Cover

Wunsch an einen Gott

 

Ich warf ein paar Münzen in den Opferstock und klatschte die Hände zusammen zum Gebet. Mit geschlossenen Augen versuchte ich im Geiste einen Wunsch an die Götter zu formen.

„Bitte, macht heute zum besten Tag meines Lebens!“, sprach ich schließlich laut aus, da ich nicht wusste, wie genau ich es sonst formulieren sollte. Es gab so viele Kleinigkeiten, die ich mir wünschte, aber ich wollte nicht zu viel fordern. Sonst würden die Götter noch wütend auf mich werden und mich verfluchen.

Ich beendete mein Gebet und öffnete die Augen wieder.

Der Tempel war klein, aber gut erhalten. Die alten Menschen in der Nachbarschaft kümmerten sich wirklich gut darum. Ich wandte mich ab und sah einen Moment auf die steinerne Fuchsstatue. Als Kind war ich mal auf diese raufgeklettert und hatte mir riesen Ärger eingehandelt. Mein Blick wanderte etwas weiter. Von hier aus konnte man die Küste sehen. Unser kleines Fischerdorf hatte schon immer einen ganz besonderen Charme besessen. Ein Teil von mir wollte nie hier weg, während ein anderer es kaum mehr hier aushielt. Ich streckte die Hand nach der Statue aus und strich ihr über den harten, kalten Kopf.

Ich mochte diesen Ort. Vor allem wegen Seiichi. Die Bevölkerung hier bestand fast überwiegend aus älteren Menschen. Junge Leute oder gar Kinder waren eindeutig in der Minderheit. Deshalb hatte es mich auch so gefreut, als Seiichi hergezogen war. Hier an dieser Stelle hatte ich ihn mit 6 Jahren kennengelernt. In den letzten Jahren hatten wir uns immer mehr auseinandergelebt. Das hatte wohl vor allem an mir gelegen. Ich konnte ihm irgendwann einfach nicht mehr normal unter die Augen treten und ich hatte Angst gehabt, dass er mich für meine Gefühle hassen könnte. Ich seufzte und ging die Stufen hinab, während ich mich über mich selbst ärgerte.

Plötzlich sah ich vor mir etwas Rötliches auf die Straße springen. Im selben Moment hörte ich einen der LKWs, die hier in letzter Zeit regelmäßig durchfuhren und die Idylle störten. Mein Körper setzte sich in Bewegung, bevor mein Kopf die Szene verarbeiten konnte. Der rote Hund war mitten auf der Straße stehen geblieben und erstarrt, während der Lastwagen immer näherkam. Er fuhr viel zu schnell und der Abhang beschleunigte ihn noch zusätzlich. Ich war schon abgesprungen, als mir klar wurde, was ich gerade tat. Meine Arme schlangen sich um das erstarrte Tier. Ich schloss die Augen. Hatte ich bei den Göttern doch zu viel erbeten? Ich hörte das Quietschen von Reifen, Quieken und Schreie. Schnipp.

 

Mit einem Schrecken richtete ich mich auf. Mein Herz raste. Ich schnappte nach Luft. Meine Hände zitterten. War das nur ein Traum gewesen?

„Gottseidank!“, stieß ich hervor.

„Ja, kannst du laut sagen.“, erklang neben mir eine Stimme. Erschrocken schrie ich auf, wich zurück und sah neben mich. Im Schneidersitz saß ein Mann neben meinem Futon und musterte mich. Seine Kleidung erinnerte mich an die der Shinto-Priester. Sein langes, rotbraunes Haar fiel ihm locker über die Schultern.

Ich beruhigte mich wieder etwas.

„W-wer bist du und was machst du hier?“, wollte ich wissen. Er richtete sich auf und nahm Haltung an. Seine Augen blitzten auf.

„Natürlich erkennst du mich nicht in meiner majestätischen Gestalt.“, sagte er in überheblichen Tonfall.

„Sterblicher, dafür, dass du mich vor einem unschönen Aufeinandertreffen bewahrt hast und so ein treuer Anhänger bist, gewähre ich dir deinen Wunsch.“, sprach er in einem Tonfall, als würde er gerade eine feierliche Rede halten. Ich sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Träumte ich noch? Vielleicht hatte mich der Laster aber doch erwischt und ich lag jetzt im Koma oder im Fegefeuer? Er schielte in meine Richtung.

„Bist du so überwältigt von meiner Ausstrahlung, dass es dir die Sprache verschlagen hat? Es muss eine große Ehre sein, so einem großartigen Gott wie mich in deiner Wohnung zu haben.“, trug er jetzt noch dicker auf.

Mein erster Gedanke war, dass der Typ einen Dachschaden hatte. Aber wenn er wirklich ein Gott war, wollte ich es mir mit ihm auch nicht verscherzen. Ein bisschen glaubte ich nämlich schon an die Existenz der Götter, was in unserer Gegend keine Seltenheit war.

„Beweis es!“, forderte ich ihn dennoch auf. Er schien einen Moment irritiert, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich an seinen Worten zweifeln würde.

„Ganz schön mutig, an mir zu zweifeln.“, gab er selbstsicher von sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Er schnippte mit den Fingern und vor mir verpuffte eine kleine Rauchwolke. Zwischen uns stand jetzt ein Teeservice.

„Werden Gästen normalerweise nicht etwas angeboten?“, gab er von sich. Ich war so verwirrt, dass mein Körper sich von selbst bewegte, Tee aus der Kanne in die Tasse füllte und die Tasse weiterreichte.

„Hm, was für ein gehorsamer Anhänger.“, kommentierte er mein Verhalten und nippte an dem Getränk. Nur um im nächsten Moment die Miene zu verziehen und alles mit einem Fingerschnippen wieder verschwinden zu lassen.

„Du… bist wirklich ein Gott.“, stieß ich leise hervor.

„Und da das geklärt wäre, nenn mir deinen Wunsch!“, forderte er.

„Ich wünsche mir, …dass das der beste Tag meines Lebens wird.“, antwortete ich aufgeregt.

 

„Das ist der Typ also. Hm, ich sehe echt nichts Besonderes an dem Kerl.“, kommentierte Akai, als er Seiichi erblickte, der gerade eine Kiste mit Fischen hochhob und ins Innere des Geschäfts trug.

„Seiichi ist der wundervollste Mensch überhaupt. Er hilft jedem, ist bescheiden und großzügig. Außerdem sieht er wahnsinnig gut aus.“, verteidigte ich meinen Schwarm.

Akai lehnte sich gegen die Wand und stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Ihr Menschen habt heutzutage keinen Geschmack mehr. Im Vergleich zu mir ist sein Äußeres vielleicht gerade mal Mittelmaß.“, meinte er. An Selbstvertrauen mangelte es ihm nicht gerade. Akai war ziemlich eingebildet und arrogant. Außerdem zweifelte ich an seinen Fähigkeiten. Anstatt mir mit einem Fingerschnippen meinen Wunsch einfach zu erfüllen, hatte er mich ausgefragt, was ich mir genau darunter vorstellte. Nach ein paar Ideen hatte ich mich darauf festgelegt, dass ein perfekter Tag auf jeden Fall ein Date mit Seiichi beinhalten musste. Deshalb spionierten wir hier meinen Kindheitsfreund aus. Aber Akai beschwerte sich eigentlich nur über meinen Geschmack.

„Wie willst du es jetzt machen?“, lenkte ich ab. Es würde mir nämlich nicht helfen, mit einem Gott zum Streiten anzufangen. Er setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. Schließlich grinste er, schnippte mit den Fingern und in seiner Hand erschienen Tickets, die er mir unter die Nase hielt.

„Eine Zirkusvorstellung? Bei uns?“, bohrte ich verwirrt nach. Fast im selben Moment hörte ich in der Ferne Musik.

„So, jetzt lade ihn mal schön ein.“, gab Akai von sich und schob mich in Richtung meines Schwarms.

„Was? Ich soll das? Ich dachte, du kümmerst dich darum.“, erwiderte ich panisch. Akai drängte mich weiter.

„Natürlich musst du selbst fragen. Sonst zählt es ja nicht. Wollt ihr Menschen nicht immer was Echtes? Etwas Mühe ist schon nötig.“, rechtfertigte sich der sogenannte Gott.

„Aber… ich kann das nicht. Was soll ich denn sagen?“, hackte ich nach.

„Ich flüstere dir schon das Richtige zu. Mich kann sowieso niemand sehen, außer dir.“, entgegnete er. Ich fügte mich meinem Schicksal und näherte mich Seiichi, der gerade aus dem Laden kam. Er entdeckte mich und schenkte mir sofort ein Lächeln, das meinen Herzschlag beschleunigte.

„Isao, schön dich zu sehen.“, begrüßte er mich. Meine Lippen formten automatisch ebenfalls ein Lächeln.

„Wie geht’s dir? Habe dich nicht mehr gesehen, seit…“, fuhr er fort.

„Mein Beileid.“, fügte er leise hinzu. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ist besser so. Er hatte ohnehin nur mehr gelitten.“, erwiderte ich und wollte das Thema schnell vergessen. Seiichi schien zu merken, dass ich mich damit noch nicht wirklich auseinandersetzen konnte.

Akai stand neben mir. Ich versuchte nicht, ihn anzusehen, weil Seiichi ihn offensichtlich wirklich nicht sehen konnte, aber aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass er unserer Konversation nicht ganz folgen konnte.

„Frag ihn, ob er Zeit hat!“, befahl der Gott. Ich gehorchte.

„Ja, habe ich. Warum?“, fragte Seiichi. Es schien ihn zu überraschen. Schließlich hatten wir die letzten Jahre kaum mehr etwas zusammen gemacht. Wir hatten uns gegrüßt, wenn wir uns gesehen hatten, und natürlich etwas Smalltalk betrieben, aber das war auch schon alles gewesen.

Akai wirkte etwas ungeduldig.

„Lad ihn ein! Sag: ‚Ich habe Tickets bekommen, aber niemanden, mit dem ich hingehen könnte. Würdest du mich begleiten?‘“, sprach er mir vor. Stotternd wiederholte ich seine Worte. Ich spürte dabei die Hitze in meinem Gesicht. Seiichi ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Ich rechnete schon mit einer vorsichtig formulierten Absage, doch er überraschte mich mit seiner Zustimmung.

 

Etwas außerhalb der Kleinstadt war ein riesiges Zelt aufgebaut. Musik spielte und um uns herum war gefühlt fast die ganze Stadt versammelt. Sie alle wirkten ziemlich verwirrt. Ein paar Kinder freuten sich und liefen los, um sich das Ganze näher anzusehen. Ein paar der älteren Bewohner waren nicht ganz so begeistert und beschwerten sich über die Ruhestörung. Die Musik war wirklich ganz schön laut und die Zirkusleute veranstalteten einen Trubel, der unsere gewohnte Idylle massiv störte.

Das riesige Zelt wirkte fremd in unserer Umgebung. Teils aus Neugier betraten dennoch viele das Gelände und sahen sich um.

„Ich wusste gar nicht, dass ein Zirkus angekündigt war.“, meinte Seiichi.

„Sie haben wohl nicht wirklich Werbung dafür gemacht.“, erwiderte ich vorsichtig. Wir betraten das Zelt, zeigten unsere Tickets und sahen uns um. Auf der Tribüne war noch Platz, den wir ansteuerten. Über Lautsprecher wurde gebeten, dass alle Platz nehmen sollten. Dann betrat der Zirkusdirektor die Arena, begrüßte alle und startete die Parade mit all den Künstlern, die er zu bieten hatte.

Ich war nervös und genervt. Seiichi saß mir so nahe. Gleichzeitig lehnte Akai an meiner anderen Seite und drängte mich noch näher an meinen Schwarm, während er mir Komplimente zuflüsterte, die ich meiner Begleitung sagen sollte. Die Show war ziemlich chaotisch. Es schien kein richtiges Konzept zu geben. Clowns und Affen liefen durch das Publikum, die Tiere sprangen auf Zuschauer, stahlen Essen und kreischten, während Artisten in der Arena ihre Kunststücke zeigten. Die Kinder waren begeistert, die Alten aber weniger. Ein paar amüsierten sich zwar, aber andere hatten genug und standen auf, um zu gehen. Hinter mir ging ebenso jemand und wurde von einem wilden Affen angesprungen. Über mir ergoss sich plötzlich ein Popcorn-Regen. Was nicht schlimm gewesen wäre, würde nicht eine Cola-Dusche folgen. Seiichi war instinktiv ein Stück weggerückt, weshalb er nichts abbekommen hatte, und Akai hatte sich wohl vorher schon in Sicherheit gebracht.

„Oh, das tut mir so leid!“, entschuldigte sich der alte Bäcker. Ich wandte mich leicht um und zwang mich zu einem Lächeln.

„Schon gut. War ja keine Absicht.“, erwiderte ich. Mein Blick traf Akais, der sich scheinbar nicht zwischen Entsetzen und Schadenfreude entscheiden konnte.

„Mach was!“, formte ich lautlos mit den Lippen. Im nächsten Moment hob er die Hand. Schnipp.

 

Ich richtete mich auf und blickte mich um. Verwirrt stellte ich fest, dass ich in meinem Zimmer war. Meine Kleidung war sauber und mein Haar trocken, als wäre nichts gewesen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es morgens war. Und scheinbar derselbe Tag.

„Das lief nicht ganz so wie geplant.“, erklang Akais Stimme und er kratzte sich am Hinterkopf.

„Ach nein? Ist mir gar nicht aufgefallen.“, gab ich sarkastisch von mir.

„Was bist du für ein Gott?“, fragte ich wütend. Er wandte den Blick ab und wirkte beleidigt.

„Jeder hat so seine Startschwierigkeiten.“, verteidigte er sich.

„Ich habe alles resettet. Niemand kann sich erinnern.“, fügte er hinzu. Ich seufzte erleichtert aus, auch wenn das mein Problem nicht löste.

„Und was machen wir jetzt?“, bohrte ich nach.

„Neue Strategie!“, meinte er.

 

Es folgten Tage, an denen ich immer wieder versuchte, mit Seiichi ein schönes Date zu haben. Oder besser: nur ein Tag. Immer, wenn etwas schief ging, startete Akai einfach von Neuem. Und das musste er ziemlich oft. Denn scheinbar hatte sich das Unglück an meine Fersen geheftet und ich geriet von einer peinlichen Situation in die nächste. Geschmolzenes Eis auf meiner Hose war da noch mein kleinstes Problem. Mehr zu schaffen machte mir da schon ein entlaufener Hund, der mich mit einem Sprung vom Steg ins Meer befördert hatte. Oder das ungewollte Bad in Fischabfällen, das ich machen durfte, weil jemand nicht aufgepasst hatte.

Mit jedem Fehlversuch schien Akai sich mehr anzustrengen.

„Was bist du nur für ein Versagergott?“, gab ich aufgebracht von mir, als ich nach dem Fischbad in meinem Bett erwacht war und mir einbildete, der Geruch würde mir immer noch anhaften.

„Ich bin halt… kein Hauptgott. Nur einer der Millionen Nebengötter.“, gestand er widerwillig.

„Meine Fähigkeiten sind begrenzt.“, fügte er murmelnd hinzu.

„Das hättest du auch mal früher sagen können.“, entgegnete ich etwas ruhiger und stand auf. Ich erledigte meine Morgentoilette. Als ich zurückkam, murmelte Akai halblaut Ideen vor sich hin.

„Können wir los?“, fragte ich. Motiviert war ich eigentlich nicht mehr. Akai sprang auf. Wir verließen das Haus und suchten nach Seiichi. Akai eilte voraus, weil er wohl etwas vorbereiten wollte. Ich näherte mich meinem Schwarm mit einem mulmigen Gefühl. Er drehte sich gerade in meine Richtung und lächelte mich an, als er mich sah. Ich ging auf ihn zu. Etwas lenkte ihn wohl ab. Im nächsten Augenblick rief er mir panisch zu, ich solle aufpassen. Verwirrt hielt ich inne. Bevor ich die Situation aber kapierte, tauchte plötzlich Akai vor mir auf und warf mich um. Ich hörte ein Klirren. Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder und blickte direkt in Akais rotleuchtende. Sein Gesicht wirkte irgendwie röter als sonst und war mir so nah wie noch nie.

„Alles in Ordnung? Das war ganz schön knapp.“, riss uns Seiichis Stimme aus dieser Situation. Akai wich zurück und ich richtete mich auf. Ein paar Zentimeter vor meinen Füßen entdeckte ich die Scherben eines Blumentopfes.

„Einer der Streuner hat wohl nicht aufgepasst.“, meinte Seiichi, als er zur Fensterbank blickte, auf der der Topf vor ein paar Sekunden noch gestanden hatte.

„Wenn der dich getroffen hätte, …“, fügte er hinzu, beendete den Satz aber nicht. Erst jetzt wurde mir bewusst, was passiert war. Oder was passiert wäre, hätte Akai mich nicht umgeworfen.

„Hast du dich verletzt?“, fragte Seiichi erneut. Ich schüttelte den Kopf und ließ mir von ihm auf die Beine helfen. Einen Augenblick später kam die alte Katzen-Lady aus dem Haus gerannt. Sie hatte ihren Spitznamen deshalb bekommen, weil sie sich schon immer um die streunenden Katzen gekümmert hatte, weshalb sich die meisten hier versammelt hatten. Jetzt erkundigte sie sich nach meinem Wohlbefinden und entschuldigte sich unzählige Male. Ich wehrte ab und Seiichi riet ihr, nichts mehr auf den Fensterbänken stehen zu lassen, damit nicht nochmal etwas passierte.

Dann lud mich mein Kindheitsfreund auf ein Getränk ein, um den Schock zu verdauen. Er schien sich Sorgen um mich zu machen. Es war süß von ihm. Mein Herz klopfte etwas schneller. Der Vormittag war schön. Wir unterhielten uns über alte Zeiten und auch über Bewohner der Stadt. Seiichi war ein angenehmer Gesprächspartner. Aber ich war etwas abgelenkt. Akai blieb zwar immer in der Nähe, hielt sich aber im Gegensatz zu den letzten Tagen stark zurück. Er war auf Abstand, sodass ich ihn manchmal sogar aus den Augen verloren hatte. Seiichi sprach mich manchmal darauf an. Ich wehrte schnell ab.

„Ich wollte eigentlich schon länger mal nach dir sehen.“, wechselte er schließlich das Thema und die Stimmung nahm einen seltsamen Unterton an.

„Ach, wirklich?“, fragte ich, konnte mir den Grund aber schon denken.

„Wisst ihr schon, was ihr machen werdet? Die Leute reden ja viel, aber konkret habe ich sehr viel Widersprüchliches gehört. Meine Mum meinte, deine wolle die Stadt verlassen.“, präzisierte er, was er wissen wollte. Ich senkte den Blick auf den Weg vor mir und zuckte mit den Schultern.

„Sie braucht Abstand und will zu meinen Großeltern in die Stadt. Ganz wohl gefühlt hat sie sich hier sowieso nicht. Sie war nur meines Vaters wegen hierhergezogen.“, bestätigte ich, was er schon gehört hatte.

„Und du? Was wollt ihr mit dem Laden machen?“, bohrte Seiichi weiter nach, vermittelte mir aber gleichzeitig, dass ich nicht antworten musste. Ich zuckte erneut mit den Schultern.

„Der Buchladen war sein Leben. Ich hänge auch daran, aber… es ist schwer.“, gab ich leise von mir. Mein Schwarm legte mir den Arm um die Schultern und spendete mir stummen Trost. Seine Nähe fühlte sich gut an. Gleichzeitig mochte ich es nicht, weil ich den Grund dafür nicht akzeptieren wollte.

„Ich bin für dich da, wenn du reden willst.“, meinte er in einem verständnisvollen Tonfall. Sein rücksichtsvolles Verhalten war lieb, aber es rief Gefühle in mir hoch, die ich bisher unterdrückt hatte. Meine Augen brannten bereits und ich spürte die aufkommenden Tränen. Ich sah mich um und entdeckte Akai. Ohne Nachdenken stieß ich mich von Seiichi und eilte auf den Gott zu.

„Neustart! Neustart! Neustart!“, rief ich halblaut und fiel fast in Akais Arme. Er war von meinem Verhalten offensichtlich verwirrt. Und die Leute um uns herum noch mehr. Natürlich war mein Verhalten seltsam. Zumal sie Akai nicht sehen konnten und für sie es so wirkte, als würde ich mit der Luft sprechen. Akai hob die Hand und tat, was ich verlangte. Schnipp.

 

Ich starrte meine Zimmerdecke an. Neben mir nahm ich eine Bewegung wahr.

„Ist was passiert?“, wollte Akai wissen. Ich schüttelte den Kopf, drehte mich von ihm weg und zog mir die Decke über den Kopf. Ich wollte nicht mehr aufstehen. Ich wollte einfach nur hier liegen bleiben und nicht mehr nachdenken.

„Hat er was gemacht? Dich bedrängt? Dir wehgetan? Isao…“, versuchte Akai mich zum Reden zu bringen.

„Seiichi hat nichts damit zu tun.“, erwiderte ich schwach. Einen Moment war es ruhig, dann spürte ich, wie sich etwas Warmes an meinen Rücken presste. Akais Arm legte sich um meine Brust. So lagen wir einige Zeit da. Irgendwann hatte ich mich wieder gefasst.

„Danke…“, flüsterte ich.

„Auch für die Rettung.“, fügte ich hinzu, drehte meinen Kopf und küsste seine Wange.

„Geht’s dir also wieder besser?“, fragte er. Seine Wangen waren etwas gerötet. Sein herablassendes Verhalten vom Anfang war komplett verschwunden und ich hatte schnell erkannt, dass es nur Fassade gewesen war.

„Ja, ich hab mich beruhigt.“, antwortete ich. Er löste sich von mir. Für einen Moment vermisste ich seine Wärme. Doch schnell schüttelte ich dieses Gefühl ab und richtete mich ebenfalls auf. Akai musterte mich. Einen Moment glaubte ich, er würde mir eine Auszeit vorschlagen. Doch er sprach nichts davon an. Seine nächsten Worte waren stattdessen ein neuer Plan.

„Statt eines einfachen Dates versuchen wir es einfach anders. Er ist ein Heldentyp, also braucht er eine Jungfrau in Nöten zum Retten.“, meinte er. Verwirrt sah ich den seltsamen Gott an.

„Willst du Seiichi jetzt mit irgendeinem Mädchen verkuppeln?“, bohrte ich nach, weil ich überhaupt nichts verstand.

„Was? Natürlich nicht. Du bist die ‚Jungfrau in Nöten‘. Metaphorisch.“, erklärte er. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl bei der Sache.

 

Dieses ungute Gefühl sollte sich auch bewahrheiten. Was folgte waren Tage, an denen ich gefühlt 100 Mal an einem Herzinfarkt hätte sterben müssen. Denn Akai hatte das ‚Jungfrau in Nöten‘ wörtlich gemeint. Ich schwebte förmlich in Lebensgefahr. Zumindest fühlte es sich so an. Der herunterfallende Blumentopf, der noch nicht zu Akais Plan gehört hatte, war noch harmlos gewesen. Ich wäre fast ertrunken, überfahren, erschlagen und auch aufgespießt worden. Meistens war ich gerettet worden. Anfangs von irgendwelchen Bewohnern, die gerade in der Nähe waren, manchmal von Seiichi. Wenn mein Schwarm mich beschützte, lief es allerdings leider immer irgendwie seltsam ab, weshalb ein Reset erforderlich war.

Akai steigerte sich mit jedem Tag. Ich hatte schon aufgehört die Tage zu zählen. Aber schließlich wurde er irgendwann so extrem, dass eine Rettung für einen Normalsterblichen unmöglich wurde.

„Willst du mich endgültig umbringen?!“, schrie ich ihn aufgebracht an und versuchte meinen Herzschlag wieder etwas zu beruhigen. Der Schock saß mir noch in den Knochen.

„Natürlich nicht. Das war nur… eine kleine Fehlkalkulation. Diesmal pass ich besser auf.“, verteidigte er sich. Ich war inzwischen aufgestanden und verließ das Haus.

„Nein! Das war ein dämlicher Plan.“, wehrte ich sofort ab. Beim nächsten Versuch könnte Akai mit seinem Neustart zu spät dran sein. Und das wollte ich nicht riskieren. Ich hatte zu viel ausprobiert.

Bevor Akai mit einem neuen, lebensgefährlichen Plan anfangen konnte, ging ich in Richtung Hafen. Akais Neustarts hatten immer alles auf Anfang gesetzt. Aber mir war schon aufgefallen, dass sie nicht perfekt waren. Eine ganze Stadt zu resetten war wohl nicht so einfach. Deshalb tat nicht jeder an jedem Tag genau dasselbe. Die meisten hatten hier ihre Routine, weshalb sich nicht viel änderte, aber es kam vor, dass sie manchmal woanders waren.

Seiichi fand ich aber immer in derselben Gegend. Auch heute. Nur diesmal war er nicht allein. Er unterhielt sich mit jemandem. Einer jungen Frau in unserem Alter. Vielleicht eine ehemalige Mitschülerin? Aus der Ferne konnte ich das nicht so genau erkennen. Was aber deutlich war, war diese Stimmung zwischen ihnen.

„Ich weiß was. Eifersuchtsszene. Das klappt sicher. Wir…“, erklang Akais Stimme neben mir.

„Schon gut.“, unterbrach ich seinen Redefluss. Er verstummte und sah mich an.

„Es hat ohnehin keinen Sinn. Das hat es von Anfang an nicht gemacht.“, meinte ich und wandte mich ab. In meiner Brust zog sich etwas schmerzlich zusammen. Seiichi war nicht schwul. Er hatte nur Interesse an Frauen. Mir gegenüber würde er nie mehr als nur Freundschaft empfinden. Das war mir inzwischen deutlich bewusst geworden, auch wenn ich es nicht hatte wahrhaben wollen.

„Warte! Es… Wir können doch…“, versuchte Akai mich zu überreden, doch ich schüttelte den Kopf. Ich hatte aufgegeben. Ich wusste selbst, wann es genug war. Wir hatten alles Mögliche ausprobiert. Vermutlich mehrere Wochen Neustarts gehabt, aber es war alles schiefgegangen, was hatte schiefgehen können. Inzwischen musste ich mich einfach der Realität stellen.

„Noch ein Versuch!“, rief Akai. Ich blickte auf, weil er regelrecht verzweifelt klang.

„Akai, ich…“, begann ich zu widersprechen.

„Noch einmal! Gib mir noch eine Chance! Eine allerletzte.“, redete er auf mich ein. Ich zögerte einen Moment, doch schließlich gab ich nach.

„Ein allerletztes Mal.“, stimmte ich zu. Akai grinste und er hob die Hand. Schnipp.

 

Ich erwachte wie gewohnt in meinem Zimmer und starrte die Decke an. Mit einem Seufzen richtete ich mich auf.

„Okay, was willst du machen?“, gab ich müde von mir. Doch ich erhielt keine Antwort. Als ich mich umsah, merkte ich, dass ich ganz alleine war. Von Akai keine Spur. Hatte er doch aufgegeben? Ich war erleichtert und gleichzeitig traurig darüber. Nach einer Weile stand ich auf, ging kurz ins Bad und dann nach draußen. Vor der Haustür hielt ich inne. Mein Blick fiel auf das Gebäude neben unserem. Einen Moment zögerte ich noch, dann ging ich darauf zu. Ich öffnete die Tür und trat ein. Es war dunkel, die Luft roch stickig. Es hatte sich kaum etwas verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Nur eine Staubschicht lag auf den Regalen. Als wäre seit Wochen niemand mehr hier gewesen. Vermutlich war das auch der Fall gewesen. Akai hatte vermutlich nicht die Räume resettet, die nicht benutzt wurden. Ich ging weiter, die Regale ab, strich über die Buchrücken und erinnerte mich an die Tage zurück, die ich hier verbracht hatte. Oft hatte ich mit einem Buch in einer Ecke gesessen, während mein Vater vorne am Tisch saß und sich mit irgendjemandem unterhalten hatte. Er war immer ein geselliger Mann gewesen und hatte seinen Laden geliebt. Verkauft hatte er eigentlich wenig. Geld hatte er eigentlich durch den Verleih der Bücher verdient. Woanders wäre er damit wohl nicht lange über die Runden gekommen, aber hier half man sich gegenseitig, baute selbst viel an und verteilte den Überschuss an seine Nachbarn.

Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen sentimentalen Erinnerungen. Ich stellte das Buch zurück, das ich gerade durchgeblättert hatte, und ging zur Tür, während ich mich fragte, wer es sein könnte. Niemand kam mehr hierher. Ich öffnete und war überrascht, als Seiichi davorstand.

„Hey, Isao! Ich habe dich schon gesucht.“, grüßte er mich.

„Mich? Wieso?“, hakte ich nach. Er lächelte leicht.

„Naja, wir… haben uns schon länger nicht mehr richtig unterhalten. Nach allem…“, antwortete er, wobei seine Stimme am Ende leiser wurde und den Rest des Satzes in der Luft hängen ließ.

„Jedenfalls dachte ich, wir könnten etwas Zeit miteinander verbringen. Also, wenn du Zeit hast.“, fuhr er schnell fort. Ich dachte nicht lange darüber nach. Auch wenn ich es komisch fand.

„Klar.“, antwortete ich knapp, während ich den Gedanken verdrängte, dass sein Erscheinen seltsam war. Wir gingen ein Stück die Straße hinab, während ich zu der Erkenntnis kam, dass Akai irgendwie Seiichis Auftauchen eingefädelt haben musste.

Wir unterhielten uns gut, allerdings war das Gespräch anfangs etwas holprig. Ich fühlte mich bald wohl, besonders als seine Hand meine berührte und er sie sanft ergriff. Ich hatte Herzklopfen, was mich mehr als einmal vergessen ließ, worüber wir gerade gesprochen hatten.

 

Den Vormittag verbrachten wir auf dem Hügel außerhalb der Stadt mit alten Geschichten, bis wir Hunger hatten. Immer mal wieder machte Seiichi mir ein Kompliment, das mich ziemlich aus dem Konzept brachte. Mittags ließ er mich kurz allein am Ufer sitzen, wo wir früher im Sommer immer gemeinsam geangelt hatten. Ich starrte aufs Meer hinaus und beobachtete die Fischerboote, während ich auf seine Rückkehr wartete. Als er wieder neben mir auftauchte, hielt er einen Korb in der Hand, den er neben mir abstellte. Er setzte sich und zeigte mir den Inhalt. Verschiedene Leckereien, die er vorbereitet hatte. Oder bekommen hatte. Ich wusste gar nicht, wie es um Seiichis Kochkünste bestellt war, und es wäre nicht das erste Mal, dass eine der Nachbarinnen sich um sein leibliches Wohl gesorgt hätte.

Wir aßen, was er mitgebracht hatte. Er scherzte herum, fütterte mich manchmal und warf mir Blicke zu, die mich erröten ließen.

Nach einem schönen Mittagessen, das irgendwie romantischer war, als ich erwartet hatte, machten wir einen Spaziergang durch die Stadt. Die meisten Gespräche, die wir führten, hatten wir schon gehabt. Was er natürlich wegen der Neustarts nicht mehr wusste. Ich hatte alle Mühe, nichts Seltsames zu sagen. Es war nicht immer leicht, mich daran zu erinnern, was ich alles schon vor dem Neustart wusste. Wenn ich doch mal etwas Komisches sagte, ging er einfach darüber hinweg.

 

Als es gen Abend zuging, begleitete er mich wieder nachhause. Wir schlenderten den Weg entlang, eher schweigend, da wir wohl schon genug geredet hatten. Wir erreichten die Tür zu meiner Wohnung. Ich drehte mich zu meiner Begleitung um. Die Situation fing an komisch zu werden. Wie sollten wir uns verabschieden? Wollte er dieses Date noch fortsetzen?

Er kam näher, griff nach meiner Hand und streichelte mit dem Daumen über meinen Handrücken. Er lächelte mich an und sah mir tief in die Augen.

„Der Tag war schön.“, flüsterte er. Ich nickte. Er näherte sich mir ein Stück. Sein Gesicht kam meinem immer näher. Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen. Seine freie Hand hatte sich inzwischen an meinen Nacken verirrt.

Mit einem Finger an seinen Lippen verhinderte ich den Kuss.

„Nicht in der Gestalt.“, gab ich von mir. Überrascht wich er etwas zurück.

„Du wusstest es?“, fragte er bedrückt. Ich lächelte und nickte nur.

„Seit wann?“, hakte er nach. Ich zuckte mit den Schultern.

„Eigentlich so ziemlich von Anfang an. Erst dachte ich, du hättest ihm eine Gehirnwäsche verpasst oder so, aber… die anderen Dorfbewohner kommen normalerweise auf Seiichi zu. Dich haben sie aber wie einen Fremden behandelt.“, erklärte ich. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und änderte dabei seine Gestalt. Vor mir stand wieder der leicht überhebliche Gott, der sich aber ehrlich bemühte.

„Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mitgespielt?“, wollte er wissen.

„Du hast dir solche Mühe gegeben. Das wollte ich nicht kaputtmachen.“, antwortete ich.

„Das heißt, es war alles umsonst. Dabei dachte ich, diesmal würde es klappen.“, gab er jammernd von sich. Ich lächelte über sein Verhalten.

„Ich kenne Seiichi, seit wir kleine Kinder waren. Und dich durfte ich heute auch ziemlich gut kennenlernen.“, entgegnete ich. Dann fasste ich sein Gesicht mit beiden Händen und brachte ihn dazu, mich anzusehen.

„Es war wirklich süß von dir. Mir ist klar, dass Seiichi sich mir gegenüber nie so verhalten wird. Meine Gefühle für ihn kann ich nicht einfach so abstellen, aber… dank dir ist mir klar geworden, dass ich irgendwann über ihn hinweg sein werde.“, meinte ich leise. Er seufzte und schien allmählich zu verstehen, dass der Tag kein Fehlschlag war. Zumindest nicht für mich. Mein Herzklopfen war echt gewesen. Er schien sich von mir entfernen zu wollen.

„Willst du jetzt einfach aufhören? Sollte das hier nicht der beste Tag meines Lebens werden?“, hielt ich ihn zurück. Er sah mir tief in die Augen. Dann spürte ich seine Hände auf meinen Hüften. Er zog mich näher an sich. Langsam verschwand die Distanz zwischen uns. Ich spürte wieder seinen Atem auf meinen Lippen. Diesmal tat ich nichts, um ihn aufzuhalten.

„Willst du das wirklich? Ich kann auch wieder…“, fragte er kaum hörbar.

„Nein, ich will es genau so. Anders wäre es nicht richtig.“, antwortete ich ebenso leise. Er zögerte noch etwas, doch dann legten sich seine Lippen auf meine. Der Kuss war wundervoll. Er intensivierte den Kuss, drückte mich fester an sich. Seine Zunge leckte über meine Lippen und ich öffnete meine bereitwillig. Unsere Zungen schlangen sich umeinander.

Langsam löste ich mich, um Luft zu holen. Ich zog ihn ins Innere meiner Wohnung.

 

 

 

Mein Radiowecker schaltete sich ein und riss mich aus meinem Schlaf. Das Lied endete gerade und die Nachrichten begannen. Als ich das Datum hörte, seufzte ich.

„Es ist der nächste Tag.“, stellte ich fest, fragte mich allerdings im nächsten Moment, warum mich diese Tatsache so wunderte. Ich richtete mich auf und blickte mich um. In meinem Kopf drehte sich alles, als hätte ich einen Kater. Doch ich hatte gestern nichts getrunken. Oder? Ich hatte das Gefühl, ich sollte nicht allein sein. Jemand sollte bei mir sein, doch ich konnte mich nicht mehr erinnern, wer. Meine Erinnerungen an den letzten Tag waren irgendwie verschwommen. Ich wusste nicht mehr, was ich gemacht hatte. Ich schüttelte dieses Gefühl ab, stand auf und ging ins Bad.

Nach einem schnellen Frühstück verließ ich das Haus, nur um vor der Tür festzustellen, dass ich gar nicht wusste, wohin ich eigentlich wollte. Nach einem Moment des Zögerns ging ich in den Laden nebenan, öffnete die Tür und betrat ihn. Die vertrauten Räume riefen in mir ein Gefühl von Nostalgie hervor. Getrübt von Trauer. Die staubigen Regale steckten voller Erinnerungen. Mit plötzlich aufkommender Motivation begann ich die Staubschicht zu entfernen und den Raum auf Vordermann zu bringen. Ich sortierte die Bücher ein, die noch nicht ihren Weg zurück in die Regale gefunden hatten, und bemerkte kaum, wie die Zeit verging.

Erst das Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Arbeit und zeigte mir, dass es weit nach Mittag war. Ich ging zum Eingang und öffnete. Vor mir stand Seiichi. Überrascht und auch irgendwie erfreut begrüßte ich ihn mit einem Lächeln.

„Ich… wollte mal nach dir sehen. Wie geht’s dir?“, beantwortete er meine Frage, was ihn hierherführte. Ich schob die Hände in meine Hosentaschen und zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Nicht ganz gut, aber okay.“, gab ich von mir.

„Ich hab nur inzwischen das Gefühl, nach vorn sehen zu können.“, fügte ich hinzu.

„Du räumst hier auf?“, wollte er wissen. Ich nickte und blickte in den Raum, der noch chaotischer war als zuvor, weil ich angefangen hatte, alles nach meinem eigenen System zu ordnen.

„Ich versuch’s.“, meinte ich scherzhaft.

„Du bleibst?“, wollte er genauer wissen.

„Ja. Meine Mutter ist schon in ihr Elternhaus zurück. Ich hatte überlegt, mit ihr zu gehen. In der Stadt habe ich bessere Chancen auf einen Job, aber… ich glaube, ich würde es irgendwann bereuen, würde ich Papas Laden einfach aufgeben. Außerdem ist mir die Großstadt zu hektisch.“, erklärte ich.

„Soll ich dir helfen?“, bot Seiichi mir an. Ich wunderte mich etwas darüber, dass mein Kindheitsfreund gerade jetzt unsere alte Freundschaft wiederaufleben lassen wollte, doch ich würde mich nicht beschweren. Stattdessen nahm ich sein Angebot an und ließ ihn eintreten.

 

 

5 Jahre später

 

 

„Lieferung!“, erklang eine vertraute Stimme von draußen und ich öffnete die Ladentür. Seiichi stellte den Karton auf der Veranda ab. Ich kniete mich sofort daneben hin und öffnete, was mein Freund gebracht hatte.

„Oh, die Kinderbücher, die ich bestellt habe.“, stellte ich erfreut fest.

„Von deinem letzten Ausflug in die Stadt?“, hackte Seiichi nach. Ich nickte und prüfte die Bücher.

„Da in den letzten Jahren wieder einige Familien mit Kleinkindern hergezogen sind, dachte ich, ich müsse mein Sortiment mal wieder anpassen.“, erklärte ich grinsend. Seiichi setzte sich neben mir auf die Veranda, zog ein Buch heraus und blätterte es durch.

„Ja, scheinbar wollen immer mehr aus der hektischen Großstadt raus. Ich hatte schon Angst, unser Küstenstädtchen würde aussterben.“, meinte er.

„Wie geht’s eigentlich deiner Mutter?“, wechselte er das Thema.

„Gut. Sie hat mir ihren neuen Freund vorgestellt. Diesmal scheint es ernster, obwohl sie eigentlich gemeint hatte, sie wolle nach meinem Vater keinen anderen Mann mehr. Aber sie scheint glücklich und er tut ihr gut, also habe ich ihnen meinen Segen gegeben.“, antwortete ich, während ich aufstand, um die Lieferung nach innen zu bringen. Die Tür ließ ich offen, sodass ich mich weiterhin gut unterhalten konnte.

Lange blieben wir nicht allein. Ich kam gerade wieder heraus, um Seiichi das letzte Buch abzunehmen, damit ich es in meine Inventurliste aufnehmen konnte, als zwei Fremde die Straße herunterkamen. Wir grüßten einander. Einer der beiden Männer erklärte, dass sie gerade erst hergezogen waren, und fragte nach Geschäften, in denen er Besorgungen erledigen konnte. Seiichi gab, hilfsbereit wie er war, sofort die gewünschte Auskunft. Mein Blick war derweil auf den anderen Mann gerichtet, der irgendwie verstimmt wirkte. Es schien so, als ob er Seiichi nicht ganz leiden konnte, was ich seltsam fand.

„Wolltest du dir nicht noch etwas Lektüre besorgen?“, meinte der Fremde zu seinem schlecht gelaunten Freund. Dieser schien etwas irritiert, wehrte sich aber nicht, als er in meine Richtung geschoben wurde.

„Wir treffen uns später zuhause.“, schob der erste nach, ehe er mit Seiichi die Straße weiterging, der angeboten hatte, ihm die wichtigsten Geschäfte zu zeigen, da er sowieso in dieselbe Richtung musste. Ich musterte den Zurückgebliebenen, der mich vage an jemanden erinnerte.

„Willst du etwas Bestimmtes? Du kannst dir gegen eine kleine Gebühr jederzeit eines leihen.“, erklärte ich ihm, während ich ihm deutete, dass er reinkommen sollte.

„Ähm, ich… also, hast du eine Empfehlung?“, fragte er, als er mir ins Innere folgte. Ich musterte ihn und überlegte, was ihm gefallen könnte. Schließlich ging ich durch die Regale und nannte für jedes Genre einen guten Vertreter.

„Aber vor Kurzem habe ich diesen Autor entdeckt. Er schreibt gut, etwas surreal und philosophisch, aber in schönen Metaphern.“, meinte ich schließlich und stieg die Leiter hoch, um eines meiner Lieblingsbücher herunterzuholen. Bei meinem Abstieg war ich allerdings unvorsichtig. Die Leiter war alt und hatte eine nicht mehr intakte Sprosse, die ich normalerweise ausließ, diesmal jedoch nicht.

Ich fiel, spürte aber die Arme um meinen Körper. Als ich die Augen wieder öffnete, die ich reflexartig bei meinem Sturz geschlossen hatte, blickte ich direkt in die Augen meines Kunden, während ich über ihm kniete. Seine Hände lagen um meine Hüften. Eine Weile sahen wir uns tief in die Augen, bevor ich rein aus Instinkt handelte und mich vorbeugte, um meine Lippen auf seine zu legen. Er wehrte sich nicht. Stattdessen erwiderte er den Kuss.

Wir lösten uns leicht voneinander.

„Du hast mich ganz schön warten lassen, Akai.“, flüsterte ich dicht an seinen Lippen.

„Du erinnerst dich? Ich dachte… Als Gott bin ich wohl nicht geeignet.“, seufzte er.

„Wenigstens hat das mit Seiichi und dir geklappt.“, fügte er hinzu.

„Seiichi und ich sind nur Freunde.“, stellte ich klar.

„Er ist verheiratet, hat eine kleine Tochter und führt glückliches Familienleben.“, führte ich genauer aus. Akai sah mich bedrückt an.

„Ich bin über ihn hinweg. Habe ich doch damals schon gesagt. Nur scheinbar habe ich ein Talent dafür, mich unglücklich zu verlieben. Schließlich hat mich mein nächster Schwarm einfach verlassen und mir nicht einmal die Erinnerungen an ihn gelassen.“, fügte ich sofort hinzu.

„Ich mach’s wieder gut.“, flüsterte er und küsste mich erneut.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.10.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /