er an einem der Müllbehälter in sich zusammen. Als ich zu ihm kam und ihn mit dem Gewehrlauf kurz antippte, war er bereits tot. Ein guter, ein sauberer Schuss. Ich war zufrieden mit mir, nahm seine ID-Karte an mich und gab die notwendigen Informationen in meinen Laptop ein. Ein Druck auf die Taste, und mein erstes Objekt war registriert. Meine erste Prämie am ersten Tag: Ein gutes Gefühl.

Allmählich machte mir die Geschichte richtiggehend Spaß. Die Alten liefen mir wirklich wie von selbst vor die Flinte. Nur ganz selten kam es zu Feuergefechten zwischen mir und anderen Schützen, die sich das selbe Ziel ausgewählt hatten. Aber ich blieb immer Sieger.

So vergingen die Stunden. Allmählich wurde es Zeit, mich wieder mit Reiner zu treffen. So pilgerte ich zu unserer Stammkneipe, bestellte mir ein Bier und legte einen ordentlichen Stapel ID-Karten vor mich hin. Reiner kam bereits fünf Minuten nach mir und legte mit Schwung einen ganzen Packen von ID-Karten auf den Tisch. „43“, sagte er stolz. Es wären beinahe 44 geworden, aber einer ist mir durch die Kanalisation entkommen.“

„Hättest sowieso gewonnen“, brummte ich verdrießlich. „Bei mir waren’s nur 37.“ „Gräm’ dich nicht, mein Alter“, meinte Reiner jovial und schlug mir auf die Schulter. „Das wird schon noch werden!“

Ich war fest entschlossen, mich nicht zu ärgern. 43 zu 37! Das würde sich bestimmt noch ändern lassen. Mein Zeigefinger juckte. Und wir taten etwas für die Rentenreform. Endlich mal was Glaubwürdiges.




Impressum

Texte: Rechte bei Dieter Mank
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für den Alt-Rüsselsheimer und Rentensicherer Norbert Blüm

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