Die Zähne im Feuer
Es begann damit, dass meine Großmutter (die andere, die Mutter meines Vaters) in den fünfziger Jahren bei uns wieder einmal zu Besuch weilte. Ihren Mann hatte sie schon lange auf dem Bornheimer Friedhof („Mein Adolf hat doch sooo gern in Frankford gelebt ... “) begraben. Er stammte aus Gießen-Wieseck, war nach seiner Pensionierung als städtischer Beamter mit seiner Frau Elli wieder in die Provinz nach Gießen gezogen und hatte immerhin noch ein halbes Jahr dort gelebt, bevor er mit 65 an einer Herzschwäche verstarb.
Die Oma (sie wurde, weil sie in Gießen lebte, „Oma Gießen“ genannt, im Unterschied zur anderen Großmutter, welche „Oma Düsseldorf“ hieß) war gerne und so oft es ging, in „ihrem“ Frankfurt. Dort hatte sie eine Art „Höhere-Töchter-Erziehung“ genossen, Klavierspielen gelernt und sich im Übrigen auf die Ehe vorbereitet – oder was man damals so unter Vorbereitung verstand.
So oft es ihr eben möglich war, reiste sie dann nach Frankfurt und blieb zwei oder drei Wochen dort – sehr zum Leidwesen meines Vaters, dem sie, ehrlich gesagt, ziemlich auf die Nerven ging. Zum Beispiel konnte sie eine geschlagene Stunde lang neben seinem Schreibtisch stehen bleiben und ohne Punkt und Komma auf ihn einschwätzen. Zu antworten brauchte er gar nicht einmal – ihr „liebes Heinzebübchen“, eine Bezeichnung, die er schon als Kind gehasst hatte, war ja da und „hörte“ ihr zu. Seine Schwiegermutter, „die andere Oma“, war ihm viel lieber, die nahm er manchmal sogar mit in den Familienurlaub ... Jedenfalls drohte die Oma aus Gießen ab und an, wie ein Ungewitter, über unsere familiäre Idylle hereinzubrechen, und alle warteten im Grunde nur darauf, dass sie wieder abreiste.
Sie saß jetzt auf ihrem Lieblingssessel im Wohnzimmer, schälte Äpfel und schnitt sie in kleine Stückchen – für „Ebbelplätjzer“ (Apfelpfannkuchen), die die ganze Familie leidenschaftlich gerne aß. Dabei naschte sie ab und zu ein Apfelstückchen, was ihr sehr gut schmeckte. Allerdings gab es da ein Problem: Ihre Zahnprothese passte oben und unten nicht mehr so ganz genau, wackelte bedrohlich und erzeugte verschiedene Druckstellen, die sie schließlich höllisch schmerzten. Schließlich murmelte sie: „Ach, was soll des, ich bin ja hier so zu saache dehaam, wann eins von de Kinner odder die Buwe komme, is es aach net schlimm. Isch zieh mei Zäh aafach aus!“ Gesagt, getan: Sie entfernte die beiden Prothesen aus ihrem Mund und legte sie bedächtig neben den Haufen von Apfelschalen, der auf einer Zeitung ausgebreitet auf dem Couchtisch des Wohnzimmers lag. Essen konnte sie jetzt zwar nichts mehr, aber dafür nahm das Schälen und Zerkleinern der Äpfel einen rascheren Fortgang. Meine Mutter kam zwischendurch mal herein, um nach der Oma zu schauen.
„No, Oma, wie geht derr’s dann?“ fragte sie in bedächtigem Tonfall. „Och, gut“, meinte die Oma, um gleich zu fragen: „Wann kommt dann esch Kalleintsche heim? Widder scho speet wie geschdern?“
Meine Mutter seufzte stumm und ergeben. „Wahrscheinlich widder um die selb Zeid wie gesdern. Der muss ja schließlich die Breedcher verdiene ...“
„Verdient err dir net genuch?“ meinte meine Oma spitz. „Nach’m Kriesch wärn viele froh gewesche, wann sche scho en Mann gekrischt hädde wie mein Kalleintsch ... “
„Is ja schon gud, Omma“, gab meine Mutter um des lieben Friedens Willen nach. „Mir sin ja auch werklich glicklich, de Kalleinz un ich. Un unser Buwe ...“
„Wo stecke die dann iwwerhaupt?“ unterbrach sie meine Großmutter. „Geld könne sche ja immer brauche, awwer ma nach ihrer arm, ald Omma gucke ... da kann isch lang druff warde!“
„Awwer, Omma“, gab meine Mutter zu bedenken, „Es is grad emaa dreiverrdel Elf. Die sin doch noch in de Schul!“ „Da schitzt mer hier un schält schisch die Finger wund un du waascht immer allesch bescher!“ knotterte die Oma noch, während meine Mutter mit einem gottergebenen Seufzer wieder in ihrer Küche verschwand.
Die Oma Gießen mümmelte noch etwas vor sich hin, was wegen ihrer fehlenden und im Augenblick friedlich neben den Apfelschalen ruhenden Zähne nur schwer zu verstehen war und widmete sich wieder mit Feuereifer der Aufgabe des Schälens.
Das dauerte noch etwa zehn Minuten. Dann blickte sie sich kurz um, öffnete die Tür des Kohleofens, der friedlich vor sich hin bullerte, packte die Zeitung samt den Apfelschalen zusammen und warf sie ins Feuer.
„Scho, desch wär erledischt!“ freute sie sich. „Die Äppelscher schin geschält und klaa geschnidde, jetscht musch die Hilde nur noch de Deisch mache! Hilde!!“
Meine Mutter kam sofort herein und fragte, als sie bemerkte, dass ihre Schwiegermutter ihre Zähne immer noch nicht wieder drin hatte: „Ei, Omma, du hast dei Zähn ja immer noch net drin! Des sieht doch nix aus! Wo haste se dann hin geleescht?“
„Ei, die hawwe mer doch scho weh gedaa, da hab isch sche ma rausch genomme. Isch musch in Giesche unbedingt emaa bei mein Tschahnartscht un die Tschäh rischte lasche! Ja, in Frankfort wär desch wasch anneresch, da gibt’sch noch orntliche Tschahnärtscht, da kennt isch ... Ja, wo hab isch sche dann hie gedaan? Isch hab die Ebbel geschält un dann hawwe mer mei Tschäh aagefange weh tsche dun un da hab isch sche rausch genomme und hab sche ... ja, uff die Ebbelschale habb ich sche geleescht un die Ebbelschale“ – ihr Gesicht wurde weiß wie die Wand – „die Ebbelschale hab isch mit de Tscheidung, wo sche druff laache, insch Feuer geschmische.“ „Un dei Zähn aach“, bemerkte meine Mutter nur. „Jawoll“, sagte meine Großmutter tonlos, „Mei Tschähn aach.“
Am Abend wurde der Trauerfall der im Feuer verschwundenen Zähne sogleich meinem Vater vorgetragen. Und der äußerte sich so: „Des is jetzt e dumm Geschicht. Jetzt musste eintlich sofort nach Gieße, derr neue Zähn mache lasse. Isch kann disch morje, nach Birroschluss, schon fahrn, Omma! Du musst doch bald widder dei Zähn hawwe!“
Wohlweislich verschwieg er, dass unser Zahnarzt, der Herr Böreth, praktisch nur 150 Meter von unserem Haus entfernt wohnte und überhaupt: Er war bekennender Familienvater, wollte mit seiner eigenen Familie seine Ruhe haben und das gründlich. Geschickt umging er die Tatsache, dass es auch in Frankfurt und in unserer direkten Nähe tüchtige Zahnärzte gab. Das würde ja dann bedeuten, dass seine Mutter noch für etliche Wochen bei uns in Frankfurt weilen würde. Nein, nein – diese günstige Gelegenheit mit den „Zähnen im Feuer“ wollte er sich nicht entgehen lassen!
„Wo haste dann dei Zähn mache lasse, in Gieße?“ fragte er die Oma. „Ei, beim Dokder Pfotehauer, vor fimf Jahr“, meinte meine Großmutter kleinlaut. „Da musste widder hie, Omma“, sagte mein Vater eifrig, „Dess de Kiefer nach so rer lange Zeit, sich e bissi verännert hat, is klar. Omma, der Dr. Pfotehauer, der mescht derr so e strahlend schee Gebiss, dess de disch gar net mehr widder erkennst!
Meine Oma strahlte schon wieder – so weit das ohne ihre Zähne möglich war. Wenn ihr „Heinzebübchen“ von der zahnärztlichen Kunst des Dr. Pfotenhauer so überzeugt war, würde schon etwas dran sein ...
„Ja ...“, meinte sie nachdenklich, „Un wann der desch dann gemacht hat, dann komm isch noch emaa widder un bleib rescht schee lang bei eusch, damit misch all die Leut hier, die wo misch noch net kenne, mit meine neue Tscheeh schehe könne dun!“
Kennedy kam auch nach Frankfurt – und mein Opa kam mit
Kennedy kam wirklich, und mit ihm kam mein Großvater (der Opa „Düsseldorf“) mit seiner Paula, die ihm manches Mal in kritischen Situationen gehörig den Marsch blies und gelegentlich noch ganz andere Saiten aufziehen konnte. Jakob, mein Großvater, verehrte Kennedy ungemein und wollte unbedingt dabei sein, wenn er auf dem Frankfurter Römerberg zu den jubelnden Massen sprach. „Die Buwe“ – damit meinte er meinen Bruder und mich – „Die Buwe nemm ich mit, dene kann des gar nix schade!“ pflegte er gleich nach seiner Ankunft zu verkünden, worauf meine Mutter ihre Stirn in Falten zog und ihm kurz angebunden erklärte: „Awwer den Dieder lässte hier. Der Bub kommt da net mit, der is noch viel zu klein dadefier!“ „Was?“ brauste mein Großvater auf, „Zu klein? Der is doch schon bald Dreizehn!“
„No, un?“ entgegnete meine Mutter, „mit zwelf is der noch net alt genug, um sich in sone Menschemasse erumzudricke! Wer weiß, was em da bassiert. Nei, der bleibt hier und damit basta!“
Ich selbst hatte, nebenbei bemerkt, mein politisches Interesse noch nicht entdeckt und interessierte mich herzlich wenig dafür, welcher amerikanische Präsident wann, wo und wie die Bundesrepublik Deutschland bereiste, um sich von den Massen bejubeln zu lassen.
Mein Opa wagte noch einen letzten Versuch: „Mein Gott, Hildsche, isch hab schließlich auch mit dreizehn ...“
„Erstens bist du mit dreizehn hinner de Mädscher hergewese wie narrisch, Babba. Des hat merr es Tante Katherinsche ma erzählt. Un damals haste disch bestimmt net fir en Kaiser Wilhelm odder sonst was indressiert. Un zweidens is der Bub erst 12.“
Mein Großvater hatte durch Jahrzehnte lange Erfahrungen mit einer Frau und zwei Töchtern genug gelernt, um zu wissen, wann er sich weiblicher Logik geschlagen geben musste. „Ja, mein Gott“ seufzte er, „dann nemm isch hald nur des Wernersche mit.“
„Awwer bass uff en uff“, fügte meine Mutter hinzu, „der is immerhin bald 17 ...“
Ich selbst hatte, sehr zur Zufriedenheit meiner Mutter, keinerlei Anstalten gemacht, an Kennedy auf dem Römerberg irgendein Interesse zu bezeugen. Die Oma hatte meine Mutter und mich ins Café Schwarte nach Frankfurt-Sachsenhausen eingeladen (die Hausaufgaben durfte ich ausnahmsweise erst gegen Abend erledigen), um Kaffee zu trinken und Nusstörtchen zu essen, die in besagter Konditorei von geradezu legendärer Qualität waren. In meinem Alter von 12 Jahren tragen Nusstörtchen, wenn man sie in einer Bewertungsskala mit John F. Kennedy vergleichen will, eindeutig den Sieg davon. Und so saßen wir zu dritt im Café Schwarte, aßen und tranken und ließen es uns gut gehen. Im Radio lief derweil die Übertragung des Kennedy-Besuchs; im Augenblick sprach gerade Werner Bockelmann, der Frankfurter Oberbürgermeister. Jubel brandete auf, als Bockelmann fertig geredet hatte und John F. Kennedy drankam.
„No, was möösche unser zwei jetzt mache?“ sinnierte meine Mutter zwischen zwei Bissen ihres Nusstörtchens. „Was solle se schon mache?“ erwiderte meine Oma und genoss ihr Nusstörtchen ebenfalls. „De Jakob werd schon nix aastelle .... bei soviel Leut drum erum ...“ Irgendwann gingen wir nach Hause, allesamt pappsatt und zufrieden. Oma legte sich zu Hause ein halbes Stündchen hin, ich machte mich an die Aufgaben und meine Mutter bereitete so allmählich das Abendessen vor.
Kennedy hatte Frankfurt schon lange verlassen und mein Opa und mein Bruder mussten den Römerberg genau so lange verlassen haben. Aber sie trafen nicht zu Hause in der Darmstädter Landstraße 94 ein und meine Mutter war allmählich beunruhigt und erwog sogar, die Polizei zu rufen. Aber mein Vater und die Oma, meinten, dafür sei es noch viel zu früh. „Bassiert is nix, Hilde, ich kenn doch mein Jakob! Die komme bestimmt glei!“ „Hoffentlisch“, jammerte meine Mutter um viertel vor acht abends. „Ich habs ja gleich gesacht! Des dud kaa Gud, den Bub und sein Obba uff so e polidisch Veranstaltung zu lasse.
„Ei, du warst noch viel jinger, du un dei Schwesder Hedda, wo ihr uff so polidische Uffmärsch gange seid. Immer wann so en braune Scheich gesproche hat, wart err doch net mehr zu halte, ihr zwaa. ‚Es spricht der Fiehrer!’ Un fort wart err.“
„Des war was ganz anneres!“ protestierte meine Mutter. Damals hat merr ja ... ich mein, damals sin merr ja ... un iwwerhaupt ... un iwwerhaupt hat’s ewe geschellt!“
Es hatte wirklich geschellt. Draußen vor der Tür standen mein etwas geknickter Opa und mein älterer Bruder Werner, der voller Freude war. Meine Mutter sah ihren Vater mit einem Blick an, der einen Granitblock zum Zerbröseln hätte bringen können. „Was habt ihr dann schon widder aagestelltt! Warum kommt err dann so spät?“
„Hildche, es is ja nix bassiert“, entschuldigte sich mein Großvater. „Ich hatt nur e paar Schwierigkeite mit so eme ... mit so em Kerl. Der ... wollt uns aafach net vorbeilasse... un da hab ich en ... da hab ich dem en ganz klaane Stumper gegewwe, dess er halt e bissi uff die Seit gehe dät un da ...“
„Mutti, der Obba hat dem Kerl en gezielte Kinnhake gewwe!“ jubelte mein Bruder dazwischen. „Ei, de Platz vorm Römer war gestobbde voll un de Obba hat nur so en Olwel heeflich gebede, e bissi Platz zu mache, um uns durchzulasse. Da hatter gemeint, in seim Alter sollt err sich liewer vorn Fernseher hocke un net hier uff’m Reemer die Leut verrickt mache. Un dann hat er noch gesacht ...“
„Un dann hast du em en Kinnhake gewwe“, stellte meine Oma sachlich fest, auch um die Wiedergabe möglicher schlimmer Wörter zu verhindern. „Jakob, du ännerst dich dei ganz Lebe lang net mehr. Was issen denach bassiert?“
„Ei, da wollte se misch fesdhalde und die Polizei rufe. Der Kerl is ja erstemaa nemmer uffgestanne! Der hat en ganz glasige Blick gehabt. No, da hab ich des Wernersche geschappt un mich seitwärts in die Büsch geschlaache. Sozusaache.“
Meine Mutter war einer Ohnmacht nahe. „Die Polizei“, ächzte sie. „Hawwe se ... hawwe se euch erwischt?“
„Nadierlich net“, brummte mein Großvater. „Sonst wärn mer ja jetzt net hier. Uff jeden Fall haste dein Bub widder. Ohne dess em was fehlt. Un fir de Kennedy zu heern ... da hat sich des uff alle Fäll gelohnt. Krieht mer ja net jeden Daach zu heern, so was wie den!“
Die Paula, seine Frau, schüttelte den Kopf. „Jakob, Jakob“, seufzte sie. Mir dir is werklisch alles aans: Egal, ob beim Hitler odder beim Kennedy – Schwierischkeide kriehste jedes Mal!“
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Texte:
Umsetzung "Hofrat Eckermann"
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2009
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