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Rebirth

 

Dunkelheit umgab mich. Schon so ewig lange. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ich fühlte mich ganz leicht. Als würde ich schweben. Vermutlich tat ich das auch. In diesem schwerelosen Raum.

Doch irgendwann sollte sich dieser Zustand ändern.

Ein kleines Licht durchbrach die Dunkelheit. Es war warm. Ich streckte meine Hand danach aus. Es schien so weit weg. Dennoch fühlte ich die Wärme, die davon ausging.

Als ich es berührte, schien es heller zu strahlen. Und mit einem Mal wurde es so stark, dass es mich blendete.

 

Ich blinzelte. Das Licht wurde schwächer und ich konnte meine Umgebung erkennen. Irritiert starrte ich das vor mir an. Es war etwas anderes als die gewohnte Dunkelheit. Es war weiß. Aber nicht reinweiß. Es war schmutzig und hatte Risse. Im nächsten Augenblick schob sich etwas anderes in mein Blickfeld.

„Du bist wach!“, erklang eine freundliche Stimme. Ich öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Wie sprach man? Ich hatte es vergessen.

„Ich hole jemanden.“, sagte die Person und der Kopf verschwand aus meinem Sichtfeld. Geräusche drangen an mein Ohr, die mir bekannt vorkamen, ich aber im Moment nicht zuordnen konnte.

Die darauffolgende Stille verriet mir, dass ich alleine war. Ich nahm meinen Körper immer mehr wahr. Er fühlte sich schwer an. Mühsam hob ich einen Arm. Die Hand daran war schlank, besaß helle Haut und eine leichte Narbe zeichnete sich am Rücken ab. Sie fühlte sich fremd an. Als würde sie nicht mir gehören. Doch ich konnte sie bewegen. Es war mein Wille, der sie zur Faust machte. Und mein Wille, der sie weiter hochhob. Genauso wie es mein Wille war, der sie wieder neben meinen Körper sinken ließ. Ich drehte den Kopf und blickte mich im Zimmer um. An der Wand mir gegenüber stand ein Regal mit Büchern. Zu weit weg, als dass ich die Buchrücken lesen könnte. Daneben stand eine große Topfpflanze mit großen, fast runden Blättern. Vielleicht wusste ich mal dessen Namen, aber jetzt kannte ich ihn nicht. Mein Blick wanderte weiter. Bilder hingen an der Wand. Nicht viele. Sie zeigten Landschaften. Auf meiner anderen Seite gab es ein großes Fenster. Von meiner Position erblickte ich nur einen strahlend blauen Himmel. Im Augenwinkel sah ich einen Nachttisch. Darauf befand sich eine Schüssel mit etwas darin, das einen angenehmen Duft verströmte. Aber ich konnte ihn nicht benennen.

Mein Verstand versuchte all diese Eindrücke zu verarbeiten. Doch gleichzeitig herrschte großes Chaos in meinem Kopf. Ich verstand alles und nichts zur selben Zeit. Ich konnte nur mit Sicherheit sagen, dass ich nicht hierhergehörte.

 

Es dauerte eine Weile, bis ich wieder Gesellschaft bekam. Der neue, fremde Mann beugte sich über mich, berührte mein Handgelenk und stellte Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Nicht nur weil ich nicht sprechen konnte, sondern auch weil ich keine Antworten hatte.

Seine Untersuchung dauerte eine Weile, er murmelte Begriffe, die mir vage bekannt vorkamen, bis er endlich von mir abließ. Inzwischen war das Gefühl in diesem Körper gekehrt. Stimmen neben meinem Ohr unterhielten sich und als ich den Kopf drehte, erblickte ich den Mediziner und die Person von vorhin. Die Unterhaltung ging nicht lange und da sie flüsterten, verstand ich lediglich ein paar Wortfetzen. Der Mediziner ging, während der andere wieder näherkam. Er beugte sich über mich und wir sahen uns einen Moment in die Augen. Inzwischen hatte ich mich soweit an die Eindrücke gewöhnt, dass ich mich auf ihn konzentrieren konnte. Seine Augen waren klar und besaßen ein helles Blau. Sein Gesicht hatte feine Züge. Das lange, schwarze Haar war zurückgebunden, aber eine Strähne hatte sich gelöst.

„Du hast uns einen ziemlichen Schreck eingejagt. Wir dachten, es wäre vorbei mit dir.“, gab er von sich. Sein Ton war freundlich und locker. Der Mediziner hatte ihm wohl mitgeteilt, dass keine Lebensgefahr bestand und ich schon wieder werden würde.

„Erhol dich gut, Saisei! Du bist nur knapp mit dem Leben davongekommen.“, sprach er weiter. Ich brauchte einen Augenblick, ehe ich verstand, dass er meinen Namen genannt hatte. Oder zumindest den Namen, dem dieser Körper besessen hatte. Denn es war nicht meiner.

 

Ich erholte mich schnell und hatte bald die vollständige Kontrolle über diesen Körper. Ein jüngerer Mann, noch ein halbes Kind, brachte mir regelmäßig zu essen. Anfangs hatte er mich noch unterstützt, mir beim Aufsitzen geholfen und mich gefüttert. Je stärker ich aber wurde, desto weniger unterstützte er mich. Nach ein paar Tagen, die ich nur in diesem Bett verbracht hatte, war er dazu übergegangen mir lediglich das Tablett am Nachttisch hinzustellen und wieder zu verschwinden. Einerseits war das unhöflich, andererseits war ich froh, dass ich allein sein konnte. Ansonsten bekam ich keinen Besuch.

Ich hatte mich an diesen Körper gewöhnt, mein Gehör war besser, mein Verstand hatte sich beruhigt. Erinnerungen aus meinem alten Leben hatten sich manifestiert. Wenn ich sicher war, dass ich ungestört blieb, stand ich vom Bett auf, testete meine körperlichen Grenzen und meditierte. Anfangs hatte ich noch Erinnerungen dieses Körpers erhalten. Nur ein paar Fragmente. Ich hatte gehofft, durch Meditation weitere Erinnerungen zu erhalten, damit nicht auffiel, dass die Seele in diesem Körper eine andere war. Doch es hatte nichts gebracht.

Nach vier Tagen hatte ich es gewagt nachts das Zimmer zu verlassen. Ich hatte mich durchs Fenster rausgeschlichen und war über die Dächer. Der Körper war zierlich und nicht besonders stark. Ähnlich wie mein eigener, nur dass ich meinen alten gut trainiert hatte, während dieser ungeschickt war. Ich musste vorsichtig sein, um nicht erwischt zu werden. Aber schließlich hatte ich einen guten Überblick über das Gelände. Tagsüber hatte ich von draußen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, aus denen ich einige Schlüsse ziehen konnte.

Erstens war das eine Schule für junge Kultivierer aus verschiedenen Clans. Hier sollten sie ihre Fähigkeiten ausbilden, mystische Künste erlernen, ihre Kampfkünste verbessern und über Götter, Geister und Dämonen lernen.

Zu meiner Zeit hatte es das noch nicht gegeben. Da hatte sich jeder Clan über die Erziehung seiner eigenen Schüler gekümmert. Es hatte sich scheinbar viel geändert.

Dieser Körper gehörte einem Schüler. Die Erinnerungsfragmente ließen mich zu dem Schluss kommen, dass er nicht sonderlich talentiert gewesen war. Gleichzeitig hatte er wegen seiner Herkunft aus einem angesehenen Clan jedoch eine arrogante Art an den Tag gelegt, die ihm nicht viele Freunde beschert hatte. Und es würde mich nicht wundern, wenn der Unfall, der dazu geführt hatte, dass ich im Körper dieses Teenagers gelandet war, kein richtiger Unfall gewesen war. Saisei hatte Narben am ganzen Körper. Manche von diesem Unfall, von dem ich nur gehört hatte. Erinnerungen davon hatte ich nämlich nicht. Andere wohl von seinen ungeschickten Versuchen, andere beim Training zu beeindrucken. Und die eine oder andere stammte von der Reaktion seiner Provokationen, die er hin und wieder abgelassen hatte.

Da ich mir zwar einen Überblick von dem Gelände verschafft hatte, aber nicht wusste, wie es darüber hinaus aussah, spielte ich so lange es ging den Kranken. Da Saiseis Leben am seidenen Faden gehangen hatte – oder er eigentlich sogar gestorben war –, wurde mir eine lange Schonfrist gewährt. Von den gelegentlichen Gesprächen, die ich immer mal wieder von draußen aufschnappte, bekam ich die Bestätigung, dass Saisei mit niemandem hier wirklich engen Kontakt pflegte und er als Außenseiter galt. Das hieß, ich konnte mich verhalten, wie ich wollte. Saisei hatte zwar alles versucht, um erwachsen und weise zu wirken, war aber leicht aus der Fassung zu bringen und hatte in seiner Wut dumme Entscheidungen getroffen, die ihn regelmäßig Ärger verschafft hatten.

 

Meine Schonfrist war bald vorüber. Vermutlich, weil es für Saisei nicht ungewöhnlich war, seine Verletzungen als dramatischer darzustellen als sie waren. Ich hatte gerade mein Frühstück beendet, als der Mann zurückkam, der bei meinem Erwachen anwesend war. Er schien einige Jahre älter als Saisei zu sein und ich hatte ihn seit damals nicht mehr gesehen.

„Tut mir leid, Saisei, dass ich nicht eher nach dir sehen konnte. Dein… Unfall hat einige Fragen aufgeworfen und ich musste einige Sicherheitsvorkehrungen dafür treffen, dass es nicht erneut passiert.“, sprach er, als er eintrat.

„Das ist… verständlich.“, gab ich von mir. Meine Stimme klang noch etwas kratzig. Ich hatte nicht sehr viel Gelegenheit zum Sprechen gehabt. Niemand war für eine Unterhaltung gekommen und ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Außerdem wusste ich nicht ganz, wie Saisei eigentlich sprach. Und ich wollte nicht zu sehr auffallen. Wenn jemand bemerkte, dass in Saiseis Körper eine andere Seele steckte, könnten sie mich austreiben wollen. Da ich nicht nur seinen Körper besetzte, sondern er selbst auch nicht mehr da war, war das ein weitaus schwierigeres Unterfangen, sofern sie mich nicht einfach umbringen wollten. Ich musste erst sehen, ob jemand die Fähigkeiten hatte, das anzustellen.

„Du scheinst körperlich nicht viel Schaden abbekommen zu haben. Nichts, was unsere Mediziner noch machen können. Aber da du noch schwach auf den Beinen bist, bist du vorerst noch vom praktischen Unterricht befreit.“, erklärte er. Ich unterdrückte einen Seufzer. Dann musste ich mich vorerst nicht besonders ungeschickt anstellen. Es könnte echt nervig werden, dass ich im Körper eines talentlosen Kultivierer-Schülers steckte. Besonders, weil meine eigenen Fähigkeiten seine bei weitem überstiegen. Ich konnte nicht einfach meine Techniken benutzen. Zumal sie etwas spezieller waren.

„Das hält dich aber nicht davon ab, am theoretischen Unterricht teilzunehmen.“, riss mich seine Stimme aus meinen Gedanken.

„Zieh dich an und geh zur großen Halle! Nach dem regulären Unterricht werde ich dich abholen. Die Zeit, die die anderen mit dem Training ihrer Künste verbringen, werden wir nutzen, damit du das Verpasste nachholen kannst.“, fuhr er in einem bestimmenden Tonfall fort. Meinen Gesichtsausdruck sah er nicht mehr, weil er sich sofort umdrehte, um wieder zu gehen. Einen Moment dachte ich nach, aber es wäre wohl das Klügste, wenn ich erst mal gehorchte. Im Unterricht sollte ich wohl am schnellsten erfahren, was hier los war. Ich sprang auf, schlüpfte in die Kleider, die schon bereitlagen, und linste aus der Tür. Der Gang war leer. Dank meiner nächtlichen Tour wusste ich die Lage der Gebäude. Auf meinem Weg dahin sah ich noch andere. Viele davon älter. Scheinbar niemand, der noch im Unterricht sitzen musste. Mir wurden seltsame Blicke zugeworfen und manche tuschelten miteinander.

 

Ich erreichte die Halle und trat ein. Alle saßen bereits auf ihren Plätzen. Bei meinem Eintreten wandten sich die Blicke mir zu. Ich hatte mir scheinbar etwas zu viel Zeit gelassen, weil der Unterricht schon angefangen hatte. Vom Lehrer bekam ich einen strengen Blick.

„Saisei, es freut uns, dass Sie uns wieder mit ihrer Anwesenheit beehren. Besonders nach diesem schrecklichen Vorfall. Aber das heißt nicht, dass das Ihr Zuspätkommen rechtfertigt.“, gab er von sich. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich eine Standpauke erhalten.

„Woher soll ich denn wissen, wann ich hier erscheinen muss? Wie kann man einen Schwerkranken nur so behandeln!“, konnte ich mich nicht zurückhalten. Dafür erhielt ich einen weiteren strengen Blick vom Lehrer und teils irritierte von meinen Mitschülern.

Ich suchte mir einen freien Platz. Der Lehrer schien einen Moment zu überlegen, wie er mir antworten sollte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wollte er mir die Leviten lesen. Aber irgendjemand hatte ihn wohl dazu angehalten, mich vorerst noch zu schonen. Das hatte ich vor auszunutzen. Zumindest in den nächsten Tagen. Bis ich wieder voll straffähig war. Bei jeder Gelegenheit gab ich einen Kommentar von mir, der andere trotz ihrer Antipathie Saisei gegenüber zum Kichern brachte. Zwischendurch kritzelte ich Karikaturen, faltete Papierfiguren und feuerte Papierkügelchen auf die Hinterköpfe der anderen, wenn der Lehrer uns gerade den Rücken zugedreht hatte. Den Blicken der anderen konnte ich entnehmen, dass ich mich nicht typisch verhielt. Vielleicht sollte ich einen Gang zurückschalten?

 

Der Unterricht endete ohne größere Zwischenfälle. Ich hatte ein paar anderen Ärger eingebracht und auch selbst noch einige strenge Worte kassiert, aber das war es auch schon. Als wir endlich entlassen wurden, stürmten manche hinaus, während andere mehr Haltung zeigten. Ich folgte mit leichten Schritten.

„Saisei! Wo willst du hin?“, hielt mich eine Stimme auf, als ich den anderen hinterherrennen wollte. Ich brauchte einen Moment, ehe ich überhaupt kapierte, dass ich gemeint gewesen war. Der Name war mir noch nicht so vertraut, weil ich in den letzten Tagen kaum damit angesprochen worden war. Ich drehte mich um und musterte den Mann, nur um mich zu erinnern, dass er mir ja Privatunterricht versprochen hatte.

„Oh, ähm, zum Unterricht?“, gab ich von mir. Er legte die Stirn in Falten und musterte mich. Vermutlich hielt er mich für seltsam. Aber er schrieb es wohl dem Unfall zu. Er wandte sich halb ab.

„Wir sollten in mein Studierzimmer. Dort sind wir ungestört.“, gab er von sich und deutete mir, ihm zu folgen. Ich zögerte kurz. Ich hatte eigentlich keine Lust auf Unterricht. Besonders, weil ich alles schon gewusst hatte, was ich heute gehört hatte. Aber vielleicht würde er mir etwas zur Geschichte erzählen. Oder mir Gelegenheit geben, in irgendeinem Geschichtsbuch zu lesen.

Das Studierzimmer hatte Regale mit unzähligen Büchern. In der Mitte befand sich ein kniehoher Tisch. Ich ließ mich auf eines der Kissen nieder und wartete ab.

„Also, fangen wir mit der Geschichte an. Du bist sicher noch erschöpft und etwas Wiederholung ist fürs Erste weniger anstrengend.“, gab er von sich, holte ein dickes Buch und setzte sich neben mich. Er schlug es auf und begann ganz von vorne. Die Geschichte der ersten Dynastien, von Königen und Kaisern, Kriegen zwischen Völkern und Kämpfe gegen Monster. Ich hatte das alles schon oft genug gehört und auch, wenn ich nicht jede Jahreszahl kannte, war ich mit den Fakten vertraut.

„Weiß ich, weiß ich schon.“, unterbrach ich ihn nach ein paar Seiten. Er erzählte viel zu detailreich.

„Können wir nicht etwas… modernere Geschichte behandeln?“, fragte ich vorsichtig. Er musterte mich mit seinen hellen Augen. Weil er neben mir saß, musste ich den Kopf in den Nacken legen. Objektiv betrachtet war er ein schöner Mann. Dennoch war es seltsam, dass ich Herzklopfen bekam. Schnell wandte ich den Blick ab. Währenddessen widmete sich der Mann, dessen Namen ich immer noch nicht wusste, wieder dem Buch und blätterte um.

„Dann gehen wir die letzten hundert Jahre durch.“, beschloss er. Ich rutschte etwas näher, um besser ins Buch blicken zu können.

„Ich glaube, den Kampf gegen den General der 1000 Toten hattet ihr noch nicht durchgenommen.“, meinte er. Neugier wurde in mir wach und ich versuchte alles auf einmal zu lesen.

„Das war vor hundert Jahren?“, hakte ich nach.

„Ja, genau.“, bestätigte und begann von einem Jungen zu erzählen, von unbekannter Herkunft, der von einem Clan aufgenommen worden war. Er war talentiert, aber hielt sich selten an Regeln. Ich hörte weiter von verschiedenen Ereignissen bis zu dem Tag, an dem er von seinem Clan verstoßen worden war. Der Grund waren nicht nur seine üblichen Regelverstöße, sondern seine gesamte Kultivierungstechnik, die den dunklen Pfad eingeschlagen hatte.

Er erzählte von den Konflikten, die in einem großen Kampf ausarteten, in denen die drei großen Clans gegen die Armee der 1000 Toten angetreten waren. Details darüber gab es wohl nur wenige, da die Clans sich in Schweigen gehüllt hatten. Fakt war nur, dass viele ihr Leben verloren hatten und ein Sieg gegen den General knapp gewesen war.

Seine Stimme war nicht nur angenehm zum Zuhören, seine Beschreibungen waren auch lebhaft. Ich wusste zwar, was der Inhalt seiner Worte war, da mir diese Ereignisse bekannt waren, aber es war dennoch so spannend, dass ich mich unbewusst an ihn anlehnte.

„Wie kann man jemanden nur deswegen ausschließen?! Die brauchten doch nur einen Sündenbock. Heuchler! Die nutzen doch selbst diese Erfindungen.“, platzte es aus mir heraus, was meinen Lehrer scheinbar sehr überraschte.

„Saisei, die Details sind zwar nicht an die Öffentlichkeit gelangt, aber es ist allgemein bekannt, dass dein Großvater den General besiegt hatte.“, erwiderte er. Ich spürte die Hitze in meinem Gesicht. Das hatte gerade nicht wirklich geholfen, meine Identität geheim zu halten.

Ich wusste nicht viel über Saisei, aber er war ein arrogantes Kind gewesen, das sich etwas auf seine Herkunft eingebildet hatte. Deshalb war meine Aussage das genaue Gegenteil von seinem typischen Verhalten. Und nach allem was wohl war, war ich mir sicher, dass er Verdacht schöpfen würde.

Er legte seine Hand an meine heiße Wange, sodass ich ihn ansehen musste.

„Saisei, so etwas darfst du nie wieder sagen.“, flüsterte er streng.

„Die Lehren des Generals der 1000 Toten sind verboten. Die Schlacht damals war zwar gewonnen, aber die Dunkelheit hat den Großteil des Landes erobert. Die Ära der Kultivierer ist fast zu Ende. Es gibt nur mehr wenige von uns, nur noch die Überreste der alten Clans. Junge Kultivierer sind so selten, weil dunkle Energie jedes Potential vernichten und die Alten Angst davor haben, jemanden zu lehren, der wie der General enden könnte. Sie sind jetzt schon vorsichtig mit ihren Lehren und achten darauf, dass niemand in der Lage ist, Tote zu erwecken oder ein Ritual zur Körperbesetzung durchzuführen.“, erklärte er, sein Gesicht nah an meinem, um seine Stimme nicht mehr erheben zu müssen als notwendig.

„Du bist ein guter Junge, Saisei. Nimm dich etwas zurück!“, fügte er hinzu. Seine Stimme war sanft und zeugte von echter Sorge um mich. Ein Gefühl, das mir das Herz erwärmte.

„Was, wenn ich kein guter Junge bin?“, wollte ich wissen. Saiseis Persönlichkeit unterschied sich von meiner. Er war zwar ebenso wie ich ein Außenseiter, aber aus anderen Gründen.

„Du hast dich seit dem Vorfall verändert. Du bist… ruhiger und gleichzeitig auch nicht. Aber du hast ein gutes Herz. Deshalb sei etwas vorsichtiger! Und versuch dich mit den anderen anzufreunden.“, riet er mir. Ich nickte leicht. Er ließ seine Hand wieder sinken.

„Wir machen für heute Schluss. Du bist noch nicht wieder ganz auf den Beinen. Da sollten wir dich nicht überfordern.“, lenkte er wieder mit lauterer Stimme ab. Ich verstand und stand auf.

„Meister Yasashi! Sie werden im weißen Saal gebraucht.“, kam ein anderer Schüler und hätte uns ohnehin gestört.

 

Die Tage darauf waren gefüllt von Unterricht. Am Morgen musste ich in die große Halle und mir das Gerede des Alten anhören, der so langweilig war, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Nur, dass ich diesmal dafür auch bestraft wurde.

Yasashi gab mir anschließend Privatstunden. Anfangs war es noch interessant, als ich erfuhr, was in den letzten hundert Jahren so passiert war. Dinge, die neu für mich waren. Doch das Neue hatte ich bald alles erfahren. Die Lehren selbst kannte ich auswendig und nach einigen Tagen war ich mir sogar sicher, dass mein Wissensschatz größer war als der der Lehrer. Während ich meine Mitschüler beim Verfeinern ihrer Techniken beobachtete, verstand ich auch, was Yasashi damit meinte, dass die Ära der Kultivierer endete.

Saisei mochte als untalentiert gelten, doch die anderen waren maximal Durchschnitt. Selbst die Besten der Klasse hätten hundert Jahre zuvor noch um einen Platz in so einer Schule kämpfen müssen. Und jetzt standen sie hier und spielten sich auf, als wären sie die Elite.

Yasashis Ratschlag, mich mit den anderen anzufreunden, war schwierig umzusetzen. Und auch, wenn Saiseis Persönlichkeitswandel bei Manchen guten Anklang fand, waren die scheinbaren Anführer der Klasse immer noch gegen ihn. Deshalb gab ich es auch schnell auf mir Freunde machen zu wollen. Das war verlorene Liebesmüh. Und es war ohnehin viel lustiger, den beleidigenden Sprüchen Kontra zu geben.

Yasashi entging das natürlich nicht. Es wäre wohl verwunderlich, wenn er nicht mitbekommen hätte, wie diese Kabbeleien fast in einer Prügelei ausarteten. Dass ich nichts abbekommen hatte, verdankte ich meinem Geschick. Je länger ich in diesem Körper steckte, desto mehr konnte ich damit umgehen. Nur war ich nicht mehr so stark und schnell. Es reichte aber für diese Halbstarken aus. Ich musste allerdings aufpassen, dass ich nicht zu sehr auffiel. Deshalb musste ich mich ungeschickter anstellen als ich war und mehr als einmal dumme Antworten geben, auch wenn ich die richtigen kannte.

Die liebste Zeit verbrachte ich mit Yasashi. Sein Unterricht war für mich zwar bald nicht mehr lehrreich, aber seine Gesellschaft war angenehm. Er trug seinen Vortrag immer auf diese spezielle Weise vor. Seine Stimme war ruhig und sanft, gleichzeitig aber mitreißend. Bei ihm konnte ich mich auch etwas gehen lassen. Anfangs unterbrach ich die Lehren, von denen er gerade erzählte, noch mit fast schon unschuldigen Fragen, um eine andere Sichtweise einzuwerfen. Andere hätten mich vermutlich abgewürgt. Yasashi hingegen nahm sich für jede Frage Zeit, dachte ernsthaft darüber nach und teilte mir schließlich seine persönliche Sichtweise dafür mit. In den ersten Tagen wirkte er noch steif, schien sich seine Worte gut zu überlegen und achtete darauf, dass wir nicht gehört wurden. Aber je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto angeregter wurden unsere Diskussionen.

Doch die Zeit, die ich mit ihm genossen hatte, sollte nach etwa zwei Wochen enden. Dann war die Lehrergemeinschaft der Ansicht, ich hätte mich genug erholt und könne am aktiven Training wieder teilnehmen. Dass ich in meiner Freizeit auch mal gezeigt hatte, dass ich nicht gerade das Bett hüten musste, hatte zu dieser Erkenntnis noch beigetragen. Das hieß, ich durfte mehr Zeit mit den anderen und weniger mit Yasashi verbringen. Eine Tatsache, die mich seltsamerweise mehr störte als vermutet.

 

Nach drei Tagen, an denen ich Yasashi nur von weitem zu sehen bekommen hatte, lag ich gelangweilt in meinem Bett und starrte die Decke an. Sollte das hier mein Leben sein? Förmlich eingesperrt in dieser Schule, in einem Körper, der nicht mal ansatzweise an meine ursprünglichen Fähigkeiten mithalten konnte, mit Kultivierern, die mir nicht das Wasser reichen konnten und hier ihre mickrigen Fähigkeiten ausbildeten, während Monster, Geister, Untote, wilde Götter und Anhänger der Dunkelheit sich die Welt zu ihrem Spielplatz machten?

Ich setzte mich auf. Ich konnte nicht schlafen. Schnell sprang ich auf und verließ mein Schlafzimmer. Ohne groß nachzudenken schlich ich nach draußen. Während ich von einem Haus zum anderen eilte, immer darauf bedacht, nicht von der Nachtpatrouille erwischt zu werden, kam ich zu der Erkenntnis, dass Yasashi der einzige Grund war, warum ich nicht schon längst von hier fortgegangen war. Die Barriere, die diese Schule umgab, war ein Witz. Sie sollte Böses draußen halten und Schüler davon abhalten, einfach nachts raus zu schleichen.

Ich kam zu dem Gebäude, in dem Yasashi sein Schlafgemach hatte. Es brannte noch Licht. Ich blickte durch das Fenster. Yasashi hatte sein eigenes kleines Studierzimmer. Er saß an einem Tisch, blätterte in einem Buch, neben sich eine Kerze, die bereits halb abgebrannt war. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, weshalb er mich nicht bemerkt hatte. Doch das blieb nicht lange so. Ich wollte nämlich sehen, was er las, weshalb ich nicht bemerkte, dass mein Fuß gegen einen Stein stieß, der dann gegen einen anderen rollte. Das Geräusch war nicht sehr laut. Jedes kleine Tierchen hätte mehr Lärm machen können.

Yasashi schien es gehört zu haben. Vielleicht spürte er aber auch inzwischen meine Anwesenheit. Egal, was der Grund dafür letztendlich war, er drehte sich abrupt um. Zu schnell, als dass ich mich hätte verstecken können.

„Saisei? Was machst du da? Solltest du nicht schon längst im Bett sein?“, fragte er. Seine Stimme war gesenkt, als wollte er mich nicht verraten.

„Ich kann nicht schlafen.“, gab ich von mir. Als wäre ich ein kleines Kind, das mitten in der Nacht ins Bett seiner Eltern wollte. Erst schien es, als wollte er mich wieder wegschicken. Dann erschien aber ein kleines Lächeln auf seinen Lippen und er klopfte auf den Platz neben sich.

„Lass dich aber nicht erwischen!“, sprach er. Ich warf schnell einen Blick zurück um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, der mich sehen würde. Dann kletterte ich schnell hinein. Saiseis arrogante Art hatte ich vollkommen abgelegt.

„Was liest du da?“, wollte ich wissen.

„Das Tagebuch eines Kultivierers, der den General der 1000 Toten in seiner Jugendzeit kannte.“, antwortete er und ließ mich ins Buch sehen. Ich lehnte mich an ihn, während er mir die Details erzählte. Ich lauschte seiner Stimme, interessierte mich aber nur bedingt für die Worte. Manchmal kommentierte ich ein paar Stellen, die mir übertrieben vorkamen. Der Kultivierer war mehr als einmal in Fantasiegeschichten abgedriftet und hatte gewisse Ereignisse etwas anders geschildert, als sie vermutlich abgelaufen waren.

Ich mochte diese Zeit, die wir hier saßen. Schulter an Schulter. Da ich eigentlich nicht hier sein sollte, hatte das etwas Verbotenes an sich. Doch das schien nicht der Grund dafür, dass mein Herz schneller schlug. Es war nämlich jedes Mal so gewesen, wenn ich mit Yasashi alleine gewesen war. Besonders, wenn er mich berührte. Meist unbewusst streifte er mich nur. Manchmal griff er bewusst meine Hand oder legte seine an meine Wange, wenn er sich Sorgen um mich machte und mal wieder eindringlich auf mich einredete, dass ich den Unterricht doch nicht zu sehr stören und mich mit den anderen etwas besser verstehen sollte. Tagsüber bestand immer die Gefahr unterbrochen zu werden. Doch jetzt würde niemand hierherkommen. Zumal Yasashis Zimmer etwas abgelegener lagen.

Ich musterte Yasashis Profil, während er mir ein paar Zeilen vorlas. Er hatte sich das Haar auf dieser Seite hinter das Ohr gestrichen. Seine feinen Züge waren nur vom Kerzenlicht beleuchtet. In den hellen Iriden spiegelte sich die kleine Flamme. Ich entdeckte eine helle Narbe über der Braue, die kaum sichtbar war, weil seine Haut ebenso blass war. Seine Wimpern waren lang und dicht. Sein Mundwinkel zuckte manchmal, als wolle er ein Lächeln unterdrücken. Ich merkte erst etwas später, dass er in Schweigen verfallen war. Er sah mich direkt an und ich spürte die Hitze in meinem Gesicht, als mir klar wurde, dass ich gerade beim Starren erwischt worden war. Wäre ich schüchterner, würde ich den Blick wohl abwenden, doch meiner Natur gemäß hielt ich dem seinen stand. Der Abstand zwischen uns schien kleiner. Einen Augenblick später wusste ich, dass ich nicht der Einzige gewesen war, der etwas zwischen uns gespürt hatte. Yasashis Lippen waren weich. In meinem vorherigen Leben war ich anderen Männern nicht ganz abgeneigt gewesen. Aber mehr als ein paar belanglose Liebschaften hatte ich nie gehabt. In meiner Jugend hatte es noch Herzklopfen gegeben, allerdings nur bei Mitschülern, die mich nie auf diese Art angesehen hätten und es auch nicht versuchen wollten.

Jetzt saß ich aber da, spürte die Hand mit den schlanken Fingern an meiner Wange und schmeckte den heißen Atem, der sich mit meinem vermischte. Doch der Moment verflog und Yasashi löste seine Lippen wieder von meinen. Er atmete schwer und schien sich stark zurückhalten zu müssen.

„Wir sollten das nicht tun.“, flüsterte er.

„Wieso nicht?“, fragte ich leise. Sein Blick fand meinen wieder. Er setzte zum Sprechen an.

„Es muss doch niemand wissen. Es ist aber auch nicht verboten. Ist es falsch, wenn wir es beide wollen?“, kam ich ihm jedoch zuvor, richtete mich auf, legte die Arme um seinen Hals und setzte mich auf seinen Schoß. Er konnte nicht verhindern, dass ich seinen Zustand spürte. Und ich ließ ihn auch meinen spüren, sodass er mich nicht missverstehen konnte. Seine Arme legten sich um meine Hüften. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als würde er kapitulieren.

„Wie bist du nur so dreist geworden? Vor wenigen Wochen hättest du keine Sekunde mit mir in einem Raum verbracht, ohne mich ständig daran zu erinnern, wie nieder meine Herkunft sei und wie unwürdig es für dich wäre, von jemandem wie mir eine Lektion zu erhalten.“, gab er von sich. Saisei war echt ein Idiot gewesen.

„Ich habe gemerkt, dass das Leben zu kurz ist.“, antwortete ich kaum hörbar. Sein Blick bohrte sich in meinen und schien nach etwas zu suchen.

„Mochtest du mich vorher lieber? Magst du mein jetziges Ich nicht?“, fragte ich leise, als wollte ich den Moment zwischen uns nicht zerstören. Oder vielmehr als hätte ich Angst vor der Antwort.

Statt deutlichen Worten beugte Yasashi sich vor und küsste mich erneut. Diesmal war der Kuss nicht ganz so unschuldig. Er war wilder, als wolle er mir seine Antwort ganz deutlich zeigen.

 

Am Morgen war ich zu spät zum Unterricht gekommen und hatte zur Strafe ein Kapitel aus dem Regelbuch abschreiben müssen. Keine schöne Aufgabe, aber das konnte meine Laune kaum trüben. Dafür war die Nacht viel zu schön gewesen. In meinem vergangenen Leben war ich meist der Geber gewesen, aber sich einfach fallen lassen zu können war ebenso schön gewesen. Vielleicht vor allem deshalb, weil es mit jemanden gewesen war, mit dem ich diese Gefühle teilen konnte.

Ich malte mir bereits aus, wie ich ihn heute Nacht wieder besuchen würde. Als ich Yasashi am Morgen gesehen hatte, hatte er so getan, als hätte er mich nicht bemerkt. Aber ich hatte die Röte in seinem Gesicht gesehen. Bestimmt hielt er es für falsch, was wir gemacht hatten. Ich war ein Schüler und er mein Lehrer. Auch, wenn der Altersunterschied nur aus wenigen Jahren bestand. Und bei meinem Tod war ich älter als er gewesen. Abgesehen davon war Saisei alt genug für diese Art von Erfahrung gewesen. Was hieß, dass eine Wiederholung mit ein paar Verführungskünsten meinerseits sehr einfach machen sollte.

Aber ausprobieren sollte ich das nicht mehr können.

 

Meine Strafarbeit endete und ich wollte gerade zu meiner Klasse aufschließen, die wieder an ihren Kampfkünsten arbeiteten. Da rief eine Stimme meinen Namen. Sie kam mir irgendwie vertraut vor, aber ich hatte sie bestimmt nicht die letzten Tage gehört. Als ich mich umwandte, entdeckte ich den Besitzer dieser Stimme: ein alter Mann. Er war gehüllt in denselben Farben, in denen ich auch gerade steckte, also war es jemand von Saiseis Clan. Das konnte Probleme bedeuten. Saiseis Clan hatte früher eine hohe Stellung gehabt, war inzwischen aber ziemlich klein. Saisei war der Einzige aus seinem Clan, der diese Schule gerade besuchte. Alle anderen waren bereits älter oder noch viel zu jung. So viel hatte ich mir inzwischen zusammenreimen können. Da Saisei alleine hier war, hatte ich mich ziemlich frei bewegen können. Doch jetzt stand jemand hier, der Saisei vermutlich besser kannte. Zumindest dem vertrauten Ton nach zu urteilen. Das konnte Ärger für mich bedeuten. Und das sollte es auch.

„Saisei, ich habe von deinem Verhalten gehört und ich bin enttäuscht.“, sprach er. Scheinbar war er für mich verantwortlich. Er hatte eine gewisse autoritäre Ausstrahlung und wären die Umstände anders, hätte ich wohl so etwas wie Respekt gespürt. So aber sah ich nur einen alten Mann vor mir, der immer noch etwas sagen wollte. Er kümmerte sich nicht um die Umstehenden, die zum Großteil aus meiner Klasse bestanden. Schließlich war ich nicht mehr weit vom Übungsplatz entfernt gewesen.

Der alte Mann zählte meine Vergehen der letzten Tage auf. Aus dem Augenwinkel entdeckte ich unseren Lehrer. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war ich mir ziemlich sicher, dass er einen Brief an diesen Alten verfasst hatte, um ihn über mein Fehlverhalten zu informieren. Ich hatte es vielleicht etwas übertrieben.

„Ist doch nicht so schlimm.“, erwiderte ich, was den alten Mann sichtlich verärgerte. Vermutlich war er Saiseis Großvater. Vom Alter her könnte das passen.

Gerade als mir dieser Gedanke gekommen war, wusste ich wieder, warum mir die Stimme irgendwie vertraut vorgekommen war.

Er hielt in seiner Schimpftirade inne, die ich vollkommen ignoriert hatte. In seinen Augen entdeckte ich etwas wie Erkenntnis. Bevor ich diesen Gedanken aber verarbeiten konnte, hatte er bereits sein Schwert gezogen und den Abstand zwischen uns verringert. Ohne nachzudenken wich ich aus, tanzte förmlich, während seine Klinge so knapp neben mir vorbeiglitt, dass ich den Luftzug auf meiner Haut spürte. Doch sie verpasste mir nicht mal einen Kratzer, als ich über sie hüpfte, als wäre ich leicht wie eine Feder. Mit einem letzten Sprung landete ich auf dem nächstgelegenen Dach, welches nicht sonderlich hoch war. Meine Leichtigkeit war das Ergebnis stundenlanger Meditation, die mir geholfen hatte, an frühere Fähigkeiten anzuknüpfen.

Der Alte sah mich an, hielt inne, da ich ohnehin außer Reichweite war. Sein Blick war schwer zu deuten. Es war zu der Erkenntnis noch etwas anderes hinzugekommen. Schock, genauso wie Wut und Trauer.

Von meiner Position aus hatte ich einen guten Überblick. Meine Klassenkameraden hatten uns teils verwirrt, teils schockiert zugesehen. Ich entdeckte Yasashi unter ein paar, die von dem Aufruhr wohl gehört hatten und nach dem Rechten sehen wollten.

„Was hast du mit meinem Enkel gemacht? Du Dämon!“, sprach der Alte in Rage.

„Ich habe gar nichts gemacht.“, antwortete ich. Was auch der Wahrheit entsprach. Was geschehen war, bevor ich diesen Körper bekommen hatte, war nicht meine Schuld.

„Willst du dich wieder aus der Verantwortung ziehen?“, entgegnete er und bestätigte, was ich nur befürchtet hatte. Er kannte meine Identität.

„Verantwortung? Brauchtet ihr nicht einfach einen Sündenbock? Es war schon immer einfacher, jemandem die Schuld zuzuschieben, anstatt nach der eigentlichen Ursache zu suchen. Ihr habt einfach verurteilt, was ihr nicht kanntet oder gefürchtet habt. Und was hat es euch gebracht?“, antwortete ich und gab praktisch preis, wer ich war. Aus dem Augenwinkel sah ich manche miteinander tuscheln. Offenbar verstand es noch nicht jeder.

Aber Yasashi tat es. Ich sah es in seinem Gesicht, das sein Entsetzen darüber nicht verbergen konnte. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Futoji, Saiseis Großvater, war der Einzige hier, der auch nur ansatzweise eine Chance gegen mich gehabt hätte. Doch ich sah, dass er alt geworden war. Wie sollte er in meinem jungen Körper mithalten? Deshalb empfand ich auch keinerlei Angst. Zumal ich schon einmal gestorben war.

„Ein Häufchen Elend, das nicht mal die Grundlagen richtig beherrscht. Kein Wunder, dass die Welt der Dunkelheit verfallen ist!“, fuhr ich fort und beantwortete meine eigene Frage.

„Ich habe dich schon einmal besiegt, ich werde es wieder tun.“, entgegnete Futoji, während er auf meinen Kommentar nicht einging. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass er nichts erwidern konnte oder wegen der Sorge um seinen Enkel. Er machte einen Schritt vor, als wollte er wieder angreifen. Der Kräfteunterschied zwischen uns war aber eindeutig. Damals schon wäre ein fairer Zweikampf zu meinen Gunsten ausgefallen. Er hatte mich besiegt und hinrichten können, weil er nicht alleine gewesen war. Aber jetzt war seine Unterstützung lachhaft. Zumal kaum jemand den Eindruck machte, als würde er sich auf eine Attacke einstellen.

„Ach, kannst du das wirklich?“, gab ich von mir. Futoji verstand, dass ich nicht seine körperliche Stärke meinte. Es war die Tatsache, dass meine Seele im Körper seines Enkels steckte.

„Ist das nicht ironisch, dass ich gerade hier gelandet bin?“, fügte ich hinzu, legte eine Hand auf meine Brust und musste tatsächlich etwas lachen. Als Rachegeist war das der perfekte Körper. Ich könnte meinen Mörder auf eine ganz andere Art quälen.

Wenn ich Interesse daran hätte.

Unter anderen Umständen hätte ich einfach angegriffen und die Rachegelüste, die in mir brodelten befriedigt. Doch mehr als die Befriedigung dieser beschäftigte mich der Blick von Yasashi. Futoji aus der Fassung zu bringen und ihn zum Nachdenken zu zwingen diente lediglich dazu, auch mir etwas Zeit zu verschaffen. Allerdings musste ich nicht überlegen, wie ich dieses Problem lösen könnte. Ich musste mich nur entscheiden, was mir wichtiger war.

Einen Moment schloss ich die Augen und stieß die angehaltene Luft aus. Als ich die Augen wieder öffnete, verschränkte ich die Arme vor der Brust.

„Futoji, die Alten mochten meine Denkweise nicht. Sie wollten lieber an ihren Traditionen festhalten, anstatt neue Methoden in Betracht zu ziehen. Selbst, wenn sie mit diesen neuen viel effizienter hätten arbeiten und vielen mehr helfen können. Ich war für sie nur ein Schandfleck und da sie mich nicht einfach loswerden konnten, erklärten sie mich zu dem personifizierten Bösen. Mag sein, dass meine Methoden moralisch fragwürdig sind. Aber was ist falsch daran, dunkle Energie und Rachegeister zu nutzen, die andernfalls nur Schaden anrichten würden?“, gab ich von mir. Er setzte zum Sprechen an, doch er konnte mir nicht antworten. Eine ähnliche Unterhaltung hatten wir in unserer Jugend einst gehabt. Damals war es allerdings reine Theorie gewesen. Und ich hatte in seinen Augen gesehen, dass er meinen Ideen durchaus etwas abgewinnen hatte können.

„Unserer einstigen Freundschaft wegen lass ich es für heute gut sein.“, sprach ich ruhiger, setzte mich in Bewegung und sprang von einem Dach zum anderen, um zur Mauer zu gelangen. Futoji war längst nicht mehr so agil wie früher. Aber er verfügte gerade über ein Schwert, während ich unbewaffnet war. Außerhalb des Trainings durften wir keine Waffen mit uns führen.

Ich erreichte die Mauer. Die Barriere war auch ohne Hilfsmittel für mich einfach zu durchqueren. Ich sprang auf der anderen Seite hinab und landete sanft am Boden. Bevor mir jemand folgen konnte, war ich im Wald verschwunden.

 

Es waren einige Tage vergangen, seit ich die Schule verlassen hatte. Je weiter ich gegangen war, desto weniger Einfluss schienen die letzten Kultivierer in den Dörfern zu haben. Ich hatte meine Kleidung getauscht, mir Proviant geklaut und in einem monsterbefallenen Wald ein paar Unglückliche von ihren Waffen befreit, für die sie ohnehin keine Verwendung mehr hatten. Ich reiste eher ziellos, besonders nachdem ich mir das angemessene Equipment zugelegt hatte. Nachts suchte ich mir eine gute Lagerstelle, machte eine einfache Barriere und legte mich zur Ruhe. Meine Gedanken wanderten oft zu Yasashi. Es war dämlich, dass ich noch an dieser Liebschaft hing. Ich steckte nicht mal in meinen eigenen Körper. Andererseits wusste ich aus unseren Gesprächen, dass Yasashi mit Saisei nicht diese Art von Beziehung hatte. Er hatte nicht mal diese Art von Interesse gehabt. Für ihn war er nur ein Schüler gewesen. Bis zu diesem Vorfall, bei dem er sich Vorwürfe gemacht hatte, dass er es nicht hatte verhindern können.

Ich seufzte. Ein paar Jahre später und niemand hätte mich mehr erkannt. Ich hätte ganz neu anfangen können. Ich musterte meine Hände, die scheinbar noch nie wirklich harte Arbeit kennengelernt hatten. Saisei war eingebildet gewesen, aber kein schlechter Junger. Er hatte nur Pech gehabt. Hätte er in meiner Zeit gelebt, hätte ich vermutlich versucht, mich mit ihm anzufreunden. Aber nur, weil ich Herausforderungen dieser Art liebte.

Ich schloss die Augen, während ich mich dazu zwang, über meine Situation nachzudenken. Es war wie früher. Schon damals hatte ich kein Ziel gehabt. Ich hatte nur reagiert. Ich war angegriffen worden. Deshalb hatte ich mich verteidigt. Natürlich stand es in den Geschichtsbüchern anders. Aber in den Büchern wurden mir auch Taten zugeschrieben, mit denen ich nichts zu tun hatte. Gut, manche wären ohne meine Erfindungen nicht möglich gewesen, aber dennoch war es nicht meine Schuld, wenn jemand mein Werkzeug für Böses nutzte.

Während ich noch mit mir selbst darüber debattierte, wie viel Schuld mir wirklich zuzuschreiben war, spürte ich eine näherkommende Präsenz. Es war kein Monster oder Untoter. Allerdings konnte ein Kultivierer mir ebenso gefährlich werden. Ich legte eine Hand am Griff meines Schwertes und beschloss mir bei Gelegenheit eines mit Seele zu schmieden, das auch fliegen kann, so wie ich es früher hatte. Ich starrte in die Dunkelheit. Irgendwann sah ich ein kleines Licht, das immer näherkam. Ich war angespannt, nahm aber eine lockere Haltung an. Sollte diese Person feindlich gesinnt sein, wollte ich mein Überraschungsmoment nicht weggeben, indem ich zu angespannt wirkte.

Das Licht stammte von einer Fackel. Es dauerte noch eine Weile, ehe die Gestalt vor mir stehen blieb.

„Saisei!“, erklang eine Stimme. Meine Hand löste sich vom Griff meines Schwertes.

„Was machst du hier?“, fragte ich. Er schob die Kapuze vom Kopf. Das Lächeln auf Yasashis Lippen war warm.

„Ich habe dich gesucht.“, antwortete er, ging vor mir in die Knie und steckte die Fackel in den Boden. Das Licht spiegelte sich in seinen hellen Augen wie in jener Nacht. Nur schien es diesmal noch heller, weil unsere Umgebung aus purer Dunkelheit bestand.

„Wie hast du mich gefunden?“, wollte ich wissen.

„Ich habe mich durchgefragt.“, kam es von ihm. Ich beugte mich vor und sah ihm in die Augen.

„Ich bin nicht Saisei.“, gab ich von mir. Etwas, das wir beide wussten.

„Ich weiß, General.“, antwortete er und sein Lächeln wirkte etwas gezwungen. Vermutlich wäre ihm jeder andere Geist lieber gewesen.

„Tsumi. Das ist mein Geburtsname.“, sagte ich leise. Sein Gesicht entspannte sich.

„Wieso bist du mir gefolgt?“, wollte ich wissen. Er senkte den Blick und starrte auf einen Punkt zwischen uns.

„Ich habe über deine Worte nachgedacht. Nicht nur die, die du Futoji gegenüber fallen gelassen hast, sondern auch während unserer Gespräche.“, begann er und blickte auf.

„Ich kann dir nicht vorbehaltlos zustimmen. Es gibt Grenzen, an die sich Kultivierer halten sollen, um nicht der Dunkelheit zu verfallen. Allerdings ist auch deine Ansichtsweise nicht verkehrt.“, fuhr er fort und legte seine Hand auf meine.

„Außerdem glaube ich dir, dass du nicht grundlos andere umgebracht und Länder zerstört hast. Mein Großvater war in einigen Fällen involviert gewesen, die dir zugeschrieben worden waren. Er kannte dich nicht gut, du ihn vermutlich auch nicht, aber er hatte mir mehr als einmal gesagt, dass es viele Ungereimtheiten gab und er nicht glaubte, dass du jedes Mal der Schuldige warst.“, erzählte er. Seine Stimme war sanft und verriet, dass er dieser Einschätzung einfach glauben wollte.

„Auch, wenn ich nicht alles getan habe, vieles stimmt. Ich habe zerstört, ich habe getötet.“, erwiderte ich. Yasashis Blick wurde betrübt. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er diese Gedanken vertreiben.

„Das ist alles Vergangenheit, Sai-… Tsumi. Der General ist für viele nur mehr eine Legende. Viele sind bereits der Meinung, der Titel stamme daher, dass du deine Armee in ihren Tod hast rennen lassen.“, widersprach er. Das tanzende Licht der Fackel erhellte sein Gesicht und schien es unwirklich wirken. Ich streckte die Hand aus. Ich musste prüfen, ob ich nicht einfach nur träumte. Aber ich spürte warme Haut unter meinen Fingern. Yasashi beugte sich weiter vor. Sein Gesicht war dem meinen ganz nah.

„Wir fangen von vorne an. Nur wir beide. Was sagst du, Tsumi?“, flüsterte er. Ich lächelte leicht.

„Was schlägst du vor, was wir machen sollen?“, erkundigte ich mich. Sein Ausdruck wurde ernst.

„Erst sollten wir den Schuldigen hierfür finden. Saiseis… Unfall war keiner. Ich habe es untersucht. Es gibt zu viele Ungereimtheiten. Außerdem glaube ich nicht, dass es Zufall war, dass gerade du seinen Körper besetzt hast. Und meines Wissens nach sollte so etwas nur mit einem Ritual möglich sein.“, gab er von sich und wartete gespannt auf meine Antwort.

„Stimmt. Es war mehr ein Ziehen. Ich war nicht freiwillig in diesen Körper gekehrt.“, bestätigte ich. Dann grinste ich ihn an.

„Aber erst sollten wir morgen mal damit anfangen, dir ein paar Dinge beizubringen. Nachdem wir gut geschlafen haben.“, fügte ich hinzu und zog ihn an mich ran. Sein Lächeln kehrte zurück und er übernahm die Führung. Jedes Zeichen von Zurückhaltung war vollkommen verflogen. Yasashi schien mir vollkommen zu vertrauen. Es war ein schönes Gefühl, einen Gefährten an meiner Seite zu wissen. Die Zeit in Einsamkeit schien für mich endlich vorbei.

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2022

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