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PROLOG

Das Bier, das vor Sarah auf dem Tisch stand, war viel zu warm, und die kleine Schaumkrone, die sich zu Anfang noch auf dem Bier befunden hatte, war schon nach dem ersten Schluck komplett verschwunden. Ohne den faden Geschmack des Bieres weiter zu beachten, nippte sie immer wieder an dem Glas und beobachtete die Schneeflocken, die vor dem großen Fenster herunterfielen.

Schon zum dritten Mal waren Sarah, Jens und Mario von Rupert Fredrikson engagiert worden, um ihn bei seinen Touren durch Norwegen zu begleiten, und wie schon bei den ersten zwei Einsätzen war auch dieses Mal nichts passiert, was auch nur annähernd die Anwesenheit der drei gerechtfertigt hätte. Leicht verdientes Geld – so beschrieb Jens diese Aufträge immer wieder. Im Prinzip hatte er damit natürlich auch Recht, aber so langsam bekam Sarah das Gefühl, dass diese Aufträge die reinste Zeitverschwendung waren. Und was noch viel schlimmer war: Sie fragte sich, ob sie vor drei Jahren die richtige Entscheidung getroffen hatte, als sie mit Jens zusammen die Bundeswehr verlassen und ihren privaten Sicherheitsdienst gegründet hatte. Natürlich war auch die Arbeit bei der Bundeswehr nicht immer aufregend gewesen, aber zumindest musste Sarah dort nie einen Auftrag nur deshalb ausführen, weil sie das Geld brauchte.

Seufzend nahm Sarah einen weiteren Schluck von ihrem Bier. Sie hatte für diesen Auftrag einen wichtigen privaten Termin sausen lassen, von dem sie sich eigentlich geschworen hatte, ihn nie zu verpassen: Heute vor 19 Jahren war Sarahs Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und seitdem war sie jedes Jahr zusammen mit ihrer Mutter zum Friedhof gefahren.

Plötzlich zog jemand den Stuhl neben ihr unter dem Tisch hervor:

„Ist der Platz noch frei?“

Sarah machte sich schon dazu bereit, dem Eindringling eine Abfuhr zu erteilen – eine Frau, die mit einem ausgewaschenen Pulli in einer Bar saß und alleine Bier trank, wollte doch wohl eindeutig nicht angebaggert werden –, aber dann erkannte sie, dass es sich bei dem ungebetenen Gast um Mario handelte. Mario war erst vor Kurzem zu Sarah und Jens ins Team gekommen, weil Jens davon überzeugt war, dass sie jemanden mit Computer- und Technik-Know-How gebrauchen konnten.

Ohne etwas zu sagen nickte Sarah Mario zu, um ihm zu zeigen, dass er sich setzen sollte. Eigentlich wollte Sarah lieber alleine Trübsal blasen, aber andererseits konnte ein wenig Gesellschaft bestimmt auch nicht schaden.

Sofort nach dem Hinsetzen ergriff Mario das Wort:

„Das Bier sieht kalt aus, ich glaube, ich werde auch Eins ordern.“

„Lieber nicht.“ Sarah schüttelte den Kopf: „Der Wirt hat aber vorhin eine Flasche Jägermeister kaltgestellt, vielleicht sollten wir unser Glück damit versuchen.“

„Bin schon unterwegs.“

Mario sprang auf und machte sich auf den Weg zum Tresen. Während Sarah ihm hinterherschaute, fragte sie sich, wie sie und Jens früher nur ohne Mario zurecht gekommen waren: Er buchte Hotels, hackte sich in Computer von Zielpersonen und kümmerte sich auch sonst um fast alles, was keine Muskelkraft oder Schusswaffen erforderte. Und selbst in letzterem schlug er sich trotz seiner fehlenden militärischen Laufbahn erstaunlich gut.

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Barkeeper kam Mario mit einer sehr kalt aussehenden Flasche Jägermeister und zwei dazu passenden Pinnchen wieder an den Tisch und setzte sich.

„Er hat dir die ganze Flasche gegeben?“, fragte Sarah überrascht.

„Ich habe ihn überzeugt, dass wir sie dringender brauchen als er“, lachte Mario und schenkte sich und Sarah ein.

Nachdem Sarah mit Mario angestoßen hatte, leerte sie ihr Pinnchen mit einem großen Schluck. Als sie es schon wieder absetzen wollte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass Mario etwas mit sich kämpfen musste, um es ebenfalls mit einem Schluck zu leeren. Sarah verkniff es sich, zu schmunzeln und wartete stattdessen noch auf Mario, bevor sie ihr Glas vor sich abstellte. Sofort schenkte Mario Sarah und sich den nächsten Jägermeister ein und wollte das Glas schon wieder zum Anstoßen heben.

„Und? Wie gefällt's dir bei uns bisher?“, fragte Sarah und zögerte damit das Trinken etwas heraus. „Du hast doch bestimmt mehr Action erwartet, oder?“

„Oh, jetzt sollte ich wohl aufpassen, dass ich nichts Falsches sage.“ Mario zwinkerte Sarah zu und stieß jetzt doch mit ihr an. Wieder brauchte er für den Schluck Jägermeister länger als sie.

„Bist wohl kein großer Trinker“, stellte Sarah fest und stieß Mario spielerisch an die Schulter. Aus Marios Akte wusste sie, dass er 33 Jahre alt war und damit knapp vier Jahre älter als sie; dass er aber so zögerlich mit Alkohol umging ließ ihn irgendwie jünger erscheinen.

„Ich bin ein Genießer“, grinste Mario.

Sarah fiel einmal mehr die kleine Narbe an Marios Unterarm auf. Sie stammte von einem Spinnenbiss, den Mario sich bei ihrem letzten Auftrag im Kongo zugezogen hatte.

„Merkst du da eigentlich noch was von?“, fragte Sarah und tippte dabei sanft mit ihrem Finger auf die Narbe.

„Nein. Wie es aussieht, ist alles schon wieder gut“, antwortete Mario. „Und Superkräfte habe ich auch noch keine“, lachte er Sarah zu.

Vielleicht lag es an den drei Bieren, die Sarah Mario voraus hatte, aber irgendwie musste sie über diesen stumpfen Witz lachen. Gleichzeitig hob dieses Mal sie die Flasche hoch, um sich und Mario noch einen Drink einzuschenken.

„Du weißt, dass unser Flieger morgen früh um drei Uhr geht?“ Mario schaute auf seine Armbanduhr. „Es ist schon genau 22 Uhr und 58 Minuten.“

Demonstrativ schaute jetzt auch Sarah auf ihre Armbanduhr.

„Eigentlich ist es erst siebenundfü- … halt genau jetzt ist es 22:58 Uhr.“

Sarah lachte Mario an. Eine seiner ersten Amtshandlungen im Team war es gewesen, neue Ausrüstung zu ordern. Ein Teil der Ausrüstung waren diese Armbanduhren, bei denen Mario nach eigener Aussage ein echtes Schnäppchen gemacht hatte. Tatsächlich waren die Uhren für den Preis wirklich gut ausgestattet. Beim letzten Auftrag war Sarah und Mario aber aufgefallen, dass ihre Uhren nicht exakt synchron gingen, was Sarah seitdem gerne nutzte, um Mario ein wenig zu triezen.

„Na dann, auf den Sekundenzeiger“, lachte Mario und stieß ein weiteres Mal mit Sarah an.

Wieder beobachtete Sarah, dass Mario mit dem Jägermeister kämpfte. Während sie ihn so musterte fiel ihr einmal mehr auf, dass er im Gegensatz zu ihr und Jens weit weniger durchtrainiert war. Er war zwar nicht dick, aber schon ein wenig fülliger. Dass er bei Sprints trotzdem immer schneller war als Sarah und Jens war ihr völlig unerklärlich.

Zusammen mit seinem rundlichen Kopf und den kurzen hellbraunen Haaren erinnerte seine Statur sie irgendwie an einen Teddybär – und ein Teddybär war genau das, was Sarah in dieser Nacht brauchte:

„Ist Dir beim Reservieren vom Hotel eigentlich aufgefallen, dass ich ein Doppelzimmer habe?“

„Hmm, da hat das Hotel wohl einen Fehler gemacht“, antwortete Mario schulterzuckend.

„Ist ja schon schade, dass ich das schöne große Bett gar nicht so richtig genutzt habe.“ Sarah legte ihre Hand auf Marios Unterarm und schaute ihm verführerisch in die Augen.

Marios lachender Gesichtsausdruck verflog augenblicklich und er senkte seinen Blick nach unten. Sekunde um Sekunde verging, in der Mario etwas verloren auf den Tisch schaute und nichts sagte. Sarah beschloss, ihm noch etwas auf die Sprünge zu helfen:

„Ich glaube nicht, dass ich in den paar Stunden noch schlafen kann.“

Es schien so, als wollte Mario darauf etwas antworten, aber dann zögerte er wieder. Langsam wurde Sarah ungeduldig; normalerweise reagierten Männer anders, wenn sie solche Anspielungen machte.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie ein wenig überrascht.

„Ähmm, Sarah, ich denke nicht –“, mitten im Satz brach Mario ab.

Sofort zog Sarah ihre Hand von Mario weg. Er hatte es zwar noch nicht ausgesprochen, aber er wollte sie gerade offensichtlich abblitzen lassen.

„Versteh das bitte nicht falsch.“ Mario klang entschuldigend.

Jetzt wurde Sarah sogar ein wenig wütend: Seit Mario angefangen hatte, mit ihr zusammenzuarbeiten, hatte sie sich immer super mit ihm verstanden. Ihr war auch schon öfter aufgefallen, wie Mario ihren Körper gemustert hatte und war sich sicher, dass er nur nichts sagte, weil er nunmal ein wenig schüchtern war. Aber jetzt hatte Sarah sich ihm ja praktisch auf dem Silbertablett serviert, wie konnte er da noch widerstehen?

Mit einem Mal war Sarahs gute Laune wieder verflogen und sie wollte nur noch auf ihr Zimmer und alleine ins Bett. Mario hatte seinen Blick zum Tisch gesenkt und schien schon wieder nach Worten zu suchen.

„Unglaublich“, zischte sie hervor und stand vom Tisch auf, um die Bar zu verlassen.

„Sarah, warte.“ Mario griff ihre Hand.

„Was noch?“

„Es liegt nicht an dir“, brachte Mario zögerlich hervor.

Sarah schüttelte genervt den Kopf und löste ihre Hand aus Marios Griff. Wenn er dachte, sie mit irgendwelchen Klischees beruhigen zu können, dann hatte er sich aber getäuscht.

Ohne noch etwas zu sagen verließ Sarah die Bar und ließ Mario alleine zurück.

 

*

 

Mario schaute Sarah noch lange hinterher. Eigentlich hätte er an diesem Abend nichts lieber getan, als mit Sarah auf ihr Zimmer zu gehen; schon damals beim Kennenlerngespräch war ihm aufgefallen, was für eine außergewöhnliche Frau Sarah war. Aber Mario war sich sicher, dass eine Beziehung mit einer Mitarbeiterin nur schiefgehen konnte. Wie er sich kannte würde er früher oder später mehr von Sarah wollen, und seiner Einschätzung nach war Sarah keine Frau, die eine feste Bindung wollte.

Tief in Gedanken versunken schenkte Mario sich noch einen Jägermeister ein und trank ihn langsam aus. Er merkte schon, wie der Alkohol begann, seine Sinne ein wenig zu vernebeln und beschloss, dass es auch für ihn Zeit war, schlafen zu gehen. Nachdem er noch einen weiteres Pinnchen eingeschenkt und geleert hatte drehte er die Flasche zu, brachte sie dem Barkeeper zurück und verließ die Bar.

KAPITEL I

„Hier muss es sein!“

Sarah sprach eigentlich mehr zu sich selbst, als zu Jens, als sie das sagte. Er hatte nicht übertrieben, als er Sarah von dem Anwesen erzählt hatte: Das Gebäude, zu dem sie gerade vorfuhren, schien groß genug zu sein, um mindestens zwei Großfamilien genügend Platz zu bieten. Es hatte einen riesigen, mit Rosen bepflanzten Vorgarten und war in einem hellen Lachs-Farbton angestrichen. Vor allen Fenstern des zweistöckigen Gebäudes befanden sich weiße Schutzgitter, die sich nach Sarahs Einschätzung nicht öffnen ließen, und vor der ausladenden weißen Eingangstür standen gleich zwei schwarz angezogene und bewaffnete Wachmänner mit dunklen Sonnenbrillen.


Noch bevor ihr Auto vollständig zum Stillstand gekommen war, kam einer der beiden Wachmänner mit schnellen Schritten die Stufen zur Auffahrt herunter und klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Jens wollte das Fenster öffnen, musste aber zunächst nach dem Knopf suchen, mit dem er den Fensterheber betätigen konnte. Da er und sein Team mit dem Flugzeug nach Bayern gereist waren, befanden sie sich in einem Mietwagen.

Noch bevor Jens den richtigen Knopf gefunden hatte, drückte Sarah bereits die entsprechende Taste auf ihrer Seite des Innenraums. Die Scheibe fuhr mit einem leisen Surren herunter.

„Haben sie einen Termin?“, wollte der Wachmann wissen, auf dessen Namensschild nur das Wort Faselochse aufgestickt war.

„Ja, haben wir“, antwortete Jens, „das ist Sarah Phillips und mein Name ist Jens Engel. Graf Olaf von Allenstein erwartet uns wegen seiner verschwundenen Tochter.“

Mister Faselochse – wie Sarah den Wachmann spontan in ihrem Kopf getauft hatte – antwortete nicht mehr und begann stattdessen damit, leise irgendetwas in sein Headset zu murmeln. Nur wenige Sekunden später beugte er sich wieder zu Jens Fenster:

„Alles klar! Stellen sie ihr Auto dort drüben hinter den Geländewagen, dann können sie eintreten.“


Nachdem Sarah den Opel Zafira wie aufgefordert abgestellt hatte, stiegen sie und Jens aus dem Auto und machten sich auf den Weg zu der Eingangstür.

„Das Messer müssen Sie hier lassen!“, sagte Mister Faselochse, während er mit seiner Hand auf das Armeemesser deutete, das Jens an seinem Oberschenkel trug. Zeitgleich musterte er die grauen Cargohosen von Jens genauer, um festzustellen, ob sich in den Taschen noch andere Waffen befinden könnten.

„Haben Sie sonst noch Waffen bei sich?“

Sarah wusste, dass Jens das Messer niemals aus der Hand geben würde, und hielt es für schlauer, sich nicht in die Diskussion einzumischen. Stattdessen schaute sie zu der anderen Wache, die zu ihrer Enttäuschung nur den langweiligen Namen Hoffmann trug.

Hoffmann zeigte ihr an, dass er sie auf Waffen durchsuchen wollte und fing direkt damit an, Sarah abzutasten. Hoffmann war noch ein paar Zentimeter größer als sein Kollege und damit fast einen Kopf größer als Sarah.

Jetzt verstummte die Diskussion zwischen dem Faselochsen und Jens. Beide Männer waren wie hypnotisiert von dem Schauspiel, das sich ihnen bot: Die Wache Hoffmann schien ihren Job an diesem Tag ganz besonders ernst zu nehmen, denn obwohl Sarah nur ein weißes Tanktop und Hotpants trug, die so hauteng waren, dass sich unter ihnen unmöglich eine Waffe verstecken konnte, ließ er beim Abtasten so gut wie keinen Zentimeter von Sarahs Körper aus.

Sarah, die solche Prozeduren bereits gewohnt war, stand zunächst ohne Widerworte still und ließ die Wache ihren Job machen. Dass Jens in solchen Situationen regelmäßig die Augen verdrehte, störte sie nicht – sollte er doch denken, was er wollte.


Da verstecke ich bestimmt keine Pistole!“

Sarahs energische Stimme riss Hoffmann, der sich gedankenverloren schon bis zu ihren nackten Oberschenkeln voran getastet hatte, zurück in die Wirklichkeit. Beschämt machte Hoffmann einen Schritt zurück, öffnete die Tür und schaute auf seine eigenen Füße, während er Sarah und Jens hereinbat.

Sarah bedankte sich übertrieben höflich, machte einen kleinen Knicks und lachte die Wache freundlich an, um ihr zu zeigen, dass sie nicht wirklich sauer auf ihn war. Sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.06.2016
ISBN: 978-3-7396-6920-5

Alle Rechte vorbehalten

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