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Chaotische Weihnacht

 

Ich stöhnte genervt auf, während ich mit meinem besten Freund über das Unigelände zum Nebengebäude marschierte. Der ganze Tag hatte schon scheiße angefangen und ich hatte die schlimme Befürchtung, dass er auch scheiße weitergehen würde.

„Warum ausgerechnet ich? Warum muss das immer mir passieren? Warum?“, fragte ich und war bei meinem letzten Warum so laut, dass ein paar unserer Kommilitonen mir schockierte Blicke zuwarfen.

„Regst du dich immer noch über die Arbeitseinteilung auf? Shima, das war eine anonyme Ziehung. Niemand hat dich mit Absicht so zugeteilt.“, versuchte Taki mich zu beruhigen. Er wusste natürlich genau, was mich so ärgerte. Nicht der verschüttete Frühstückskaffee, der mir meine letzte saubere Hose ruiniert hatte, weshalb ich mich in die eine hatte reinzwängen müssen, die eigentlich schon in den Altkleidersack gehört hätte, weil sie zu klein und noch nie modisch war. Auch nicht, dass Taro, das hauseigene Maskottchen unseres Studentenwohnheims, meine Hausaufgabe für ein Seminar bei Professor Yamaguchi, dem strengsten Professor der gesamten Uni, mit seiner Hundesabber vollkommen versaut hatte und ich wegen einem neuen Ausdruck ein paar Minuten zu spät gekommen war. Selbst das viel zu frühe Meeting der Studenten unseres Wohnheims, das immer mal wieder stattfand, um die Vorbereitungen für gewisse Feiern oder den neuen Arbeitsplan zu besprechen, stand nicht ganz oben auf der Liste von Dingen, die mir den Tag so richtig versauen wollten.

Es war Minoru.

Minoru war mein Erzfeind Nummer 1. Und das schon, seit ich überhaupt denken konnte. Wir hatten denselben Kindergarten besucht und schon da hatte unser Krieg angefangen. Richtig erinnern konnte ich mich nicht, aber ich glaube, er hatte mir damals eine Schaufel weggenommen, als ich gerade im Sandkasten damit spielen wollte. Über die Jahre hinweg hatten wir zwar nie wirklich viel miteinander zu tun gehabt, hatten auch mal unterschiedliche Schulen besucht, aber irgendwie waren wir uns immer wieder über den Weg gelaufen. Und unsere Feindschaft war mit der Zeit noch stärker geworden. Eigentlich konnten wir kaum zwei Minuten in der Nähe des anderen sein, ohne dass wir uns gegenseitig irgendwelche Provokationen an den Kopf warfen.

Und dieser Kerl, mit dem ich nie mehr zu tun haben wollte, war nicht nur im selben Wohnheim wie ich gelandet, er sollte dieses Jahr auch mit mir gemeinsam den Gemeinschaftsraum für die Weihnachtsfeier schmücken.

Das war der pure Alptraum!

„Willst du nicht mal endlich erwachsen werden?“, riss mich Taki aus meinen frustrierenden Gedanken.

„Ich bin erwachsen.“, konterte ich eingeschnappt. Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

„Dann solltest du auch in der Lage sein, dich für ein paar Stunden zusammenzureißen und mit Minoru den Raum zu schmücken, ohne dass ihr euch gegenseitig die Köpfe einschlägt.“, mahnte er mich. Ich verdrehte die Augen. Meinen Hass auf diesen Kerl war wohl das Einzige, das mein bester Freund nie würde verstehen können. Sonst wüsste er, dass er mir gerade eine unmögliche Anweisung gegeben hatte.

Wir betraten das Nebengebäude und ich unterdrückte nur mit größter Mühe einen gequälten Laut.

„Was macht der denn hier?“, fragte ich Taki leise.

„Vermutlich hat er Vorlesung im anderen Hörsaal.“, vermutete mein Freund. Minoru hatte den Arm um die Schultern eines Mädchens gelegt und schien sich mit seinen umstehenden Freunden über irgendwas zu amüsieren. Er war schon immer beliebt gewesen. 1,90 m groß, schwarzes Haar, dunkle Augen, ein attraktives Äußeres kombiniert mit einem charmanten Charakter. Ein Charakter, der sein teuflisches Inneres viel zu gut verbergen konnte.

Ich funkelte ihn an. Er schien meinen Blick zu spüren, denn im selben Moment sah er in meine Richtung. Er grinste vergnügt, beugte sich zu dem Mädchen neben ihm und flüsterte ihr etwas ins Ohr, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sie rückte näher an ihn ran, lehnte sich an ihn und kicherte.

„Wenn du weiter so starrst, wird jeder noch denken, du wärst verknallt.“, raunte mir Taki ins Ohr. Überrascht zuckte ich zusammen und sah ihn entgeistert an.

„Verknallt? Niemals!“, gab ich vehement von mir. In der nächsten Sekunde sah ich panisch zu der Gruppe meines Feindes und seufzte erleichtert auf, als ich merkte, dass sie mich nicht gehört hatten. Mein bester Freund verkniff sich mühsam das Kichern.

„Und? Wen hast du beim Wichteln gezogen?“, lenkte er ab.

„Als ob ich dir das jetzt noch verraten würde!“, entgegnete ich eingeschnappt.

 

Taro sprang an mir hoch und verteilte seine Sabber auf meinen Lieblingspulli. Der gehörte jetzt wohl ebenfalls in die Wäsche. Dennoch konnte ich der kurzbeinigen Bulldogge nicht böse sein. Ich mochte diese Flohschleuder. Keine Ahnung, wem die Töle ursprünglich gehörte. Vielleicht hatte er keinen Besitzer gehabt. Irgendein ehemaliger Student hatte aber durchgesetzt, dass der Hund bleiben konnte. Er war nicht gerade pflegeleicht, aber trotz seiner Art doch ziemlich beliebt.

Ich ging in die Hocke und kraulte Taro hinterm Ohr. Er wedelte freudig mit dem Schwanz und genoss es. Irgendwann legte er sich auf den Bauch und ich kam seiner unartikulierten Aufforderung nach.

„Manche scheinen echt viel Freizeit zu haben. Aber Lernen wäre bei dir ohnehin Zeitverschwendung.“, erklang die dunkle Stimme, die ich am allerwenigsten auf der Welt ausstehen konnte. Ich knurrte leise, was ebenso gut auch von Taro hätte kommen können. Nur dass dieser ganz entspannt dalag und einen zufriedenen Laut von sich gab, als Minoru neben mir in die Hocke ging und ihn ebenso am Bauch kraulte.

„Wenn ich so blöd wäre, könnte ich nicht mal studieren.“, entgegnete ich und ärgerte mich mehr darüber, keinen schlagkräftigen Konter parat zu haben, als über seine Stichelei.

„Wo warst du überhaupt? Ich warte schon ewigst auf dich!“, wechselte ich das Thema. Wir hatten uns vor etwa einer halben Stunde verabredet, um unsere Aufgabe zu erledigen. Natürlich war der feine Herr nicht pünktlich erschienen. Er musste ja nicht. Warum sollte er auch? Wer beliebt war, konnte sich ja alles erlauben.

„Du hättest ja schon anfangen können. Dann wären wir schneller fertig.“, meinte er, ohne ein Wort der Erklärung oder gar Entschuldigung. Nur mit Mühe unterdrückte ich das erneute Knurren, das mir in der Kehle steckte. Dieser Kerl brachte mich zur Weißglut.

„Und die ganze Arbeit alleine erledigen? Nein, danke!“, entgegnete ich und richtete mich auf.

„Los! Ab an die Arbeit!“, forderte ich ihn auf und deutete auf die Tür zum Keller. Minoru erhob sich und hatte die Ruhe weg.

„Hast du etwa Angst im Dunkeln, Kleiner?“, neckte er mich und legte mir die Hand auf den Kopf, um mir durchs Haar zu wuscheln. Ich schlug seine Hand weg. Ich hatte schon immer Minderwertigkeitskomplexe wegen meiner Größe gehabt. Und er hatte sich immer schon einen Spaß daraus gemacht.

„Ich bin kein Feigling. Bist nicht eher du derjenige, der sich fast in die Hose macht?“, erwiderte ich und schob mich an ihm vorbei, um durch die Tür zu schlüpfen. Ich stieg die Treppen hinab in den Keller und tastete nach dem Lichtschalter. Als ich ihn fand, flimmerte eine kleine Glühbirne auf. Sie spendete nur dürftig Licht, aber es reichte aus.

„Die Deko-Sachen sind da hinten, soweit ich weiß.“, gab Minoru von sich, drängte sich diesmal an mir vorbei und ich hatte keine andere Wahl mehr, als ihm durch den staubigen Keller zu folgen. Wir fanden schnell die Kisten mit den angesammelten Deko-Sachen, suchten die Weihnachtsmotive heraus und schleppten die entsprechenden Kartons dann nach oben.

Im Gemeinschaftsraum stellten wir alles ab. Das Wohnheim war fast leer, weshalb wir ungestört arbeiten konnten. Ich machte mich an einer Kiste zu schaffen, öffnete sie und begutachtete den Inhalt. Christbaumkugeln, Girlanden, Weihnachtssterne. Alles, was das Deko-Herz begehrte.

„Oh Mann, das ist viel zu viel. Wir müssen uns für eine oder zwei Farben entscheiden.“, gab Minoru von sich.

„Ich will aber alle Farben nehmen. Ist viel schöner, wenn’s bunt ist.“, entgegnete ich. Rein aus Prinzip musste ich ihm doch widersprechen.

„Wie so ein Kleinkind.“, gab Minoru von sich.

„Besser ein Kleinkind als ein großer Spießer, der jedem den Mister Perfect vorspielt.“, konterte ich. Ich würde gerne glauben, mein Kommentar hätte meinen Feind die Sprache verschlagen. Aber ich wusste ziemlich sicher, dass er es einfach ignoriert hatte. Wenn wir nur zu zweit waren, schien er nämlich öfter mal das Interesse an unserem Streit zu verlieren.

„Ich kümmere mich um den Baum. Mach du den Rest!“, verteilte er ungefragt die Aufgaben. Ich wollte erst protestieren, aber dann erinnerte ich mich an Takis Worte und atmete tief durch.

„Von mir aus.“, gab ich genervt von mir.

 

Die nächsten Stunden verbrachten wir mehr oder weniger schweigend damit, den Raum mit den bunt zusammengewürfelten Möbeln in ein kleines Winterwunderland zu verwandeln. Ab und zu gaben wir bissige Kommentare ab, ansonsten waren wir aber ungewöhnlich friedlich. Taro streunte um unsere Beine herum, hob eine Christbaumkugel mit seinem Maul auf und sabberte alles voll. Mehr als einmal waren sowohl Minoru als auch ich zu dem Köter geeilt und hatten ihm mit vereinten Kräften die Kugel wieder abgenommen, bevor er sie zerbeißen und die Scherben verschlucken konnte. Taro war nicht mehr der Jüngste, auch wenn er für sein Alter noch viel zu lebhaft war. Aber er musste doch aufpassen.

In den Momenten, wo wir erleichtert ausatmeten, weil Taro nicht in unserer Anwesenheit draufgehen würde, vergaß ich für einen kurzen Augenblick sogar unsere Feindschaft. Aber die Erinnerung kehrte jedes Mal schnell wieder zurück und trieb mich wieder an die Arbeit.

Ich wollte so schnell wie möglich fertig werden.

Nach etwas mehr als 4 Stunden standen wir Seite an Seite im Türrahmen und betrachteten unser Werk. Der Baum war in Gold und Weiß gehalten, während ich im restlichen Zimmer alles an Deko verwendet hatte, was ich gefunden hatte. Es wirkte sehr chaotisch. Minoru gab einen abfälligen Laut von sich.

„Warum habe ich von einem Kleinkind auch nur für eine Sekunde etwas anderes erwartet?“, murmelte er wie in einem Selbstgespräch. Doch ich wusste, dass er die Absicht gehabt hatte, es mich sehr wohl hören zu lassen. Ich knurrte, doch bevor ich einen Kommentar abgeben konnte, musste ich nach vorne eilen, um Taro davon abzuhalten, nach einer Girlande zu schnappen, dessen Ende fast zum Boden hing.

„Dich lassen wir lieber nicht allein hier.“, meinte ich und zog ihn am Halsband hinaus.

„Bis auf den Baum kann unser Taro hier sowieso nichts mehr ruinieren.“, stichelte Minoru. Ich verhielt mich so erwachsen wie möglich und tat so, als wäre mein Erzfeind nur Luft. Wir hatten unsere Arbeit erledigt, also musste ich nicht länger mit ihm auskommen.

 

Die Tage bis Weihnachten wurden immer weniger. Die Feier unseres Wohnheims fand am 23. statt. Am nächsten Tag würden die meisten nachhause fahren, um bei ihren Familien zu sein.

Am Morgen hätte ich eigentlich ausschlafen können. Es gab keine Vorlesungen mehr und ich hatte keinen Grund früh aus dem Bett zu steigen.

Doch irgendwer schien mir die Ruhe nicht zu vergönnen. Stimmen drangen durch meine Zimmertür. Ich wollte es erst ignorieren, aber dann wurde die Neugier größer. Ich quälte mich aus meinem wohlig warmen Bett, schlüpfte in die Pantoffeln, die mir meine Großmutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und verließ mein Zimmer. Ein paar meiner Mitbewohner waren wohl ebenfalls neugierig geworden und hatten sich aus ihren Zimmern getraut. Ich ging die Treppe nach unten. Im Eingangsbereich hatte sich eine Traube versammelt, die alle in den Gemeinschaftsraum lugten. Ich zwängte mich hindurch und stand in den Raum, den ich mit meinem größten Feind geschmückt hatte.

„Scheinbar hat gestern jemand die Hintertür nicht richtig abgeschlossen. Diese Katze, die hier seit ein paar Monaten durch die Gegend streunt, hat sich eingeschlichen und Taro musste natürlich sein Revier verteidigen.“, erklärte jemand den vermutlichen Grund für den Anblick, der sich uns bot.

Der Christbaum war umgefallen, Scherben von den Kugeln lagen überall im Raum verstreut, die Girlande hing halb in den Kamin, der glücklicherweise schon lange nicht mehr benutzt worden war. Chaos war ein noch viel zu harmloses Wort dafür. Inmitten der Unordnung saß Taro, um dessen Hals eine rote Girlande geschlungen war.

„Schöne Bescherung!“, erklang neben mir eine bekannte Stimme und sprach damit das aus, das ich mir im selben Augenblick gedacht hatte. Ich blickte neben mich und musterte Minorus Gesicht. Er wirkte unzufrieden, aber nicht sonderlich sauer. Er wandte den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Ich konnte seinen Ausdruck nicht interpretieren, aber ihm schien ebenso klar zu werden, dass wir beide noch eine Menge Arbeit vor uns hatten.

„Was machen wir jetzt?“, fragte jemand.

„Hilft nichts. Ein paar räumen auf, andere besorgen neuen Weihnachtsschmuck. Die meisten Kugeln können wir vergessen.“, antwortete einer der Älteren. Nachdem das gesagt wurde, begannen die ersten bereits mit Ausreden. Viele hatten keine Zeit und die Gruppe wurde schnell kleiner.

„Okay, dann werden wir hier für Ordnung sorgen und retten, was zu retten ist. Ihr beide besorgt neuen Schmuck und macht dann fertig.“, bestimmte Soma und deutete dabei auf Minoru und mich. Ich wollte dieser Aufteilung widersprechen, aber Minoru legte schnell den Arm um mich.

„Geht klar. Immerhin sind wir ja eigentlich dafür zuständig.“, stimmte er zu und schob mich hinaus und Richtung Treppe.

„Zieh dich an! Wir treffen uns in etwa 20 Minuten am Eingang. Lass mich nicht warten!“, wies er mich an. Ich wollte Widerworte geben, aber mir fiel nichts ein.

„Gar keine Widerrede?“, erkundigte sich Minoru, während ich die ersten Stufen hochstieg.

„Ohne Kaffee kann ich nicht denken.“, erklärte ich.

 

Ich griff nach einer Kugel in Schneemannform und tat so, als würde ich sie inspizieren, während ich in Wirklichkeit Minoru verstohlene Blicke zuwarf. Als ich zum Eingang gekommen war, hatte er mich mit einem To-Go-Becher Kaffee aus dem Uni-Café erwartet. Und auch bei der Fahrt in die Innenstadt mit der Straßenbahn hatte er sich fast zuvorkommend verhalten und mich mit seinem Körper als Schutzschild davor bewahrt, von der Menge zerquetscht zu werden. Ich konnte mit dieser Nettigkeit gar nicht umgehen. Eine neue Masche, um mich zu ärgern?

Seinem Mundwerk entkamen immer noch ein paar bissige Kommentare, die mich fast zur Weißglut brachten, aber sein Verhalten bestand aus netten Gesten, die mich ziemlich verwirrten.

„Es gibt nicht mehr genügend Kugeln von nur einer Farbe. Wir müssen wohl etwas mischen.“, meinte er nachdenklich und sah mich an, als ob er meine Meinung wissen wollte. Ich war etwas überrumpelt und nickte einfach nur. Damit schien er aber nicht zufrieden.

„Welche nehmen wir? Wir könnten von diesen hier so fünf, sechs Packungen nehmen. Da sind ein paar mit besonderer Verzierung dabei.“, schlug er vor. Im ersten Moment hätte ich einfach zugestimmt, doch dann meldete sich meine innere Stimme zu Wort, die ihm aus Prinzip widersprechen wollte. Ich sah mich um und griff dann nach einer Großpackung billiger Plastikkugeln.

„Nehmen wir lieber solche. Die sind so günstig, dass wir von den besonderen Kugeln noch was mitnehmen können. Und Taro wird die sowieso wieder kaputtmachen.“, erwiderte ich. Einen Moment lang wirkte er skeptisch und schien sich seine nächsten Worte zu überlegen, damit wir seinen Vorschlag annehmen würden.

Doch dann stellte er seine Packung wieder zurück.

„Du hast recht. Wäre nur wieder schade drum und die Plastikdinger halten etwas mehr aus als die aus Glas.“, stimmte er zu. Ich war so überrumpelt davon, dass ich kaum etwas erwidern konnte. Wir wählten drei Packungen, mit denen wir so ziemlich alle Farben hatten, und suchten dann noch ein paar speziellere Kugeln aus. Neben klassischen Motiven wie Weihnachtsmann, Rentier und Co. überredete ich ihn auch zu ausgefalleneren Sachen wie einer Gummiente mit Weihnachtsmütze. Irgendwie machte es Spaß mit Minoru. Er war doch nicht so übel. Und ich konnte zumindest ein bisschen nachvollziehen, warum er allgemein so beliebt war.

Am Weg nachhause gab er mir sogar noch süßes Gebäck aus. Mit anderer Begleitung hätte sich das hier vermutlich wie ein Date angefühlt. Besonders, als wir noch durch die Gegend bummelten. Aber das war immer noch Minoru, mein Erzfeind seit frühester Kindheit.

 

Zuhause angekommen griff Taki gerade den letzten Eimer mit Scherben. Er nickte mir zu und wirkte ziemlich erschöpft.

„Ihr kommt gerade recht. Wir haben klar Schiff gemacht. Soma hat den Baum wieder aufgestellt und die abgeknickten Äste entfernt. Wir haben gerettet, was zu retten war, aber das Meiste ist in den Müll gewandert.“, brachte mein bester Freund uns auf den neuesten Stand.

„Gut, dann machen wir den Rest.“, meinte Minoru und ging an uns vorbei. Taki sah ihm etwas verwirrt nach und musterte dann mich.

„Was hast du mit dem angestellt?“, wollte er wissen. Ich zuckte mit den Schultern.

„Der ist schon seit heute Morgen so komisch. War sogar nett zu mir. Ob er krank ist?“, erwiderte ich.

„Hm, krank? So könnte man es vermutlich auch sagen.“, murmelte Taki. Verwirrt sah ich ihn an, aber er schien mir keine Antwort geben zu wollen.

„Ich bin in der Küche und helfe bei den Vorbereitungen fürs Essen.“, meinte er und verließ den Raum.

„Willst du den ganzen Tag rumstehen? Ich will heute noch fertigwerden.“, riss mich Minoru aus meinen Gedanken.

Wir machten uns wieder an die Arbeit. Es war etwas entspannter als beim ersten Mal, aber es gab doch noch einige Sticheleien und Provokationen. Nur diesmal fragte mich Minoru mehr als einmal nach meiner Meinung. Im Gegenzug tat ich dasselbe, auch wenn ich mir komisch dabei vorkam.

„Fertig?“, fragte ich und sah mich um.

„Fast.“, antwortete Minoru und hielt mir eine Schachtel hin. Ich holte ein paar Strümpfe hervor.

„Häng die an den Kamin!“, wies er mich an. Ich gehorchte und schmückte den Kamin damit, der ohnehin nie genutzt wurde. Als ich fertig war, machte ich ein paar Schritte zurück, um den gesamten Raum zu betrachten.

„Sieht besser aus als vorher.“, meinte ich nicht ohne ein bisschen Stolz.

„Stimmt. Taros Katzenjagd hatte wohl auch sein Gutes.“, stimmte mir Minoru zu und beugte sich runter, sodass wir auf Augenhöhe waren. Ich zuckte überrascht zusammen, weil ich mit dieser plötzlichen Nähe nicht gerechnet hatte.

„Du stehst unter dem Mistelzweig.“, raunte er mir zu. Ich linste nach oben und sah tatsächlich etwas Grünes hängen, doch ich kapierte nicht, was das sollte. Bevor ich verstand, spürte ich etwas Warmes an meinen Lippen. Ich war wie erstarrt, weshalb ich mich nicht gegen Minorus Kuss wehren konnte. Mein Herz raste und ich war fast enttäuscht, als er sich wieder von mir löste. Mein Gesicht glühte. Ich wollte protestieren, aber meiner Kehle entkam kein einziges Wort.

„Es bringt Unglück, wenn man es nicht macht. Außerdem bin ich bi.“, flüsterte er mir zu und ließ mich einfach stehen. Ich war wütend, verwirrt und… enttäuscht? Ich hasste Minoru, da war ich mir sicher. Aber gleichzeitig konnte ich nicht ganz abstreiten, dass ich ihn nicht auch körperlich attraktiv fand. Und was hielt er von mir? Er war ja heute so nett zu mir gewesen.

„Vertragt ihr beiden euch jetzt?“, riss mich Takis Stimme aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen und fühlte mich ertappt. Ich musterte meinen Freund. Hatte er den Kuss gesehen? Sein Gesicht verriet nichts.

„Er war einmal nett zu mir. Das heißt nicht, dass sich zwischen uns was ändert.“, erwiderte ich heftiger als beabsichtigt. Ich spürte, wie mein Gesicht immer noch glühte. Und Takis hochgezogenen Augenbrauen verrieten, dass er skeptisch war. Vermutlich wusste er einfach, was ich noch monatelang abstreiten würde.

 

Die Party begann pünktlich und die meisten Bewohner aus dem Wohnheim waren bereits hier. Sie unterhielten sich prächtig. Der Gemeinschaftsraum war groß und reichte locker für die Bewohner. Aber da noch einige von außerhalb da waren, zum größten Teil Kommilitonen, die hier Freunde hatten und keine andere Feier kannten, bei der sie mitmischen konnten, war es doch ziemlich eng. Ich versuchte mich zu entspannen und das Fest zu genießen. Die meiste Zeit hielt ich mich am Büffet auf, probierte mich durch die Häppchen und verschlang die leckeren Kekse, von denen ich nie genug haben würde. Immer wieder blickte ich mich um. Vor allem, wenn Taki oder ein anderer Freund gerade nicht da war, weil sie etwas holen wollten, kurz frische Luft brauchten oder auf der etwas zu kleinen Tanzfläche mit ihrem Partner tanzten. In den Momenten, in denen ich alleine war, wanderte mein Blick und suchte ganz automatisch nach Minoru. Jedes Mal fand ich ihn bei Freunden oder einem Mädchen, das ich für seine Freundin gehalten hatte. Was sie für ihn war, wusste ich immer noch nicht. Aber so sehr ich Minoru auch hasste, war ich mir doch sicher, dass er niemals zweigleisig fahren würde. Auch, wenn das zwischen uns nur ein Kuss unter dem Mistelzweig gewesen war, von dem ich mich seither ferngehalten hatte.

Noch immer bildete ich mir ein, ich könnte seine Lippen auf meinen spüren. Den ganzen Tag war mir dieser Kuss nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Dabei war er nicht mal so besonders gewesen. Unbewusst hatte ich meine Finger an meine Unterlippe gelegt. Im selben Moment traf mich Minorus Blick. Hastig drehte ich mich um und schenkte meine Aufmerksamkeit wieder dem Büffet. Mein Herz raste schon wieder und meine Gedanken kreisten. Zum Glück kehrte gerade Taki zurück und lenkte mich von diesem seltsamen Chaos, das in mir herrschte, etwas ab.

 

Als das Geräusch einer Gabel, die an ein Glas geschlagen wurde, die Gespräche im Raum verstummen ließ, richteten wir unsere Aufmerksamkeit in Richtung Weihnachtsbaum vor dem Soma stand. Er begann eine kleine Rede, in der er sich vor allem bei denen bedankte, die so tatkräftig geholfen hatte, wobei er Taros kleines Missgeschick nicht unerwähnt ließ. Dann informierte er alle über die Spiele, die die anderen vorbereitet und aus Platzgründen in andere Räume verlegt hatten. Anschließend verkündete er, dass das Wichteln gleich starten sollte. Wir sollten die Geschenke selbst verteilen, da es zu viele waren, um sie einzeln zu vergeben und die Namen der geheimen Weihnachtsmänner zu lüften. Er beendete seine Rede mit einem „Frohe Weihnachten!“, schnappte sich ein Päckchen, das unter dem Weihnachtsbaum lag und reichte es an einen Studenten, um so das Startsignal zu geben. Die ersten folgten seinem Beispiel, holten ihre Geschenke und reichten sie an denjenigen weiter, dessen Namen sie gezogen hatten. Ich bahnte mir ebenfalls einen Weg hindurch, schnappte meines und suchte dann Ame, deren Name auf meinem Zettel gestanden hatte. Als ich sie fand, überreichte ich es mit einem Gruß, schob aber gleich hinterher, dass es nichts Besonderes wäre. Sie öffnete und fand darin einen Schal. Ich kannte sie nur flüchtig, wusste aber, dass sie sowas sehr gerne hatte. Sie bedankte sich und schien sich wirklich zu freuen. Ich war froh, sie nicht enttäuscht zu haben und trat den Rückzug an. Ich stellte mich in eine Ecke, um niemandem im Weg zu stehen. Taki befand sich am anderen Ende des Raumes und überreichte sein Packet einem Freund, den er schon länger kannte als mich. Was er verschenkte, konnte ich nicht sehen, aber sein Gegenüber schien sich richtig darüber zu freuen, denn er bedankte sich überschwänglich. Ich beobachtete unsere Mitbewohner wie sie Geschenke vergaben und empfingen, wie sich ehrlich freuten, während andere versuchten ihre Enttäuschung zu verbergen. Manche täuschten Begeisterung vor, andere witzelten über die teils ulkigen Geschenke. Ich sah kreative und weniger kreative Dinge, die herumgereicht wurden. Ich war so abgelenkt, dass ich Minoru erst bemerkte, als er fast vor mir stand. Er hielt ein kleines Päckchen mit Schleife hoch, um zu verdeutlichen, dass er mich gezogen hatte. Er grinste verschmitzt und ich wusste nicht, was für ein Gesicht ich machen sollte. Ich nahm das kleine Geschenk entgegen, doch er ließ nicht sofort los. Stattdessen beugte er sich vor und hielt seine Lippen dicht an mein Ohr.

„Das richtige Geschenk gibt’s, wenn du heute Nacht in mein Zimmer kommst.“, flüsterte er kaum hörbar. Dann richtete er sich wieder auf, zwinkerte mir zu und wandte sich ab.

Verdattert sah ich ihm nach. Ich öffnete das Geschenk und inmitten von Unmengen an Watte befand sich eine kleine Plastikschaufel, mit denen Kinder im Sandkasten spielten.

Ich hatte keine Ahnung, was ich von diesem Geschenk halten sollte.

„Hat er dir eine geheime Botschaft geschickt?“, fragte Taki, der das Ganze wohl mitbekommen hatte und wieder hergekommen war. Ich zuckte mit den Schultern. Wenn das eine Nachricht war, verstand ich sie nicht.

„Vielleicht will er das Kriegsbeil begraben?“, schlug mein Freund vor.

„Der? Bestimmt nicht!“, gab ich überzeugt von mir und sah in Richtung Minoru.

„Aber… vielleicht werde ich ihn nächstes Jahr ja ein bisschen weniger hassen.“, fügte ich murmelnd hinzu. Denn ich wusste genau, was mich heute Nacht in seinem Zimmer erwarten würde. Und ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich eine mögliche Falle ignorieren und diese seltsamen Gefühle, die Minoru in mir auslöste, genauer erkunden würde.

„Wird langsam auch Zeit. Noch offensichtlicher geht’s ja wohl nicht.“, kommentierte mein bester Freund und ich war mir bewusst, dass Widerworte zwecklos waren. Dennoch würde ich das ganz bestimmt nicht zugeben.

 

Zumindest noch nicht.

 

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Tag der Veröffentlichung: 08.12.2019

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