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Neues Jahr, neues Glück?

 

Ich griff nach meinem Glas, das am niedrigen Tisch vor mir stand, und saugte am Strohhalm, während ich unauffällig meinen Blick wandern ließ. Der Raum war voll. Es waren mehr Studenten mitgekommen als ursprünglich geplant gewesen waren und die Karaokebar hatte keinen größeren gehabt. Unser Wohnheim war eine Gemeinschaft, die man fast als zweite Familie sehen konnte. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass manche beschlossen hatten, Silvester mit ihren Kommilitonen zu verbringen anstatt mit ihren Familien daheim.

Ich selbst hatte etwas andere Gründe hier zu sein. Ich hielt es mit meiner Familie nämlich maximal 3 Tage am Stück aus und die hatte ich schon Weihnachten bei ihnen verbracht. Jetzt brauchte ich Abstand von ihnen. Ich mochte meine Familie, aber unser Verhältnis war schwierig. Manchmal fühlte ich mich, als wäre ich für sie eine einzige Enttäuschung. Ich konnte sie nicht glücklich machen. Deshalb war ich auch in das Wohnheim gezogen, obwohl mein Elternhaus nicht allzu weit weg lag.

Ich vertrieb diese Gedanken wieder. Ich wollte die letzten Stunden in diesem Jahr nicht mit Trübsinn verbringen. Ich stellte das Glas wieder ab und spürte in der nächsten Sekunde einen Arm um meine Schultern.

„Sei nicht so niedergeschlagen! Konnte ja keiner ahnen, dass er seine Pläne ändert.“, meinte Taki zu mir. Mein bester Freund lehnte sich an mich. Sein Atem roch leicht süßlich. Er hatte schon ein paar mehr Drinks intus als ich.

„Ich bin nicht niedergeschlagen. Und es stört mich nicht, dass er da ist.“, widersprach ich und sah zum anderen Ende des Raumes.

Dort saß Minoru auf der Couch und lachte gerade über zwei unserer Mitbewohner, die viel zu laut und viel zu schief ins Mikro kreischten, sodass ich nicht mal sagen konnte, welches Lied sie gerade sangen. Auf seinem Schoß saß ein Mädchen, von dem ich immer noch nicht sagen konnte, in welcher Beziehung er zu ihr stand.

Minoru war beliebt, sah gut aus und konnte wahnsinnig charmant sein. Mir gegenüber verhielt er sich aber meistens wie ein vollkommener Idiot. Ich kannte ihn bereits seit dem Kindergarten und schon dort hatte unsere Feindschaft begonnen.

Doch vor einer Woche, vor Weihnachten, hatte sich zwischen uns etwas geändert. Wir hatten gezwungenermaßen Zeit miteinander verbracht und er war ungewöhnlich nett zu mir gewesen. Er hatte mich unter dem Mistelzweig geküsst und dieser Kuss hatte mich vollkommen verwirrt. Seitdem wusste ich gar nicht mehr, was ich eigentlich fühlte. Auf der Weihnachtsfeier unseres Heims hatte er mir quasi ein Angebot gemacht und nach einigem Zögern meinerseits hatte ich mich darauf eingelassen, mit ihm die Nacht zu verbringen.

Ich hatte geglaubt, dass sich zwischen uns dadurch alles ändern würde. Aber das hatte es nicht. Er war immer noch mein größter Erzfeind, der mich bei jeder Gelegenheit provozierte. Allerdings hatte er mich auch in seinen Bann gezogen und vor ein paar Tagen, als er von seiner Familie wieder ins Wohnheim gekommen war, hatte ich mich nachts zu ihm geschlichen und an seine Tür geklopft. Ich wusste bis heute nicht, was mich da geritten hatte, aber er hatte mich eingelassen und ich war erst kurz vor Sonnenaufgang wieder gegangen. Die letzten paar Tage hatte sich das wiederholt.

Wir waren nicht zusammen. Zwischen uns gab es nur diese körperliche Anziehungskraft. Aber ich war mir sicher, dass Minoru trotz seines teuflischen Charakters eine ehrliche Haut war. Er würde niemals zweigleisig fahren. Deshalb würde ich auch meine Hand dafür ins Feuer legen, dass das Mädchen auf seinem Schoß nicht seine feste Freundin war.

„Vielleicht will er dich eifersüchtig machen.“, mutmaßte Taki und lehnte sich soweit vor, dass sich unsere Wangen fast berührten. Wenn mein Freund zu viel getrunken hatte, konnte er ganz schön anhänglich werden.

„Warum sollte er? Dafür gibt’s ja wohl keinen Grund.“, widersprach ich, auch wenn ich gleichzeitig spürte, dass ein Teil von mir sich das wünschte. Ein Teil von mir wollte nämlich unbedingt eine größere Rolle in Minorus Leben spielen. Auch wenn ich das niemals zugeben würde.

„Wollen wir nicht mal eine Runde singen?“, änderte Taki das Thema.

„Ach, ich weiß nicht.“, gab ich unsicher von mir. Ich wollte nicht vor Minoru singen. Ich wollte ihm nicht noch mehr geben, wofür er mich ärgern konnte.

„Ach komm! Bis Mitternacht sind es noch ein paar Stunden. Und du willst hoffentlich nicht einfach nur hier sitzen und schmollen.“, entgegnete mein Freund.

„Ich schmolle nicht!“, widersprach ich sofort.

„Was ist überhaupt der Plan für heute? Kommt nach Karaoke noch was?“, versuchte ich abzulenken.

„Feigling!“, meinte Taki, schlang nun beide Arme um mich und kuschelte sich an mich ran.

„Soma hat einen Platz auf der Terrasse von so einem Club reserviert. Zum Feuerwerk beobachten. Ein paar wollen schon früher dahin und im Restaurant nebenan noch was essen.“, antwortete er mir doch.

„Du brauchst eine Freundin.“, kommentierte ich, als er sein Gesicht in meiner Halsgrube vergrub. Ich linste erneut in Minorus Richtung. Unsere Blicke trafen sich. Wirkte er verstimmt?

„Lass uns singen!“, forderte Taki plötzlich, sprang auf und griff nach meiner Hand. Er zog mich auf und zur kleinen Bühne nach vorne, wo er unseren Vorgängern das Mikro abnahm. Er beugte sich zu Soma, der fragte, welchen Song wir singen wollten. Ich glaube, Taki hörte ihm nicht mal richtig zu. Er tippte einfach auf irgendeinen Song auf der Liste und richtete sich wieder auf.

Die ersten Töne des Liedes erklangen. Ich hatte erst Schwierigkeiten, den Song zu erkennen, doch schließlich merkte ich, dass Taki auf ein Liebesduett getippt hatte. Mein Freund schien das ebenfalls zu merken, doch er hatte schon zu viel getrunken, als sich deswegen zu schämen. Er legte den Arm um meinen Hals, drückte mich an sich und sang die ersten Zeilen des männlichen Parts. Er traf nicht jede Note, brauchte sich für seinen Gesang aber nicht zu schämen. Ich verfluchte mich etwas dafür, dass ich nicht schneller gewesen war. Jetzt musste ich die Mädchenrolle übernehmen. Widerwillig hielt ich das Mikro an meine Lippen und sang meinen Part. Allerdings hatte ich Schwierigkeiten mit der Tonlage und war etwas leiser. Ich spürte Minorus Blick auf mir, aber Taki schaffte es mich abzulenken. Ich legte meine Scheu ab und sang den Solopart aus vollem Hals. Als das Lied zu Ende war, wollte ich mich wieder setzen, aber Taki rief, er wolle das nächste Lied, und ließ mich nicht weg. Irgendjemand drückte mir einen Drink in die Hand, den eine Kellnerin gebracht hatte. Botan gesellte sich auf meine andere Seite, legte den Arm um meine Hüften und griff nach meinem Mikro. Die Musik begann und Botan grölte sofort ins Mikro. Diesmal kein Liebeslied. Botan hielt mir das Mikro unter die Nase und ich sang selbst eine Strophe. Beim Refrain sang der halbe Raum mit. Bei der nächsten Strophe nutzte ich die Gelegenheit, um mein Glas halb zu leeren.

 

Es waren ein paar Drinks zu viel geworden, weshalb ich nicht mehr wusste, wie ich zur anderen Location gekommen war. Vermutlich mit Hilfe der anderen. Jedenfalls fand ich mich etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht am Dach des Clubs wieder, umgeben von meinen Kommilitonen. Wir waren nicht die einzigen auf dem Dach. Andere Gruppen hatten sich schon hier eingefunden, tranken oder tanzten zur Musik. Ich ließ meinen Blick schweifen und entdeckte Taki mit einer fremden Frau flirten. Scheinbar sicherte er sich bereits einen Kuss um Mitternacht. Ich wurde abgelenkt, als ich im Augenwinkel Minoru entdeckte. Mein Erzfeind hatte den Arm um die Hüften des Mädchens geschlungen, das schon den ganzen Abend auf seinem Schoß gesessen hatte. Jetzt hing sie förmlich an ihm und wirkte fast so, als würde sie am liebsten jeden Moment über ihn herfallen. Mir lag ein Stein im Magen. Warum reichte Minorus Anblick schon aus, um mir die Laune zu verderben?

Ein Arm um meine Schultern riss mich aus meinen Gedanken. Ich dachte erst, es wäre Taki, doch ich entdeckte ihn noch ein paar Meter vor mir mit dieser Frau. Ich blickte neben mich und entdeckte Botan, der mich angrinste. Eine leichte Alkoholfahne wehte mir entgegen. Botan hatte mindestens so viel wie ich getrunken. Vermutlich noch ein paar Gläser mehr. Er linste an mir vorbei, dann dirigierte er mich in eine leere Ecke, wo wir von einer Wand etwas abgeschirmt waren.

„Ist schwer dich mal allein anzutreffen. Ohne deinen Wachhund.“, gab er von sich. Verwirrt blickte ich ihn an.

„Wachhund?“, fragte ich und lehnte mich gegen die Wand, um Halt zu finden. Botan beugte sich vor, stützte sich mit den Unterarmen links und rechts neben meinen Schultern an der Wand ab und hielt seine Lippen dicht an mein Ohr. Ich spürte seinen Atem. Ich mochte dieses Gefühl nicht. Botan war ein Jahr älter und ein guter Ansprechpartner, wenn ich Probleme in einem Seminar hatte. Vor allem, da er die meisten Seminare und Vorlesungen, die ich gerade besuchte, selbst schon abgeschlossen hatte. Aber als Freund konnte ich nicht viel mit ihm anfangen. Er hatte einen ganz anderen Humor als ich. Immer, wenn wir etwas zusammen machten, wurde es zwischen uns schnell komisch. Vielleicht war auch mein Humor einfach zu speziell?

„Du hast doch immer jemanden bei dir. Sei es Taki oder sonst wer. Dich allein anzutreffen ist so schwer.“, murmelte Botan und wiederholte sich.

„Wieso willst du mich allein antreffen?“, bohrte ich nach und kicherte, weil sein Atem mich im Nacken kitzelte.

„Kannst du dir das nicht denken? Du bist süß und so klein.“, antwortete er und ich spürte seine Lippen an meinem Hals.

Das war mir zu viel. Bisher hatte ich es noch hingenommen. Botan flirtete ebenfalls gerne, wenn er zu viel getrunken hatte. Aber das hier war mir zu nah. Zumal ich es ganz und gar nicht gut fand, dass man mich auf meine Größe ansprach.

„Botan, du bist… Ich glaube nicht, dass wir zusammenpassen.“, erwiderte ich und drückte ihn an den Schultern von mir.

„Oh, ich glaube, wir passen perfekt zusammen.“, raunte er. Mir lief ein Schauer den Rücken hinab, allerdings kein wirklich wohliger.

„Ich will aber nicht mit dir zusammenpassen.“, gab ich schon lauter von mir und quiekte bereits leicht panisch auf, als ich sein Knie zwischen meinen Beinen spürte.

 

In der nächsten Sekunde war ich erlöst und Botan wurde von mir geschoben.

„Willst du im alten Jahr noch im Knast landen? Oder hast du deine Quote noch nicht erfüllt?“, erklang die Stimme, die ich am wenigsten leiden konnte.

„Geht es dich etwas an, was Shima und ich hier haben? Oder bist du sein neuester Wachhund?“, entgegnete Botan und sah Minoru herausfordernd an. Was hatte Botan nur mit diesem Wachhund-Gerede? Niemand musste auf mich aufpassen.

„Der Kleine bellt lauter als jeder Wachhund.“, konterte Minoru. Ich knurrte bei dieser Aussage und bestätigte ihn unabsichtlich. Er grinste mich bei meiner Reaktion an.

„Zieh lieber Leine! Du würdest es sowieso nur bereuen. Der Zwerg wird dir nur deinen Schwanz abbeißen.“, fügte er an Botan gewandt hinzu. Dieser schien mit sich zu ringen, suchte wohl nach einem schlagfertigen Konter, war aber zu angetrunken, um einen zu finden.

„Willst ihn doch nur für dich selbst.“, murrte er schließlich, schwankte aber missmutig davon.

„Manche sollten echt nichts trinken.“, murmelte Minoru, während er ihm nachblickte. Er machte allerdings keinerlei Anstalten, selbst wieder zu verschwinden.

„Vermisst dich deine Schnepfe nicht schon längst?“, gab ich bissiger von mir, als ich wollte. Er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Spricht man so mit jemandem, der dich gerade davor bewahrt hat, vergewaltigt zu werden?“, erwiderte er. Mein schlechtes Gewissen meldete sich tatsächlich etwas.

„Danke dafür.“, murmelte ich leise. Minoru stützte sich an einer Wand ab und sah mir tief in die Augen. Ich spürte wieder dieses Kribbeln in meinem Magen.

„Wirst du nicht schon langsam vermisst?“, fragte ich, während gleichzeitig ein Teil von mir nicht wollte, dass er mich wieder allein ließ. Er sah über seine Schulter, dann wandte er sich wieder mir zu.

„Sie können mich ruhig noch ein bisschen länger vermissen. Ich habe hier etwas Wichtiges zu erledigen.“, raunte er als Antwort. Waren das etwa Schmetterlinge in meinem Bauch? Falsche Jahreszeit!

„Was hast du denn so Wichtiges zu erledigen, dass du dein Anhängsel vernachlässigst?“, fragte ich. Er hob sein Handgelenk.

„Noch ein paar Sekunden.“, meinte er und fixierte seine Uhr. Er schien einen Countdown herunterzuzählen. Erst jetzt bemerkte ich, dass die anderen im Kollektiv dasselbe taten und kapierte, dass es fast Mitternacht war.

„… 5, 4, 3, 2…“ Ich öffnete den Mund, um meinem Erzfeind ein gutes, neues Jahr zu wünschen, doch in dem Moment beugte er sich vor und legte seine Lippen auf meine. Er küsste mich sanft. In meinem Kopf drehte sich alles und daran war nicht nur der Alkohol schuld. Ich klammerte mich an Minorus Jacke fest. Seine Lippen waren mir vertraut und fremd zugleich.

Langsam löste er sie wieder von meinen.

„Frohes, neues Jahr!“, hauchte er leise, was ich nur gehört hatte, weil sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war.

„Frohes, neues-“, antwortete ich, wurde aber unterbrochen, als er mich nochmal schnell küsste.

„Jetzt sollten wir wieder zu den anderen, sonst vermisst uns wirklich jemand.“, meinte er und richtete sich wieder auf. Bevor ich etwas erwidern konnte, zog er mich bereits mit sich zu den anderen, schubste mich mehr oder weniger sanft in Richtung Taki und legte eine Sekunde später seinen Arm wieder um die Schultern des Mädchens, mit dem er schon den ganzen Abend verbracht hatte.

Verwirrt musterte ich die beiden einen Augenblick, doch da drückte mir Taki bereits ein Glas Sekt in die Hand und prostete mir zu. Er ließ mir keine Zeit mehr, über Minorus Verhalten genauer nachzudenken.

 

Als ich am Morgen erwachte, spürte ich einen Stich in meinem Hinterkopf. Ich hatte zu viel getrunken. Sekt vertrug ich eigentlich gar nicht. Dennoch lernte ich einfach nicht aus meinen Fehlern. Und Taki war in der Hinsicht auch keine große Hilfe.

Ich spürte, wie sich etwas unter mir bewegte und öffnete die Augen. Als ich den Kopf etwas hob, sah ich in Minorus Gesicht. Ich versuchte mich an letzte Nacht zu erinnern. Vage Erinnerungsfetzen stiegen auf. Wir hatten bis etwa 1 Uhr auf diesem Dach verbracht, dann waren die meisten von uns gemeinsam ins Wohnheim zurück. Alle angetrunken und müde. Minoru hatte mich oben bei der Treppe abgefangen. Taki war schon auf sein Zimmer zugesteuert und hatte sich gar nicht mehr um mich gekümmert. Auch die anderen hatten wohl keine Augen für uns, weshalb mein Erzfeind keine Hemmungen hatte, mich einfach in sein Zimmer zu ziehen, wo wir das fortgesetzt hatten, was wir mehr oder weniger auf dem Dach des Clubs begonnen hatten. Natürlich hatte ich es dann nicht mehr in mein eigenes Bett geschafft.

Ich musterte die sanften Züge des Schlafenden. Nach unserer ersten Nacht hatte ich mich geschämt und war hinausgeschlichen. Hätten wir uns dann noch gesehen, wäre ich wohl nicht in der Lage gewesen Blickkontakt zu halten. Doch jetzt verspürte ich nicht mehr diese Panik. Ich war verstimmt, weil Minoru vor den Augen aller ständig mit diesem Mädchen rumflirtete, während er, wenn keiner hinsah, mit mir rummachte. Als wäre ich nur sein schmutziges, kleines Geheimnis, von dem niemand wissen durfte.

Langsam stand ich auf und sammelte eilig meine Klamotten vom Boden auf. Ich zog mich an, warf noch einen Blick auf meinen Feind Nummer 1, der immer noch im Land der Träume verweilte, und öffnete dann vorsichtig die Tür. Ich linste hinaus und sprintete dann in mein Zimmer, bevor mich jemand erwischen konnte.

 

Eine halbe Stunde später saß ich geduscht und mit frischen Klamotten in der Gemeinschaftsküche an der Kücheninsel, nippte an meinem Kaffee und versuchte das Omelett drin zu behalten, das wir uns gemacht hatten. Taki saß neben mir und wirkte genauso fertig. Ein paar unserer Mitbewohner waren ebenso schon wach und hatten sich im Gemeinschaftsraum, sowie im Esszimmer einen Platz gesucht, wo sie alle mehr oder weniger erfolgreich versuchten, ihre Mägen zu füllen.

„Warum bist du nicht bei deiner neuen Bekanntschaft?“, fragte ich irgendwann meinen Freund. Er zuckte mit den Schultern.

„Sie war ‘ne miese Küsserin.“, antwortete er.

„Und deshalb lässt du sie dir entgehen?“, hakte ich nach.

„Klar. Wenn’s schon beim Küssen nicht gut ist, klappt es zwischen uns sowieso nicht. Ohne Kribbeln im Bauch kann ich eine Beziehung vergessen.“, erklärte er, was mich sofort an das Kribbeln erinnerte, das mir Minorus Küsse bescherten.

„Aber nur weil’s kribbelt, heißt das nicht, dass man auch zusammen sein kann.“, entgegnete ich und stocherte in meinem Ei herum.

„Hm, ja, aber ohne Kribbeln funktionierts erst recht nicht.“, machte Taki seinen Standpunkt klar.

„Guten Morgen, liebe Mitstudenten!“, erklang Somas Stimme, der für diese Zeit schon viel zu aufgedreht war. Vielleicht noch Restalkohol?

Taki und ich erwiderten den Gruß weitaus weniger enthusiastisch.

„Schon über eure Vorsätze für dieses Jahr nachgedacht?“, fragte er und schob jedem von uns einen Zettel hin.

„Vorsätze?“, hakte ich knapp nach.

„Ja, jeder Bewohner hängt seinen Vorsatz ans schwarze Brett. Die bleiben ein paar Tage dort und werden für das restliche Jahr von mir aufbewahrt, um am Jahresende zu gucken, ob jeder seine Vorsätze in die Tat umgesetzt hat.“, erklärte Soma.

„Was ist aus denen für letztes Jahr geworden?“, bohrte Taki nach. Damals hatten wir noch nicht hier gewohnt, also hatten wir das auch nicht mitgemacht. Ich hatte aber nicht mitbekommen, dass die zur Sprache gekommen wären.

„Das kommt in ein paar Tagen, kurz bevor die Vorlesungen wieder anfangen. Dann gucken wir uns auch die diesjährigen Vorsätze an.“, antwortete Soma und machte sich auf den Weg in den nächsten Raum, wo er die Anwesenden ebenso enthusiastisch begrüßte wie uns.

Ich wollte Taki gerade nach seinem Vorsatz fragen, als wir erneut Gesellschaft bekamen. Botan stöhnte und hielt sich den Kopf, während er sich neben mir an der Anrichte abstützte.

„Du brauchst wohl dringend Kaffee.“, meinte Taki und stand auf, um ihm welchen zu holen. Ich musterte ihn von der Seite und fühlte mich unwohl nach gestern.

„Shima, ich… wegen gestern…“, begann er leise. Ich zögerte etwas, dann sah ich ihn an.

„Also, das… tut mir leid. Weißt du, vor ein paar Wochen hat mein Freund schlussgemacht. Ich dachte eigentlich, ich wäre schon drüber hinweg, aber ich hatte es doch noch nicht überwunden. Ich wollte mir wohl selbst etwas beweisen. Und ich fand dich schon immer süß, da bin ich wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen.“, erklärte er und wirkte ehrlich niedergeschlagen.

„Schon gut. Du warst betrunken.“, antwortete ich. Er lächelte etwas und nahm dankbar die Tasse Kaffee entgegen. Soma kehrte zurück und drückte auch Botan einen Zettel in die Hand.

„Vorsätze, du weißt schon.“, erklärte er knapp und verschwand, um die restlichen Bewohner zu informieren.

„Ach ja, das.“, murrte Botan wenig begeistert.

„Was nimmst du dir vor?“, fragte Taki sofort und setzte sich wieder neben mich.

„Erst mal, bis Ostern keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. Und dann… neues Jahr, neues Glück? Mein Abschluss steht an, die Jobsuche wartet und wenn ich Zeit finde, such ich mir einen neuen Freund.“, antwortete er. In seinem Zustand hatte er wohl keinen Kopf für andere, denn anstatt uns zu fragen, was wir auf diese Zettel schreiben würden, drehte er sich um und ging.

„Was schreibst du auf deinen Zettel?“, fragte ich Taki, sobald wir allein waren. Er überlegte, griff nach dem Stift, der hier für Einkaufszettel herumlag, und begann etwas zu schreiben.

„Professor Yamaguchis Seminar bestehen und einem Club beitreten.“, las ich laut vor.

„Ziemlich konkret. Ich hatte eher mit was gerechnet wie ‚Die Liebe meines Lebens finden‘.“, erwiderte ich. Taki boxte mich leicht in die Seite, während wir beide das Kichern unterdrückten.

„Sowas kann man nicht erzwingen.“, erklärte er.

„Und was ist mit dir?“, fragte er jetzt mich. Ich dachte angestrengt darüber nach, aber mir fiel nichts ein.

„Ich weiß nicht.“, gab ich von mir.

In diesem Augenblick kam Minoru herein. Er wirkte frisch und munter, im Gegensatz zu allen andern.

„Morgen, Zwerg! Gestern Nacht gar nicht entführt worden?“, grüßte er, während er zur Kaffeemaschine ging, um sich einen zu machen.

„Idiot!“, zischte ich wütend. Warum brachte er mich immer sofort auf 180°? Er drehte sich mit der Tasse um und bediente sich am Frühstück. Beim Hinausgehen stach er mit seiner Gabel in mein Omelett und nahm das ganze Ding einfach mit. Ich protestierte darüber, rief ihm hinterher, wollte aber nicht aufstehen und ihm nachlaufen. Eigentlich hatte ich sowieso keinen Hunger gehabt. Taki neben mir hatte nichts Besseres zu tun als zu kichern.

„Elender Dieb!“, schimpfte ich in mich hinein.

„Ach komm, seid ihr immer noch so? Inzwischen könntet ihr ruhig etwas netter zueinander sein. Das ganze Haus weiß sowieso Bescheid.“, gab mein Freund von sich. Ich spürte, wie mein Kopf förmlich glühte.

„Zwischen uns ist gar nichts!“, erwiderte ich sofort. Taki hob vielsagend die Augenbrauen hoch.

„Genau, gar nichts. Du verbringst deine Nächte nicht in seinem Zimmer. Du schmachtest ihn auch nicht aus der Ferne an.“, gab er von sich in einem Tonfall, bei dem sogar jemand, der uns überhaupt nicht kannte, wusste, was Sache war.

Das war frustrierend. Ich dachte, wir hätten es ganz gut verheimlicht.

„Shima, auch wenn wir Freunde sind, will ich mich nicht in dein Liebesleben einmischen. Was zwischen euch ist, geht mich nichts an, solange er dir nicht wehtut. Aber willst du, dass das noch ewig so weitergeht?“, fragte er sanft.

„Ich weiß nicht. Ich muss drüber nachdenken.“, gab ich von mir, trank den letzten Schluck Kaffee und stand auf.

 

Ein paar Tage hatte ich über meine Vorsätze für dieses Jahr nachgedacht. Schließlich waren die Ferien fast vorbei und ich musste meinen Zettel an die Pinwand hängen. Soma hatte alle für drei Uhr Nachmittag in den Gemeinschaftsraum bestellt. Dann würden die Vorsätze vorgelesen werden und bei denen vom letzten Jahr wurde geguckt, ob sie auch eingehalten wurden. Wenn nicht, gab es eine Strafe, die Soma noch nicht verraten hatte.

Kurz vor diesem Treffen stand ich am schwarzen Brett und musterte die anderen Vorsätze. Es waren solche wie Takis dabei, die nur davon handelten, für bestimmte Prüfungen zu lernen, bestimmte Aufgaben zu erledigen oder ähnliches. Andere hatten sich ein Ziel gesetzt, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, eine Sportart zu erlernen oder sich andere Fähigkeiten anzueignen. Zwei, drei entdeckte ich, die ziemlich vage waren. ‚Größer werden‘ war eines davon, was man auf mehr als eine Art interpretieren konnte.

Ich atmete tief durch und hängte meinen eigenen Zettel auf.

„Ehrlicher werden.“, erklang neben mir plötzlich eine dunkle Stimme.

„Wie originell.“, kommentierte Minoru meinen Vorsatz. Ich funkelte ihn an.

„Ach ja? Und was hast du geschrieben?“, bohrte ich nach. Er deutete auf einen Zettel.

„Zwerg ärgern.“, las ich.

„Haha, sehr witzig.“, gab ich sarkastisch von mir. Minoru ging weiter in den Gemeinschaftsraum.

„Ich hasse dich!“, rief ich ihm hinterher. Er blickte zu mir zurück, lächelte aber darüber.

In der nächsten Sekunde spürte ich etwas Schweres an meinem Rücken und Takis Gesicht tauchte neben meinem auf.

„Sieht ein Blinder mit Krückstock, was zwischen euch los ist.“, kommentierte er. So viel zu meinem Vorsatz. Hass war nämlich schon seit einer Weile nicht mehr das Gefühl, das in Minorus Nähe in meinem Inneren dominierte.

„Kopf hoch, du hast ja noch ein ganzes Jahr Zeit, um deinen Vorsatz in die Tat umzusetzen.“, munterte mein Freund mich auf. Ich lächelte etwas. Er hatte recht. Ich hatte ein Jahr Zeit, um meine Gefühle zu sortieren und nicht nur anderen, sondern vor allem mir selbst gegenüber ehrlicher zu werden.

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Tag der Veröffentlichung: 31.01.2020

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