Ich ließ mich auf den alten Sitzsack plumpsen, den ich schon mit 13 Jahren bekommen hatte. Ein paar weiße Kügelchen wurden in die Luft geschleudert. Scheinbar war eine Naht leicht aufgerissen. Musste beim Umzug passiert sein. Aber ich wollte mich nicht davon trennen.
„Wieso die miese Laune?“, fragte Kai, der auf meinem Bett lag und einen meiner Mangas las.
„Ach, die Leute von meiner Arbeitsgruppe nerven. Sie wollen unbedingt eine Valentinsparty schmeißen.“, antwortete ich, während ich an einem losen Faden herumfummelte.
„Und wo ist das Problem dabei?“, bohrte er desinteressiert nach.
„Ich bin Single.“, gab ich von mir.
„Ist doch nichts Neues.“, erwiderte mein Freund nur. Ich grummelte darüber. Einfühlungsvermögen war nicht gerade seine Stärke.
„Ich habe da… Naja, unter all den Pärchen und so…“, murmelte ich, um abzulenken. Andernfalls würden wir nur streiten und wir sahen uns in letzter Zeit ohnehin schon so selten. Zu Schulzeiten waren wir praktisch fast jeden Tag zusammen und hatten oft viel Unsinn gemacht. Doch nach unserem Abschluss hatten wir beide ein Studium angefangen. Allerdings an unterschiedlichen Unis. Deshalb vermied ich es möglichst, mit ihm Streit anzufangen.
„Sicher, dass du nicht wieder dein Maul aufgerissen hast?“, fragte Kai geistesabwesend nach. Scheinbar war es ihm ja egal, ob wir stritten oder nicht. Aber er kannte mich auch zu gut.
„Mich hat es genervt. Schon bei der letzten Feier. Deshalb habe ich gelogen, dass ich mit jemanden ausgehen würde. Und ich hatte letztens, als wir noch was Trinken waren, wohl versprochen, meine Freundin mitzubringen und ihnen vorzustellen.“, gestand ich und seufzte lautstark.
„Du hast keine Freundin zum Mitnehmen.“, wies mich Kai darauf hin.
„Das weiß ich selbst.“, rief ich frustriert auf und legte den Kopf in den Nacken. Ich starrte meine Decke an und lauschte. Ab und zu raschelte Papier, wenn Kai eine Seite umblätterte. Draußen im Flur lief jemand entlang und vor meinem Fenster zwitscherte ein Vogel, der für diese Jahreszeit viel zu früh dran war.
„Was willst du machen? Willst du ein Mädchen fragen, das deine Freundin spielt?“, brach Kai irgendwann sein Schweigen. Ich dachte darüber nach. Keine schlechte Idee.
„Ich kenne keins. Alle, die ich kenne, kennen auch meine Kommilitonen. Das würde sofort auffliegen. Und eine andere… die würde mich nicht gut genug kennen. Wir müssten uns irgendeine Geschichte ausdenken und darin bin ich nicht so gut.“, antwortete ich und stöhnte auf.
Plötzlich hatte ich die Idee und sprang auf.
„Das ist es!“, rief ich aus. Kai hob zum ersten Mal den Blick und sah mich neugierig an. Ich starrte ihn an.
„Du wirst mich begleiten.“, erläuterte ich meine Idee. Er starrte mich skeptisch an und drehte sich auf den Rücken. Er hielt den Manga über seinen Kopf und schien weiterzulesen.
„Du hast manchmal schon dämliche Ideen.“, kommentierte er.
„Was ist daran so dämlich?“, fragte ich beleidigt. Er sah mich an, als hielte er mich für bekloppt.
„Selbst, wenn du mich in ein Kleid steckst, würde mich niemand für eine Frau halten.“, erklärte er mir in einem besserwisserischen Ton.
„Ich hatte auch nicht gesagt, du sollst ein Kleid dafür anziehen.“, widersprach ich eingeschnappt. Er richtete sich auf und sah mich verwirrt an.
„Ähm, dir ist klar, dass ich ein Kerl bin? Mir wäre neu, dass du schwul wärst.“, wies er mich darauf hin. Ich zuckte mit den Schultern.
„Die werden mich höchstens für Bi halten. Sollen sie doch. Habe ich wenigstens eine gute Ausrede, dass ich es so lange hinausgezögert hab.“, antwortete ich leichtfertig.
„Manchmal bist du echt komisch.“, kommentierte Kai seufzend. Ich kniete mich auf das Bett und griff nach seiner Hand, um sie mit meinen zu halten.
„Bitte, Kai! Du bist mein bester Freund! Nur du kennst mich gut genug. Und die anderen aus der AG kennen dich nicht.“, bat ich und diesmal in einem Tonfall, sodass er merkte, dass es mir ernst war.
„Sowas kannst du mich nicht einfach so fragen. Und wenn, dann bitte mich gefälligst richtig darum!“, entgegnete er und wollte mir seine Hand entziehen. Doch ich griff sie fester.
„Kai, willst du mit mir zu dieser Party gehen?“, fragte ich erneut, mit unschuldigem Hundeblick und süßer Stimme. Kai war von meinem forschen und direkten Verhalten wohl so überrumpelt, dass er knallrot anlief und etwas brauchte, ehe er mir eine Antwort gab.
„Wenn du mich so darum bittest, kann ich nur schwer ablehnen.“, gab er schließlich murmelnd von sich. Ich fiel ihm freudestrahlend um den Hals.
„Kai, du bist der Beste!“
„Muss ich wirklich?“, fragte Kai jetzt bestimmt schon zum tausendsten Mal. Allmählich war ich echt genervt. Eigentlich sollte mein bester Freund mir aus der Patsche helfen. Aber er hatte immer weniger Lust dazu. Und ich war wirklich kurz davor, ihn einfach davonzujagen. Als er sich erneut darüber beschwerte, dass er keine Partys mochte, besonders nicht welche, auf denen er keine Leute kannte, platzte mir der Kragen.
„Hör auf dich zu beschweren! Du hast zugestimmt mitzukommen. Du hast es versprochen. Und jetzt willst du einen Rückzieher machen? Okay, dann geh! Aber erwarte nicht, dass ich dir den nächsten Band leihe. Oder du bei mir unterkommen kannst, wenn deine Eltern mal wieder stressen. Oder ich dir Geld leihe, weil du deine Brieftasche mal wieder vergessen hast.“, fuhr ich ihn an und machte Gänsefüßchen in die Luft. Auch, wenn ich eher belanglose Kleinigkeiten aufgezählt hatte, die ich nicht mehr für ihn tun würde, war uns beiden klar, dass das langfristig unsere Freundschaft zerstören könnte. Mir war ohnehin schon seit einer Weile klar, dass wir längst nicht mehr so offen zueinander waren wie früher. Wir entfernten uns immer weiter voneinander. Deshalb war ich jedes Mal vorsichtiger, keinen Streit zu provozieren. Dass Kai diese Bemühungen nicht ebenso anstrebte, frustrierte mich und gab mir zunehmend das Gefühl, dass wir nur mehr aus Bequemlichkeit miteinander abhingen.
Genervt drehte ich mich um und ging weiter in Richtung Gebäude. Meine AG hatte die kleine Aula reserviert, die meistens für offiziellere Empfänge genutzt wurde. Ab und zu veranstalteten auch welche Partys dort. Ich griff nach der Türklinke und hielt inne. Vorsichtig wandte ich den Kopf und hätte fast gejubelt, als Kai nur zwei Schritte hinter mir war. Er wirkte zerknirscht und murmelte eine Entschuldigung.
„Schon okay.“, wehrte ich knapp ab, auch wenn wir beide wussten, dass es das nicht war. Wir kannten einander so gut, doch das würde nicht verhindern, dass wir uns irgendwann aus den Augen verlieren würden. Dieser Gedanke machte mich traurig, deshalb schob ich ihn von mir und öffnete schwungvoll die Tür, um die anderen lautstark zu begrüßen.
„Na, da hat sich aber jemand Zeit gelassen.“, grüßte Chihiro, während sie auf mich zukam. Gefolgt von Hiro, der ihr kumpelhaft den Arm um die Schultern legte.
„Und wo ist jetzt deine geheimnisvolle Freundin? Ist sie süß? Oder gehört sie zu der Sorte mit nettem Vorbau?“, fragte mich Hiro mit gesenkter Stimme aus. Ich wich unwillkürlich zurück und zweifelte für einen Moment an meiner Idee. Eine Sekunde lang wollte ich Kai als einfachen Freund vorstellen, der er in Wirklichkeit ja auch war. Aber dann entschied ich, dass es kein Zurück mehr gab und deutete auf Kai, der hinter mir stehen geblieben war. Man musste ihn nicht allzu gut kennen, um zu merken, wie unwohl und fehl am Platz er sich fühlte.
„Das ist ein Scherz, oder?“, fragte Hiro und musterte meine Begleitung abschätzig. Ich funkelte ihn an.
„Du glaubst, er würde mit einem Typen kommen, nur um zu zeigen, dass er nicht Single ist? Klar, wer’s glaubt.“, erwiderte Chihiro und verdrehte die Augen.
„Ich wusste doch, du bist nicht so prüde. Warum hast du mir nicht früher Bescheid gesagt? Es gibt so viele süße Jungs, die ich dir hätte vorstellen können.“, fügte sie an mich gewandt hinzu. Ich starrte sie einen Moment verblüfft an und deutete dann auf Kai, um sie daran zu erinnern, dass ich keinen Bedarf an Typen hatte. Wobei ich ohnehin keine Typen wollte. Aber das konnte ich schlecht sagen. Sie schien ihren Fehler zu bemerken und sah meinen Freund entschuldigend an.
Ich schnappte mir Kais Hand und zog ihn an den beiden vorbei.
„Ich stell dich erst mal den anderen vor. Und dann besorgen wir uns was zu trinken.“, meinte ich fröhlich.
Eine Stunde später konnte ich mich ganz gut entspannen. Kai stand an der Bar und unterhielt sich mit einer von Chihiros Single-Freundinnen. Ich beschäftigte mich mit meinen Kommilitonen, bekam immer Sticheleien zu hören, weil ich mit einem Kerl da war, aber ich amüsierte mich auch gut.
Die Musik wurde etwas lauter gedreht, Chihiro rief allen zu, sie sollen sich ihre Partner schnappen und tanzen. Dass auch ein paar Singles da waren, schien sie in diesem Moment auszublenden. Ich mochte sie, aber Rücksichtnahme war für sie wohl manchmal nicht einfach. Als sie an mir vorbeikam, schubste sie mich in Kais Richtung.
„Ihr müsst auch tanzen.“, forderte sie. Ich wollte ablehnen. Ich hatte zwei linke Füße. Außerdem hatte ich noch nie mit Kai getanzt. Wie sollte das funktionieren?
Kai und ich sahen uns einen Moment unschlüssig an. Seine Gesprächspartnerin hatte sich heimlich zurückgezogen.
„Ich werde dir nur auf die Füße treten.“, warnte ich ihn vor. Er seufzte.
„Dann lass lieber mich führen.“, murmelte er, griff meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Ich merkte, dass er seinen Unwillen deswegen unterdrückte.
Auf der Tanzfläche drehte er sich zu mir, legte sich meine Hände auf die Schultern und seine auf meine Hüften. Wir begannen uns langsam zu drehen, passend zu der romantischen Liebesschnulze, die gerade aus dem Lautsprecher ertönte. Mein Gesicht war bestimmt knallrot. Mir war das hier superpeinlich. Ich war nicht gerade kontaktscheu. Schon zu Schulzeiten hatte ich meine Freunde ohne Scheu in den Arm genommen, mit ihnen herumgealbert und ihnen, wenn mir gerade danach war, zum Dank einen Kuss auf die Wange gedrückt. Das waren immer nur Späße gewesen, also hatte ich selten darüber nachgedacht. Mein Verhalten hatte deswegen wohl auch zur Folge, dass heute kaum jemand so richtig überrascht gewesen war, dass ich einen Typen mitgenommen hatte.
Aber mit Kai hier so zu tanzen war etwas anderes. Ich war nervös und ich wusste nicht mal, woran es lag. Kai beugte sich vor. Ich senkte den Blick und starrte auf seine Brust. Mein Herz pochte heftig. Sein Atem streifte meine Wange.
„Sie kaufen es uns nicht ab.“, raunte er mir zu und einen Moment lang verstand ich nicht. Vorsichtig linste ich zu den anderen. Um uns herum lagen sich die Pärchen in den Armen, flüsterten sich irgendwas zu und kicherten immer wieder. Man merkte richtig, wie verliebt alle waren. Da stachen wir beide ziemlich heraus. Und das nicht nur, weil wir zwei Typen waren.
„Du strengst dich ja auch nicht richtig an.“, flüsterte ich Kai zu. Er verzog die Lippen. Kai war sowieso kein Kerl, der ständig strahlte. Eigentlich war ein kleines Lächeln bei ihm schon selten. Aber gerade heute könnte er mal wenigstens so tun, als hätte er bessere Laune. Als würde es ihm mit mir Spaß machen.
„Was habe ich denn davon?“, fragte er leise. Ich sah ihn finster an. Seinem Freund zu helfen war für ihn wohl kein angemessener Grund. Ich trat ihm mit Absicht auf den Fuß, aber so unauffällig, das jeder, der es zufällig gesehen hatte, es für ein Versehen halten musste. Nur Kai wusste, dass ich ihm hatte wehtun wollen.
Ich löste mich von ihm, sobald das Lied zu Ende war. Ich hatte alle Mühe, nicht einfach wegzulaufen. Sonst hätte es so gewirkt, als wäre ich geflohen.
„Zwischen euch scheint’s ja nicht so zu laufen.“, kommentierte Emi, als ich zur ihr an die Bar kam und mir einen Drink mixte.
„Wir… Kai ist nur nicht gern in der Öffentlichkeit.“, antwortete ich zerknirscht, was nicht mal gelogen war. Er war immer gehemmt, wenn er unter fremden Leuten war.
„Wird Zeit, dir mal auf den Zahn zu fühlen. Seit wann kennt ihr euch?“, erklang Chihiros Stimme hinter mir und im selben Augenblick lehnte sie sich an meine Schulter.
„Weiß ich nicht.“, antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte.
„Ihr habt euch nicht mal eine Geschichte ausgedacht?“, bohrte Hiro nach, als er an meiner anderen Seite auftauchte.
„Wir müssen uns keine Geschichte ausdenken. Ich kann mich halt nicht mehr erinnern. Wir kennen uns schon ein Leben lang.“, erwiderte ich.
„Sandkastenfreunde, also? Wie süß! Seit wann seid ihr ein Paar?“, bohrte Emi sofort begeistert nach. Ich zuckte zusammen und dachte nach.
„Noch nicht so lange… Hat sich so ergeben. Wir sehen uns nur selten seit unserem Schulabschluss.“, gab ich vage von mir.
„Hm, ihr wirkt aber nicht gerade wie ein Paar.“, stellte Hiro nüchtern fest.
„Geh du erst mal mit einem Kindheitsfreund aus! Ist verdammt schwer, in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man nicht mehr nur noch Kumpel ist.“, erwiderte ich knurrend. Es war ja auch schwer. Besonders mit jemandem wie Kai.
Die anderen hatten Blut geleckt. Sie fragten mich noch weiter aus und entlockten mir ein paar Kindheitserinnerungen mit meinem besten Freund.
Es war schon spät. Ich hatte einiges getrunken und war richtig gut gelaunt. Ich hatte auch ein paar Mal getanzt. Nicht mit Kai und auch nicht zu den langsamen Liebesliedern. Kai hatte sich meist irgendwo hingesetzt, sich mit denen unterhalten, die ebenso eher allein waren.
Irgendwann schien er mir aber wohl nicht mehr beim Tanzen zusehen zu wollen. Er kam zu mir, griff meine Hand und zog mich von der Tanzfläche. Allerdings nicht zu den anderen, sondern in Richtung Toiletten. Der Flur war durch einen rosa Vorhang etwas versteckt worden.
Kai drückte mich an die Wand und stützte sich mit dem Ellbogen neben meinem Kopf ab.
„Hast du dich nicht vorhin noch beschwert, dass ich mich nicht anstrenge, die anderen zu überzeugen? Und dann tanzt du vor meinen Augen mit ein paar Mädchen.“, raunte er. Ich merkte, dass er selbst nicht mehr ganz nüchtern war. Ich starrte ihn an.
„Ich geh nachhause.“, gab er plötzlich von sich.
„Du kannst nicht einfach gehen. Was soll ich den anderen sagen?“, erwiderte ich.
„Sag ihnen, mir ginge es nicht so gut.“, antwortete er und wollte sich abwenden, doch ich hielt ihn am Ärmel zurück.
„Das kann ich nicht. Als dein Freund müsste ich dich ja dann wohl begleiten und sichergehen, dass du heil ankommst.“, entgegnete ich eindringlich. Er fuhr sich mit einer Hand unwirsch durchs Haar und drehte sich wieder zu mir.
„Hast ja recht. Das würde dich in kein gutes Licht rücken.“, murmelte er und wandte den Blick ab.
„Da kommt jemand.“, fügte er hinzu und lehnte sich wieder an mich. Mit einer Hand stützte er sich wieder ab, die andere legte er unter mein Kinn, um es anzuheben. Ich öffnete den Mund, weil ich etwas sagen wollte, doch ich kam nicht dazu. Denn in diesem Moment legte Kai seine Lippen auf meine. Als ich seine Zunge spürte, die sich um meine schlängelte, wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich klammerte mich an seinem Hemd fest, da ich andernfalls wohl auf den Boden rutschen würde. Mir blieb fast die Luft weg. Es kribbelte. Irgendwo in meinem Bauch. Seit wann konnte Kai so gut küssen? Er löste sich langsam wieder von mir. Wir atmeten beide schwer. Ich öffnete die Augen. Wann hatte ich sie geschlossen? In meinem Kopf drehte sich alles. War es der Alkohol oder der Kuss, der diesen Schwindel ausgelöst hatte?
Aus dem Augenwinkel sah ich jemanden den Vorhang wegschieben. In diesem Moment löste sich Kai von mir und ging wieder hinaus. Ich brauchte noch einen Moment, ging ebenfalls zu den anderen zurück, aber alle waren bereits halb betrunken. Ich stand etwas verloren da, griff noch nach ein paar Häppchen, aber ich konnte irgendwie nicht mehr klar denken. Ich musste immer wieder zu Kai blicken. Der unterhielt sich wieder mit einer von Chihiros Freundinnen.
Ich hielt es nicht mehr aus, meinte etwas von Toilette und steuerte diese wieder an. Diesmal betrat ich den Raum auch und sperrte mich in einer der Kabinen ein. Ich musste nachdenken. Doch ich konnte nicht. Alles drehte sich und ich verstand nicht. Mir war, als hätte ich etwas übersehen. Als wäre ich schon seit Ewigkeiten blind gewesen. Doch mein Zustand half nicht gerade dabei, mir Klarheit zu verschaffen.
Ich seufzte, stand vom Toilettendeckel auf und verließ die Kabine. Vor dem Waschbecken spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht. Erst als ich nicht mehr glühte, traute ich mich hinauszugehen. Im Flur blieb ich aber stehen und starrte den Vorhang an. Das Gefühl von Kais Lippen auf meinen war immer noch präsent. Und etwas fiel mir auf.
Ich ging weiter und steuerte die anderen an. Auf dem Weg zu Hiro hielt ich Ausschau nach Kai.
„Hast dir aber ganz schön Zeit gelassen.“, meinte dieser und legte mir den Arm um die Schultern. Er hatte eine leichte Fahne.
„Hey, nur um das klarzustellen, wir wollten dich nur ein bisschen ärgern, weil du uns so lange nichts gesagt hast. Ihr beide seid süß zusammen.“, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. Meine Wangen wurden wieder etwas rot.
„Apropos, wo steckt Kai denn?“, fragte ich und versuchte ihn erneut zu finden.
„Oh, ach ja, er hat gemeint, er müsse morgen früh raus, deshalb ist er weg. Er wollte dir nicht den Spaß verderben.“, antwortete Hiro. Ich löste mich von ihm und lief in Richtung Ausgang.
Draußen orientierte ich mich. Die Kälte ließ mich kurz erzittern, aber ich hatte keine Zeit, um zurückzulaufen und meine Jacke zu holen. Ich lief in Richtung Uni-Tor, hielt weiter nach Kai Ausschau und entdeckte ihn endlich.
„Kai, warte!“, rief ich. Er hielt an und drehte sich zu mir um. Ich holte zu ihm auf und schnappte erst einmal nach Luft.
„Mir geht’s gut. Du musst nicht auf mich aufpassen. Geh ruhig wieder zu deinen Freunden und feiere.“, meinte er. Ich schüttelte den Kopf und richtete mich auf.
„Niemand hat uns gesehen. Der Vorhang hat uns verborgen. Dein Verhalten war vollkommen übertrieben.“, gab ich von mir. Kai wandte den Blick ab und schien mich nicht mehr ansehen zu können.
„Hat er dir was bedeutet? Bist du…?“, fragte ich leise, aber mit Nachdruck. Er holte tief Luft und schien sich zu sammeln.
„Was willst du hören? Ich bin schwul. Ich steh auf Typen. Das weiß ich schon lange.“, antwortete er etwas schroff.
„Und du hast mir nie was gesagt, weil? Dachtest du, ich wolle nicht mehr dein Freund sein, wenn ich es wüsste?“, bohrte ich gekränkt nach.
„Nein, ich…“, begann er und fuhr sich unwirsch durchs Haar.
„Ich hatte Angst, dass du mich anders behandelst, wenn du herausfindest, dass ich in dich verliebt war.“, gab er von sich, drehte sich halb weg und machte ein paar Schritte, ohne sich wirklich weiter von mir zu entfernen. Seine Worte kreisten in meinem Kopf.
„Hast du einen Freund?“, fragte ich leise. Er blieb wieder zum Stehen und sah endlich in meine Richtung.
„Ja, so in der Art. Er macht gerade ein Auslandssemester, weshalb wir eine Pause eingelegt haben. Damit sich niemand verpflichtet fühlt.“, erklärte er scheinbar widerwillig.
„Ist das das Einzige, das du vor mir verheimlicht hast?“, wollte ich wissen. Er dachte eine Weile nach, dann nickte er. Jetzt verfielen wir beide in Schweigen. Ich machte ein paar Schritte vor, um die Distanz zwischen uns zu verringern.
„Mach Schluss!“, forderte ich kaum hörbar.
„Was?“, bohrte er nach. Ich hob den Blick und sah ihm fest in die Augen.
„Mach Schluss! Jetzt sofort!“, wiederholte ich mit mehr Nachdruck. Kai zögerte einen Moment, dann schien er zu verstehen, was ich wollte. Er zog sein Handy hervor.
„War? Also echt! Als ob du mich je anlügen könntest.“, schimpfte ich leise, machte noch einen Schritt vor und schlang meine Arme um ihn.
„Kalt.“, murmelte ich als Erklärung. Er legte den Arm um mich und rieb meinen Rücken, während er seine Kontakte durchging und schließlich eine Nummer wählte. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter und lauschte.
Jemand ging ran.
„~Ja~?“, trällerte eine Stimme ins Telefon. Ich musterte Kais Gesicht und konnte nicht fassen, dass er auf solche Typen stand. Seinem Ausdruck nach zu urteilen konnte er das selbst nicht glauben. Ich hörte Geräusche, etwas schien bei Kais Gesprächspartner zu passieren und schließlich meldete sich eine andere Stimme.
„Hey, hy, Kai, sch-schön von dir zu hören. Was… gibt’s? Und ignorier den Typen einfach. Er ist… ein Kommilitone. Etwas schräg.“, hörte ich. Kai seufzte.
„Tomi, wir waren beide damit einverstanden, eine Pause einzulegen. Du musst mich nicht anlügen.“, gab er von sich.
„Ja, sorry, ich… Ich war mir irgendwie nicht mehr so ganz sicher, ob du damit wirklich einverstanden warst.“, erklärte er sich.
„Und anstatt mit mir darüber zu reden, gehst du mit einem Typen ins Bett und riskierst, dass ich es als Betrug ansehe? Tomi, deine Logik versteh ich nie.“, entgegnete Kai. Irgendwie mochte ich die Situation nicht. Ich merkte, dass es mir nicht gefiel, dass Kai bei einem anderen als mir ganz er selbst sein konnte. Ich legte meine Lippen an seinem Hals und knabberte leicht daran. Ein kleiner Anreiz, das Telefonat schnell zu beenden.
„Aber deshalb ruf ich nicht an. Oder… vielleicht eigentlich ja doch.“, fuhr er fort und kraulte mich geistesabwesend den Nacken.
„Diese Pause… das mit uns…“, meinte er, brach ab und suchte nach den richtigen Worten. Ich griff nach seinem Handgelenk und zog es zu mir, sodass ich ins Smartphone sprechen konnte.
„Er hat keinen Bedarf mehr!“, sagte ich laut und deutlich. Dann ließ ich ihn wieder los und kuschelte mich an ihn.
„Verstehe. Daher weht der Wind.“, hörte ich aus dem Telefon. Ich legte meine Lippen erneut an Kais Hals, biss diesmal etwas fester und leckte auch mit meiner Zunge über seine Haut.
„Ähm, Tomi, nur um sicher zu gehen, das zwischen uns ist vorbei. Also richtig vorbei. Keine Fortsetzung mehr.“, sagte Kai nun endlich etwas überzeugter.
„Ja, ist es.“, bestätigte sein Ex und wurde wohl von dem Typen bei ihm etwas abgelenkt.
„Du kommst doch nächste Woche zurück? Treffen wir uns? Dann können wir über alles reden.“, fuhr Kai im lockeren Plauderton fort. Missmutig sah ich ihn an. Verabredete er sich gerade ernsthaft in meiner Anwesenheit mit seinem Ex. Ich trat ihm auf den Fuß. Anstatt dieses Treffen aber abzusagen, besprachen sie einen konkreten Tag und verabschiedeten sich.
„Das hat wehgetan.“, beschwerte er sich.
„Selbst schuld, wenn du vor meinen Augen wieder mit deinem Ex anbandelst.“, rechtfertigte ich mich.
„Aber ich muss mich doch nochmal mit ihm treffen. Meine Sachen sind noch bei ihm. Ich habe ja praktisch bei ihm gewohnt. Außerdem sind wir noch Freunde und Kommilitonen. Wir sehen uns sowieso oft.“, erklärte er, was es meiner Meinung nach nicht besser machte.
„Du willst mich doch nur eifersüchtig machen.“, entgegnete ich beleidigt.
„Eifersüchtig? Kann ich das denn? Ach, selbst, wenn sich herausstellt, dass ich das hier alles nur geträumt habe, ist heute der schönste Valentinstag überhaupt.“, gab er mit sanfter Stimme von sich und meine Wut war plötzlich verraucht. Das Lächeln, das seine Lippen zierte, verursachte mir wohlige Schauer. Hatte er jemals so wundervoll gelächelt?
Ich legte meine Hände in seinen Nacken und zog ihn zu mir. Bevor Kai reagieren konnte, küsste ich ihn verlangend. In meinem Magen kribbelte es. Er erwiderte langsam den Kuss. Ich löste mich nur allmählich von ihm. Er schien etwas mehr zu strahlen als vorher.
„Wofür habe ich das denn verdient?“, fragte er atemlos.
„Du bist einfach süß. Da konnte ich nicht widerstehen.“, antwortete ich grinsend.
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2020
Alle Rechte vorbehalten