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Es muss Anfang der sechziger Jahre gewesen sein – 1960 oder ’61. Auf jeden Fall war es wieder mal Weihnachtszeit, und es war kalt, saumäßig kalt. Die Temperaturen lagen ungefähr bei 20 Grad unter Null. Mein Vater war ungeheuer stolz darauf, das Weihnachtsgeschenk für meine Mutter diesmal rechtzeitig (das hieß bei ihm mindestens 24 Stunden vor Heiligabend, wenn der nicht gerade auf einen Montag fiel) besorgt zu haben. Ein wunderschönes doppelstöckiges Tablett mit wunderschönen Blumen und Früchten auf PVC-Folie gedruckt, das dann voll beladen mit Speisen und Getränken herein getragen und den Gästen präsentiert werden konnte.

Mein Bruder Werner und ich hatten ihm dabei geholfen, denn wegen seiner Beinamputation hätte er gewisse Schwierigkeiten gehabt, dieses wundervolle Geschenk (über das sich meine Mutter bestimmt freuen würde) zum Auto zu transportieren.

Im Café Vipra in Frankfurt (das mit den vielen Tieren: Äffchen, Eidechsen und Vögel) tranken wir Kaffee und Schokolade, rauchten (natürlich nur mein Vater) zwei oder drei Zigaretten und ließen diesen Nachmittag gemütlich ausklingen. Mein Vater fühlte sich so richtig wohl. Er hatte eigens zwei Tage vor Weihnachten bereits Urlaub genommen, um sich in aller Ruhe aufs Fest vorbereiten zu können.

Aber mit der Ruhe war es nicht weit her, gerade um diese Zeit vor Weihnachten nicht. „Mir müsste jetzt doch emaa langsam heimfahrn, Babba. Zum Awendesse solle mer pinktlich sein, hat die Mutti gesacht“, bemerkte mein Bruder, obwohl wir uns an den vielen Tieren gar nicht satt sehen konnten, und ich meinte noch: „Omma un Obba warte ja auch, un de Obba reecht sich doch so leicht uff!“

Mein Vater wurde nachdenklich. Offenbar dachte er an die früheren, oftmals heißen, politischen Diskussionen mit dem leicht erregbaren Großvater, und dass meine Mutter und meine Großmutter ihre liebe Not hatten, den aufgeregten Opa dann wieder zu besänftigen. Meine Mutter hatte dann ohnehin irgendwann mal wegen ihres Vaters über die gesamte Familie ein generelles Politikdiskussionsverbot verhängt. Damit hoffte sie, den Weihnachtsfrieden zu bewahren.

Schließlich winkte mein Vater ab. „Des werd schon net so schlimm wern mit em Obba. Ich trink uff alle Fäll noch en Kaffee. Wollt ihr auch noch was?“

Prompt kamen wir zu spät. Gegessen wurde bei uns um halb sieben, wir tauchten irgendwann kurz nach Sieben auf. Mein Vater, den die offenbar zu erwartende Auseinandersetzung mit seiner Frau Hilde nun doch etwas beunruhigte, meinte zu uns: „Kommt, ihr Buwe, des Tablett lasse mer im Kofferraum, des hole mer später. Außerdem wüßt ich gar net, wo mer des noch versteckele sollt!“ Da hatte er Recht, das Ding war viel zu groß, um in einer Dreizimmer-Wohnung, in die sich jetzt sechs Personen teilten, verborgen gehalten zu werden, vor allem vor meiner stets neugierigen Mutter.

Die reagierte im Übrigen wie erwartet: „Musste dann schon widder so spät komme, Kalleinz? Un aach noch mit de Buwe debei, was e Glick, dess die Ferie morje anfange! Un außerdem weißte doch, dess de Opa sich so leicht uffreescht!“ Opa hockte mit grämlicher Miene auf der Couch, atmete schwer und schwieg sich aus. Die Oma sagte nur: „Ach des mescht doch nix, Hilde! Hauptsach, sie sin all widder da!!!“ Wir kriegten rasch noch was zu essen, dann durften wir noch bis zehn Uhr abends aufbleiben – weil ja Ferien waren – und mussten dann ins Bett. Das wunderschöne, doppelstöckige Tablett ruhte immer noch friedlich im Kofferraum.

Am nächsten Tag – dem 23.12. – herrschte so viel Hektik, dass wir das Weihnachtsgeschenk für meine Mutter vollkommen vergaßen. Traditionsgemäß wurde an diesem Tag der „Christbaum“ gekauft, was meinem Großvater oblag, den wir beiden Enkelsöhne begleiten durften. Dieser Einkauf ging am Affentorplatz in Frankfurt-Sachsenhausen vor sich und war jedes Mal eine spannende Angelegenheit. Vor allem für die Christbaumverkäufer, die allesamt recht schräge Vögel waren, aber meinem Großvater in punkto Strategie, Taktik und Verhandlungsgeschick in keiner Weise gewachsen waren: Der eine Baum war ihm zu kurz, der andere zu lang, der dritte hatte zu viele Äste („Da sieht mer ja die Kerze gar net mehr!“), der vierte zu wenig Äste, der fünfte war zu krumm gewachsen und der sechste zu gerade („Den könne mer net brauche, der sieht ja aus wie kinstlich!“). Ich glaube fest daran: Sämtliche Christbaumverkäufer am Affentorplatz waren heilfroh, als mein Opa mit seinen beiden Enkeln und dem schließlich doch noch gefundenen, weltweit schönsten aller Christbäume von dannen zog.

Dann musste die Weihnachtsgans zubereitet werden, worüber sich meine Mutter und mein Opa regelmäßig in die Haare kriegten. Opa wollte bei der Zubereitung der Gans dabei sein („Des hab ich doch frieher immer gemacht, gell, Hilde, des waaßte doch noch!“) aber in Hausfrauen-Angelegenheiten verstand meine Mutter keinen Spaß, auch bei ihrem Vater nicht. Sie einigten sich dann meistens darauf, dass Opa die Gans in der Kleinmarkthalle kaufen durfte, meine Mutter sie aber dann zubereitete – wobei dann allerdings immer noch kleinere Kompetenzrangeleien auftraten.

An Weihnachten kamen Oma und Opa aus Düsseldorf immer so für zwei Wochen zu Besuch; auch das hatte Tradition. Und so zogen wir Buben aus unserem Kinderzimmer aus, weil die Großeltern darin schliefen. Wir taten dies aber immer gern. Weil es erstens etwas Neues war, und weil zweitens der Besuch von Opa und Oma immer eine höchst spannende und recht lukrative Angelegenheit war. Allein die Weihnachtsgeschenke waren ihr Geld wert! „Die Buwe müsse doch was Gescheides kriehe ... Lasst uns nur mache ...“

Angesichts dieser Situation legte mein Vater doch ziemlichen Wert darauf, seiner Familie von sich aus auch etwas Besonderes zu schenken. Und so kam es dass wir mit heißen Ohren an der Tür lauschten, weil die Erwachsenen in den späteren Abendstunden, „wenn die Buwe im Bett sin“, unsere Geschenke ausprobierten. Die Spannweite ging vom erstaunten Ausruf meines Vaters „Ach, guck emaa, der fährt sogar mit Blaulicht“, was auf ein ferngelenktes Polizeiauto hindeutete, bis zur verzweifelten Frage meiner Oma „Wo is dann jetzt des gelbe Dösche, wo die Kärtcher nei geheern?“

Das Geschenk für meine Mutter aber ruhte immer noch friedlich im Kofferraum. Mein Vater und wir hatten es schlicht vollkommen vergessen.

Der Heiligabend kam heran. Er lief, wie gewöhnlich nach fest stehenden, traditionellen Regeln ab, zu denen es gehörte, dass „die Buwe“, wenn die Tür zum „Weihnachtszimmer“ geöffnet wurde, auf der Türschwelle stehen blieben und die erste Strophe von „Ihr Kinderlein kommet“ sangen. Unsere Mutter versuchte dabei, uns mit Augenrollen und verstohlenen Winken daran zu hindern, albern herum zu kichern. Wozu wir leider neigten, weil mein Opa beim Singen immer so schön brummte.

Nach dem Gesang stürzten mein Bruder und ich uns auf die Geschenke, während die Erwachsenen in etwas gemächlicherem Tempo ihre Gaben auspackten. In diesem Augenblick fiel meinem Vater plötzlich ein, dass das schöne, doppelstöckige Tablett für meine Mutter noch immer im Kofferraum seines Wagens lag. Da er ein findiger Kopf war, den so leicht nichts aus der Fassung bringen konnte, behauptete er kurz entschlossen: „So, und jetzt kimmt die größt’ Überraschung fir unser Hilde: Jetzt gehn mer all enunner zum Auto und hole ihr Geschenk. Da hab ich’s nämlich versteckelt, damit de’s net zu frieh find’st, Hildche!“

Meine Mutter wusste nur zu genau, dass er sie immer dann „Hildchen“ nannte, wenn es irgendetwas gut zu machen galt und meinte spitz: „Ach, Kalleinz, meinste dann im Ernst, mir däte jetzt all enunner dappe wege eim Geschenk? Ich maan ...“

„Hildegard, du werst’s bereue, wann de jetzt net mitgehst“, unterbrach sie mein Vater. Darauf hatte sie immer noch etwas auszusetzen ("Awwer net so lang, die Gans kennt sonst verbrutzele“!) Dann marschierte die Familie geschlossen die Treppe hinab, zum Auto meines Vaters, das in seinem Kofferraum die große Überraschung für unsere Mutter enthalten sollte. Als wir uns alle um das Auto versammelt hatten, merkte meine Mutter, dass es kalt war: „Kalleinz, jetzt mach halt emaa hin! Es is zwanzisch Grad unner Null, mir hawwe kaa Mändel aa un die Buwe friern!“

Mein Vater wollte die Sache jetzt auch abkürzen, verschob die große Geschenkrede auf später und schloss den Kofferraum auf. Das heißt, er wollte es tun. Aber das Schloss war zugefroren, und keine Macht der Welt brachte den Kofferraumdeckel zum Aufspringen. „Ja, des is jetzt e dumm Geschicht“, bekannte mein Vater. Er verfügte zwar über eine Art Enteisungsspray, aber das war klugerweise im Handschuhfach. Er probierte es mit seinem Feuerzeug, aber das half ungefähr soviel wie ein paar warme Gedanken am Nordpol.

Meine Mutter fror erbärmlich, wie wir alle übrigens. Dafür kochte sie jetzt über: „Also, des is doch werklich en Skandal mit dem Mann! Erst zerrt err uns in die Kält enaus, nur weil err sei Geschenk im Auto vergesse hat – un dann is de Kofferraum zugefrorn. Blamiert eim vor alle Leut! Och, der Mann awwer aach!“ Angesichts dieses Gewitters, das sich jetzt über ihm entlud, wirkte mein Vater nicht mehr so selbstsicher wie vorher. „Awwer, Hildche“, bemerkte er hilflos, „isch hab derr doch so e schee Tablett gekauft – e doppelstöckisches, guck emaa ... “, obwohl es rein gar nichts zu gucken gab. Der Kofferraumdeckel war zu und blieb zu – „pickelfest“, wie mein Vater sonst immer zu sagen pflegte.

Meine Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, von mir aus kann des drei- oder vier Stockwerke hawwe! Eigefrorn is es! So viel bin isch derr also wert! Un des vor de Buwe un vor meine Eldern un iwwerhaupt! Ach, es ganze Weihnachte is merr verdorwe!! Dess awwer aach immer mir so was bassiern muss!“

Mein Vater wollte richtig stellen: „Ei dir iss es doch gar net bassiert, Hildsche! Mir is es bassiert. Un es dut mer ja auch leid!“

Jetzt mischte sich mein harmoniesüchtiger Großvater ein, der nicht wollte, dass unser privater Weihnachtsfrieden sich in Zank und Streit auflöste: „Kind, err hat’s doch nur gut gemeint ... Jetzt gehn merr erst emaa widder enuff, dann probier ich’s später noch emaa ... Vielleicht kriehe merr’s ja doch noch uff ...“

Doch meine Mutter war jetzt endgültig eingeschnappt und ging ohne ein Wort zu sagen, wieder nach oben.

Es brauchte eine ganze Weile, bis sie sich herab ließ, wieder mit meinem Vater zu reden. Übrigens ... noch drei volle Tage dauerte es, bis die Kältewelle so weit abgeklungen war, dass der Kofferraum sich ohne Schwierigkeiten öffnen ließ. Am 27. Dezember, dem Geburtstag meiner Oma, nahm meine Mutter das doppelstöckige Tablett dann aus dem endlich aufgetauten Kofferraum und den Händen meines Vaters gnädig entgegen, nicht ohne die Bemerkung zu machen: „Hast derr ja werklisch Mieh gewwe, Kalleinz, mit deim doppelstöckische Tablett. Awwer eischentlich hätt e aafaches aach gelangt. Des hättste aach viel besser versteckele kenne!“

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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009

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