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Mitfahrgelegenheit

 

Ich streckte mich. Mein Kopf schwirrte schon. Die Bücher vor mir lagen aufgeschlagen auf dem Tisch, wollten mir aber schon seit einer Weile nicht mehr ihren Inhalt preisgeben. Meine Augen brannten. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es nach Mitternacht war.

Verdammt! Ich hatte vollkommen die Zeit übersehen. Ich sah mich um, doch die Bibliothek schien vollkommen leer. Ich konnte noch leise Schritte irgendwo im oberen Stockwerk hören. Vermutlich eine der Putzfrauen. Es war noch am Anfang des Semesters, also schlossen sich kaum Studenten in die Bibliothek ein so wie ich. Müsste ich Ende der Woche nicht diese dämliche Arbeit abgeben, würde ich auch nicht mehr hier sein, sondern in meinem gemütlichen Bett liegen und von dem neuen Austauschstudenten träumen. Aber Prokrastination war eine häufige Studentenkrankheit, gegen die ich leider nicht immun gewesen war. Allerdings hatte mein Dozent wenig Verständnis dafür gezeigt. Zumindest hatte er meine Deadline etwas verlängert, sodass ich meine erbärmliche Entschuldigung von einer wissenschaftlichen Arbeit nochmal bearbeiten konnte.

Weil ich aus meinen Fehlern allerdings immer noch nicht gelernt hatte, durfte ich mir die Nacht in der universitären Bibliothek um die Ohren schlagen.

Für heute reichte es allerdings. Der Aufseher hatte mir vorhin schon einen ungeduldigen Blick zugeworfen. Er wollte mindestens ebenso sehr nachhause wie ich.

Ich sammelte meine Notizen zusammen, stopfte meine Sachen in den zerschlissenen Rucksack und stapelte die Bücher, die ich gebraucht hatte. Einen Moment sah ich ihn an. Ich könnte jetzt noch ein guter Student sein und alles wegräumen. Aber dann würde ich vermutlich auf dem Nachhauseweg einschlafen.

Ich hängte mir die Tasche um die Schultern, ließ meinen Blick nochmal schweifen und machte mich dann schleunigst auf dem Weg in Richtung Ausgang.

 

Die Nachtluft hatte etwas Belebendes. Leider war ich für die Temperaturen nicht gerüstet. Meine Jacke war für Frühling ausgerichtet, also lauwarme Temperaturen. Dass aber noch der Winter auf dem herrschaftlichen Thron saß und seinem Nachfolger noch nicht Platz machen wollte, hatte ich am Morgen leider noch nicht wahrhaben wollen. Und jetzt bekam ich die Quittung dafür ab.

Ich zog die Jacke enger um mich, stopfte die Hände in die Taschen und zog den Kopf ein. So trat ich meinen Heimweg an. Die Straßen waren leer. Es war niemand mehr unterwegs. Und den letzten Bus hatte ich auch schon verpasst. Die Straßenlaternen spendeten nur alle paar Meter Licht. Es war viel zu dunkel für meinen Geschmack. In ein paar Tagen wäre Neumond. Vielleicht hätte ich mir lieber eine Taschenlampe mitnehmen sollen. Mein Handy hatte kaum mehr Akku und würde den Heimweg nicht überstehen. Für den Notfall brauchte ich es aber.

Ich kam am Wald entlang und hielt inne. Es gab eine Abkürzung. Ich hatte wenig Lust, den Wald in der Kälte zu umrunden. Und die meisten Straßenlaternen waren sowieso kaputt. Also wäre es so oder so dunkel. Ich zögerte, dann siegte die Kälte und ich verließ die große Straße, um dem eher pfadähnlichen Weg zu folgen. Ich konnte kaum etwas sehen. Die dichten Bäume ließen auch das wenige Mondlicht nicht durch. Ich beschleunigte meinen Schritt und hoffte einfach nur, dass nichts im Weg lag.

Eine Weile ging ich so dahin, holte ab und zu mein Handy hervor, um im fahlen Licht etwas zu erkennen, um sicherzugehen, dass ich mich noch nicht verirrt hatte, und ignorierte die Geräusche, die aus dem Wald neben mir an mein Ohr drangen.

 

Hinter mir tauchte ein Licht auf. Ich zuckte kurz zusammen, rief mich aber dann wieder zur Ordnung. Es waren die Scheinwerfer eines Autos. Soweit ich wusste, führte etwas weiter vorne eine Straße zu einem Haus. Vielleicht war dessen Bewohner erst jetzt nachhause gekommen? Ich ging weiter in Richtung Wald, um dem Auto Platz zu machen. Der Boden war etwas aufgeweicht. Es hatte heute Vormittag geregnet. Fast wäre ich hängen geblieben.

Das Auto fuhr nicht an mir vorbei. Es blieb hinter mir. Ich bekam allmählich ein ungutes Gefühl. Der Fahrer war kein Serienkiller, der hier seine nächsten Opfer auflas. Oder? Bei meinem Glück würde mich das nicht wirklich wundern.

Das Auto beschleunigte etwas, fuhr aber dann im Schritttempo neben mir her. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinab. Ich beschleunigte meinen Schritt und überlegte, ob ich es riskieren sollte, in den Wald zu flüchten. Die Panik stieg allmählich in mir hoch. Mir fiel keine vernünftige Erklärung mehr ein, warum ich nicht mein Glück zwischen den Bäumen suchen sollte.

„Shion?“, erklang eine Stimme, die mir vage bekannt vorkam. Der leichte Akzent gab mir einen guten Hinweis. Überrascht blieb ich stehen und blickte zum Wagen, der stehen geblieben war. Aus dem heruntergelassenen Fenster streckte sich ein bekannter Kopf. Ein charmantes Lächeln zeigte sich in der Dunkelheit und vertrieb jeglichen Anflug von Angst wieder.

„Alex, was… machst du hier?“, fragte ich und versuchte meinen Kommilitonen aus dem Ausland besser zu erkennen.

„Ich… war auf einer Feier für den Semesterstart und durfte Fahrer spielen. Und du?“, antwortete er.

„Musste wegen einer Arbeit in die Bibliothek.“, gab ich von mir und war hin- und hergerissen. Ich würde gerne noch länger mit Alex etwas Smalltalk betreiben. Wir hatten ein gemeinsames Seminar und auch ein paar Vorlesungen zusammen. Aber bisher hatten wir uns noch nie unterhalten. Nur mal kurz Hallo gesagt, wenn wir uns über den Weg gelaufen waren. Allerdings würde ein längeres Gespräch dazu führen, dass ich durchgefroren wäre. Und eine Dusche mitten in der Nacht war im Wohnheim nicht gern gesehen.

„Soll ich dich mitnehmen? Mein Heim liegt nicht weit von deinem.“, bot er mir an. Ich zögerte eigentlich nur, weil ich nicht glauben konnte, dass ich so viel Glück hatte.

„Das wäre super.“, antwortete ich schließlich, umrundete das Auto und setzte mich auf den Beifahrersitz.

Im Auto war es warm und meine gefrorenen Glieder nahmen dies dankbar wahr.

„Du bist meine Rettung.“, seufzte ich und hielt die kalten Finger an das Gebläse. Alex kicherte leise und mir lief ein wohliger Schauer den Rücken hinunter.

„Was hast du in der Bibliothek noch gemacht?“, wollte er wissen. Zögernd erzählte ich von meiner Arbeit. Alex ging nicht groß darauf ein. Stattdessen unterhielten wir uns über das Seminar, das wir beide besuchten.

„Kommst du gut mit? Wegen der Sprache meine ich.“, fragte ich vorsichtig.

„Ja, das geht schon. Meine Mutter hatte in der Nachbarstadt gelebt, also bin ich zweisprachig aufgewachsen. Nur mit Redewendungen tue ich mir schwer. Sprache ist auch Kultur.“, erklärte er.

Wir verfielen wieder etwas in Schweigen. Alex musste sich auf die kleine Straße konzentrieren.

„Dein Projekt machst du mit Mira, nicht wahr?“, erkundigte er sich. Es sollte wohl beiläufig klingen, allerdings misslang das. Meine Schultern sackten hinab.

„Ja, mach ich.“, bestätigte ich.

„Ihr… versteht euch gut, verbringt viel Zeit miteinander, oder?“, bohrte er nach. Ich lehnte meine Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Durfte ich nicht wenigstens ein bisschen träumen?

„Ja, tun wir wohl.“, antwortete ich.

„Sie ist wirklich… hübsch. Du bist… hast Glück… Andere würden… Sie hat wirklich…“, stammelte er. Schon wieder? Mira war eine attraktive, junge Frau und hatte genügend Verehrer. Manchmal so viele, dass sie gerne alle glauben ließ, sie wäre mit mir zusammen, obwohl wir beide wussten, dass das niemals der Fall sein würde. Und vor ein paar Monaten hatte ich ihr das Versprechen abgerungen, dass sie es in Zukunft lassen würde. Dennoch missverstanden manche unsere Freundschaft.

„Verdammt! Zwischen uns ist nichts und wird auch nie etwas sein. Ich bin schwul und mir ist sowas von egal, wie hübsch oder heiß oder geil Mira ist oder wie groß ihre Titten sind.“, brüllte ich wütend. Ein Fehler, denn Alex war von meinem Ausbruch so überrascht, dass er das Lenkrad herumriss und von der Straße abkam. Er stieg auf die Bremse und blieb nur wenige Zentimeter vor einem Baum stehen. In meinem Kopf rauschte es. Meine Glieder fühlten sich an wie Wackelpudding.

„Eigentlich… war es genau das, was ich auf subtile Art erfahren wollte.“, brach Alex als erster das Schweigen, während wir noch beide unter Schock standen.

„Für Subtilität reichen deine Sprachkenntnisse noch nicht aus.“, erwiderte ich. Alex schnaubte und kicherte dann leise. Er sank in seinem Sitz zurück und atmete tief durch.

„Ja, aber leider bin ich zu feige, um direkt zu fragen.“, murmelte er und schien sich wieder gefangen zu haben. Er legte den Rückwärtsgang ein und drückte aufs Gaspedal. Der Wagen setzte zurück, doch dann drehten die Räder durch und wir kamen nicht mehr vom Fleck.

„Wir stecken fest.“, sprach er das Offensichtliche aus.

„Soll ich aussteigen und schieben?“, bot ich an, auch wenn ich nicht damit rechnete, dass ich überhaupt etwas ausrichten könnte. Ich war viel zu müde und selbst bei voller Kraft würde ich wohl keine große Hilfe sein.

„Nein, schon gut. Das würde nicht gut enden.“, erwiderte Alex. Ich war zwar froh, dass ich nicht aussteigen musste, aber hatte er mich gerade beleidigt?

„Ich ruf einen Abschleppdienst. Ich glaube, hier muss irgendwo eine Nummer sein.“, fuhr er fort, machte das Licht im Fahrerraum an und beugte sich zu mir herüber, um im Handschuhfach nach etwas zu suchen.

„Das ist ein Mietwagen. Als ich ihn mir geholt habe, hat der Mann mir ein paar Nummern für Notfälle gegeben.“, erklärte Alex. Vermutlich wollte er damit diese seltsame Stimmung überbrücken. Er war mir viel zu nah für jemanden, den ich kaum kannte. Und seine Hand stützte sich zwischen meinen Beinen ab. Er beugte sich wieder zurück, holte sein Smartphone hervor und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand. Er erklärte der Person am anderen Ende der Leitung unsere Situation und gab eine umständliche Wegbeschreibung durch.

„Der Abschleppdienst braucht etwa 20 Minuten.“, teilte Alex mir mit, während er auflegte. Wir schwiegen wieder eine Weile.

 

„Du… stehst also nicht auf Mädchen?“, brach er sein Schweigen wieder.

„Ähm, das wird jetzt nicht wie das Outing-Gespräch mit meinen Eltern, oder?“, entgegnete ich, was Alex ein erneutes Kichern entlockte.

„Hast du einen Freund?“, fragte er leise. Smalltalk war wohl nicht gerade Alex‘ Stärke. Aber ich war darin auch nicht viel besser.

„Ich bin Single. Und ich hoffe, du willst das nicht wissen, weil du irgendeinen schwulen Freund hast, mit dem du mich verkuppeln könntest. Hab schlechte Erfahrungen mit Blind Dates.“, antwortete ich und seufzte.

„Wie kommst du darauf, dass ich dich verkuppeln will?“, fragte Alex und klang irgendwie bedrückt.

„Wäre nicht das erste Mal.“, meinte ich nur.

„Warum hoffe ich überhaupt noch, dass die heißen Typen sich für mich interessieren könnten?“, murmelte ich leise. In dem fast stillen Auto war es allerdings für Alex kaum zu überhören.

Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

„Ich dachte, meine Sprachkenntnisse wären ganz gut. Aber ich kann nicht mal richtig flirten.“, meinte er leise. Ich kapierte nicht. Oder ich wollte nicht kapieren. Würde nur zu falscher Hoffnung führen.

„Gibt’s da gerade jemanden, der dich interessiert?“, setzte er seine Befragung fort. Ich ließ meinen Blick an seinen Körper hinabwandern, was wohl ziemlich eindeutig war.

„Manchmal habe ich schon so ein paar Träume. Aber immer, wenn es zur Sache gehen würde, kommt einer dieser alten Forscher und bombardiert mich mit Fakten und meiner unfertigen Arbeit.“, erzählte ich und seufzte leicht frustriert. Nicht mal träumen durfte ich.

„Dir ist schon klar, dass mein Interesse nichts mit Miras Liebesleben zu tun hat?“, fragte Alex. Sein Blick schien intensiv. Und ein Teil von mir machte sich schon wieder Hoffnungen. Er beugte sich über die Mittelkonsole. Sein Gesicht war meinem ganz nahe. Er schien mir stumm etwas zu verstehen geben zu wollen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Übersetzungskünste ausreichten. Oder stimmte mit Alex was nicht? Ich hatte bisher nur Vollnieten als Partner. Schnorrer, Kleinkriminelle und Vollversager. Solche Typen kamen in mein Bett. Traumprinzen hatten sich bisher nicht dort eingefunden. Aber vielleicht war Alex ja eine Niete im Bett? Einen Moment dachte ich über diese Möglichkeit nach. Selbst wenn, wäre es eigentlich egal. Man konnte ja lernen. Alles andere passte ja.

Ich beschloss, mutig zu sein, und lehnte mich ihm entgegen.

 

Bevor sich unsere Lippen trafen, klopfte jemand an mein Fenster und riss uns aus unserer Zweisamkeit.

Ich schreckte auf und quietschte auch kurz. Mein Herz raste. Was war denn jetzt los?

„D-Das ist wohl der Abschleppdienst.“, meinte Alex und klang so, als hätte er sich mindestens genauso erschrocken wie ich.

Ich fuhr mir unwirsch durch die Haare. Wenn das so weiterging, würde ich diese Nacht nicht überleben. Noch einen Schrecken hielt mein Herz nämlich nicht aus.

Alex öffnete seine Tür und stieg aus. Ich beschloss, es ihm gleichzutun. Nicht, dass das nicht der Kerl vom Abschleppdienst, sondern irgendein verrückter Killer war.

Ich stellte mich neben Alex und wir beobachteten den Mann, der eine Runde ums Auto drehte, um sich ein Bild von der Gesamtsituation zu machen. Ich blickte neben mich. Mir war nie aufgefallen wie groß Alex eigentlich war. Er hatte fast einen Kopf mehr als ich. Er war groß, schlank und wahnsinnig gutaussehend. Außerdem war er als Austauschstudent ein Exot. Kurz: Er war beliebt.

Ich selbst war jetzt nicht gerade eine hässliche Erscheinung. Aber ich war auch nichts Besonderes. Ich war für die meisten wohl einfach nur langweilig. Deshalb geriet ich auch nur an schlechte Männer.

Der Mann vor uns unterbrach meine Überlegungen. Er gab Alex ein paar Anweisungen. Dieser setzte sich wieder in den Wagen, während der Angestellte am Auto herumhantierte. Ich ging auf Abstand, um niemandem im Weg zu sein. Frierend sah ich dabei zu, wie Alex‘ Auto wieder auf die Straße gezogen wurde. Beide Fahrer stiegen wieder aus, lösten das Seil und Alex füllte ein paar Unterlagen aus, vermutlich wegen der Rechnung.

 

Das Ganze hatte in etwa eine Viertelstunde gedauert. Dann saßen wir wieder im Wagen. Ich war leicht frustriert. Hätte der Kerl nicht zwei Minuten später kommen können? Dann hätte ich wenigstens meinen Kuss bekommen. Jetzt war die Stimmung total ruiniert.

Alex fuhr weiter. Der Wald lichtete sich und ich entdeckte bereits mein Wohnheim, das etwas größer war als die umliegenden Gebäude. Der Wagen lenkte durch die Gassen und hielt schließlich vor dem Haus an.

Ich schnallte mich ab, griff meinen Rucksack, der im Fußraum gelegen hatte, und hatte eine Hand bereits am Türgriff.

„Danke fürs Mitnehmen! Ohne dich wäre ich da draußen wohl erfroren.“, meinte ich und machte Anstalten, das Auto zu verlassen. Doch Alex griff meinen Arm und zog mich zurück ins Wageninnere.

„Ich habe jetzt so lange auf eine Gelegenheit gewartet. Die Chance lass ich mir nicht nochmal entgehen.“, sprach er. Ich wollte nachfragen, was er damit meinte. Aber im selben Moment lehnte sich Alex schon wieder vor und presste seine Lippen auf meine. Ich öffnete den Mund und sofort schob sich seine Zunge hinein, um sich um meine zu schlängeln. Eine Hand lag an meiner Wange, zog mein Gesicht noch näher an ihn ran. Er intensivierte den Kuss. Es störte mich nicht, dass die Kälte wieder an meinen Beinen hochkroch. Viel zu schön war dieser Kuss.

Leider löste sich Alex wieder. Wir atmeten beide schwer. Die Hitze war mir in die Wangen gestiegen.

„Das wollte ich schon lange. Schon seit der letzten Semesterabschlussfeier, zu der ich mitgeschleppt worden war, obwohl ich niemanden kannte.“, flüsterte er. Wäre ich nicht schon so erschöpft vom Tag gewesen, hätte ich ihn wohl darauf aufmerksam gemacht, dass seine Auswahl viel größer war. Ich war nicht der einzige, willige Mann an unserer Uni, der sofort mit ihm in die Kiste gesprungen wäre. Auch wenn diese Info vielleicht meine Chancen versaut hätte.

„In unserem Wohnheim sind die Betten ziemlich groß. Passen zwei Leute rein. Wenn man richtig kuschelt, ist auch Platz für drei.“, gab ich stattdessen von mir.

„Und das weißt du aus eigener Erfahrung?“, bohrte Alex nach.

„Aus Erzählungen von älteren Semestern. Hatte selbst noch nicht die Gelegenheit, das zu testen.“, antwortete ich.

„Das lässt sich ändern.“, hauchte er und mir lief ein wohliger Schauer den Rücken hinunter. Ich grinste und biss mir auf die Unterlippe. Nicht, dass mir noch ein dämlicher Kommentar entkam, der alles wieder kaputt machen könnte.

„Ich park noch schnell das Auto.“, fügte er hinzu. Ich nickte, stieg aus und machte die Tür hinter mir zu. Dann stieg ich die Stufen zum Eingang hoch und holte den Schlüssel hervor, um die Tür schon mal zu öffnen. Ich musste etwas warten. Fast dachte ich schon, er hätte es gar nicht ernst gemeint. Doch dann eilte er die Stufen hoch und lächelte mich freudig an, als er mich am Türrahmen erblickte. Wir traten ein.

Ich ging voraus, durchs Treppenhaus in den zweiten Stock und kam schließlich vor meiner Zimmertür am Ende des Flurs an. Ich schloss auf. Alex stand direkt hinter mir. Ich konnte ihn deutlich spüren. Meine Hände zitterten, sodass ich den Schlüssel kaum umdrehen konnte. Ich spürte Hände an meinen Hüften und heißen Atem in meinem Nacken.

Die Tür war endlich offen. Alex schob mich fast ins Zimmer und machte die Tür hinter uns zu. Ich ließ meinen Rucksack von meiner Schulter gleiten und auf den Boden plumpsen.

„Nett habt ihr es hier.“, raunte Alex mir von hinten ins Ohr. Wieder lief mir ein Schauer den Rücken hinab. Und es kribbelte in meiner Magengegend.

„Ist alt, aber alles, was man braucht.“, antwortete ich, obwohl er wohl mit keiner Antwort mehr gerechnet hatte. Immerhin lagen seine Lippen bereits an meinem Hals unter meinem Ohrläppchen. Seine Finger hatten sich unter meinen Pullover geschoben. Sie waren warm und es prickelte, wo sie mich berührten. Ich war nicht mehr in der Verfassung, die Situation zu hinterfragen.

Er dirigierte mich in Richtung Bett, während er mich von meiner Jacke befreite. Seine Finger waren überall. Er drehte mich um, mit dem Gesicht zu ihm. Seines war plötzlich wieder ganz nah. Ich spürte seine weichen, warmen Lippen erneut. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und genoss es gehalten zu werden.

Alex gab sich nicht mit einfachen Küssen zufrieden. Er schob seine Zunge in meine Mundhöhle, erforschte sie und zeigte mir deutlich, dass er gleich aufs Ganze gehen wollte. Er schälte mich aus meinen Kleidern und ich hielt mich ebenfalls nicht zurück. Zu sehr wollte ich den fremden Körper erkunden und überprüfen, ob er dem aus meinen Träumen entsprach. Das Ergebnis war definitiv nicht enttäuschend. Er hatte gut definierte Bauchmuskeln, die ich noch nie in Echt hatte sehen dürfen. Auch der Rest war schlichtweg perfekt. Viel zu schön, um wahr zu sein.

„Gefällt dir, was du siehst?“, flüsterte er in mein Ohr.

„Ja.“, hauchte ich und konnte mir ein Grinsen kaum verkneifen. Er fasste mich unter dem Hintern, hob mich hoch und legte mich dann vorsichtig ins Bett.

„Ja, schön groß.“, kommentierte Alex meine Unterlage und begann damit, meine Brust mit Küssen zu bedecken.

 

Ich erwachte, als es draußen schon leicht hell wurde. Mein Radiowecker hatte sich eingeschaltet und es spielte gerade irgendein uraltes Lied, das ich auswendig konnte, aber von dem ich den Namen nicht wusste. Ich starrte eine Weile vor mich hin, als ich das Gewicht auf meiner Hüfte wahrnahm. Hinter mir war es heiß. Etwas kitzelte meinen Nacken. Und mit einem Mal stiegen die Bilder der letzten Nacht hoch. Ich drehte etwas den Kopf und sah im Augenwinkel Alex‘ friedlich schlafendes Gesicht. Einen Moment überlegte ich, wie es dazu eigentlich hatte kommen können. Normalerweise würde ich dem Alkohol die Schuld geben, aber wir waren beide stocknüchtern gewesen. Und unser Beinahe-Unfall konnte irgendwie auch nicht so recht gewesen sein. Nicht, wenn nicht schon vorher ein gewisses Interesse bestanden hätte.

Hinter mir nahm ich eine Bewegung wahr. Alex grub seine Nase in meine Halsbeuge und kuschelte sich an mich.

„Morgen, Süßer!“, hauchte er mir ins Ohr. Mir lief ein wohliger Schauer den Rücken hinab. Ich erwiderte den Gruß. Irgendwie erwartete ich, dass er bemerkte, dass er einen Fehler gemacht hatte und die Flucht ergreifen würde.

„Ich muss mal ins Bad.“, meinte ich und löste mich aus seinen Armen. Auch wenn’s da wirklich schön gewesen wäre.

Ich ging ins Bad, machte meine Morgentoilette und zog mich an. Als ich ins Zimmer zurückkam, saß Alex in meinem Bett. Das Licht, das durch die Vorhänge fiel, umschmeichelte seinen Körper.

„Kann ich duschen gehen?“, fragte er.

„Ja, klar. Nimm, was du brauchst.“, antwortete ich, holte aus dem Schrank meine Ersatzhandtücher und fand sogar noch eine neue Zahnbürste, die ich ihm mitgab.

Während Alex im Bad war, ging ich in die kleine Küche, um Frühstück herzurichten. Da ich nur einen Stuhl hatte, nutzte ich den als Tisch und setzte mich aufs Bett. Alex brauchte nicht lange. Er kam geduscht und angezogen ins Zimmer zurück und erblickte den „Frühstückstisch“.

„Du bist ein Engel.“, gab er freudig von sich und setzte sich neben mich. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen.

„Das ist doch nichts.“, wehrte ich ab und reichte ihm eine Tasse Kaffee. Er nahm sie entgegen und trank gleich einen Schluck.

„Ist nur Instant. Was anderes hatte ich grad nicht.“, murmelte ich. Vielleicht hätte ich von der Bäckerei an der nächsten Ecke einen holen sollen? Wäre sicher besser gewesen.

„Schon okay. Habe ich auch für Notfälle.“, erwiderte er lächelnd und griff nach dem Brötchen, das ich ihm anbot.

„Machst du das eigentlich öfter?“, fragte ich schließlich beiläufig.

„Was genau?“, bohrte Alex nach.

„Kommilitonen aufgabeln und sie bis aufs Zimmer bringen.“, präzisierte ich meine Frage.

„Hm, nein. Normalerweise lass ich mir immer meine Chance entgehen. Aber ich dachte, ich nutze die Gelegenheit, wenn ich schon ein Auslandssemester mache.“, antwortete er.

„Und ich musste so bald wie möglich anfangen.“, fügte er hinzu. Ich sah ihn fragend an.

„Wenn ich am Anfang des Semesters schon jemanden kennenlerne, habe ich genügend Zeit herauszufinden, ob das nur ein kleines Abenteuer wird oder vielleicht mehr.“, erklärte er und lehnte sich dabei näher an mich ran.

„Das… klingt fast so, als ob ich für mehr als eine Nacht in Frage kommen würde.“, gab ich halb scherzend von mir. Alex lehnte sich weiter zu mir, seine Lippen dicht an mein Ohr.

„Ich glaube, ein paar Nächte reichen mir nicht.“, flüsterte er. Ich biss mir auf die Unterlippe. Das klang zu schön, als dass er es ernst meinen könnte.

„Fandst du die Nacht mit mir wirklich so gut, dass du sie wiederholen willst?“, erkundigte ich mich zweifelnd. Ich hatte eigentlich ein gesundes Maß an Selbstvertrauen. Außer es ging um mein Liebesleben.

Alex lehnte sich zurück und wirkte nicht mehr so selbstsicher. Hätte ich nicht fragen sollen? Ich hätte bei unserem oberflächlichen Geplänkel bleiben sollen.

„Um ehrlich zu sein bist du mir schon bei der ersten Feier aufgefallen. Ich habe in deiner Nähe gesessen. Taka war der Einzige, den ich dort kannte, und der hatte mich allein gelassen. Ich hatte also viel Zeit zum Leute beobachten. Und dich fand ich einfach süß.“, erzählte er und wirkte leicht verlegen.

„Was gestern betrifft, da… muss ich ein kleines Geständnis machen.“, fuhr er fort. Ich sah ihn fragend an. Was konnte er schon vor mir verheimlicht haben? Es schien ihm jedenfalls etwas unangenehm zu sein.

„Die Wahrheit ist, es war nicht ganz so Zufall gewesen, dass ich dich mitgenommen habe.“, murmelte er kaum hörbar.

„Wie meinst du das denn? Hast du mich verfolgt?“, bohrte ich nach, während ein Teil von mir immer noch die ersten Informationen verarbeitete. Was hatte ich auf der Party getan, dass er ein derartiges Interesse an mir hatte entwickeln können?

„Nicht so ganz. Du warst gestern nicht auf der Feier und ich habe nachgehakt. Da habe ich erfahren, dass du in der Bibliothek bist. Und, ähm, ich habe den Namen vergessen, aber sie meinte, du würdest bis Mitternacht dortbleiben. Ich dachte, vielleicht könnte ich es ja so timen, dass ich dich mitnehme. Ich bin erst die Hauptstraße lang, aber dich habe ich nicht gesehen. Also bin ich umgedreht, vielleicht warst du ja noch in der Bibliothek und dann ist mir diese Nebenstraße aufgefallen. Den Rest kennst du ja.“, klärte er mich auf. Ich fühlte mich geschmeichelt. Sein Verhalten war vielleicht etwas grenzwertig, aber auch süß. Und das meinetwegen.

„Ich glaube, du hast das Spiel nicht ganz verstanden. Du bist groß, attraktiv und hast den Exoten-Bonus. Du kannst dir jeden aussuchen und musst niemandem hinterherrennen.“, erwiderte ich und versuchte möglichst scherzhaft zu klingen.

„Das heißt, ich muss nur sagen, dass ich dich will?“, bohrte er nach. Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Du hast eigentlich eine bessere Auswahl als mich.“, gab ich leise von mir. Er sah mich so an, als wollte er sagen, dass ihm das egal war. Statt es auszusprechen beugte er sich vor und küsste mich.

„Ich lege Schweigen zu meinen Gunsten aus. Also ohne deutliche Absage gehe ich davon aus, dass du es ebenso willst.“, sprach er, sobald er sich wieder von mir gelöst hatte.

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Und die Widerworte waren mir ausgegangen.

Mein Radiowecker schaltete sich von allein ab. Alex sah kurz in diese Richtung.

„Oh, schon so spät.“, murmelte er.

„Ich muss noch in mein Zimmer. Meine Unterlagen holen und mich umziehen.“, fuhr er fort. Ich seufzte lautlos. Dann war diese schöne Zeit wohl vorbei. Wer wusste schon, wann wir mal wieder so zusammen sein würden? Vielleicht hatte Alex bei nächster Gelegenheit ja schon einen anderen Kerl gefunden, der ihm besser gefiel.

Alex rutschte an den Rand des Betts und machte Anstalten aufzustehen.

„Ich brauche etwa 15 Minuten. Soll ich dich zur Uni mitnehmen?“, bot er mir an. Ich überlegte eine Sekunde. Ich musste sowieso wieder in die Bibliothek und wenn Alex mich mitnahm, müsste ich nicht zum Bus hetzen. Ich nahm sein Angebot an. Er lehnte sich wieder zu mir und küsste mich auf die Lippen.

„Unternehmen wir am Wochenende was! Wenn du deine Arbeit abgegeben hast, müssen wir feiern.“, meinte er, als er sich wieder von mir löste. Dann wandte er sich um, griff nach seinen Sachen und verließ mein Zimmer. Ich sah ihm etwas unschlüssig nach. Verhielt er sich bei jedem so oder meinte er es mit mir etwa schon so richtig ernst?

Ich räumte die Sachen vom Frühstück weg, packte meine Sachen und grübelte darüber nach, während ich auf ihn wartete.

Warten musste ich nicht lange. Er stand pünktlich vor meiner Tür und grinste, als ich aufmachte. Ich konnte mich nicht mehr halten, schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn, womit er nicht gerechnet hatte.

Keine Ahnung, ob wir nach dem Semester noch zusammen waren. Oder ob wir überhaupt bis zum Semesterende durchhielten. Aber ich hatte endlich mal die Chance auf den Hauptgewinn und die würde ich mir ganz bestimmt nicht entgehen lassen.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.04.2020

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