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Scent of Love

 

Sun duckte sich und späte um die Ecke. Unzählige Beine von Passanten versperrten ihm die Sicht. Er schnupperte. In seiner Nähe roch es nach Fisch. Sein Magen kommentierte diesen Geruch mit einem auffordernden Knurren. Er wandte den Kopf um und war einen Moment versucht, doch plötzlich dominierte ein anderer Geruch. Er drehte sich wieder den Passanten zu und suchte die Menge ab. Der Geruch wurde etwas schwächer. Er zögerte einen Moment, passte den richtigen Augenblick ab und schlüpfte aus der Gasse. Er fädelte sich in den Menschenstrom ein, hielt sich geduckt und wich den Beinen aus, bevor sie ihn zertreten konnten.

Sun folgte dem Duft, musste sich auf seine Nase verlassen, denn seine Sicht war beschränkt. Fast wäre er an der Seitenstraße vorbeigerannt. Mühsam kämpfte er sich an den Rand, kreischte aber auf, als ihm jemand auf den Fuß trat. Er fauchte den Geschäftsmann an, der immer noch am Telefon sprechend auf ihn herabblickte. Doch er wollte sich nicht länger mit ihm beschäftigen. Er musste weiter, bevor er den Geruch verlor. Normalerweise war das kein Problem. Sein Geruchssinn war gut und er ließ sich auch nicht von anderen Gerüchen ablenken. Aber er musste sich beeilen.

Er sprang auf eine Mülltonne und von dort auf die Mauer. Oben konnte er bis zum Ende der kleinen Straße blicken und entdeckte den Haarschopf, der gerade um die Ecke bog. Er setzte sich wieder in Bewegung, sprang in den angrenzenden Garten, huschte von einem Busch zum nächsten und hopste auf die Hundehütte, um von dort wieder auf die Mauer zu gelangen. Der Bewohner bemerkte seine Anwesenheit und bellte aus vollem Hals, um den Eindringling zu vertreiben. Doch dieser schenkte ihm keinerlei Beachtung.

Sun beeilte sich weiterzukommen und sprang schließlich von der Mauer in den Garten, wo er zum ersten Mal eine Pause einlegte. Er schnupperte erneut. Der vertraute Geruch war hier stärker. Geräusche aus dem Gebäude ließen ihn aufhorchen. Die Haustür öffnete sich. Er schreckte auf, drehte um und huschte in die Hecke. Liegend fixierte er den Hauseingang und beobachtete das dortige Geschehen. Die junge Frau drehte sich nochmal ins Innere.

Er lauerte. Sie brauchte viel zu lange. Wann war sie endlich weg?

Sie wandte sich um und schnaubte unzufrieden. Er beobachtete, wie sie den kleinen Gartenweg entlangstolzierte. Doch schnell wandte sein Blick sich wieder in Richtung Tür. Der Mann dort lehnte am Rahmen und blickte ihr nach, doch er tat nichts, um sie aufzuhalten. Schließlich drehte er sich um und ging wieder ins Hausinnere.

Sun wartete ab und beobachte erstmal die Lage. Es tat sich nichts. Allmählich traute er sich aus seinem Versteck heraus. Vorsichtig schlich er durch den Garten, hielt sich geduckt und blieb bei jedem Geräusch für eine Sekunde erstarrt. Er umrundete das Haus und huschte unter die Veranda. Wieder lauschte er. Seine Gedanken wanderten zu seinem ersten Besuch. Damals war er ebenso diesem wundervollen Duft gefolgt, den er beim Herumstreunern plötzlich aufgeschnappt hatte. Er war unvorsichtig gewesen, nur seinem Instinkt gefolgt und am Ende hier gelandet. Beim ersten Mal war die Terassentür offen gewesen. Er war einfach hineingegangen. Warum auch nicht? Wem dieser wundervolle Geruch gehörte, der konnte auch kein böser Mensch sein. Ob seine Vermutung stimmte oder nicht, hatte er aber nicht überprüfen können. Denn dessen Partnerin hatte den kleinen Sun zuerst entdeckt und seine Anwesenheit so gar nicht gut aufgenommen.

Sie hatte getobt, geschrien und letztendlich sogar mit dem Fuß getreten, weshalb Sun in hohem Bogen aus der Tür und zurück in den Garten geflogen war. Er war auf seinen vier Pfoten gelandet, vor Schreck aber erst mal zur Salzsäule erstarrt. Er war nicht mal in der Lage gewesen, sie anzufauchen. Wie gern hätte er sie gekratzt! Aber sein Überlebensinstinkt war stärker gewesen. Der Besitzer des Duftes war hinzugekommen und von der Situation so überrascht worden, dass er erst gar nichts unternommen hatte, als seine Freundin sich den Besen geschnappt hatte, um Sun endgültig von ihrem Grundstück zu vertreiben. Sie hatte irgendwas von ‚Katzenbiest‘ geschimpft, während Sun dem Reinigungsgerät ausgewichen war und nicht gewusst hatte, welchem Instinkt er gerade folgen hatte sollen. Er war nicht ohne Grund hier gewesen. Er hatte ins Haus gewollt, zum Träger des Geruches. Aber was, wenn er ähnlich reagiert hätte? Das hätte Sun nicht verkraftet. Der Mann hatte sich endlich in Bewegung gesetzt. Doch Sun hatte es mit der Angst zu tun bekommen. Er war umgedreht und hatte das Weite gesucht, bevor er gewusst hatte, was der Mann vorgehabt hatte. In seiner Hast war er in einen Bus gesprungen, hatte sich unter einem der Sitze zusammengerollt und seine Wunden geleckt. Sein kleines Herzchen hatte wehgetan. Er hatte nicht mehr daran denken wollen, die Augen geschlossen und war schließlich eingeschlafen. Doch als er wieder aufgewacht war, hatte ihn jemand entdeckt und er war geflohen. Das Gefährt hatte ihn in eine unbekannte Gegend gebracht.

Normalerweise hatte Sun das immer gefallen. Doch an diesem Tag nicht. Denn er hatte wieder zurück zu dem Haus gewollt.

 

Es hatte fast eine Woche gedauert, ehe er es wieder in die alte Gegend zurückgeschafft hatte. Und jetzt war er so nah am Ziel. Besser noch, war seine Peinigerin vom letzten Mal nicht da. Und vielleicht kam sie auch gar nicht zurück. Sun hatte die Menschen schon oft beobachtet. Er verstand nicht immer alles. Oft taten sie Dinge, die sie nicht wollten. Sun erkannte es an ihrem Geruch. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, welcher Geruch zu welcher Emotion gehörte. Und er wusste, wie jemand riechen musste, wenn man zusammengehörte. Warum das Menschen nicht konnten, war ihm schleierhaft. Warum blieben manche freiwillig mit jemandem zusammen, der gar nicht zu ihnen gehörte?

Er schüttelte den Kopf über sich und linste vorsichtig aus seinem Versteck. Die Luft war rein. Aber was jetzt? Einfach rein wie beim letzten Mal wollte er bestimmt nicht. Er blickte sich um. Allmählich hatte er Hunger. Aber er wollte hier noch nicht weg. Was sollte er machen?

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken und er blickte durch die Terassentür ins Innere. Sein Blick traf den des Mannes. Einen Moment sahen sie sich einfach nur an. Sun kam es wie eine Ewigkeit vor. Doch es war wohl nicht länger als eine Sekunde. Der Mann kam als erster wieder in Bewegung. Sun wurde sofort panisch, sprang von der Veranda und wieder darunter, wo die Dunkelheit ihn versteckte. So weit er konnte, tauchte er tiefer ein, bis er von Dunkelheit umgeben war und nur noch ein kleiner Lichtstreif seinen Ausgang zeigte. Sprintbereit wartete er ab und fixierte das Helle. Sein Herz raste, seine Gedanken überschlugen sich. So aufgewühlt war er noch nie gewesen. Er hatte schon einige harte Zeiten erlebt. Als Streuner war jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Aber meist hatte er einfach nur so in den Tag hineingelebt und getan, worauf er gerade Lust hatte.

Er konnte mit diesem Chaos in seinem Inneren also gar nicht umgehen und wusste nicht so recht, was es zu bedeuten hatte. Er wusste nur, er wollte bei diesem Menschen sein. Mehr als alles andere.

Sein Atem stockte, als ein Schatten sich vor das Licht schob. Der Mann linste unter die Veranda. Ihre Augen fixierten sich. Stumm blickten sie einander an. Keiner rührte sich. Sun wollte zu ihm schleichen, aber das Trauma von seinem letzten Besuch zusammen mit der Angst, dass er ähnlich reagieren könnte, saßen zu tief. Hier fühlte er sich allerdings sicher. Die Veranda lag nicht hoch. Sun konnte nicht mal normal stehen und dabei gehörte er zur kleinen Sorte. Der Mensch würde ihn niemals hier rausholen können.

Das Gesicht verschwand und Suns Herz wurde wieder schwer. Er legte sich auf die kalte Erde, seufzte und rollte sich zusammen. Er musste wohl eine Weile hierbleiben. Der Mensch wusste jetzt, wo er war, und wenn er ihm nicht wohlgesonnen war, könnte er am Ausgang auf ihn warten, um ihn zu fangen oder zu verscheuchen wie seine Freundin. Er wollte warten, bis es dunkel wurde. Sein Magen knurrte, doch er ignorierte es. Hunger war im Moment sein kleinstes Problem. Auch die Kälte war er gewohnt. Er schloss die Augen. Er passte viel besser zu dem Menschen als diese Frau. Hoffentlich kam sie nie wieder! Andererseits hätte er ja dann vielleicht die Gelegenheit, ihr die Augen auszukratzen. Dieser Gedanke hob seine Stimmung kurz etwas. Allmählich spürte er die Müdigkeit. Nach all der Aufregung konnte er nun nicht mehr dagegen ankämpfen. Er war ohnehin in Sicherheit, also könnte er sich eine Pause… Er hatte noch nicht zu Ende gedacht, da war er bereits eingeschlafen.

 

Was hatte ihn geweckt? Der Geruch oder die Geräusche? Er konnte es nicht sagen. Er hob den Kopf und sah gerade noch, wie eine Hand zurückgezogen wurde. Angestrengt lauschte er auf die Schritte, die im Haus verschwanden. Er wartete ab, merkte aber, dass er wieder allein war. Einen Moment zögerte er noch. Dann stand er auf und schlich auf leisen Pfoten zu der Schüssel. Er schnupperte daran. Sein Magen knurrte. Der Fisch roch herrlich. Er schob alle Vorsicht beiseite und steckte seine Schnauze in die Schüssel. Gierig verschlang er den Inhalt und leckte das Geschirr sauber. Er schleckte sich über die Schnauze. Das hatte gutgetan! Jetzt musste er wohl doch nicht weg. Er ging wieder ein Stück zurück und rollte sich zusammen. Vielleicht hatte er doch Glück. Vielleicht war der Mann gar nicht wie sie.

Beruhigt schloss Sun wieder die Augen und schlief diesmal bis zum Morgen durch.

 

Den nächsten Tag verließ er sein Versteck nicht. Der Mann stellte ihm erneut etwas zu essen hin, sodass er nicht verhungern musste. Sun genoss es, dass er satt war und faul sein konnte. Warum sollte er sich rühren? Einen weiteren Tag später erwartete er bereits gespannt das Frühstück. Jede Schüssel war etwas weiter am Ausgang gestanden, aber das hatte er nicht bemerkt. Deshalb war er unbewusst auch nicht mehr so weit hineingegangen.

Der Kopf erschien, wie er es erwartet hatte. Sein Magen knurrte bereits auffordern. Er hielt mehrere Tage mit kaum etwas zu essen aus, aber wenn es welches gab, musste er zuschlagen. Das hatte er schon lange gelernt. Deshalb war er jetzt wohl auch unvorsichtig geworden. Er schlich bereits vor, bevor die Schüssel abgestellt wurde. Wobei es diesmal keine Schüssel gab, die abgestellt werden konnte. Die Hand war leer, was Sun zunächst nicht verstand.

Erst, als die Finger sein Ohr streiften, wurde es ihm bewusst. Reflexartig biss er in den Finger. Ein Schmerzensschrei erklang. Er wurde etwas nach vorne geschleift, als die Hand zurückgezogen wurde. Er hörte eine Stimme, die fluchte. Sofort packte ihn die Angst. Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte er jetzt seine Chance vertan? Er drückte seine Schnauze auf die Erde, machte sich klein.

Der Kopf tauchte wieder auf. Sun schnupperte vorsichtig und stellte fest, dass er keine Wut roch. Diesen Geruch kannte er fast am besten.

„Ein Sturm zieht auf. Da unten ist es nicht sicher. Komm raus, Kleine!“, erklang eine sanfte Stimme. Die Hand streckte sich erneut nach ihm aus, doch diesmal war er außer Reichweite. Er entdeckte den blutigen Bissabdruck am Finger. Man konnte genau seine scharfen Zähnchen sehen. Reumütig blickte er darauf. Sein Zögern war keine Angst mehr, sondern allein das schlechte Gewissen. Langsam schlich er näher, streckte den Kopf und leckte über den verletzten Finger. Der Mann lächelte leicht. Sun näherte sich ihm weiter. Er wehrte sich nicht, als er langsam hochgehoben wurde. Der Geruch, der ihn umhüllte, war so wundervoll. Er kuschelte sich an die breite Brust und wollte nie wieder von dort weg.

Der Mann trug ihn ins Haus, schloss hinter sich die Tür und brachte das Bündel ins Wohnzimmer. Sun war enttäuscht, als er wieder abgesetzt wurde. Auch die weiche Decke konnte seine Enttäuschung nicht lindern. Er beobachtete den Menschen, der sich umdrehte und den Raum kurz verließ, um gleich wieder mit einem Tablett zurückzukommen. Eine Schüssel wurde vor ihm abgestellt. Sein Frühstück. Der Mann setzte sich auf die Couch, schaltete den Fernseher an und frühstückte dann selbst. Sun stillte seinen Hunger. Was sollte er sonst tun? Und warum sollte er sich beschweren? Seine größte Angst war nicht eingetreten, also sollte er eigentlich Freudentänze veranstalten.

Er leckte die Schüssel blitzblank. Nichts sollte verschwendet werden.

„Du bist ganz schön hungrig.“, erklang die freundliche Stimme des Mannes. Sun sah das schiefe Lächeln und sein Herz hüpfte. Der Mann widmete sich wieder seinem Essen.

Jeglicher Gefahreninstinkt fuhr herunter und Sun fühlte sich allmählich sicher. Deshalb dachte er auch nicht groß darüber nach, als er aufstand und die Umgebung erkundete. Er schnupperte in die Ecken, sprang auf Stühle und Regale, suchte nach Wollmäusen unter dem Sofa. Niemand hielt ihn auf oder schrie ihn an, weshalb er immer tollkühner wurde. Schließlich sprang er auf die Couch und musterte den Mann, der sich den Fernseher angeschaltet hatte. Der Mensch blickte zu ihm und lächelte. Er streckte die Hand aus. Sun schnupperte vorsichtig daran und leckte die Fingerspitzen ab. Dann wurde er mutig, tapste näher heran und kletterte langsam auf den Schoß. Er wollte ihn nicht verärgern, weshalb er auf jede Reaktion achtete. Der Mann ließ es zu, dass Sun sich dort zusammenrollte. Und Sun seufzte wohlig, als warme Finger durch sein Fell strichen. Er schnurrte zufrieden. So hatte er sich das vorgestellt.

„Ich verstehe wirklich nicht, was Mari gegen dich hatte. So ein süßes Ding wie du kann doch keinen Ärger machen.“, sprach der Mann sanft. Sun blickte auf und maunzte als Antwort. Er konnte schon Ärger verursachen. Darin war er wirklich gut. Aber er hatte noch gar nichts gemacht.

„Du bist ganz schön zutraulich. Gehörst du jemandem?“ Sun mochte den Klang der Stimme. Er kuschelte sich näher an ihn ran.

 

Den Tag verbrachte Sun damit, dem Menschen nicht von der Seite zu weichen. Er erkundete das Haus, blieb aber immer in der Nähe des Mannes. Manchmal strich er ihm um die Beine. Dafür wurde er mit Streicheleinheiten belohnt. Der Sturm draußen machte ihm nichts aus. Normalerweise musste er sich immer ein Versteck suchen. Doch heute war er bereits in einer sicheren Umgebung.

 

Drei Tage verbrachte Sun im Heim seines Liebsten und führte ein Leben wie im Paradies. Er war so glücklich, dass er völlig überrascht war, als jemand in seinen persönlichen Himmel eindringen wollte.

Es war die Tür, die sich öffnete. Sun hielt gerade vor dem Bad Stellung. Ren hatte eine Dusche genommen. Sun hatte den Namen von einer Nachbarin erfahren, die den Menschen letztens im Garten begrüßt hatte.

Er hasste Wasser und er mochte den Raum nicht. Deshalb wollte er ihn nicht betreten. Er hatte also keine Wahl als zu warten.

Plötzlich hörte er die Haustür. Wachsam drehte er sich um und fixierte den Flur. Am Ende lag die Treppe. Tatsächlich erschien bald eine Silhouette. Suns Nackenfell sträubte sich. Er ging in Angriffshaltung und fauchte wild.

Mari sah ihn überrascht an. Sofort verzog sich ihr Gesicht zu einer angewiderten Fratze.

„Was willst du Biest hier drin?“, fauchte sie zurück.

Sun fuhr die Krallen aus und war bereit, jeden Moment abzuspringen. Bevor Mari allerdings in Reichweite war, ging die Tür hinter ihm auf. Sun wurde hochgehoben. Sofort legte sich seine Anspannung. Er drehte den Kopf und leckte über Rens Nase.

„Mari, was machst du hier?“, fragte der Mann ruhig.

„Die Frage ist doch eher, was macht die Bestie hier?“, erwiderte sie aufgebracht.

„Sie ist keine Bestie. Was ist eigentlich dein Problem? Bloß weil du schlechte Erfahrungen mit einer Katze gemacht hast, heißt das nicht, dass alle so sind. Und selbst wenn, gibt dir das nicht das Recht, ein Kätzchen wegzutreten. Das ist Tierquälerei.“, entgegnete Ren.

„Du willst dich ernsthaft wegen diesem Vieh mit mir streiten?“, fuhr sie ihn an. Sun fauchte wütend. Ren drückte ihn an sich und küsste seinen Kopf.

„Dieses Vieh hat damit nicht viel zu tun. Es hat mir nur gezeigt, was du für eine Art Mensch bist und dass ich mich in dich getäuscht habe. Ich frage mich wirklich, wie mir das so lange hatte entgehen können. Ich habe es dir schon mal gesagt, zwischen uns ist es vorbei. Ich hatte das ernst gemeint.“, sprach er mit dunkler Stimme.

„Als ob ich zu dir zurückwollte! Du und dieses Biest, ihr habt euch verdient. Ich bin nur hier, um noch ein paar Sachen zu holen.“, gab sie in einem hochnäsigen Tonfall von sich. Sun stieß ein kurzes Fauchen aus. Das war sowas von gelogen. Zum Glück roch Ren nur genervt. Sie folgten Mari ins Schlafzimmer. Ren blieb im Türrahmen stehen und beobachtete sie aufmerksam, als wolle er sichergehen, dass sie nichts von ihm mitgehen ließ. Sun musterte sie, wandte sich immer wieder zu Ren und leckte seine Wange. Das tat er besonders gern, wenn sie gerade in ihre Richtung blickte. Ren hatte wieder sein schiefes Grinsen im Gesicht und küsste ihn als Antwort auf den Kopf.

„Machst du das mit Absicht?“, flüsterte er. Sun leckte ihm zur Antwort die Nase.

Sie folgten Mari durchs Haus, bis sie endlich alles hatte, wofür sie hergekommen war. An der Haustür forderte Ren den Hausschlüssel zurück. Er hatte das Haus von seinen Großeltern, also war klar gewesen, dass er hierbleiben würde. Mari hatte sich sowieso nie ganz damit anfreunden können.

 

Wieder allein ließ sich Ren auf die Couch plumpsen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Warum gerate ich nur immer an die falschen Frauen? Dabei dachte ich, Mari wäre die Richtige für mich. War ich so blind gewesen?“, murmelte er, während er geistesabwesend über Suns Fell streichelte.

Sun maunzte, stellte seine Pfoten auf Rens Brust und streckte sich, um seinen Kiefer zu lecken.

Ren lächelte wieder.

„Willst du etwa meine Freundin sein?“, kicherte Ren. Sun strahlte an. Technisch gesehen ging das als Männchen zwar nicht, aber die Rolle würde er schon gern übernehmen. Sun stellte sich das himmlisch vor.

 

Sun erwachte mitten in der Nacht und blickte sich um. Er lag zusammengerollt auf dem Kissen. Neben ihm Ren. Der Mann schlief friedlich. Sun stand auf und tapste um ihn herum. Er sprang vom Bett und landete auf leisen Pfoten. Er näherte sich der Balkontür. Durch das Fenster fiel das Licht des Vollmondes.

Sun erinnerte sich, vor Jahren mal gehört zu haben, dass man sich etwas vom Mond wünschen konnte. Und wenn man es nur fest genug wollte, war der Vollmond vielleicht dazu bereit, es zu erfüllen. Wo hatte er das nur gehört? Er wusste es nicht mehr. Er war damals klein gewesen und hatte sich für kaum etwas interessiert.

Jetzt starrte er die runde Scheibe am Himmel an. Er lauschte dem ruhigen Atem von Ren. In seinem Kopf versuchte er seinen Wunsch zu formulieren. Was wollte er?

Ich will für immer bei Ren bleiben. Ich will so richtig mit ihm zusammen sein.“, miaute Sun gen Mond. Das Licht schien etwas heller. Sun schloss die Augen. Er spürte einen Windhauch. Seine Nase kitzelte. Er musste niesen und rieb sich über die Nase. Da merkte er, dass etwas anders war. Er öffnete die Augen und starrte seine Hand an. Er blickte an sich herab, tastete seinen nicht mehr ganz so katzenhaften Körper ab und musterte dann seine Spiegelung im Fenster. Er legte eine Hand auf die Scheibe. Als er einen Laut von sich gab, merkte er, dass er anders klang. Sein Staunen hielt nicht lange, denn ein anderer Gedanke schlich sich in den Vordergrund. Er drehte sich um und sah zum Bett. Ren drehte sich im Schlaf auf den Rücken.

Sun krabbelte zu ihm und setzte sich an die Bettkante. Er beugte sich über den Mann und leckte vorsichtig über seinen Kiefer. Ren murrte etwas. Seine Lider flatterten und er öffnete die Augen.

„Ren, Ren! Sun hat sich was vom Mond gewünscht.“, gab Sun strahlend von sich. Verwirrt erwiderte Ren den Blick. Er sah in die großen Augen.

„Sun?“, wiederholte er verschlafen. Das Strahlen wurde noch größer.

„Ren hat Suns Namen gesagt!“, gab Sun fröhlich von sich und kuschelte sich an Rens Brust.

„Ich verstehe nicht ganz.“, erwiderte dieser, während er den Jungen mit den Katzenohren streichelte.

„Sun hat sich vom Mond gewünscht, für immer bei Ren bleiben zu können. Sun ist so froh. Sun hat Ren so lieb.“, sprach Sun. Ren war nicht wach genug, um alles zu hinterfragen. Er legte die Arme um den schlanken Körper und drehte sich, sodass sie nebeneinander zum Liegen kamen. Sun kuschelte sich an seinen Liebsten.

„Das ist schön.“, flüsterte er. Ren gab einen zustimmenden Laut von sich.

„Darf Sun hierbleiben?“, fragte Sun leise.

„Sun darf solange bleiben, wie er will.“, antwortete Ren schon wieder im Halbschlaf.

„Sun ist glücklich. Sun hat Ren unendlich lieb.“, sprach der Katzenjunge.

„Ren hat Sun auch lieb.“, murmelte Ren, bevor er wieder einschlief.

 

Die ersten Sonnenstrahlen drangen ins Zimmer und weckten die beiden, die im Bett lagen. Sun streckte sich ausgiebig, kuschelte sich wieder an den warmen Körper und schnupperte den geliebten Duft. Allmählich öffnete er die Augen. Ren war bereits wach und musterte ihn.

Guten Morgen!“, gab Sun von sich, schreckte aber auf. Er wiederholte den Gruß, doch seiner Kehle entkam nur das altbekannte Maunzen. Er sah an sich herab, betrachtete seine weißen Pfoten und bemerkte, dass er seine alte Gestalt zurückbekommen hatte. Sein Herz wurde schwer. Durfte er nicht bei Ren bleiben? Er miaute erneut, wollte Ren mitteilen, dass er ihn liebte und immer bei ihm bleiben wollte, doch der Mann reagierte kaum, schien offensichtlich dieses Maunzen nicht zu verstehen. Stattdessen sah Ren ihn an und begann ihn am Kopf zu streicheln und hinter dem Ohr zu kraulen.

„Ich habe wirklich etwas Seltsames geträumt.“, murmelte er. Sun sah ihn erwartungsvoll an. Ren setzte sich auf, lehnte sich mit dem Rücken ans Kopfende des Bettes und hob die kleine Katze an seine Brust.

„Wenn du bei mir bleibst, brauchst du einen Namen, mit dem ich dich ansprechen kann.“, fuhr er etwas lauter fort. Gespannt wartete Sun ab. Ren überlegte einen Augenblick.

„Hm, wie wär‘s mit Sun?“, schlug er schließlich vor. Freudig leckte die Katze über sein Kinn.

„Bist du sicher, dass du kein Hund bist?“, kicherte Ren, was Sun ein beleidigtes Fauchen entlockte. Der Mann kraulte das Kätzchen hinter dem Ohr und das Fauchen ging in ein zufriedenes Schnurren über.

„Mein süßer Kleiner, wenn du dir nächste Mal etwas vom Mond wünschst, müssen wir uns ausgiebig unterhalten. Lass mich nicht einfach wieder einschlafen!“, fügte Ren hinzu und hielt Sun hoch.

Sun freute sich. Er wollte wieder mit Ren sprechen können und ihn auch in den Arm nehmen. Er wollte immer bei dem Mann bleiben.

„Gehen wir erst mal frühstücken.“, wechselte Ren das Thema und stand mit ihm auf. Sun miaute fröhlich. Der Mann akzeptierte, dass das Kätzchen scheinbar jedes seiner Worte verstand. Vielleicht bot sich ja noch einmal die Gelegenheit für ein ausführliches Gespräch. Bis dahin würden sie beide einfach die Gesellschaft des anderen genießen.

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2020

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