Eine gedämpfte Stimme hatte mich geweckt. Ich verstand nicht, was gesagt wurde. Erst als eine Tür zufiel, wurde ich richtig wach. Ich öffnete die Augen und stützte mich an den Ellbogen auf. Einen Moment lauschte ich, doch in der Wohnung war es still geworden. Ich richtete mich auf, griff nach meinen Klamotten, die seit letzter Nacht am Boden gelegen hatten, um mich anzuziehen. Mit dem Stoff am Leib stand ich auf und öffnete die Schlafzimmertür. Wie erwartet war ich alleine.
Ich seufzte und ging in die Küche. Als ich den Kühlschrank öffnete, war dieser aber so gut wie leer.
Sofort schlug ich sie wieder zu, ging in den Flur, griff nach meinen Sachen und verließ die Wohnung.
Kahle Bäume auf meinem Weg zeugten von dem andauernden Winter, der sich immer noch nicht verabschieden wollte. Die paar Schritte bis zum nächsten Café kannte ich quasi auswendig.
Ein kleines Glöckchen über der Tür verkündete mein Eintreten.
Es war fast leer hier. Ich ging zum Tresen und setzte mich auf einen der Hocker.
„Guten Morgen, Sonnenschein! Mal wieder Besuch gehabt?“, grüßte mich der Kellner mit einem schiefen Lächeln.
„Woher weißt du, dass ich Besuch hatte?“, bohrte ich nach.
„Du kommst immer um die Zeit, wenn du welchen hattest.“, erwiderte er. Ich dachte einen Moment darüber nach, dann stützte ich meinen Kopf auf einer Hand ab und lächelte ihn an.
„Bist du etwa neidisch?“, fragte ich in flirtendem Tonfall. Er schnaubte und drehte sich um, während er den Kopf schüttelte.
„Du bist echt unverbesserlich, Sachio.“, kommentierte er mein Verhalten und werkelte an der Kaffeemaschine herum. Als er sich wieder umdrehte, stellte er mir eine seiner Kreationen hin, ohne, dass ich bestellt hatte.
„Du bist wirklich süß, aber absolut nicht mein Typ.“, fügte er hinzu. Ich murrte unwillig.
„Lust auf Pancakes? Habe ein neues Rezept bekommen.“, lenkte er ab. Sofort stimmte ich zu. Ich flirtete ohnehin nur aus Gewohnheit mit ihm. So kannten mich die meisten. Ich flirtete gerne mit süßen Typen.
„Sachio, du hast schon wieder die erste Stunde geschwänzt.“, schimpfte Shizuka, als ich ihr am Campus entgegenkam. Meine Laune sank um ein paar Stufen.
„Reg dich mal ab! Hab nicht viel verpasst.“, wehrte ich ab.
„Er hat einen schlechten Einfluss auf dich.“, kommentierte meine beste Freundin.
„Hat er nicht.“, verteidigte ich ihn sofort.
„Seit du ihn kennst, lässt du dein Studium schleifen.“, meinte sie.
„Du übertreibst. Ich habe ein paar Stunden verpasst, das ist alles. Ich habe genug Punkte, um das Semester zu schaffen. Es muss nicht jeder mit Bestnoten abschließen wie du.“, entgegnete ich und ging an ihr vorbei.
„Erst sind es ein paar Stunden, dann brichst du ganz ab. Der Kerl tut dir nicht gut. Außerdem ist er viel zu alt für dich.“, fuhr Shizuka fort.
„Mitsuaki ist nicht zu alt!“, widersprach ich sofort.
„Der Typ ist mindestens 40.“, gab Shizuka von sich.
„Er ist 32. 9 Jahre Unterschied sind nicht so viel. Und wir sind beide erwachsene Männer.“, stellte ich klar. Shizuka ergriff mein Handgelenk und brachte mich zum Stehenbleiben.
„Ihr seid seit fast einem Jahr zusammen, aber ich habe ihn noch immer nicht kennengelernt. Hätte ich euch nicht mal zufällig gesehen, als ich dir was vorbeigebracht habe, wüsste ich nichts von ihm. Der Typ verbirgt doch was. Sachio, ich mach mir Sorgen um dich.“, sagte sie leise. Ihr Ausdruck spiegelte ihre Worte wider.
„Er hat keine Geheimnisse. Aber es ist… kompliziert.“, antwortete ich ausweichend. Ich konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Ich müsste zu viel erklären und mich mit Dingen auseinandersetzen, über die ich nicht nachdenken wollte.
„Die Vorlesung fängt gleich an.“, lenkte ich schnell ab, bevor sie etwas darauf sagen konnte.
Mitsuaki war sehr schweigsam. Das war er eigentlich immer, aber heute etwas mehr als sonst. Shizuka hatte mich ziemlich runtergezogen. Da half es auch wenig, dass Mitsuaki heute mit mir zu Abend aß. Eine seltene Gelegenheit. Meist kam er erst zu mir, wenn er schon anderswo gegessen hatte.
„Wie war dein Tag?“, versuchte ich mich an etwas Smalltalk. Normalerweise fielen mir lockere Unterhaltungen leichter, aber heute nicht. Meine Freundin hatte mich zum Nachdenken gezwungen.
„Wie immer.“, antwortete Mitsuaki. Er war schon immer wortkarg gewesen. Heute aber noch mehr.
Ich musterte mein Gegenüber, während er schweigend aß. Er kaute jeden Bissen bedächtig, doch es wirkte nicht so, als ob er den Geschmack recht genießen würde. Diesen Ausdruck hatte er immer auf. Auch, wenn ich seit Monaten darum bemüht war, das zu ändern. Ich hatte herausgefunden, was er gerne aß, und das gekocht, aber nicht das gewünschte Ergebnis bekommen. Früher hatte er sich mehr bemüht, auch mal zu lächeln.
Mitsuaki wirkte älter als sonst. Ich konnte mir schon denken, was ihn beschäftigte. Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Es würde nur die Stimmung zerstören, wenn ich nachfragte.
Er legte sein Besteck ab und schob den fast leeren Teller von sich.
„Danke fürs Essen!“, murmelte er aus Höflichkeit. Ich stand auf und griff nach dem schmutzigen Geschirr.
„Ich hab noch Nachtisch. Der Cafébesitzer hat was Neues ausprobiert und ich konnte ihn überreden, mir was zu geben. Wir sind also die ersten, die probieren.“, gab ich mit möglichst fröhlicher Stimme von mir, während ich alles in die Küche brachte.
„Ah, schön.“, antwortete Mitsuaki nur. Ich stellte das Geschirr ab und holte aus dem Kühlschrank die Nachspeise, die ich auf einem Teller anrichtete. Damit ging ich zurück und stellte sie ihm vor die Nase. Er sah ihn erst an, dann griff er nach der kleinen Gabel und begann zu essen. Ohne die Spur von Begeisterung. Ich setzte mich an meinen Platz ihm gegenüber und aß meinen eigenen Nachtisch, während ich ihn musterte. Sein dunkles Haar war leicht zerzaust. Die Krawatte seines Anzugs hatte er bereits gelockert. Seine Augen wirkten stumpf und auf seiner Stirn entdeckte ich eine neue Falte. Ich würde gerne seine Sorgen vertreiben. Aber ich war machtlos. Er wollte sich mir ja nicht mal anvertrauen. Vermutlich hatte er auch keine allzu großen Erwartungen an einen jungen Studenten. Ich war schon froh, dass er mich nicht wie ein Kind behandelte.
Sein Teller war leer und ich stand auf. Anstatt mit dem Geschirr in der Küche zu verschwinden, setzte ich mich einfach auf seinen Schoß. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und grinste ihn an.
„Willst du zum spaßigen Teil übergehen?“, fragte ich vergnügt. Ich beugte mich vor und hielt meine Lippen dicht an sein Ohr.
„Ich sorg dafür, dass du alles andere vergisst.“, flüsterte ich mit rauer Stimme. Er keuchte und legte den Arm um meine Taille. Dann spürte ich seine Zähne in meinem Hals. Im nächsten Moment stand er mit mir im Arm auf. Er trug mich in mein Schlafzimmer, platzierte mich in mein Bett und war sofort über mir. Er wirkte wie ausgewechselt. Er löste seine Krawatte komplett und warf sie auf den Boden. Sein Hemd folgte. Ich zog mir ebenfalls das Oberteil aus und erkundete dann mit den Händen seine Haut. Ich kannte inzwischen jeden Zentimeter, doch ich wurde nie müde, sie immer wieder zu befühlen. Manchmal entdeckte ich ein Muttermal, das mir vorher noch nie aufgefallen war. Oder eine kleine Narbe. Hin und wieder hatte er einen neuen blauen Fleck. Ich mochte das Gefühl von Haut auf Haut.
Mitsuaki ließ mir eine Weile meinen Willen. Er hatte sich wohl daran gewöhnt. Er befreite uns währenddessen vom restlichen Stoff, der unsere Körper bedeckte. Seine Hand strich über meine Körpermitte.
Ich schubste ihn von mir herunter, auf seinen Rücken und kletterte auf ihn.
„Ich habe doch versprochen, dich alles vergessen zu lassen.“, raunte ich, als er mich für einen Moment verdutzt ansah. Dann legte ich meine Lippen auf seine Brust und wanderte hinab. Mit zarten Küssen und leichten Bissen bahnte ich mir einen Weg weiter hinab. Ich kannte seine Lieblingsstellen. Jede einzelne erogene Zone. Ich wusste genau, wie ich ihn um den Verstand bringen konnte. Ich verwöhnte ihn und würde nicht aufhören, bis der Morgen anbrach oder wir beide völlig erschöpft ins Land der Träume glitten.
Am Morgen öffnete ich die Augen, um ein bekanntes Bild vorzufinden. Zerknüllte Laken neben mir, ein Abdruck auf dem Kopfpolster, aber ohne den Verursacher. Ich konnte den Seufzer nicht zurückhalten. Vorbei war der Traum. Der Alltag ging weiter.
Ich stand auf und ging meiner üblichen Routine nach, die ich immer nach einer Nacht mit Mitsuaki verfolgte.
„Kommst du nachher mit?“, fragte Shizuka mich, während wir am Campus an unserem üblichen Platz saßen. Unsere Freunde diskutierten über die Vorlesung eines neuen Dozenten. Ich war geistig anderweitig beschäftigt gewesen. Shizukas Frage hatte mich jedoch aus meinen Gedanken gerissen. Ich musterte sie für einen Moment, dann kapierte ich, was sie von mir wollte.
„Oh, ins Krankenhaus? Wäre das nicht eine gute Gelegenheit?“, gab ich von mir und grinste sie vielsagend an. Ich sah die leichte Röte auf ihren Wangen.
„Was für eine Gelegenheit? Mich über Montaros Übermut lustig zu machen? Dafür brauch ich doch Publikum.“, wich sie mir aus. Ich rollte mit den Augen.
„Dein Schwarm liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus und du willst, dass ich dich begleite? Dabei könntest du dich doch so schön um ihn kümmern.“, gab ich in zweideutigem Tonfall von mir. Sie schlug mir gegen den Oberarm.
„Idiot.“, schimpfte sie leise. Ich kicherte und rieb die getroffene Stelle.
„Ich komm mit.“, beantwortete ich schließlich ihre Frage und hörte auf, sie aufzuziehen. Sie schnaubte und lächelte mich an.
Unsere kleine Gruppe löste sich bald auf und ich machte mich mit Shizuka auf den Weg ins Krankenhaus, in dem Montaro seit gestern lag. Er hatte sich beim Fußballspielen das Bein gebrochen. Eine Katastrophe für einen Sportfreak wie ihn, aber vielleicht hatte Shizuka endlich mal die Chance, ihm etwas näher zu kommen. Schließlich schwärmte sie schon ewig für ihn.
Wir fragten nach seiner Zimmernummer und machten uns dann auf den Weg. Währenddessen versuchte Shizuka mich davon zu überzeugen, dass Montaro nur ein riesiger Trottel war, von dem sie ganz bestimmt nichts wollte.
Am Gang entdeckte ich ein bekanntes Gesicht. Erst einen Moment später bemerkte ich, dass Shizuka in ihrem Redefluss gestoppt hatte.
„Ist dort drüben nicht dein…?“, fragte sie.
„Sieht ihm nur ähnlich.“, meinte ich nüchtern und schob sie weiter. Wir erreichten das richtige Zimmer und traten ein. Unser Freund und Sportfreak saß in dem Krankenhausbett, ein Bein bis übers Knie in Gips eingepackt und auf einem Kissen gebettet. Shizuka fragte sofort, wie es ihm ging, und hielt ihm dann einen Vortrag darüber, dass er nicht immer so leichtsinnig sein durfte. Ich stieß ihr meinen Ellbogen leicht in die Rippen, um sie davon abzuhalten, sich ihre Chancen komplett zu verbauen. Sie stockte in ihrem Vortrag und erinnerte sich an ihr Mitbringsel. Ich machte Scherze über Montaros Unfall, tat, was ich am besten konnte und lenkte das Gespräch in eine unbedarfte Richtung. Bald unterhielten sich Shizuka und Montaro ganz gut, auch wenn es nur um die Uni ging. Shizuka hatte sich auf die Bettkante gesetzt und schien sich ganz wohl zu fühlen. Deshalb trat ich vorsichtig den Rückzug an, ohne die Stimmung zu zerstören.
Am Flur atmete ich einen Moment durch. Es war anstrengend immer so unbedarft zu sein. Ich setzte mich wieder in Bewegung und folgte den Schildern. Ich kam in einen Bereich, der ruhiger war. Kaum Leute am Flur.
Er saß auf einem Stuhl, ließ den Kopf hängen und wirkte erschöpft. Ich zögerte. Dann trat ich zu ihm.
„Du wirkst müde.“, brach ich mein Schweigen. Er zuckte leicht zusammen und hob den Kopf. Überrascht sah er mich an.
„Sachio? Was machst du hier?“, fragte er, als ob es so abwegig wäre, mich hier zu treffen.
„Einen Freund besuchen. Hat sich das Bein gebrochen.“, antwortete ich knapp. Dann sah ich, wie er sich verspannte. Vermutlich, weil er dachte, ich wäre ebenso neugierig. Ich setzte mich neben ihn und grinste leicht.
„Hast du nachher etwas Zeit? Wir könnten essen gehen. Ich könnte echt einen Happen vertragen.“, schlug ich in lockerem Tonfall vor. Er entspannte sich wieder und schüttelte den Kopf.
„Ich muss zurück in die Firma.“, lehnte er ab. Leider war sein Tonfall nicht sonderlich wehmütig.
„Ah, verstehe.“, gab ich von mir. Meine Stimmung war gedämpft. Ich beobachtete, wie er seine Finger knetete. Eine Weile schwiegen wir. In der Nähe öffnete sich eine Tür. Eine Schwester trat aus dem Zimmer, schenkte mir ein höfliches Lächeln, als sich unsere Blicke trafen, und ging dann den Gang hinunter.
„Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass wir uns begegnet sind.“, brach ich mein Schweigen. Mitsuaki drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Er sagte aber nichts dazu und ich verstand, was ich seit einigen Wochen verdrängt hatte.
Ich stand auf und wollte gehen, doch dann hielt ich inne.
„Ich dachte, wenn ich geduldig bin, würde es reichen. Aber… sie ist wie ein Geist, der dich heimsucht.“, sagte ich zu ihm. Einen Moment blieb er ruhig sitzen, dann richtete er sich auf und sah mich völlig überrascht an.
„Oder vielmehr bist du es, der nicht loslassen kann.“, fügte ich hinzu.
„Woher…?“, fragte er. Ich lächelte traurig.
„Du. In unserer ersten Nacht. Wir haben nichts gemacht, außer reden.“, antwortete ich.
„Warum hast du gelogen?“, wollte er wissen. Ich zuckte mit den Schultern.
„Du schienst, als hättest du ein Problem damit, einem Wildfremden etwas so Persönliches anvertraut zu haben. Und da du so betrunken warst und dich nicht mehr erinnern konntest, habe ich einfach mitgespielt, als du dachtest, wir wären miteinander in die Kiste gesprungen.“, gestand ich, was ich ein ganzes Jahr lang für mich behalten hatte.
Mitsuakis Blick war undefinierbar.
„Ich habe mich wirklich angestrengt. Ich habe mich zurückgehalten. Aber du hast mich nie angesehen. Du warst das ganze Jahr mit deinen eigenen Schuldgefühlen beschäftigt, dass du niemand anderen mehr gesehen hast.“, sprach ich weiter. Etwas in meiner Brust zog sich zusammen. Wenn ich weiterredete, gab es kein Zurück mehr. Das war mir klar. Allerdings konnte ich nicht mehr aufhören. All meine Gefühle, die sich in meinem Inneren angestaut hatten, wollten auf einmal raus.
„Wieso hast du nichts gesagt?“, fragte er kaum hörbar. Ich versuchte mich wieder an einem Grinsen, aber ich spürte, dass es nicht gut war.
„Hätte ich meine Gefühle gestanden, wärst du doch sofort abgehauen. Solange du dachtest, zwischen uns wäre es nicht mehr als etwas Körperliches, bist du zu mir gekommen. Aber inzwischen ist mir klar, dass ich von Anfang an keine Chance hatte. Wie soll ich gegen jemanden gewinnen, der absolut perfekt ist? In deiner Welt ist sie vollkommen idealisiert und ich komme nie dagegen an.“, erklärte ich mich. Er presste die Lippen fest aufeinander und wusste wohl nichts zu sagen.
„Ich verstehe.“, kommentierte ich sein Schweigen.
„Ich wünsche dir alles Gute. Ich hoffe, dein Leben löst sich bald von diesem Stillstand. Aber ich werde wohl nicht da sein, um es zu sehen. Ich würde es nicht aushalten.“, fuhr ich fort.
„Ich würde dich ja zum Abschied gerne küssen, aber… das ist wohl nicht der richtige Ort dafür. Also, leb wohl, Mitsuaki!“, beendete ich unser sehr einseitiges Gespräch.
Dann drehte ich um und setzte mich in Bewegung. Mit jedem Schritt schwand mehr und mehr die Hoffnung, dass Mitsuaki mich aufhalten würde. Als ich den Aufzug erreichte und mich an die Wand lehnte, sah ich ihn wieder vorgebeugt dasitzen und den Boden vor seinen Füßen anstarren. Mein Herz wurde noch schwerer, als sich die Türen schlossen. Nach einem Jahr hatte ich auf einen etwas anderen Abschied gehofft. Zumindest ein paar Worte. Aber bekommen hatte ich nichts.
Wie in Trance verließ ich das Krankenhaus. Ich war so darauf konzentriert, nicht einfach in Tränen auszubrechen, dass ich richtig zusammenzuckte, als mir jemand die Hand auf die Schulter legte.
„Sachio, was machst du noch hier? Bist du nicht schon längst gegangen?“, fragte Shizuka. Ich drehte mich zu ihr um. An ihrer Reaktion erkannte ich, dass ich schrecklich aussehen musste. Mir war auch nur nach Heulen zumute.
„Er war es doch! Ich wusste es.“, gab sie von sich und griff meine Hände.
„Was hat er getan? Hat er dich verleugnet? Hat er jemand anderen? Wo ist dieser Arsch?“, fragte meine Freundin sofort. Ich schüttelte den Kopf, konnte aber noch nicht sprechen. Sonst würde ich auf der Stelle heulen. Stattdessen zog ich sie weiter in den Park auf der anderen Straßenseite. Wir setzten uns auf eine Bank, die etwas abgelegen war, zwischen kahlen Bäumen, die meine Stimmung widerspiegelten. Erst nach einer Weile war ich zum Sprechen imstande.
„Das Ganze ist etwas komplizierter.“, meinte ich.
„Er hat nichts getan. Ich habe Schluss gemacht.“, begann ich, schüttelte aber dann den Kopf.
„Eigentlich waren wir nicht mal zusammen.“, korrigierte ich mich.
„Was hat er im Krankenhaus gemacht?“, wollte meine Freundin ruhig wissen. Ich zog einen Fuß auf die Bank, umschlang mein Bein mit den Armen und legte mein Kinn darauf ab.
„Er hat seine Frau besucht.“, antwortete ich. Shizuka sprang sofort auf.
„Dieser Mistkerl!“, rief sie aus. Ich ergriff ihr Handgelenk, damit sie nicht einfach abhauen konnte.
„Ich wusste von Anfang an Bescheid. Auch, wenn er dachte, ich wusste es nicht.“, erklärte ich und wartete darauf, dass sie wieder Platz nahm.
„Warum warst du mit einem verheirateten Kerl zusammen? Früher hättest du doch einen weiten Bogen um solche Typen gemacht.“, bohrte meine Freundin nach.
„Wie gesagt, das ist kompliziert. Ich habe Mitsuaki vor einem Jahr kennengelernt. Er war ziemlich betrunken gewesen. Wir hatten uns gut unterhalten und weil meine Wohnung in der Nähe war, habe ich ihn zu mir eingeladen. Ich hatte mir auch Sorgen gemacht, wo er in seinem Zustand enden könnte. Bei mir haben wir weitergetrunken. Dann hat er angefangen zu reden und mir so ziemlich alles erzählt. Aber am nächsten Morgen hatte er alles vergessen. Ich wusste, dass er mich nie wiedersehen wollen würde, wenn er die Wahrheit wusste, deshalb hatte ich ihn in dem Glauben gelassen, wir hätten Sex gehabt. Und ich hatte ihn dazu gebracht, mich wieder zu besuchen. Ich hatte mich so gegeben, als würde es mir nur um das Eine gehen. Anfangs jedenfalls. Ich wollte ihm meine Gefühle übermitteln, aber das war erfolglos geblieben.“, erzählte ich, was ich bisher verborgen hatte. Shizuka ergriff schweigend meine Hand und drückte sie tröstend.
„Seine Frau liegt im Koma.“, offenbarte ich schließlich Mitsuakis Geheimnis. Shizuka verspannte sich.
„Oder vielmehr: Sie ist hirntot. Seit einem Jahr. Mitsuaki gibt sich die Schuld dafür. Er ist eigentlich schwul. Sie haben aus Vernunft geheiratet. Seine Frau wusste es wohl. Sie hatten sich schon geliebt, aber eher auf platonische Weise. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Er war ziemlich betrunken, als er es erzählt hatte. Aber er war wohl bei einem One Night Stand und hatte die letzte Bahn verpasst. Er hatte seine Frau angerufen, damit sie ihn abholte. Aber es gab einen Unfall.“, führte ich näher aus und schwieg dann, um Shizuka einen Moment zu geben, alles zu verarbeiten. Ich konnte das Gefühlschaos in ihrem Inneren sehen.
„Aber… wenn sie hirntot ist, dann…“, stotterte sie. Ich presste die Lippen aufeinander.
„Er will es wohl nicht wahrhaben. Er hofft auf ein Wunder.“, flüsterte ich.
„Und du hast die ganze Zeit gewartet. Warum hast du nichts gesagt?“, gab sie ebenso leise von sich.
„Weil ich mich dann mit meinen Gefühlen beschäftigen hätte müssen. Wie hätte ich damit umgehen sollen, in einen verheirateten Mann verliebt zu sein, der nur seine idealisierte Frau im Kopf hat, die keine Fehler mehr machen konnte?“, antwortete ich leise. Im nächsten Augenblick schlang meine Freundin ihre Arme um meinen Hals und drückte mich fest an sich. Ich war froh, dass sie mir keinen Vortrag hielt, während sie mir vorhielt, dass sie mich die ganze Zeit gewarnt hatte.
„Warum habe ich nur so Pech, wenn es um Beziehungen geht?“, murmelte ich, während mir die ersten Tränen die Wange hinunterkullerten.
„Sorry, das zu sagen, aber du wirkst leider so, als wärst du jemand, der nur das Eine will.“, antwortete Shizuka viel zu ehrlich.
„Sachio, du bist der liebste und treueste Typ, den ich kenne. Dich als Freund zu haben ist ein Geschenk. Aber man muss dich erst mal kennenlernen, um das zu sehen.“, fügte sie hinzu. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Halsbeuge und weinte stumm.
Shizuka wartete geduldig, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
Es war ein paar Tage her, seit ich mich von Mitsuaki gelöst hatte. Ich hatte einen Tag lang die Uni geschwänzt und mich ganz meinem Liebeskummer hingegeben. Dann hatte ich wieder ganz normal den Unterricht besucht. Ich grinste meine Freunde an und führte mich auf wie sonst. Nur Shizuka wusste, dass es in meinem Inneren ganz anders aussah. Sie wollte mich aufmuntern, versuchte mich abzulenken, aber ich wollte einfach nur etwas Zeit allein. Noch keine neuen Typen kennenlernen. Schließlich hatte ich ein ganzes Jahr ausschließlich mit einem einzigen verbracht. Ob Mitsuaki neben mir noch andere hatte, wusste ich nicht. Ich glaubte es aber nicht. Mitsuaki war mit seiner Arbeit immer sehr beschäftigt gewesen. Da wäre es für ihn nur unnötiger Stress gewesen, hätte er neben mir noch andere gehabt. Auch wenn mir klar war, dass er seine Zeit nicht mit mir verbracht hatte, weil er meine Gefühle erwidern würde.
Wir verabschiedeten uns von den anderen aus unserer Lerngruppe und mein Lächeln verblasste. Mit Shizuka alleine brachte ich die Kraft nicht mehr auf, ein fröhliches Gesicht zu machen.
„Geht’s dir gut?“, wollte sie wissen. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich komme drüber hinweg. Ich brauche nur etwas mehr Zeit.“, antwortete ich. Ich hatte ohnehin irgendwie damit rechnen müssen. Also fühlte es sich nicht wie ein Weltuntergang an. Aber ich war innerlich leer. Ich hatte starke Gefühle gehabt. Die verschwanden natürlich nicht einfach über Nacht.
„Ist das nicht…?“, gab meine Freundin von mir. Ich folgte ihrem Blick in Richtung Eingang des Unigeländes.
Mein Herz machte einen Satz und ich blieb stehen.
„Was macht er hier?“, fragte Shizuka, die den Mann am Eingang musterte. Mitsuaki trug einen schwarzen Anzug und wirkte vollkommen fehl am Platz. Er sah sich um und unsere Blicke trafen sich. Er wandte ihn nicht ab.
„Vielleicht hat er bei mir etwas vergessen.“, vermutete ich, auch wenn ich es doch für unwahrscheinlich hielt. Ich hatte nichts von Wert bei mir gefunden.
„Kommst du zurecht?“, bohrte meine Freundin nach. Ich lächelte sie an.
„Ich schaff das schon.“, gab ich von mir, auch wenn ich selbst nicht davon überzeugt war. Sie drückte mich kurz und ging dann in eine andere Richtung.
Ich wappnete mich innerlich und setzte mich wieder in Bewegung. Langsam näherte ich mich Mitsuaki. Ich versuchte ein gelassenes Gesicht.
„Schwarz ist nicht deine Farbe.“, begrüßte ich ihn. Er sah an sich herab, als könnte er sich gar nicht erinnern, welche Kleidung er gerade trug.
„Andere Farben wären auf einer Beerdigung unangemessen.“, antwortete er. Ich brauchte einen Moment, dann sackte mir das Herz in die Hose, als ich verstand, was er gerade gesagt hatte.
„Sie ist…? Etwa wegen dem, was ich gesagt habe?“, gab ich geschockt von mir. Ich wusste zwar irgendwie, dass es kaum Hoffnung gegeben hatte, aber zu wissen, dass wegen meinen Worten jemand gestorben war, war kein schönes Gefühl.
„Es ist nicht deine Schuld. Es gab ohnehin keinen anderen Weg.“, beruhigte er mich.
„Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, so viel Geld wie möglich zu sammeln, um jede mögliche Untersuchung durchzuführen. Ich hätte es mir nicht verziehen, hätte ich das nicht getan.“, fügte er hinzu.
„Du hast mir nur verdeutlicht, dass das Leben weitergegangen ist. Das war schwer zu verkraften gewesen.“, gab er von sich. Dann trat er näher, streckte seine Arme aus und zog mich an sich. Die Umarmung kam so unerwartet. Gleichzeitig fühlte sie sich so unheimlich gut an. Mein Herz raste.
„Es muss dir unheimlich schwergefallen sein.“, entgegnete ich und erwiderte die Umarmung.
„Tut mir leid. Ich habe deine Gefühle für mich ausgenutzt. Anfangs dachte ich auch, du wärst nur für etwas Lockeres zu haben. Es war so einfach mit dir zusammen zu sein.“, flüsterte er, ohne mich loszulassen.
„Ohne dich hätte ich das letzte Jahr nicht überstanden. Du warst mein Anker. Solange ich bei dir war, konnte ich wenigstens eine Weile vergessen.“, raunte er. Dann löste er sich von mir.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht outen.“, entschuldigte er sich und ging etwas auf Abstand. Ich sah im Augenwinkel ein paar andere Studenten, die wohl in unsere Richtung blickten. Ein rosa Blütenblatt schwebte herab und landete auf Mitsuakis Schulter. Die kahlen Bäume trugen die ersten Blüten und kündigten den beginnenden Frühling an. Ich machte einen Schritt vor.
„Schon gut. Alle, die es wissen müssen, wissen es schon. Und was andere denken, ist mir egal.“, erwiderte ich. Auch wenn ich ebenso weniger Publikum bevorzugte.
„Wie kommt es, dass du so stark bist?“, fragte er und schenkte mir ein leichtes Lächeln.
„Ich bin gar nicht stark. Ich tu nur so.“, antwortete ich. Er streckte die Hand aus. Ohne Zögern legte ich meine in seine und ließ mich von ihm mitziehen.
Er führte mich zum Parkplatz und ließ mich in sein Auto einsteigen. Er fuhr los.
Ich fühlte mich seltsam, als wir den Kiesweg entlanggingen.
„Ist das nicht… seltsam?“, fragte ich und musterte die Grabsteine, an denen wir vorbeikamen. Mitsuaki griff meine Hand und verflocht unsere Finger miteinander. Mein Herz machte einen Satz.
„Ich will dich jemandem vorstellen. Das wollte ich schon länger.“, erklärte er mir und hielt an. Wir standen vor einem Grab, das so vollgestellt war mit Blumenbouquets, dass die Inschrift kaum zu erkennen war.
„Momoko, das ist Sachio.“, sagte er zu dem Grab. Die Situation war komisch für mich und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.
„Ähm, h-hallo!“, gab ich unsicher von mir.
„Er ist der Grund, warum ich das letzte Jahr überstanden habe. Warum ich weitermachen konnte. Er ist meine Zuflucht. Der Mann, der mein Herz gestohlen hat, als ich vollkommen verloren war.“, sprach Mitsuaki weiter. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und ich merkte, dass er dabei mich ansah. Mein Herz begann zu rasen. Er wandte sich in meine Richtung und lehnte sich zu mir.
„Oh, Mitsuaki!“, erklang plötzlich eine Frauenstimme. Mitsuaki drehte sich um und sah den Weg entlang. Ich wollte meine Hand von seiner lösen, doch er verstärkte den Griff, um das zu verhindern. Ein älteres Ehepaar näherte sich und tauschte ein paar Worte mit ihm aus. Schnell war mir klar, dass es die Eltern seiner Frau waren. Sie wirkten müde und hatten ein trauriges Lächeln auf den Lippen.
„Und das ist also der Grund, warum du auf dein Erbe verzichten willst?“, fragte der Mann, während er mich direkt ansah. Ich verstand nicht, was er gemeint hatte. Aber ich fühlte mich unwohl dabei, als die ganze Aufmerksamkeit mir zuteilwurde.
„Äh, mein Beileid.“, brach ich mein Schweigen.
„Ja, ist er. Das ist Sachio.“, stellte mich Mitsuaki vor. Er drückte meine Hand erneut und machte eindeutig klar, in welchem Verhältnis wir standen.
„Es ist Sachio, dank dem mein Leben weitergegangen ist. Und Momoko… auch wenn ihr mir nicht die Schuld gebt, fühlt es sich nicht richtig an. Außerdem will ich euch keinen Ärger machen. Ich kann das Gerede der Leute zwar nicht verhindern, aber vielleicht kann ich so zumindest keine falschen Gerüchte aufkommen lassen. Ich will nicht, dass jemand denkt, ich hätte Momoko nur des Geldes wegen geheiratet.“, sagte er mit traurigem Blick. Ich lehnte mich an ihn und wollte ihm stumm Trost spenden.
„Wir verstehen eure Ehe nicht ganz, aber du hast alles für unsere Momoko getan. Wir hatten unsere Hoffnung schon längst aufgegeben.“, sprach die Frau und legte ihre Hand auf Mitsuakis Schulter.
„Du hast etwas Glück verdient. Und auch, wenn wir dich nicht als Momokos Ehemann sehen sollen, du warst immer noch ihr bester Freund und als solcher auch Teil der Familie. Also komm zu uns, wenn du was brauchst.“, fuhr sie fort. Er bedankte sich leise und verabschiedete sich dann.
Wir wandten uns ab und gingen Richtung Auto zurück.
„Ist er nicht etwas jung?“, hörte den Mann hinter uns noch leise fragen, doch ich ignorierte es.
Mitsuaki brauchte einen Moment. Er hatte den Tod seiner Frau eindeutig noch nicht abgeschlossen, aber das brauchte wohl einfach seine Zeit.
Wir setzten uns wieder ins Auto. Mitsuaki rührte sich eine Weile nicht. Ich ergriff wieder seine Hand und drückte sie.
„Du verzichtest auf dein Erbe?“, fragte ich leise. Er zwang sich zu einem Lächeln.
„Würdest du mich auch nehmen, wenn ich völlig arm auf der Straße lebe?“, erwiderte er.
„Was? Reicht dir meine Wohnung etwa nicht?“, bohrte ich nach. Meine Reaktion ließ seine Züge weicher werden. Er beugte sich zu mir herüber und küsste mich zärtlich. Es lag keine Verzweiflung mehr darin und auch kein Verlangen. Diese Art von Kuss hatten wir noch nie ausgetauscht. Eine wohlige Wärme breitete sich in meinem Inneren aus.
„Ich liebe dich, Sachio!“, flüsterte er, als sich unsere Lippen wieder voneinander lösten. Das Geständnis überraschte mich und bevor ich es verhindern konnte, rannen Tränen über meine Wangen. Ich hatte doch die Hoffnung längst aufgegeben, dass er meine Gefühle erwidern würde.
„Ich liebe dich auch.“, sprach ich aus, was ich lange Zeit verdrängt hatte. Mitsuaki küsste mir eine Träne weg.
„Dann fahren wir zu dir. Heute bin ich an der Reihe, dich alles vergessen zu lassen. Und damit anzufangen, alles, was du meinetwegen durchmachen musstest, wiedergutzumachen.“
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2021
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