Dies ist keine traurige Geschichte von der letzten Weihnachtsgans, die mein Großvater je verzehren durfte, sondern ... aber ich will der Reihe nach erzählen. Die Ereignisse geschahen zu einer Zeit, als mein Opa noch darauf bestand, unsere Weihnachtsgans nicht nur höchstpersönlich in der Frankfurter Kleinmarkthalle zu erwerben, sondern sie auch in unserer Küche selbst zuzubereiten. Wie fast immer waren er und Oma um den 20. Dezember herum von Düsseldorf nach Frankfurt gekommen – mit viel Barem für „die Buwe“ im Gepäck, das aus Fünf- und Zweimarkmark-Stücken bestand und für das wir Weihnachtsgeschenke für die Eltern und Großeltern einkaufen durften.
Ein oder zwei Tage, nachdem sie angekommen waren, saß Opa beim „zweiten Frühstück“ (einem Stück Presskopp, Brot und seinem Gläschen Korn) und sah meiner Mutter voller Interesse dabei zu, wie sie das Mittagsessen (heute sollte es Spiegeleier mit Spinat und Salzkaroffeln geben) vorbereitete. Nach einer Weile räusperte er sich: „Hildche, hättste was degeesche, wann ich ... wann isch unser Weihnachtsgans widder emaa selber zubereite dät? Isch mein ... frieher hab isch’s doch aach immer gemacht ... waaßte’s noch, Hildsche?“
Meine Mutter schwieg und blankes Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen. In ihrer Küche sollte ein anderer herumfuhrwerken? Die Schubladen öffnen, Küchengeräte herausnehmen und vor allem ... Dreck machen?
„Ei, Obbasche willste derr dann werklisch die Awweit mache ... Guck emaa, ihr zwaa, die Omma un du, ihr seid doch hier praktisch in Urlaub und sollt’s eusch emaa richdisch schee mache. Lass misch doch ruhisch die Kischeawweit mache! Isch hab’s doch von dir gelernt un kann’s doch eischentlisch auch ganz gut. Geh du ruhisch mit de Omma e bissje spaziern, und isch du in dere Zeit die Gans ferdisch mache ...“
Opa wurde ärgerlich. „Liewer Gott, isch bin mit de Omma sämtliche Straße un Gasse von Sachsehause un de umlieschende Ortschafte uff un ab gelaafe! Isch kann ja bald net mehr! Un immer dut se vor alle Schaufenster stehe bleiwe, bis se ferdisch mit Gucke is. Ei, isch bin doch kaan Hannebambel! Naa, isch will jetzt ma was annersder mache. Un so e Gänsje brade, des kann isch sehr gud! Isch hab’s ja frieher oft genuch gemacht!“
Meine Mutter wusste, dass er gerade anfing, sich in eine ausgesprochen cholerische Erregung hinein zu steigern, die ihm hinterher immer am meisten leid tat, die aber auf den Weihnachtsfrieden der Familie höchst unerfreuliche Auswirkungen haben konnte. Sonst immer darauf bedacht, innerhalb der Familie – und besonders an Weihnachten – Frieden und Harmonie walten zu lassen, hatte unser Opa sich selbst nicht immer unter Kontrolle. „Na, gut, Babba“, sagte sie schließlich zögernd. „Dann mach’s hald ...“ Aber mein Opa war schon ein wenig zu sehr ins cholerische Klima abgerutscht, als dass er eine solche Bemerkung unkommentiert auf sich sitzen lassen konnte.
„Was haaßt hier ‚Machs hald!’“ brauste er auf. „Isch werd’s eusch alle schon zeische, dess ich e Weihnachtsgans brade kann! Ei, isch hab schon Gäns gebrade, da warst du noch gar net uff de Welt. ‚Mach’s hald’ ... Also, isch waaß werklisch net, womit ich des von meiner eischene Dochder verdient hab un außerdem ...“
Am Tag darauf wurde die Weihnachtsgans gekauft. Mein Opa begab sich zu diesem Zweck in die Kleinmarkthalle; allein, denn dazu konnte er nach eigenem Bekunden niemanden gebrauchen („Die Gans un isch, mir misse dadebei allaans sein!“) und brachte eine Gans von respektablen sechs Pfund angeschleppt. „Die is awwer noch net ausgenomme, Hildsche. Awwer des sin dann eh nur e paar Grämmscher.“ „Was“, meinte meine Mutter entsetzt, „noch net ausgenomme? Es gibtere doch längst schon ferdisch ausgenommene Gäns! Bestimmt aach in de Kleinmarkthall!“
„Jawoll, die gibt’s“, sagte mein Opa stolz. „Isch hab lang suche misse, bis wo isch en Stand gefunne hab, der wo die Gäns noch net ausgenomme aagebode hat ... sozusaache im Orschinal.“
„Der hat aach noch dadenach gesucht!“ stöhnte meine Mutter sehr zum Mißfallen meines Großvaters, der glaubte, eher ein Lob für seine langwierige und schließlich sogar belohnte Suche nach einer original nicht ausgenommenen Weihnachtsgans verdient zu haben.
„Des middem Ausnemme machste abber schee allaans“, meinte meine Mutter noch, „des stinkt immer so forschtbar“. „Bei mir stinkt gar nix, Hildsche“, sagte er mit drohendem Unterton, „du werst zufridde sein!“
Der große Tag war hereingebrochen. Am 24.12. nachmittags saß unser Opa ganz allein in der Küche und entfernte sorgfältig die Innereien der Gans. Schließlich hatte er das früher zu Hause auch immer gemacht ... und das nicht schlecht. Pfeffern, mit Salz einreiben, das „Füllsel“ fertig machen – so eine Gans war ja eigentlich ganz einfach zuzubereiten! Zum Schluß noch die Gans zunähen, das beherrschte er aus dem Effeff. Immerhin konnte er das ja schon damals ... und genäht hatte er in seiner Gefangenschaft während des ersten Weltkriegs weiß Gott noch ganz andere Sachen! Jawoll ja! Mit großen, eiligen Stichen nähte mein Großvater die Gans wieder zusammen und schob sie in den vorgeheizten Backofen. „So, des wär erledischt“, freute er sich. „Dem Hildsche wer ich schon zeische, dess ihrn Vadder immer noch e orntlich Gans zuweesche bringt!“
Die Gans befand sich kaum zwei Stunden im Backofen, die Familie saß im Wohnzimmer und bemühte sich, an Heiligabend so etwas wie Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Plötzlich hob meine Mutter witternd ihre Nase. „Es riecht so komisch“, behauptete sie. „Naa“, meinte meine Großmutter trocken. „Des stinkt hier ganz gewaldisch – so tranisch erschendwie. Des muss was mit de Gans sei. Riechste des net, Jakob?“
Meinem Opa wurde außerordentlich schwül unter seinen weißen Haaren. „Naa, wieso?“, sagte er vorsichtig. „Eischentlich riech isch nix ...“
Meine Mutter stand als erste auf und rannte in die Küche. „Des kommt aussem Backofe!“ rief sie, als die Tür zur Küche geöffnet hatte. „Nadierlisch isses die Gans! Was hasten da nur widder gemacht, Babba?“
Meine Oma schnupperte prüfend in der Luft herum. „Haste den Voochel etwa net richdisch ausgenomme, Jakob?“ fragte sie drohend. „Des riecht ganz so, wie wenn de die Drüs’ hinnerm Berzel drin vergesse hättst. No, des Vieh könne mer wegschmeiße ...“ „Un wo kriehe mer jetzt e anner Gans her?“ fragte mein stets hungriger Bruder Werner vorsichtig. „Gar net“, sagte meine Mutter finster. „Heut is Samsdaach. Morje is Sonndaach. Nix is mehr mit ere Gans. Jetzt könne merr die Rindswerschtscher esse, die wo noch im Kiehlschrank sin. Un nur, weil de Obba gemaant hat, er könnt e Gans besser brate als wie isch ... Ach Gott, jetzt hawwe merrs! Jetzt sin merr so weit ...!“ Opa war vernichtet und fiel förmlich in sich zusammen.
Mein Vater, der sich zu der verunglückten Weihnachtsgans bisher noch nicht geäußert hatte, stand jetzt unter der Tür und sagte mit verhaltenem Grinsen: „Jaja, da kammersch widder ma sehn: Eine jut jebratene Jans is eine jute Jabe Jottes!“ Das hätte er nicht sagen sollen.
„Des brauch isch merr von dir net saache zu lasse, Kalleinz! Ei, wann du disch so gebärdest, dann ... dann ... dann geh isch hald eweck!“ Sprach’s, stürmte aus der Küche, schnappte sich im Flur seinen Mantel von der Garderobe und war draußen.
Meine Mutter wollte ihm nacheilen, doch die Oma hielt sie zurück. „Bleib nur hier, Hildsche. Der geht jetzt e halb Stund spaziern un rescht sich uff – un widder ab. Heb em nur vier von dene Rindswerschtcher un mindestens drei Breedscher uff. Der werd en ganz scheene Hunger hawwe, wenn er widder haamkimmt ...“
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009
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