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The Third Try

 

„Nicht so schlimm! Du kannst es ja nochmal ausbessern und abgeben. Du weißt doch, alle guten Dinge sind drei.“, versuchte meine Freundin mich aufzumuntern, nachdem ich sie angerufen hatte, um ihr von meinem Gespräch mit dem Professor zu erzählen, von dem ich heute meine Hausarbeit zurückbekommen hatte.

Dieser Spruch war alt und begleitete mich schon mein ganzes Leben. Tami verwendete ihn ziemlich gern und erinnerte mich jedes Mal an meine Mutter, deren Stimme ich dabei förmlich hören konnte. Als Kind wurde mir ständig gesagt, dass alle guten Dinge drei waren. Im Laufe der Zeit hatte ich aber eher das Gefühl bekommen, als hätte mir irgendjemand einen Fluch auferlegt. Denn das Sprichwort, das eigentlich dazu ermuntern sollte, nicht gleich aufzugeben und es nochmal zu probieren, war für mich Standard. Die Zahl drei war mein ständiger Begleiter. Egal, was ich versuchte, es klappte nie beim ersten Mal.

Angefangen bei Kleinigkeiten wie dem Fahrradfahren lernen, bei dem ich jedes Mal drei Versuche brauchte, um überhaupt aufzusteigen. Oder den Bildern, die ich im Kindergarten und in der Schule immer dreimal anfangen musste, weil sie durch einen unglücklichen Zufall die ersten beiden Male immer ruiniert wurden. Oder den Freunden, von denen erst der dritte, den ich gemacht hatte, wirklich mit mir befreundet sein wollte und nicht einfach nur irgendwelche Scherze mit mir trieb.

„Alle guten Dinge sind drei.“, hatte meine Mutter vermutlich zum ersten Mal zu mir gesagt, als mein Vater uns verlassen hatte. Mein erster Stiefvater war wirklich eine Katastrophe gewesen. Er hatte getrunken, war laut gewesen, hatte meine Mutter vermutlich auch betrogen. Ich war froh, als sie ihn rausgeworfen hatte. Erst die dritte Vaterfigur in meinem Leben hatte scheinbar auch bleiben wollen.

Das hatte den Aberglauben meiner Mutter scheinbar bestärkt, weshalb sie diese Worte jedes Mal wiederholt hatte, wenn etwas nicht beim ersten Mal geklappt hatte. Inzwischen hatte ich das Gefühl, dass sie ihre ersten Versuche manchmal unbewusst selbst sabotiert hatte, damit es auch immer stimmte. Ob ich mein eigenes Leben ebenso manipuliert hatte?

Ich musste mich immer dreimal so sehr anstrengen als alle anderen. In der Grundschule hatte ich öfter Prüfungen wiederholen müssen, weshalb meine Mutter die glorreiche Idee hatte, sich die Prüfungen, die sich jedes Jahr kaum änderten, von meinem älteren Cousin zu holen, sodass ich meine ersten beiden Versuche schon zuhause absolvieren konnte. Eine seltsame Idee, die für mich aber ziemlich gut geklappt hatte. Zumindest in der Grund- und Mittelstufe. Mein Cousin hatte dann nämlich eine andere Schule besucht und ich hatte zum Teil junge Lehrer gehabt, die ihre eigenen Tests noch entwickelt hatten.

Zum Glück hatte ich damals Tami kennengelernt. Sie war ein Jahr älter und hatte mir dann im ersten Oberstufenjahr Nachhilfe gegeben. Ich hatte ihr von meinen bisherigen Lernmethoden erzählt. Sie hatte es lustig gefunden, mir daraufhin aber jedes Mal einen Test zusammengestellt, den ich versauen konnte. So waren wir gute Freunde geworden.

Ihr hatte ich es auch zu verdanken, dass ich meinen Abschluss geschafft hatte. Und dass ich den Aufnahmetest für die Uni nicht hatte wiederholen müssen. Aber inzwischen musste ich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich konnte mich nicht ständig darauf verlassen, dass mir jemand half.

 

„Erzähl mir von deinem Date, Yoshi!“, forderte Tami mich auf und riss mich so aus meinen Gedanken.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin alleine im Café gesessen und alleine wieder gegangen.“, antwortete ich betrübt. Heute war kein guter Tag gewesen.

„Oh, Süßer, tut mir leid, das zu hören. Ich dachte, diesmal würde es klappen. Aber es gibt ja noch ein nächstes Mal.“, munterte mich meine Freundin wieder auf. Zumindest versuchte sie es.

„Diesmal nicht. Ich habe versucht ihn anzurufen und dann eine WhatsApp zurückbekommen, dass ich ihn nicht mehr stören soll.“, erwiderte ich betrübt. Ich hatte wirklich keine Lust, über mein Liebesleben zu reden. Das hatte bisher nie geklappt. Und ich hatte so einiges schon ausprobiert.

„Keine Dates in nächster Zeit. Ich muss meine Hausarbeit überarbeiten und habe Anfang nächster Woche den dritten Prüfungstermin. Die muss ich bestehen, sonst muss ich das Seminar wiederholen.“, lenkte ich ab, bevor Tami mit ihren Ideen bezüglich meiner Flaute im Liebesleben ankommen konnte. Ich sprach über die letzte Prüfung, fragte Tami noch ein paar Dinge dazu und hatte sie erfolgreich vom ursprünglichen Thema abgebracht.

 

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Endlich vorbei! Ich hatte heute die letzte Prüfung abgelegt, die ich noch vom letzten Semester übrighatte, und auch die dritte Fassung meiner Hausarbeit abgegeben. Mein ganzes Wochenende war dafür draufgegangen. Jetzt hatte ich mal eine Weile Ruhe. Zumindest halbwegs.

Ich stieg die Stufen hinab, als ich es hinter mir krachen hörte. Ich drehte mich um und griff nach dem Buch, das mir entgegenkam. Ein paar Stufen weiter oben hockte ein Kommilitone und sammelte seine Sachen zusammen. Ich ging wieder etwas hoch und gab zurück, was ich aufgehoben hatte. Er bedankte sich mit einem Lächeln. Ich half ihm bei den restlichen Sachen.

„Ganz schön viele Bücher für den Semesterstart.“, kommentierte ich seinen Stapel. Er schenkte mir ein schiefes Lächeln.

„Ich muss einiges nachholen. Im letzten Semester habe ich viel verpasst, weil ich einen kleinen Unfall hatte.“, erklärte er mir.

„Oh, tut mir leid.“, gab ich schnell von mir. Er winkte ab. Ich richtete mich wieder auf, wünschte ihm viel Erfolg und wandte mich um, um zu gehen.

„Warte!“, hielt er mich auf. Ich drehte mich erneut zu ihm um.

„Hättest du Lust auf einen Kaffee? Ich lad dich ein.“, bot er mir unvermittelt an. Hatte ich mich verraten? Hatte ich ihn zu sehr angestarrt? Hatte ich ihn zu auffällig gemustert? Sein Blick war ziemlich eindeutig und ich war mir sicher, dass nicht jeder dieses Angebot bekommen hätte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Zählte das noch in meine alte Versuchsreihe? Oder war das schon eine neue?

„Ich könnte gerade wirklich einen Kaffee vertragen.“, ging ich auf seinen Vorschlag ein.

„Ich bin Susumu.“, stellte er sich vor und kam ein paar Treppenstufen herunter.

„Freut mich. Ich heiße Yoshi.“, erwiderte ich. Wir stiegen die Treppen hinab, gingen ins Uni-Café und suchten uns einen freien Tisch. Ich setzte mich, während Susumu seine Bücher ablegte und sich dann anstellte, um uns die Getränke zu besorgen. Ich nutzte die Gelegenheit, um Tami kurz eine Nachricht zu schreiben. Eigentlich hatten wir vorgehabt, gemeinsam Essen zu gehen. Wir hatten nichts Festes ausgemacht, aber ich wollte ihr trotzdem Bescheid geben.

Susumu kam zu unserem Tisch zurück und stellte ein Tablett vor mir ab.

„Schoko oder Vanille?“, fragte er unvermittelt.

„Vanille.“, antwortete ich spontan und er schob einen der Donuts vor meine Nase.

Was folgte war ein fast eineinhalbstündiges, nettes Gespräch über die Uni, unsere Lieblingsfilme und -bücher, sowie die eine oder andere erzählenswerte Kindheitsgeschichte.

 

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, als ich die Wohnung betrat. Der Tag hatte nicht gut angefangen, mir aber ein wundervolles Geschenk gemacht. Ein spontanes Date mit einem wundervollen Typen, vor dem ich mich nicht komplett blamiert hatte. Tatsächlich war überhaupt nichts passiert.

Tami kam mir aus der Küche entgegen und musterte mich neugierig.

„Und? Was kam dir dazwischen, dass du mich einfach links liegenlässt?“, erkundigte sie sich sofort, bevor ich überhaupt meine Schuhe ausziehen konnte.

„Ich… hatte ein Date.“, antwortete ich und konnte das Grinsen kaum unterdrücken.

„Nummer drei?“, bohrte sie nach. Ich zuckte mit den Schultern. Zählte es als eigene Versuchsreihe, wenn ich selbst eigentlich nichts getan hatte?

„Es ging nichts schief. Und es war schön.“, meinte ich und fasste überblicksmäßig zusammen, wie mein spontanes Rendezvous abgelaufen war.

„Habt ihr euch nochmal verabredet?“, wollte sie wissen. Ich schüttelte den Kopf.

„Susumu hat in nächster Zeit noch einiges zu tun. Er hatte im letzten Semester einen Fahrradunfall und hatte sich die Schulter gebrochen. Weil er sein Studium aber nicht verlängern will, hat er sich mit den Dozenten geeinigt, dass er durch Extraaufgaben die verpassten Einheiten kompensiert.“, erklärte ich.

„Aber wir haben Nummern getauscht.“, schob ich nach und grinste. Susumu war ein attraktiver Kerl, der sich nicht verstecken musste. Wir besaßen einen ähnlichen Humor, er war ein aufmerksamer Zuhörer und hatte ehrliches Interesse gezeigt. Auch ich hatte an seinen Lippen gehangen.

„Was hältst du von Pizza? Und dann erzählst du mir auf der Couch ausführlich von deinem potentiellen Lover.“, schlug Tami vor. Ich überlegte nicht lange, sondern stimmte sofort zu.

 

Die ersten Wochen verliefen ziemlich ereignislos. Ich schrieb Susumu öfter per WhatsApp und manchmal telefonierten wir abends miteinander, wenn wir uns beim dritten Versuch endlich erwischten. In der Uni liefen wir uns manchmal über den Weg. Aber wir hatten dann kaum Zeit, uns zu unterhalten. Inzwischen war ich mir nicht mal mehr so sicher, ob Susumu bei unserem ersten Treffen mit mir geflirtet hatte. Vielleicht hatte er einfach nur Freundschaft schließen wollen und ich hatte sein Interesse falsch interpretiert?

„Hast du am Wochenende schon was vor?“, fragte ich Susumu am Abend. Tami hatte mich dazu überredet, es mit einer Verabredung zu versuchen, bevor ich mich weiterhin selbst verrückt machte. Ich lauschte dem Schweigen am anderen Ende der Leitung. Papier raschelte und ich hörte einen Kugelschreiber, der darüber flog.

„Ich… denke schon. Am Freitag habe ich ein Gespräch mit meinem Dozenten wegen einer Arbeit. Aber dann dürfte ich mal etwas Zeit haben. Woran hast du gedacht?“, antwortete er schließlich.

„Oh, ähm, diese Woche ist ein Film angelaufen, den ich gerne sehen würde. Und es gibt da dieses Restaurant, das ich schon seit längerem mal ausprobieren wollte.“, schlug ich vor. Irgendwie hatte ich mit einer Absage gerechnet. Aber er stimmte zu und ich beendete das Gespräch bald, da ich ihn nicht weiter stören wollte.

 

Bis zum Wochenende war ich ziemlich aufgeregt. Bei jedem Anruf rechnete ich fast damit, dass Susumu mir wieder absagte. Aber jedes Mal führten wir nur unsere üblichen Gespräche.

Es war Freitagnachmittag, als ich zuhause vor meinem Kleiderschrank stand und mir mein Outfit für den nächsten Tag überlegte. Es musste etwas sein, das für ein Date passte, sollte aber nicht zu sehr von meinem Alltagsoutfit abweichen, für den Fall, dass Susumu mich doch nicht als potentiellen Lover ansah. So ein Erlebnis hatte ich nämlich schon mal gehabt. Das musste ich nicht wiederholen.

Mein Smartphone meldete sich. Ich griff danach und hob ab.

„Hey, Yoshi!“, erklang Susumus Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich erwiderte die Begrüßung, hatte aber ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

„Also, wegen morgen…“, begann er langsam. Ich unterdrückte ein Seufzen und ließ mich auf mein Bett plumpsen. Ich wusste, was kommen würde.

„Ich muss meine Hausarbeit nochmal gefühlt von vorne anfangen. Ein freies Wochenende kann ich vergessen. Wenn ich nicht bald abgebe, muss ich das Seminar wiederholen.“, erklärte Susumu. Er klang ehrlich bedrückt, während ich mich fragte, warum ich ernsthaft geglaubt hatte, es würde diesmal alles klappen.

„Schon gut, ich verstehe schon.“, antwortete ich. Was sollte ich auch sonst sagen?

„Tut mir leid.“, entschuldigte er sich.

„Du kannst ja nichts dafür. Wir können ja… Du solltest dich erst mal auf die Uni konzentrieren. Wir haben ja noch nicht mal Tickets gekauft oder so.“, wehrte ich schnell ab. Ich hielt mich davon ab, ihm vorzuschlagen, unser Treffen einfach zu verschieben. Ich wollte nicht zu verzweifelt klingen. Susumu war an der Reihe, um eine Verabredung auszumachen.

„Ja. Sicher. Ich melde mich, wenn alles vorüber ist.“, meinte Susumu, bevor er sich verabschiedete. Ich legte mein Handy neben mir ab und seufzte, während ich mich auf den Rücken fallen ließ.

 

Mein Wochenende verbrachte ich mit Tami, die mir Gesellschaft leistete und mich ablenkte. Am Montagmorgen war ich wieder halbwegs gutgelaunt. Tami hatte mir den Kopf gewaschen. Ich war es doch eigentlich gewohnt, dass ich nicht gleich beim ersten Mal Erfolg hatte. Und ich hatte Susumu meine Gefühle nicht mal deutlich gezeigt. Außerdem konnte er ja selbst nichts dafür. Die Uni ging nun mal vor. Er hatte mir mehr als deutlich gezeigt, wie wichtig ihm das Studium war. Da sollte ich ihm ganz bestimmt nicht im Wege stehen. Und er hatte am Telefon ja bedrückt gewirkt, dass er mir hatte absagen müssen.

Ich musste es einfach nochmal versuchen.

In der Uni hielt ich immer wieder Ausschau nach ihm. Ich hatte ihm am Morgen zwar geschrieben, aber keine Antwort bekommen. Es war fast Mittag, als ich tatsächlich Glück hatte und Susumu über den Weg lief.

„Hey, Susumu! Wie geht’s dir? Bist du fertig geworden?“, sprach ich ihn an. Er wirkte erst überrascht, dann lächelte er mich an.

„Yoshi. Sorry, dass ich heute Morgen nicht geantwortet habe. Ich hatte verschlafen und war in Eile. Hatte gestern noch eine lange Nacht gehabt. Aber jetzt ist alles fertig. Hab es gerade abgegeben.“, erzählte er und wirkte, als ob eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden wäre. Ich musterte ihn genauer und entdeckte die dunklen Ringe unter seinen Augen.

„Was hältst du von Mittagessen? Zum Feiern. Ich lad dich ein.“, bot ich an. Er kratzte sich am Hinterkopf.

„Ehrlich gesagt, bin ich schon verabredet. Mein Vater ist mal wieder in der Stadt. Wir sehen uns selten, weil er geschäftlich viel unterwegs ist.“, erwiderte Susumu zerknirscht. Ich hob abwehrend die Hände in die Luft.

„Ah, schon gut. Familie geht natürlich vor.“, meinte ich sofort und versuchte meine Enttäuschung zu verstecken. Absage Nummer 2.

 

Es dauerte eine Weile, aber dann hatte ich endlich den Mut für einen weiteren Versuch aufgebracht. Ich rief Susumu an und erzählte ihm, dass mein Chef von meinem Nebenjob Freikarten für den Freizeitpark bekommen hatte, die am Wochenende ablaufen würden. Da er keine Verwendung dafür hatte, hatte er sie mir geschenkt. Ich verschwieg, dass Tami mich vermutlich ebenso dorthin begleiten würde. Sie liebte solche Orte und wäre sofort dabei. Aber ich war sicher, sie würde verstehen, dass sie diesmal nur zweite Wahl war. Gespannt wartete ich auf eine positive Antwort und war erleichtert, als ich sie bekam. Wir machten einen Treffpunkt in der Nähe der Uni aus und legten dann auf.

Die ganze Woche war ich aufgeregt. Manchmal liefen wir uns in der Uni über den Weg. Ab und zu kam unsere Verabredung zur Sprache. Ich war jedes Mal wieder froh, wenn er nur seine Vorfreude zum Ausdruck brachte. Auch, wenn ich nicht wusste, ob er sich mehr über den Park oder über mich als Begleitung freute.

Freitagabend stand ich wie schon zuvor vor meinem Kleiderschrank auf der Suche nach einem passenden Outfit. Als mein Smartphone sich meldete, hatte ich wieder ein flaues Gefühl. Jedoch verflog das schnell, als ich die WhatsApp las, in der Susumu mir mitteilte, dass er sich auf morgen freute.

 

Ich war viel zu früh dran. Ich wollte nicht, dass irgendwas schiefging. Meine Übermotivation hatte jedoch dazu geführt, dass ich fast eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt dastand. Ich wollte nicht ganz so verzweifelt wirken, deshalb setzte ich mich in ein nahegelegenes Café.

Es war noch immer eine halbe Stunde, als ich Susumu auf der Straße entdeckte. Ich zahlte schnell und eilte hinaus. Er war ein Stück vor mir. An unserem Treffpunkt blieb er stehen, holte sein Smartphone heraus und schien zu warten. Ich atmete tief durch und überlegte, wie ich ihn begrüßen sollte. Bis ich merkte, dass er nicht mehr alleine war. Wie erstarrt sah ich zu, wie eine junge Frau ihre schlanken Arme um seinen Hals schlang und ihn zu sich zog. Sie küssten sich so eindeutig und innig, dass ich es nicht missverstehen konnte. Mein Herz rutschte mir in die Hose. Besonders als sie sich von ihm löste, Susumu ihren „Schatz“ nannte und betonte, wie sehr sie sich über ihr Date heute freute. Ich drehte mich um und machte, dass ich davonkam, bevor die zwei auf mich aufmerksam werden konnten.

Ich war in einer ganz anderen Gegend, als ich endlich stehen blieb. Ich rief mir die Szene erneut ins Gedächtnis und analysierte sie genau. Aber ich kam immer zu demselben Ergebnis. Susumu und diese Frau hatten sich geküsst. Die Frau hatte deutlich gemacht, dass sie zusammen waren. Ich glaubte nicht, dass Susumu so ein Arsch war, der absichtlich so eine Show für mich abzog, um mir zu zeigen, was Sache war. Zumal er nicht mal davon ausgehen konnte, dass ich so viel früher zu unserer Verabredung auftauchte. Ich rief Tami an. Ich brauchte eine zweite Meinung.

 

„Okay, er hat sich mit seiner Freundin verabredet und dabei vergessen, mir abzusagen.“, sprach ich die Erkenntnis aus, die ich gemacht hatte. Das war die einzige Erklärung, die Sinn ergab. Ich schob mir einen weitern Löffel mit Eis in den Mund. Tami saß am anderen Ende der Couch und stocherte in ihrem Eis herum. Sie hatte für unsere Krisenbesprechung zuhause sofort ihren geplanten Shoppingtag gecancelt und war nachhause geeilt.

Sie ließ sich meine Worte durch den Kopf gehen. Abwegig war es scheinbar nicht, sonst hätte sie mir schon widersprochen.

„Aber ihr hattet doch ein Date.“, meinte sie schließlich.

„Wir haben’s nie ein Date genannt. Wahrscheinlich dachte er nur, das zwischen uns wäre Freundschaft. Und gestern hat er vermutlich einfach an die falsche Nummer geschrieben.“, erklärte ich frustriert. Mir ging diese Kussszene nicht aus dem Kopf. Vor allem seit ich realisiert hatte, warum es mich so sehr beschäftigte. Ich wollte mit Susumu nämlich keine Freundschaft. Normalerweise konnte ich mit den meisten Typen auch einfach nur befreundet sein. Aber bei Susumu war es anders. Ich würde mich früher oder später richtig in ihn verlieben, was eine Freundschaft einfach unmöglich machte.

„Sicher, dass sie ihn nicht mit irgendwem verwechselt hat?“, bohrte Tami nochmal nach.

„Sie haben sich unterhalten und es schien nicht so, als ob ihm der Kuss unangenehm gewesen wäre. Er hatte sich nicht gewehrt und unangenehm war es ihm wohl auch nicht.“, antwortete ich bedrückt.

„Das war wohl Nummer 3.“, fügte ich hinzu und Tami schien zu verstehen, dass ich damit abgeschlossen hatte.

 

Susumu aus dem Weg zu gehen war nicht sonderlich schwer. Wir hatten uns zuvor schon nur so oft gesehen, weil ich ihn gesucht hatte und ihn nach seinen Seminaren ausgefragt hatte, um ihn manchmal abzufangen. Jetzt musste ich einfach nur verschwinden, sobald er in Sichtweite war. Seine Anrufe und Nachrichten ignorierte ich komplett. Ich wollte sie nicht lesen. Und seine Stimme zu hören würde mich nur verletzen.

Um mich abzulenken hatte ich eine Dating App installiert und mich im Chat mit einigen Typen unterhalten.

 

Es war ein Fehler gewesen. Ich hatte Ablenkung gewollt und mich leichtfertig mit einem Kerl verabredet. Ich merkte schnell, dass ich nicht gerade an den ehrlichsten Typen geraten war. Meine Verabredung war ganz bestimmt nicht mehr Mitte zwanzig und seine Fotos waren bestimmt mit Photoshop oder einem ähnlichen Programm bearbeitet worden.

„Du bist noch süßer als auf deinem Profilbild.“, gab er als Begrüßung von sich. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Er legte den Arm um meine Schultern.

„Wie wär’s, wenn wir den Film überspringen und gleich zum aufregenden Teil übergehen?“, schlug er vor und auf seinen Lippen erschien ein anzügliches Lächeln. Ich war zwar zu diesem Date mit dem Hintergedanken gekommen, dass es eventuell so weit kommen könnte, aber nur, wenn der Anfang gut war und ich mich wohl fühlte. Letzteres war nicht der Fall. Ich wollte weg hier. Sofort.

„Ich… wollte den Film schon länger sehen.“, meinte ich und versuchte mich, aus seiner halben Umarmung zu befreien.

„Ach komm, wir wissen doch beide, worauf das hier hinauslaufen wird. Und ich steh nicht so auf Vorspiel. Also lass uns gleich zur Action kommen!“, entgegnete er und zog mich bereits zum Weitergehen. Meine Gegenwehr wurde größer.

„Zier dich nicht so! Du musst nicht so tun, als wärst du schwer zu haben.“, fuhr er fort. Ich hatte einen großen Fehler begangen und geriet allmählich in Panik. Ich wehrte mich mehr, machte es für andere Passanten offensichtlich, dass mir das hier nicht gefiel, und war erleichtert, dass mir bald jemand zur Hilfe kam, bevor es richtig eskalieren konnte.

„Finger weg von meinem Freund!“, erklang eine wütende Stimme neben mir und mein aufdringliches Date wurde von mir weggeschoben. Stattdessen fand ich mich in anderen Armen wieder, die mich regelrecht besitzergreifend an sich drückten. Ich blickte auf und bekam Herzklopfen.

„Du störst unser Date.“, entgegnete meine Verabredung unzufrieden.

„Ein Date, das mein Freund so ganz bestimmt nicht will. Wie deutlich muss er es noch machen? Außerdem hat er schon mich.“, erwiderte Susumu. Mein unglückliches Date wollte etwas erwidern. Vermutlich nachhaken, warum ich mit ihm auf einem Date war, wenn ich doch angeblich vergeben war. Auch wenn unser Chat von jemand Naiven auch als Verabredung mit einem normalen Freund interpretiert werden konnte.

Doch Susumu wandte sich bereits mir zu. Ohne ein weiteres Wort spürte ich bereits seine Lippen auf meinen. Sie waren weich und irgendwie fordernd. Viel besser als ich es mir vorgestellt hatte. Ich öffnete meine Lippen etwas und sofort schob sich seine feuchte Zunge in meine Mundhöhle. Der Kuss war schnell viel zu erotisch für die Öffentlichkeit. In meinem Kopf drehte sich alles und ich vergaß meine Umgebung komplett.

Als Susumu den Kuss löste, musste ich mich an ihm festklammern. Meine Knie waren weich und konnten mich nicht mehr halten. Das Rauschen in meinen Ohren war so laut, dass ich nicht mehr verstand, was mein eigentliches Date sagte. Ich kapierte erst nach einer Weile, dass wir alleine waren. Naja, bis auf die Passanten, die unserem Schauspiel mehr oder weniger neugierig zugesehen hatten.

Susumu löste sich langsam von mir, ließ mich aber nicht ganz los. Vielleicht merkte er, dass sein Kuss immer noch Wirkung bei mir zeigte.

„Danke… für deine Hilfe.“, hauchte ich kaum hörbar.

„Schon gut. Ich hätte vermutlich nachts nicht mehr schlafen können, wäre ich nicht eingeschritten. Dieser… Weiß er nicht, was ‚nein‘ bedeutet?“, knurrte Susumu und hielt sich scheinbar nur mühsam vom Fluchen ab.

„Was wolltest du überhaupt von dem? Der Kerl war doch viel zu alt für dich. Und du kriegst ja wohl etwas Besseres ab als diesen notgeilen Perversling.“, fragte er aufgebracht.

„Er hatte sein Profil beschönigt. Und im Chat hatten wir eine normale Unterhaltung. Nicht mal zweideutige Witze.“, verteidigte ich meine dumme Entscheidung.

„Selbst den Netten kann man nicht trauen.“, kommentierte Susumu und atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Dann schien er sich unserer Situation bewusst zu werden, denn er löste seine Arme von mir. Ich fühlte die Enttäuschung, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen.

„Du scheinst in letzter Zeit schwer beschäftigt. Seit einer Ewigkeit kein Lebenszeichen mehr von dir. Und bei unserem Treffen hast du mich auch versetzt. Ohne ein Wort.“, sprach er an, worüber ich gerade eigentlich nicht reden wollte. Ich könnte ihn anlügen, aber ich hatte keine Ausrede parat, die halbwegs glaubwürdig klang. In seinen Augen hatte ich grundlos von einem Moment auf den anderen den Kontakt vollständig abgebrochen. Natürlich wollte er da eine Erklärung. Aber ich schwieg.

„Ist es wegen Sasa?“, bohrte er nach.

„Ich kenne keine Sasa.“, erwiderte ich, was nicht gelogen war, auch wenn ich mir denken konnte, wen er meinte.

„Sie hat dich an dem Tag gesehen und auf einem Foto erkannt. Ich habe die ganze Zeit versucht dich zu erreichen, um es dir zu erklären.“, fuhr er fort. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und vermied Blickkontakt.

„Ich glaube nicht, dass es da viel zu erklären gibt.“, entgegnete ich.

„Doch, gibt es. Eine Menge sogar.“, widersprach er und deutete auf eine Bank. Ich nickte und folgte ihm. Er konnte mir ja eine Erklärung abliefern. Dieses Recht sollte ich ihm zugestehen. Wir setzten uns auf die Parkbank.

„Sasa ist eine Freundin meiner Schwester. Und sie hat mich um Hilfe gebeten. Ich kenne nicht alle Details, aber ihr Ex ist ein ziemlicher Arsch. Der Kerl hat sie betrogen. Sie hat es herausgefunden und natürlich schlussgemacht. Nur ist der Typ der Meinung, sie habe das nicht zu entscheiden. Er ist so ein richtiger Macho, der sich selbst für die Krönung der Menschheit hält.“, begann er seine Erklärung. Einen Moment schien es, als würde er eine Hasstirade über diesen Kerl beginnen, doch er atmete tief durch und wandte sich wieder mir zu.

„Das Ganze entwickelt sich allmählich in Richtung Stalking. Er meint, sie würde ihn nur zappeln lassen und schon zu ihm zurückkommen. Deshalb hat sie mich gebeten, ihren Freund zu spielen. Und als wir uns treffen wollten, hat sie mich gebeten, dieses Schauspiel mit ihr abzuziehen. Ihr Ex ist ein Vollidiot, der allmählich seine Grenzen überschreitet, aber er ist auch ein Feigling. Er denkt, ich könne Karate oder Judo. Mit so jemanden würde er sich niemals anlegen. Und er hat sich seitdem wohl auch nicht mehr blicken lassen.“, beendete er seine Rechtfertigung.

Er klang glaubwürdig und ehrlich.

„Also, ist es deine Art anderen in Not zu helfen? Du küsst sie einfach?“, entgegnete ich und versuchte es scherzhaft klingen zu lassen. Er rückte näher und legte seine Hand auf meine.

„Sasa hat mich geküsst. Das ging nicht von mir aus.“, stellte er klar. Seine Finger umschlossen meine fester. Er beugte sich zu mir.

„Ich hatte gehofft, wir wären auf dasselbe aus. Nachdem ich schon die erste Verabredung abgesagt habe.“, flüsterte er. Mein Herz machte einen Salto. Seine Signale waren so deutlich.

„Zwei.“, korrigierte ich ihn.

„Was?“, hakte er verwirrt nach.

„Es waren zwei Verabredungen. Wenn man die Einladung zum Mittagessen mitzählt.“, erklärte ich.

„Zählt das schon? Meiner Meinung nach ist ein Mittagessen nicht mit einem richtigen Date zu vergleichen. Aller guten Dinge sind drei. Mir wäre es lieber, wenn das hier Date-Versuch Nummer drei wäre.“, bohrte er nach und musterte mich. Ich dachte darüber nach. Ich hatte keine Ahnung, wie mein Fluch genau funktionierte. Genau deshalb hatte ich ja solche Probleme mit meinem Liebesleben. Weil ich nie wusste, welche Versuchsreihe gerade dran war.

„Klingt gut.“, hauchte ich. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, legte ich meine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu mir für einen Kuss. Doch ich hatte mich verschätzt und wir schlugen unsere Köpfe zusammen.

„Das war etwas zu stürmisch.“, gab Susumu von sich.

„Ja, mein üblicher Fluch. Als ob so etwas bei mir das erste Mal klappen würde.“, erwiderte ich, während ich mir die wunde Stirn rieb.

„Kapier ich nicht ganz. Musst du mir später mal erklären.“, entgegnete Susumu, griff jetzt seinerseits mir in den Nacken und zog mich sanft an sich. Der Kuss war zärtlicher als vorhin, verursachte mir aber nicht weniger Herzklopfen.

„Yoshi, das wollte ich schon so lange.“, flüsterte er. Ich hauchte eine Zustimmung.

Dann wurde ich mir unserer Umgebung bewusst. Ich rückte etwas ab.

„Ich… hatte ursprünglich geplant, ins Kino zu gehen. Wir können auch was anderes tun.“, wechselte ich das Thema.

„Ich wäre zwar für etwas Anderes, aber… lassen wir es langsam angehen.“, antwortete er und drückte meine Hand.

Ich grinste und zog ihn auf die Beine. Händchenhaltend machten wir uns auf dem Weg.

Keine Ahnung, was ich zählen musste, aber Susumu war definitiv meine Nummer 3.

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.09.2020

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