Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, hieß Paula, ist 103 Jahre alt geworden und war eine waschechte
Frankfurterin. Sie lebte rund die Hälfte ihres Lebens in Himmelgeist, einem Vorort von Düsseldorf, davon 18 Jahre mit ihrem Mann Jakob zusammen, der dann leider 1970 schon gestorben ist. Er war für mich der beste Großvater der Welt. Er war aber auch, bis in die Phase des „Endkampfs“ hinein, ein begeisterter Nazi. Um ehrlich zu sein: Noch ein bisschen über diese Phase hinaus. Er hatte, wie Millionen andere, an Hitler geglaubt. Nachdem er 1920 aus einer vier Jahre dauernden russischen Gefangenschaft im ersten Weltkrieg heimgekehrt war (er hatte die Oktoberrevolution so zu sagen vor Ort miterlebt), nahm er die wolkigen Phrasen Adolf Hitlers für bare Münze und trat schon vor 1933 in die Partei ein. Reden konnte man mit ihm nach dem Krieg darüber nicht. Er fühlte sich von Hitler persönlich verraten und hat ihm und der NSDAP nie verziehen, dass sie Deutschland im wahrsten Sinn des Wortes als einen kompletten Trümmerhaufen hinterließen.
Sein Schwiegersohn Werner bot ihm an, aus Wolfgang, dem Ortsteil von Hanau, wo die Familie damals lebte, nach Düsseldorf zu flüchten, wo mein Onkel ein Häuschen besaß. Jakob weigerte sich mit den Worten: „Ich hab nix böses gemacht, das müssen die andern (das Wort „Sieger“ vermied er geflissentlich) auch so sehen!“
Aber die „anderen“ sahen es doch etwas anders: In einer Spruchkammerverhandlung wurde er zu zweieinhalb Jahren Arbeitslager verurteilt.
Damals, zum Ende des Krieges wollte er davon aber noch nichts wissen. Fest entschlossen, fürs Vaterland das Letzte zu geben, stand er vom Abendbrottisch auf und verkündete der versammelten Familie (die außer Paula noch aus zwei erwachsenen Töchtern namens Hildegard und Herta bestand): „Morje geh ich zum Volkssturm!“ Und im Brustton der Überzeugung fügte er hinzu: „Ich werd’ schon defier sorsche, dass mir doch noch siesche! Mir könne des schaffe! Wenn mir all fest zusammehalte ...“
Meine Oma, die Paula, nickte nachdenklich und meinte: „Jakob, dadrüwwer redde mer noch. Jetzt gehste erst emaa in Keller enunner und holst merr noch e paar Briketts, dess merr net im Kalte hocke, wann die Amis uns e paar Löcher ins Haus schieße.“ Dieser Kellerraum diente seinerzeit auch als Luftschutzkeller.
Gehorsam machte sich Jakob auf den Weg, nicht ahnend, dass meine Oma, jede Deckung sorgfältig ausnutzend, hinter ihm herschlich. Im Keller angekommen, machte er sich an den in einer Ecke aufgestapelten Briketts zu schaffen. Leise, ganz leise schloss Paula die Tür, schob den Riegel vor und schloss das große Vorhängeschloss kurzerhand ab. „Was machst’n du da, Paula?“ rief mein Großvater durch die Tür. „Was soll’n des??!! Hast du etwa abgeschlosse? Mach sofort die Tür auf, hörst du? Sofort! Odder es raucht im Karton!“
Paula steckte den Schlüssel in ihre Schürzentasche und antwortete freundlich: „Jaköbsche, des is des Beste für dich! Mach derr’s gemiedlich, Decke sin da und zu Esse und zu trinke bring ich derr. Hier bleibste, bis de Kriesch aus is, heerste??!! Des kann eh nemmer lang dauern. Sobald die Amis hier im Städtche sin, lass ich dich raus. Ich hab genug von dem Scheiss-Kriesch, verstehste mich? Dein Fiehrer muss jetzt werklisch emaa ohne disch auskomme!“
„Aber, Paula!“ bat mein Großvater jetzt verzweifelt und hämmerte mit den Fäusten gegen die stabile Holztür. „Ich bin doch de Leiter vom Brandschutz! Ich hab doch Dienst heut’ Abend. Wer soll dann sonst ...?“ „Ach, mein Guder!“ erwiderte Paula mit sanftem Unterton, „Die Feuer misse heut Nacht halt emaa ohne disch gelöscht wern!“
Und ganz entschieden setzte sie hinzu: „Isch lass dich net frieher raus, als wie ich gesacht hab! Ich hab en Mann und zwaa erwachsene Töchter! Mei Famillje will ich behalde! Maanste denn, ich deet des alles uffs Spiel setze, weil du hier de Held spiele willst? Kimmt gar net in Fraach, Jakob!“
Und fort war sie. Die folgende Äußerung meines Großvaters kann unmöglich wiedergegeben werden, nicht allein der Lautstärke wegen, in der sie erfolgte.
Am Ende der Kellertreppe angekommen, drehte meine Oma noch einmal um und schlich auf Zehenspitzen wieder die Treppe hinab. Vor der Kellertür angekommen, brachte sie meinen immer noch tobenden Großvater durch ein leises Klopfen zum Schweigen und meinte mit zuckersüßer Stimme: „Zu Esse un zu Trinke kriehste nadierlisch. Un falls de ma musst, Jakob: In de Eck links stehn zwaa Aamer, die kannste benutze. Babbier schieb isch derr dann dorsch die Katzeklapp!“
Die Paula wollte ihren Jakob und die beiden Töchter ihren Vater behalten – und so kam es, dass wir den Krieg tatsächlich verloren, weil ein unendlich wichtiger Verteidigungsbeitrag des Volkssturms für drei Tage im Keller eingesperrt blieb.
Ich kann heute nur noch sagen: Danke, Oma!
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009
Alle Rechte vorbehalten