„Alice …“
…
„Alice …!“
…
„Es ist Zeit für dich zurückzukehren. Das Wunderland braucht dich. Nahe ist es dem Verfall, aufs Neue ist es dem Untergang geweiht, Alice. Zieh die richtige Karte, mache den richtigen Zug auf dem großen Schachbrett deines Verstandes, Alice. …Nichts ist wie es war und alles ist, wie es scheint. Du musst die Wahrheit herausfinden, Alice, um deinet- und um unsertwillen.
Wirst du versuchen, dich deinem Schicksal zu entziehen oder wirst du dich deiner größten Angst stellen? Alice, … ist es dein Verstand, der deine Augen betrügt oder umgekehrt? Ist alles was du siehst, Wirklichkeit oder spielt dir jemand einen Streich? Zu welcher Antwort du auch immer gelangst, das Wunderland ist Wirklichkeit. Deine alleinige Wirklichkeit, dein Dasein, deine Vernunft und auch deine Unvernunft. Dein Verstand ist das, was dich hierher bringt und dein Verstand ist es auch, der dich von uns fernhält …
Alice, hörst du mich? Einen Schritt musst du noch gehen, Alice, einen einzigen. Du hast die Macht, es zu beenden. Doch findest du nicht den rechten Weg durch den Kaninchenbau sind wir verloren … für immer. Die Zeit drängt, die Uhr tickt. Such den Pfad der dich zu uns bringt und uns unsterblich macht. Der das Wunderland Unvergänglichkeit erlangen lässt …
Die Uhr tickt.
Tic, Tac …
Tic, Tac … Alice.“
- Cheshire Cat
1877
London, Rutledge Private Clinic and Asylum: Home of Wayward & Lost Souls
Erschrocken fuhr Alice aus dem Schlaf. Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihre Hände zitterten. Um sie herum war alles dunkel, doch plötzlich wurde sie von einem hellen Lichtstrahl erfasst, der sie blendete.
Ihre Augen rollten sich in ihren Höhlen, bis nur noch das Weiße zu erkennen war und ihr Oberkörper senkte und erhob sich immer wieder von Neuem. Sie hatte das Gefühl, jemand würde sie erdrücken, während ein stummer Schrei ihren weit geöffneten Lippen entfloh.
„Dr. Wilson, sie hat wieder einen Anfall!“
„Gebt ihr sofort das Beruhigungsmittel! Und legt ihr die Jacke an …“
Sie vernahm lautes Stimmengewirr um sich herum, das beinahe unerträglich in ihr Gehör drang und ihr das Hirn vernebelte.
„Alice … du musst zurück kommen …“
„Die Spritze. Sofort!“„Alice … die Zeit entflieht … du musst dich beeilen.“
„Haltet sie fest, sie darf sich nicht wehren. Die Hände, die Hände!“
Sie spürte einen heftigen Stich in ihrem linken Unterarm und plötzlich wurde es still um sie herum. Die Geräusche verflüchtigten sich und ihr Körper entkrampfte sich. Jeder einzelne Muskel, der zum Zerreißen gespannt gewesen war, löste sich und allmählich beruhigte sie sich gänzlich.
Kein Ton drang mehr an ihre Ohren, ihr Blick verschwamm. Langsam setzte die Wirkung der Beruhigungsspritze ein und ihre Lider wurden schwer. Das Licht verschwand wieder und sie schlief ein …
Sie schwebte. Alice fühlte sich leicht wie eine Feder und sogar ein schwaches Lächeln hatte sich auf ihren Lippen ausgebreitet, als sie an ein paar Wolken vorbeirauschte und schließlich festen Boden berührte.
Ihre grünen Augen suchten die Umgebung ab, die ihr so vertraut war. Sie war zurück, zurück im Wunderland. Unwillkürlich strich sie sich eine ihrer schwarzen langen Haarsträhnen hinters Ohr, während sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte.
Alice stand auf einem von Gras überwucherten Felsvorsprung. Unter ihr plätscherte ein prächtiger Fluss dahin, der in einen Wasserfall überlief und schließlich in einem großen glitzernden See endete. Der Himmel war blau und nur vereinzelt hatten sich weiße Wattewölkchen aufgetan. Skurrile Bäume und Büsche klammerten sich in gänzlich unnatürlichen Positionen an den massiven Felswänden fest und aus weiter Entfernung konnte man eine leise, wohlklingende Melodie vernehmen.
„Du bist zurück, Alice.“ Langsam wandte sich das Mädchen um und entdeckte das kätzische Grinsen, das sie so lange vermisst hatte. Die Grinsekatze schnurrte leise und ließ sich vor ihr im Gras nieder. Immer noch war ihr Körper nicht der, der er vor sehr langer Zeit einmal gewesen war. Sie war dünn und ausgemergelt, sodass ihre Knochen auf horrende Art und Weise zum Vorschein kamen. Ihre graue ledrige Haut war übersäht mit schwarzen Zeichen und ihre Pfoten waren große Klauen mit scharfen Krallen. Das einzige was stets gleich geblieben war, war das Grinsen, das ihr Gesicht zierte. „Ich wusste, du würdest kommen.“
„Du hast mich doch gerufen, Katze. Aber seit ich das Letzte mal hier war, hat sich doch nichts verändert.“ Alice' Stimme klang sanft und engelsgleich. Lange hatte sie sich selbst nicht mehr sprechen hören.
„Das, was du hier siehst, Alice, ist das was du sehen willst. Öffne deine Augen und du erkennst die Wirklichkeit.“
„Du sprichst mal wieder in Rätseln.“, gab Alice zurück und lief einige Schritte. „Ich habe den Puppenmacher besiegt und das Wunderland gerettet.“
„In der Tat – du hast den Puppenmacher besiegt.“, stimmte die Katze ihr zu und ließ ihren knochigen Schwanz mehrmals durch die Luft peitschen. „Doch bist du gleich danach aus dem Wunderland verschwunden, ohne zurückzublicken. Das was zerstört worden ist, blieb zerstört.“Alice blieb stehen und sah der Katze in ihre großen gelben Augen. Sie runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Zwei Jahre ist es her, Alice …“, fuhr die Katze fort. „… ist dir denn nicht bewusst, wo du dich befindest?“
„Deine Fragen werden von Mal zu Mal seltsamer. Ich befinde mich im Wunderland!“, entgegnete das schwarzhaarige Mädchen etwas verärgert, doch nur Sekunden nachdem sie es ausgesprochen hatte, veränderte sich das Wunderland.
„Sieh genauer hin …“, hauchte die Grinsekatze und verschwand mit einem leisen Lachen.
Das grüne Gras unter ihren Füßen verschwand und der Fluss bestand nun nicht mehr aus klarem Wasser. Eine dickflüssige, braune Essenz gluckerte die Klippe hinab und schwappte am Ende in einen See aus dunkler Brühe. Die Bäume verwandelten sich in kahle Laternen die nur wenig Licht spendeten und der Himmel verdunkelte sich. Der raue Stein der Felsvorsprünge und –wände wich einem harten grauen Betonboden. Hier und da sprenkelten blutverschmierte Fliesen den Boden und die schöne Melodie war verschwunden. Stattdessen war das durchgehende Tic-Tac tausender Uhren zu hören, die sich am Himmel an Sternen statt emporhoben.
Fassungslos blickte sich Alice um. Ihre grünen Augen waren weit aufgerissen. Sie konnte nicht glauben, was geschehen war. Weshalb hatte sich das Wunderland nicht wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückentwickelt?
Bedrückt blickte sie zu Boden und entdeckte dort etwas, das ihr noch weniger gefiel. Selbst sie hatte sich verändert. Sie trug zwar immer noch ein Kleid, doch glich dieses mittlerweile eher einer ummodelierten Zwangsjacke. Überall waren Nieten und Gürtelschnallen angebracht und sie glaubte auch, ihr eigenes Blut auf diesem Kleid zu sehen …
Dieses Wunderland gefiel ihr nicht. Das war nicht ihr Wunderland … zumindest hoffte sie das.
„Katze!?“, rief sie und blickte sich um. „Du sprachst von einem einzigen Schritt den ich gehen müsste. Wie meintest du das?“
„Es ist dein Wunderland, Alice.“, flüsterte ihr der Wind zur Antwort zu. „Finde es heraus, bevor es zu spät ist. Nur du allein kannst dir das Wunderland zu Eigen machen … nur ein einziger Schritt … Alice … ein einziger …“
Es war schwer für Alice, an einen Ort zurückzukehren, den sie einst ihr Zuhause nannte, dieser jedoch nichts mehr damit gemein hatte. Vor zwei Jahren, als sie den Puppenmacher alias Dr. Bumby vernichtet hatte, hatte sie geglaubt, das Wunderland in seinem normalen Zustand zurückzulassen. Nie hatte sie darüber nachgedacht, dass das gar nicht mehr möglich war …
Die Katze hatte gesagt, sie solle sich beeilen, so zögerte Alice nicht mehr länger und machte sich auf den Weg.
Ihre Füße trugen sie wie von selbst über den harten Boden unter ihr. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keine Schuhe trug und das Zwangsjackenkleid war auch alles andere als bequem. Sie fühlte sich gänzlich unwohl in dieser Gegend. Eine leichte Gänsehaut zog sich über ihren zierlichen Körper, als ein kühler Wind sie erfasste.
„Tragt sie hinüber in Raum 301!“
Ruckartig hob Alice die Hände und presste sie sich gegen die Schläfen. Entsetzliche Kopfschmerzen machten sich plötzlich breit und ihr Blick verschwamm ein wenig.
„Raum 301, 301, 301. 1, 2, 3 und sie ist meins …“
Das schwarzhaarige Mädchen kniff die Augen zusammen und versuchte die Stimmen aus ihrem Kopf zu verbannen.
„Was geht hier vor sich?“, sprach sie zu sich selbst und richtete sich wieder ein wenig auf.
„Deine Wirklichkeit vermischt sich mit dem Wunderland, Alice.“
„Katze?!“ Alice wandte sich um und entdeckte die Grinsekatze, wie sie auf einer der Laternen thronte und feixend zu ihr hinunter sah. „Was meinst du damit?“
„Unser Wunderland ist schon lange nicht mehr das, was es mal war, liebe kleine Alice.“, hauchte die Katze, verschwand für einen Moment und tauchte als kleinere Version ihrer selbst auf Alice’ Schultern wieder auf. Dort ließ sie sich leise schnurrend nieder. „Du bist mal hier, mal dort, doch immer bleibst du am selben Ort.“
„Wovon redest du?“, wollte Alice wissen, deren Kopfschmerzen so schnell nachgelassen hatten, wie sie gekommen waren, und setzte ihren Weg fort. Vor ihr führten ein paar schwebende Fliesen über die braune fließende Brühe unter ihr. Mit Leichtigkeit erklomm sie diese und erreichte das andere Ufer.
„Es ist schwer mit Worten das auszudrücken, was man als Allgegenwärtig bezeichnet. Viel leichter ist es, zu sehen, wenn man seine Augen benutzt.“
Alice verdrehte genervt die Augen. Seit dem letzten Mal schien die Grinsekatze noch verrückter geworden zu sein. Oder war sie selbst einfach nicht mehr verrückt genug, um zu verstehen, was sie sagte?
„Sag mir, Katze … wo bin ich hier?“
Diesen Teil des Wunderlands hatte sie noch nie betreten und hatte sie auch noch nie zuvor einen solch absurden Schauplatz gesehen.
Als sie dem dickflüssigen Fluss weiterhin folgte, gelangte sie zu einer Art Wald. Zumindest sah es für sie so aus. Spritzen, in allen Größen und Formen, bauten sich vor ihr auf, reihten sich aneinander und ragten meterweit in die Höhe. Ein kleiner Pfad von blutverschmierten Fliesen führte durch den Wald aus Spritzen hindurch und im ersten Moment zögerte die junge Frau.
„Du bist beinahe dort angekommen, wo dich deine Füße hintragen wollen. Stoppe nicht, die Zeit drängt. Tic Tac, Tic Tac, …“ Und schon war die Katze wieder verschwunden.
Alice seufzte und betrat den absonderlichen Wald. Das ständige Ticken der Uhren dröhnte in ihren Ohren und machte ihr das Nachdenken schwer. Was sollte sie mit den Informationen der Katze anfangen? Sie wusste nicht einmal wo sie war, wie sollte sie dann herausfinden, wo sie überhaupt hin musste?
Vielleicht hatte die Grinsekatze Recht und sie sollte sich mehr auf das konzentrieren, was sie sah und nicht auf das, was ihr jemand zu sagen vermochte. So fokussierte sie sich auf alles Neue was ihr begegnete, doch war das leichter gesagt als getan.
Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und spazierte an den Spritzen vorbei die alle verschiedenfarbige Flüssigkeiten in sich trugen. Was sie wohl beinhalten mochten?
Auf einigen wenigen standen die Worte ‚Inject me’. Alice runzelte die Stirn. Sie fragte sich gerade für wessen Arme diese Spritzen gemacht worden waren, als sie einen schmerzhaften Stich an ihrem linken Arm spürte. Es fühlte sich an, als hätte jemand ihren Arm gepackt und würde mit aller Kraft versuchen, diesen auseinander zu ziehen. Sie zuckte heftig zusammen, unterdrückte gerade noch so einen Aufschrei und blickte an sich hinab. Schreck breitete sich in ihren Augen aus, als sie sah, was vor sich ging. Blut ergoss sich aus einem winzigen Loch aus ihrer Armbeuge und floss ihren ganzen Arm hinab. Immer mehr quoll daraus hervor, sodass Alice schon bald in einer Lache aus ihrem eigenen Lebenssaft stand.
Verzweifelt wischte sie sich ständig das nasse Rot von ihrer Haut, doch konnte sie so den Schwall auch nicht stoppen.
„Was geht hier vor?“, rief sie und hielt ihren eigenen Arm von sich weg. „Ich werde verbluten! Warum hilft mir denn niemand?“ Von Panik ergriffen wollte sie fliehen, stolperte jedoch und landete unsanft auf dem Boden. Das Blut hatte mittlerweile ihr komplettes Kleid durchnässt. Lautes Dröhnen machte sich in ihrem Kopf breit und aus einiger Entfernung hörte sie eine leise flüsternde Stimme.
„301, 301, 301. 1, 2, 3 und sie ist meins …“
Ihr Herz hämmerte ihr gegen die Brust. Von irgendwoher kam ihr diese Stimme bekannt vor. Schreckliche Bilder flackerten vor ihrem geistigen Auge auf. Ein Mann … ein Mann in einem weißen Kittel. Groß und narbengesichtig. Er griff nach ihr, versuchte sie zu fassen bekommen …
„Nein!“, rief Alice und trat mit den Beinen in die Luft. Ihre Augäpfel spielten verrückt, drehten, wandten sich in ihren Höhlen. „Lass mich los. Lass mich los!“
Ein gequälter Schrei entfloh ihren Lippen und sie rollte sich zur Seite. Und sie fiel … obwohl sie geglaubt hatte, längst auf dem Boden zu liegen, fiel sie.
Plötzlich spürte sie kaltes hartes Material unter ihrem Körper. Schlagartig öffnete sie ihre Lider und blickte genau in die toten Augen eines Mannes, der blutüberströmt genau vor ihr lag. Geschockt von diesem Anblick konnte sie sich nicht rühren. In seiner Schläfe steckte eine massive Spritze - bis zum Anschlag war sie in seinen Schädel gerammt worden.
Als Alice sich von diesem schrecklichen Schauspiel losreißen konnte, sah sie sich zaghaft um. Sie befand sich in einem Raum, dessen Wände kahl und weiß waren. Der Boden, auf dem sie lag, bestand aus schwarzweiß karierten Fliesen, auf denen sich langsam aber sicher das Blut des Toten ausbreitete.
Mit zitternden Knien stand sie auf und ließ sich hinter ihr auf das Bett sinken. Was war hier geschehen? Sie konnte sich an nichts erinnern …
Eben gerade war sie noch im Wunderland und nun? War dies etwa wieder eine andere Welt? Hatte die Katze das damit gemeint, dass sie ständig den Ort wechselte? Alice war mehr als verwirrt. Der Schmerz in ihrem linken Arm war immer noch sehr präsent, doch war das Blut verschwunden. Doch noch etwas war an dieser Situation anders und vor allem irritierend für die Schwarzhaarige. Kaum mehr ein Stück Stoff bedeckte ihren schmalen Körper. Einzig und allein ihre spärliche Unterwäsche war ihr geblieben. Was hatte dieser Mann mit ihr vorgehabt? Ihre grünen Augen wanderten wieder zu ihm hinab und als sie erkannte, dass er selbst kaum mehr Kleidung trug, wurde ihr schlecht. Allein bei diesem Gedanken stieß es ihr sauer auf und sie konnte nicht anders, als sich zu übergeben.
Rücklings warf sie sich auf das Bett und entleerte ihren ohnehin nicht gefüllten Magen über die Bettkante hinweg. Sie hustete und keuchte. Es begann in ihrem Hals zu brennen und Tränen sammelten sich in ihren Augen.
„Was … passiert mit mir?“, keuchte sie leise und setzte sich wieder auf. Alice war überfordert. Sie konnte Wahrheit nicht mehr von Irrealität unterscheiden. War dies alles Wirklichkeit oder träumte sie? Wohin war das Wunderland verschwunden?
„Ist sie hier drin?“
„Ich glaube ja. Dr. Wilson befahl ihm, sie in Raum 301 zu bringen …“
„Raum 301. Das ist er.“
„Was er wohl dieses Mal mit ihr angestellt hat?!“
Stimmengemurmel drang von außen zu Alice hinein, gefolgt von einem heiseren Lachen. Ihr Herz begann wieder zu hämmern. Was waren das für Menschen, die so etwas taten? Sie konnte es nicht fassen, in was für einer Welt sie gelandet war. Wunderland hin oder her, … dies war viel schlimmer als das. Doch sie würde dort nicht einfach rum sitzen und darauf warten, dass sie zu ihr kamen und sie mitnahmen.
Für einige Sekunden vergaß sie ihre Angst und zog die Augenbrauen zusammen. Rasch rutschte sie ein wenig vom Bett hinunter und stand nun genau vor der Leiche. Ihre Knie zitterten immer noch, doch konnte sie sich auf den Beinen halten. Unwillkürlich griff sie nach der Spritze, die im Kopf des Mannes steckte, zog und zerrte daran, bis sie schließlich wieder gänzlich zum Vorschein kam. Ihre Augen fixierten die Tür.
Allmählich begann der Türknauf sich zu drehen und gleißendes Licht fiel herein, als sich die Tür Zentimeter für Zentimeter öffnete.
„Oh mein Gott!“, war das erste was sie vernahm, gefolgt von einem lauten Schrei einer Frau. Die Tür wurde aufgestoßen und ein Mann mit Brille und dunklen Haaren stand vor ihr. Er starrte sie entsetzt an.
„Was hast du hier getan, Mädchen? Bist du jetzt komplett übergeschnappt?“, schrie er sie an und Alice wich ein wenig zurück. Schützend hielt sie die Spritze mit der gefährlich spitzen Nadel vor ihren Körper.Ihr Mund war halb geöffnet, ihre Augen panisch weit aufgerissen. Alice’ Hände zitterten, doch würde sie nicht zögern, ihre Waffe einzusetzen, sollte sie es für nötig empfinden.
„Schaff sie hier raus, Jim. Ich hole Dr. Wilson!“, schrie die Frau mit schockiertem Gesichtsausdruck, wandte sich um und lief den Gang entlang davon.
Der Mann namens Jim hob langsam seine Hand und begann zu grinsen.
„Komm her, Mädchen. Ich tu’ dir nichts …“, hauchte er leise und beim Anblick seines abscheulichen Lächelns wurde ihr erneut übel.
„Mein Name ist Alice!“, gab sie tonlos zurück.
„Du erinnerst dich also?“ Er legte den Kopf leicht schief. „Weißt du auch, wo du dich hier befindest?“
Alice wusste nicht, wovon er sprach. Wieso sollte sie sich nicht daran erinnern, wer sie war? Sie hatte es doch nie vergessen, oder?
„Gehen Sie zur Seite!“, sagte sie und trat einen Schritt vor. Sie wollte hier nicht länger bleiben und warten, bis noch mehr von ihnen auftauchten. „Zur Seite, sage ich!“, wiederholte sie, als er sich nicht bewegte.
Scheinbar lag dies ganz und gar nicht in seinem Sinne, denn bewegte er sich plötzlich schnell auf sie zu und griff nach ihrem dürren Handgelenk. Alice jedoch reagierte flink, umging seine Bewegung und rammte ihm die Spritze in den Hals. Ein lautes Gurgeln drang aus seinem Mund, während er zur Seite stolperte und sich seine Hand fest um ihre Kehle legte. Blut quoll über seine Lippen und seine Augen stachen aus ihren Höhlen hervor. Ohne wirklich zu wissen was sie tat, packte sie ihn am Unterarm und stieß ihn zur Seite. Er stolperte über die Leiche am Boden, stürzte und schlug mit dem Kopf auf den harten Fliesen auf. Regungslos blieb er liegen. Alice’ Brust hob und senkte sich unregelmäßig. Adrenalin schoss durch ihren Körper und ohne einen weiteren Moment zu zögern, sprang sie über die toten Gestalten hinweg und flüchtete aus dem Zimmer. Sie gelangte in einen weißen Flur, an dessen Seiten weitere Türen zu sehen waren. Sie wandte sich nach rechts und lief barfüßig über den kalten Untergrund. Hinter ihr konnte sie Stimmen vernehmen, doch hatten die dazugehörigen Personen ihr Verschwinden noch nicht bemerkt. Erst als sie einen weiteren Schrei vernahm, war Alice sich sicher, dass sie nun nicht mehr alle Zeit der Welt hatte, um von hier zu fliehen.
Am Ende des Ganges bog sie rechts ab und erkannte dort nur einen einzigen Zugang, der in ein weiteres Zimmer führte. Sie stürmte hinein und schloss die hölzerne Tür hinter sich. Dort angekommen atmete sie erst einmal tief durch. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fiel ihr auf, dass sie in einer Art Büro gelandet war. In der Ecke stand ein kleines gemütliches Sofa vor einem Kamin, in dem jedoch kein warmes Feuer vor sich hin prasselte. Genau vor ihr befand sich ein großer Schreibtisch aus massivem Eichenholz auf den sie langsam zuging. Sie knipste die sich darauf befindende Lampe an und entdeckte einige Papierstapel und Dokumente. Darunter fiel ihr auch eine alte Fotografie ins Auge, die sie zaghaft mit zwei Fingern umschloss und hervor zog.
Darauf abgebildet war eine Familie. Ein stolz aussehender Mann, mit dichtem Bart und schickem Anzug und eine schöne Frau, mit dunklen Haaren. Beide hatten ihre Arme um ein Mädchen in der Mitte gelegt, dass einen Stoffhasen bei sich trug. Alle drei lächelten und irgendwie kamen ihr diese Menschen bekannt vor. Sie wandte sich von dem Bildnis ab und sah wieder hinab auf den Schreibtisch. Eine Akte war dort aufgeschlagen mit der Überschrift: Alice Liddell Akte. Sie zögerte. War etwa sie selbst damit gemeint? Ihr Atem verschnellerte sich und sie spürte Nervosität in sich hinaufsteigen.
Zaudernd hob sie die Akte hervor und begann zu lesen …
„Mein Name ist Alice Liddell. Ich wurde am 04. Mai 1856 in England geboren und lebte mit meiner Familie in Oxford. Als ich sieben Jahre alt war, musste ich mit ansehen, wie mein Elternhaus samt meiner Familie nieder brannte. Ein Mann namens Dr. Angus Bumby drang mitten in der Nacht in unser Haus ein, verschloss die Tür meiner Schwester und entzündete ein Feuer. Meine Katze, Dinah, weckte mich und ich konnte durch mein Schlafzimmerfenster fliehen.
Zehn Jahre verbrachte ich in Rutledge, weil ich mir selbst dafür die Schuld gegeben habe. Jahrelang hatte ich geglaubt, ich sei für den Tod meiner Familie verantwortlich gewesen. Selbst im Wunderland musste ich die Wahrheit auf meine eigene Weise herausfinden. Die Grinsekatze begleitete mich auf meinem Weg und letztendlich erfuhr ich, was wirklich geschehen war.
Ich bekämpfte den Puppenmacher und kehrte schließlich nach London zurück. Dort traf ich auf den Mann, der mein Leben und mein Wunderland zerstört hat. Als ich ihn darauf ansprach, gestand er es, jedoch ohne irgendwelche Reue zu zeigen. Ich verachte und hasse diesen Mann!
Er wollte mein Wunderland an sich reißen und mich daraus verbannen. Er wollte die Kontrolle über mich erlangen und zwang mich somit zu schwerwiegenden Maßnahmen. Um meinem Leiden und das vieler anderer Kinder, die ihm schon zum Opfer gefallen waren, zu beenden, sah ich keine andere Möglichkeit, als ihn zu vernichten. Ich hatte endlich Frieden gefunden und mein Wunderland war wieder hergestellt …“
- Alice
Bericht von Dr. Heironymous Q. Wilson
Rutledge Private Clinic and Asylum: Home of Wayward & Lost Souls
Alice neigt mehrfach zu Halluzinationen und zur Pseudologie oder auch genannt notorisches Lügen. Zurückzuführen ist dieses Verhalten auf ihre ausgeprägte Geltungssucht, die für alle außenstehenden Personen ein großes Problem darstellt. Darüber hinaus stellten wir fest, dass sie an extremer Schizophrenie leidet, die durch Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und der Affektivität gekennzeichnet ist.
Sie philosophiert über ihr ‚Wunderland’ und ist der festen Überzeugung, dass es dieses wirklich gibt. Sprechende Katzen, Kaninchen in Anzügen, Hutmacher, Haselmaus und Hase die zusammen Tee trinken. Außerdem redet sie ständig davon, das Wunderland retten zu müssen.
Schon in jungen Jahren war bekannt, dass Alice hin und wieder über eine Welt fantasierte, die nur sie sehen und betreten konnte. Weiter ausgeprägt hat sich dieses Denken im Jahr 1863, als das Haus ihrer Eltern nieder brannte und nur sie überlebte. Dadurch, dass sie sich selbst die Schuld dafür gab, fiel sie in eine Art katatonischen Zustand, indem sie mehr oder weniger kaum ansprechbar war.
Ihr Körper war steif wie ein Brett und man musste sie Zwangsernähren.
Um ihre Wunden zu heilen, verlegte man sie nach Littlemore Infirmary, wo sie innerhalb eines Jahres komplett gesundete.
Das erste Mal nach Rutledge kam das junge Mädchen im November 1864. Sie wurde mir als taub, stumm und blind vorgestellt, doch hatte ich Hoffnung. Oft versuchte ich mit ihr zu reden, über das, was geschehen war und dadurch erhielt ich auch einige Aufzeichnungen, in denen sie über ihr Wunderland erzählte. Sie schilderte mir ihren Aufenthaltsort so genau, dass ich es mir bildlich vorstellen konnte. Schon damals wusste ich, dass sie geisteskrank war.
Als wir mit unseren Mitteln nichts erreichen konnten, griffen wir im darauffolgenden Jahr zu drastischeren Mitteln. Wir unterzogen sie einem Aderlass und verabreichten ihr mehrere Dosen an Opium und anderen Medikamenten. Wir sperrten sie in Einzelhaft, zwängten sie in eine Zwangsjacke und nahmen ihr ihre geliebte Kaninchenpuppe, die sie stets bei sich trug.
Sie zeigte keinerlei Regung noch irgendwelche Emotionen.
Trotz dessen, das alle Methoden scheiterten, fuhren wir mit der Prozedur fort und hatten nach acht Jahren im Jahre 1873 schließlich unseren ersten Erfolg. Alice begann zu zeichnen.
Von diesem Tag an zeichnete sie alles, was ihr in den Sinn kam. Meistens handelte es sich bei den Motiven um Figuren aus ihrem Wunderland. Sie war immer noch fest davon überzeugt, sie müsse das Wunderland und dessen Bewohner retten. Zwar konnten wir sie nicht zur Einsicht bringen, dass es so etwas wie das Wunderland nicht gab, doch machte sich eine gewisse Heilung erkennbar. Nach einer Weile konnte sie zwischen der realen Welt und den Halluzinationen unterscheiden und wir konnten sie mehr oder weniger als geheilt einstufen.
Ende des Jahres 1874 war ich sogar dazu bereit gewesen, Alice einen neuen Weg zu ebnen. Die ehemalige Krankenschwester Witless besorgte Alice ein Zuhause und eine Arbeit in der Houndsditch Home for Wayward Youth in London.
Ich wusste auch, dass sie dort in gute Hände übergehen würde, denn arbeitete dort der ausgezeichnete Therapeut Dr. Angus Bumby, den ich selbst persönlich kannte. Er versprach mir, für Alice zu sorgen und zu versuchen, ihre Weltanschauung wieder herzustellen.
Nach einem Jahr jedoch erreichte mich der erste Zwischenbericht des Dr. Bumby, in dem es hieß, Alice leide weiterhin unter ihren tragischen Kindheitserinnerungen und den auditiven und visuellen Halluzinationen, die sich neu dazu getan hatten. Dr. Bumby schlug jedoch eine hypnotische Behandlung vor, in der er versuchen wollte, Alice’ Psyche zu unterdrücken und somit das Wunderland aus ihrem Gedächtnis zu löschen, da seiner Meinung nach all diese Wahnvorstellungen hier ihren Anfangspunkt fanden.
Erschreckenderweise hörte ich allerdings davon, dass sich Alice’ Zustand zunehmend verschlechterte. Ihre Zusammenbrüche häuften sich und neigte sie nun auch zu aggressivem Verhalten. Der Drang, ihr Wunderland zu retten, wurde stärker und bewirkte auch die Behandlung des Doktors nichts. Im selben Jahr, 1875, kam mir schließlich zu Ohren, Alice hätte einen weiteren Ausbruch erlitten. In ihrem Wahn glaubte sie, Dr. Bumby sei einer ihrer Feinde aus dem Wunderland und schubste ihn vor einen fahrenden Zug.
Nachdem sie die Bahnhofshalle wieder verlassen hatte, brach sie draußen auf dem Boden zusammen. Polizisten sammelten sie wenig später ein, entdeckten, was sie getan hatte und brachten sie schließlich wieder hierher.
Als sie aufwachte, mussten wir sie mit massiven Beruhigungsmitteln ruhigstellen und in Einzelhaft verlegen. Einige Tage vergingen und ich versuchte, mit ihr zu reden, doch ich merkte früh, dass das nichts mehr half. Das junge Mädchen war aggressiv und gewalttätig. Sie attackierte zwei Pfleger und verletzte einen von ihnen so schwer, dass dessen Heilung eine Operation verlangte. Ihre Halluzinationen weiteten sich so sehr aus, dass sie glaubte, die Grinsekatze und ihre Begleiter auch in der realen Welt zu sehen, doch stammelte sie immer wieder, dass sie nie dorthin zurück könne. Alice mutierte zur menschlichen Stimmungsschwankung. Mal lag sie da, starrte vor sich hin und wirkte, als sei sie längst tot. An anderen Tagen waren ihre Aggressionen immens und ich diagnostizierte sogar eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sich dadurch zeigte, dass sie sich immer wieder selbst verletzte, in dem sie ihren Kopf gegen die Wand schlug und sich mit Fensterglas schnitt. Ihre Depressionen verschlimmerten sich und die oben genannten Krankheitsbilder traten von neuem zu Tage.
Seit dieser Zeit wird sie überwacht und untersteht ständiger Medikamentenkontrolle. Wir versetzten sie in eine Art Wachkoma, in dem sie sich selbst und andere nicht mehr verletzen konnte.
Eines Tages, es war der 04. Mai 1876, besuchte ich sie und stellte erschrocken fest, dass sie im Wachzustand war. Sie saß auf ihrem Bett, atmete normal und zeigte auch keinerlei Anzeichen von Aggression oder Wut.
Ich unterhielt mich mit ihr, konnte jedoch nicht sehr viel in Erfahrung bringen. Darum bat ich sie, einen kleinen Text für mich zu schreiben. Es sollte sich um etwas handeln, dass ihr wichtig war und an das sie sich erinnern konnte.
Nachdem sie den oben veröffentlichten Text fertig gestellt hatte, glitt sie in ihren Ausgangszustand zurück und rührte sich seitdem nicht mehr.
In all den Jahren, in denen ich Alice kenne, gab ich die Hoffnung auf Heilung nicht auf, doch verschlechtert sich ihr Zustand von Tag zu Tag und allmählich beginne ich zu glauben, dass es keinen Sinn mehr hat, ihr das weiterhin anzutun. Sie hatte tatsächlich eine tragische Kindheit und sie leidet so sehr unter dieser, dass es unmöglich ist, sie jemals wieder vollständig in die Gesellschaft einzugliedern. Darüber hinaus wartet auf sie die Todesstrafe, sobald sie die Anstalt verlässt. Ich tendiere hiermit also zur Sterbebehilfe, das wäre mit Sicherheit für alle das Beste.
12. Februar 1877
Dr. Heironymous Q. Wilson
- Bericht Ende
Alice starrte verbissen auf die Zeilen. Lüge! Dies war alles eine Lüge!
Sie konnte nicht glauben, dass die Menschen sie wirklich so sahen. Aber was sie noch viel mehr schockierte, war die Tatsache, dass sie sich wieder in Rutledge befand. Wahrscheinlich hatte sich das Wunderland deshalb so sehr verändert. Es war eine Warnung.
Dr. Wilson wollte ihren Tod. Innerlich dankte Alice der Katze, dass sie sie rechtzeitig gewarnt hatte. Sie musste unbedingt etwas unternehmen. Sie und das Wunderland würden nicht einfach so kampflos untergehen, das schwor sie sich. Doch was sie tun sollte, musste sie erst noch herausfinden …
„Alice … … Nur ein Schritt, Alice. Ein einziger … und du bist frei.“
Sie wandte den Kopf leicht nach links und entdeckte ein leicht angelehntes Fenster. Sie musste fliehen und sich einen Ort suchen, an dem sie sicher war. Langsam ging sie darauf zu und öffnete es. Kalter Wind wehte ihr um die Ohren und einige Schneeflocken verteilten sich auf der Fensterbank.
„… ein einziger, Alice …“
Das Mädchen sah nach unten. Der Boden glitzerte weiß und versprach eine weiche Landung. Sie sammelte gerade ihren Mut zusammen, als sie Schritte hörte, die auf das Büro zukamen. Jetzt oder nie! Sie hob ein Bein an, stemmte sich auf das Fensterbrett und sprang …
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2013
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