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Prolog

„Lass uns zurückgehen! Es ist spät.“

„Nein, noch nicht. Guck mal! Da geht’s noch weiter.“

„Sollen wir nicht lieber morgen nochmal kommen? Es ist schon so dunkel. Und die schwarzen Wolken sehen so aus, als gäbe es bald ein Gewitter.“

„Aber morgen finden wir die Stelle bestimmt nicht mehr.“

„Aber Mama wird sonst wieder böse werden. Sie will nicht, dass du in Gefahr gerätst.“

„Sei kein Feigling! Ich gewinne ja doch.“

Sie grinste breit und kroch in die Höhle, durchs Gebüsch. Ihr Wille war stark. Doch sie war zu jung, um die Gefahr wirklich abschätzen zu können. Der Donner grollte bereits von weitem. Die Kinder führten ihr Abenteuer jedoch fort. Sie waren schon so weit gekommen. Da schlug in ihrer Nähe ein Blitz ein. Der Donner war so laut, als wäre gerade ein Gebäude neben ihnen eingestürzt.

„Es beginnt zu regnen.“, hörte sie hinter sich. Der Regeln prasselte auf das Blätterdach, doch bald goss es aus Strömen. Sie war auf allen Vieren, halb in einer Höhle, die sie mit schwarzer Dunkelheit begrüßte. Unter ihren Händen flossen kleine Rinnsale, die schnell zu einem kleinen Bach verschmolzen. Der Schlamm unter ihr wurde rutschig. Doch es war nicht sie, die sich dessen bewusst wurde. Hinter ihr erklang ein Schrei. Sie spürte einen Stoß und beide Kinder rutschten in die Höhle. Sie wurden von der Dunkelheit verschlungen.

Kapitel 1 – Neuanfang

Ich riss erschrocken die Augen auf und schnappte nach Luft. Erschrocken starrte ich die Decke an. Es war nur ein Traum. Ich war nicht in Gefahr. Nur ein Traum. Ein schrecklicher Traum. Mein Atem normalisierte sich allmählich und mein Herzschlag beruhigte sich. Ich setzte mich auf und sah mich um. Ich war in meinem Zimmer, lag auf meinem Futon. Alles war beim Alten. Keine schwarzen Löcher, die mich verschlangen. Erleichtert seufzte ich auf. Da fiel mein Blick auf den Wecker. Ich zuckte sofort wieder erschrocken zusammen. Schon so spät. Schnell sprang ich auf und eilte ins Bad. Ich machte mich fertig und ging in mein Zimmer zurück. Ich ging zu meinem Kleiderschrank. Nur in Unterwäsche stand ich davor und musterte meine Schuluniform in Matrosenlook. Ich war aufgeregt. Heute würde mein neues Leben beginnen. Mit zittrigen Fingern nahm ich die Kleider vom Bügel und schlüpfte hinein. Ich setzte mich vor meinem Spiegel und band mir das rote Halsband um. Sobald es richtig saß, griff ich nach der Haarbürste. Ich kämmte mein langes, seidiges, kastanienbraunes Haar durch und beobachtete währenddessen mein Spiegelbild. Ich sah mir in die bernsteinfarbenen Augen. Ein Teil von mir war nervös, ein anderer war aufgeregt. Ich atmete tief durch und legte die Bürste wieder weg. Dann stand ich auf. Ich griff nach meiner Tasche und verließ mein Zimmer. Der Flur lag still. Ich ging in die Küche. Die Stille war friedlich. Ich ging an den Kühlschrank, holte ein paar Lebensmittel und begann damit, das Frühstück zu kochen. Die Uhr behielt ich stets im Auge. Ich durfte mich nicht verspäten. Mein Frühstück war fertig. Ich setzte mich an den Tisch, klatschte die Hände zusammen und dankte leise für das Essen. Allein füllte ich meinen Magen, um mich für den Tag zu stärken. Mein Teller war bald leer und ich stand wieder auf. Das Geschirr tat ich in die Spüle. Ich wusch alles ab und stellte es zum Trocknen dagegen. Dann nahm ich das Tablett, füllte das restliche aus der Pfanne auf einen Teller, dekorierte alles schön und verließ damit die Küche wieder. Mit den Tablett in den Händen ging ich den leeren Flur entlang.

„Sora? Sora, Liebes, bist du das?“, drang durch einen der Räume eine gedämpfte Stimme heraus. Ich öffnete die Tür und lächelte leicht.

„Ja, Mutter, ich bin es. Ich bringe dir Frühstück.“, antwortete ich und betrat den Raum. Das Schlafzimmer meiner Mutter war abgedunkelt. Nur die Nachttischlampe neben dem Bett spendete gedämpftes Licht. Ich fühlte mich sofort unbehaglich. Ich mochte die Dunkelheit nicht. Im Bett saß meine Mutter. Sie wirkte älter als sie war, vom Leben gezeichnet. Das schwache Licht war daran schuld. Sie hatte nicht viele Falten, aber ihre Augen wirkten stumpf und ihr Haar war glanzlos. Es war, als hätte sie bereits vor langer Zeit den Lebenswillen verloren. Ich ging zum Bett, den Blick etwas gesenkt und stellte das Tablett auf ihrem Schoß ab.

„Ich hoffe, dir schmeckt es. Ich hab mir sehr viel Mühe gegeben.“, meinte ich vorsichtig.

„Oh, du bist so ein Schatz! Mein kleiner Engel!“, erwiderte sie freudig und streckte mir die Hand entgegen. Reflexartig wich ich zurück. Sie starrte mich entgeistert an. Ich zupfte mir eine Strähne zurecht und räusperte mich, um den Kloß im Hals zu vertreiben.

„Ich will heute einen guten Eindruck hinterlassen.“, erklärte ich. Sie ließ die Hand langsam wieder sinken.

„Eindruck? Wieso?“, murmelte sie kaum hörbar. Ich setzte ein breites Lächeln auf.

„Aber, Mama, hast du das schon vergessen? Ich gehe ab heute doch in die Schule.“, antwortete ich in dem fröhlichsten Tonfall, den ich zustande brachte. Auf ihren Lippen erschien wieder ein Lächeln.

„Oh, ach ja. Du hast ja auch schon deine Schuluniform an. Ich hab wohl noch geschlafen. Wie konnte ich das nur übersehen? Hi hi hi…“, kicherte sie leise.

„Nicht so schlimm. Du solltest jetzt essen. Ich bin in der Schule, aber wenn du was brauchst, kannst du mich oder Dr. Yokina anrufen.“, redete ich beruhigend auf sie ein. Sie beruhigte sich, behielt aber dieses leichte Lächeln bei. Sie griff nach ihren Essstäbchen. Ihre Hand zitterte. Ich zog mich allmählich zurück. Leise verabschiedete ich mich. Sie war mit ihrem Frühstück beschäftigt, hatte mich vermutlich schon längst vergessen.

 

Ich war tatsächlich hier! Ich stand vorne in meiner neuen Klasse und nestelte nervös an meinem Rock herum. Noch immer kämpften Aufregung und Nervosität in meinem Inneren um die Oberhand, doch inzwischen hatte die Nervosität sehr viel bessere Chancen. Ich zupfte an meinem Haar herum. Ob jemand etwas merkte? Hoffentlich nicht! Sie alle sahen mich so neugierig an. Ihre Blicke schienen mich förmlich zu durchbohren. Ich wollte das nicht. Ich wollte wieder nachhause und mich verstecken. Sie würden mich doch schnell durchschauen. Dann würde sowieso niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollen. Vielleicht war es doch noch zu früh für die Schule. Mama kam bestimmt in dem großen Haus nicht allein zurecht. Ihr ging es noch nicht so gut.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf der Schulter und zuckte überrascht zusammen. Gleichzeitig wandte ich den Blick um. Es war der Lehrer gewesen. Er schien von meiner Reaktion zuerst überrascht, lächelte mich aber dann freundlich an.

„Du brauchst nicht nervös zu sein. Niemand hier wird dich beißen. Stell dich doch einfach mal deinen neuen Mitschülern vor.“, sprach er beruhigend mit leiser Stimme auf mich ein. Ich atmete tief durch und nickte etwas. Sobald ich mich dazu bereit fühlte, wandte ich mich der Klasse zu.

„I-i-ich bin Sora. Äh, ich bin 16 und ich lebe mit meiner Mutter im Taiyo-Anwesen.“, gab ich, hoffentlich laut genug, von mir.

„Gut, dann setz dich doch auf den freien Platz. Versuch dem Unterricht fürs Erste zu folgen, so gut es geht. Nach der Stunde sprechen wir noch, damit du das Verpasste nachholen kannst.“, sprach der Lehrer und schob mich sanft in Richtung Tische. Ich steuerte den freien Platz in den hinteren Reihen an und setzte mich. Als ich mich umsah, wandten manche ihre Blicke wieder von mir ab, als hätten sie Angst Blickkontakt mit mir könnte sie zu Stein verwandeln. Andere hingegen lächelten mich freundlich an. Ich lächelte unsicher zurück, senkte aber schnell den Blick wieder.

 

Die ersten Tage verliefen ruhig und ich lebte mich schneller ein als erwartet. Die anderen waren wirklich nett zu mir. Es gab auch einige, die sich von mir fernhielten, aber niemand schien mir etwas Böses zu wollen. Ich fühlte mich dennoch nicht sonderlich wohl. Bald schon entdeckte ich im Hof die Garten-AG. Es war ein friedlicher Ort. Ich war gerne hier. So ruhig. Ich verbrachte die meiste Zeit meiner Pausen dort. Da konnte ich entspannen. Meistens war ich alleine, aber an diesem Tag sollte ich noch Gesellschaft bekommen. Ich zeichnete in meinem Notizbuch herum und ließ meine Gedanken wandern. Erst spät bemerkte ich, dass ich Gesellschaft bekommen hatte. Ich blickte auf, doch ich sah erst nur einen Schatten. Die Sonne stand genau hinter ihm und warf sein Gesicht in Dunkelheit. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, doch dann erkannte ich das freundliche Lächeln.

„Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?“, erklang eine sanfte, ruhige Stimme, die den Takt meines Herzens leicht erhöhte. Ich schüttelte leicht den Kopf, aber dann wurde mir klar, dass das eine missverständliche Geste auf seine Frage war.

„Setz dich ruhig.“, gab ich kleinlaut von mir. Er ließ sich neben mir auf die Bank nieder. Erst jetzt konnte ich sein Gesicht erkennen. Er hatte weißes Haar, das zu den Spitzen hin dunkler und schließlich schwarz wurde. Seine Augen hatten einen goldgelb-smaragdgrünen Strudel. Er wirkte nicht wie von dieser Welt. Ich erkannte ihn. Er ging ebenso in meine Klasse. Er saß in der letzten Reihe, gleich neben dem Fenster. Er war mir schnell aufgefallen, weil sein Aussehen doch sehr ungewöhnlich war. Wenn sich unsere Blicke getroffen hatten, hatte er freundlich gelächelt. Aber ich hatte ihm nicht oft in die Augen gesehen. Denn die meiste Zeit war sein Blick aus dem Fenster und in die Ferne gerichtet. Was er wohl immer sah?

„Du bist viel allein.“, brach er plötzlich das Schweigen. Ich zuckte zusammen. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich ihn angestarrt hatte. Ich senkte den Blick auf meine Zeichnung.

„Du lebst mit deiner Mutter im Taiyo-Anwesen? Seid ihr nur zu zweit in diesem riesigen Haus?“, fragte er. Seine Stimme war so sanft wie Samt. Sie tat in den Ohren gut.

„Ähm, ja, sind wir.“, antwortete ich zögernd. Sein Lächeln schwand, als wäre ihm gerade etwas klar geworden. Unwillkürlich erstarrte ich. Hatte er es gesehen? Hatte er gemerkt, was ich verbarg?

„Mir fällt gerade ein, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Manchmal kann ich echt vergesslich sein.“, seufzte er. Doch gleichzeitig lachte er über sich selbst. Er schenkte mir erneut ein sanftes Lächeln, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Ich konnte mir nur knapp einen Seufzer der Erleichterung verkneifen. Sonst hätte er mich nur für seltsam gehalten.

„Ich bin Kazuki.“, stellte er sich vor.

„F-Freut mich dich kennenzulernen.“, antwortete ich unsicher.

„Darf ich dich was fragen? Wenn du nicht antworten willst, musst du natürlich nicht.“ Ich nickte nur.

„Wo bist du vorher zur Schule gegangen?“, wollte er wissen. Ich senkte den Blick.

„Äh, eigentlich… gar nicht. Ich… hatte Privatunterricht.“, erklärte ich.

„Warum hat sich das geändert?“, hakte er nach. Ich verspannte mich und dachte nach. Was sollte ich antworten, damit er mich nicht missverstand? Es war nicht einfach zu erklären.

„Das hat verschiedene Gründe. Ich hatte eigentlich überhaupt nur Privatunterricht, weil meine Mutter krank war. Ich musste mich um sie kümmern. Sie kam ohne mich ja nicht klar. Inzwischen geht es ihr wieder ganz gut. Dr. Yokina hat auch gemeint, ich solle lieber wieder eine Schule besuchen. Damit ich soziale Kontakte knüpfen und später ein eigenes Leben führen kann.“, erzählte ich. Kazuki musterte mich, doch ich senkte lieber wieder den Blick. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, einem Fremden so etwas zu erzählen? Ich wusste nichts von ihm. Da spürte ich seine Hand, die sich auf meinen Kopf legte und sanft über mein Haar strich.

„Das klingt, als hättest du ein trauriges Leben geführt. Warst du oft einsam?“, fragte er sanft. In seiner Stimme schwang so viel Mitgefühl mit, wie es mir noch nie jemand entgegengebracht hatte. Abwehrend warf ich die Hände in die Luft und wich dabei etwas von ihm zurück.

„Nein, nein, so schlimm war es gar nicht. Ich hatte zwar viel zu tun, aber es ist ja nicht so, als ob unser Haus irgendwo weit draußen auf einem einsamen Feld umgeben von Einöde liegen würde. Es steht mitten in der Stadt. Wir haben einen großen Garten und in den Nachbarhäusern leben viele Gleichaltrige, mit denen ich spielen konnte. Ich war also nicht so allein.“, meinte ich und lächelte.

„Alleinsein und Einsamkeit ist nicht dasselbe.“, murmelte er, jedoch so leise, dass ich mir nicht ganz sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Besonders als er mich wieder anlächelte und sich entspannt zurücklehnte, zweifelte ich daran, dass er das wirklich gesagt hatte.

„Wie geht es dir bei uns?“, fragte Kazuki ungezwungen.

„Äh, ganz gut, glaub ich. Die anderen sind alle sehr nett zu mir. Ich hatte anfangs etwas Angst gehabt, aber das war wohl unbegründet.“, antwortete ich und entspannte mich wieder.

„Und beim Unterrichtsstoff?“, wollte er wissen.

„Ach, das ist kein großes Problem. Ich hatte früher ja doch viel Zeit zum Lernen. Wenn die anderen Kinder in der Schule waren und ich mit niemanden spielen konnte, hab ich meine Zeit ganz gerne damit genutzt. Ich komm im Allgemeinen eigentlich ganz gut mit.“, erklärte ich ihm. Hoffentlich klang ich nicht irgendwie mitleiderregend! Das wollte ich nämlich gar nicht. Mein Leben war zwar nicht immer einfach gewesen, aber es könnte schlimmer sein.

„Wenn du Probleme hast, musst du nur Bescheid geben. Es gibt genügend Leute in unserer Klasse, die dir Nachhilfe geben können. Ich muss das wissen, denn ich nehme das ganz gerne mal in Anspruch.“, erzählte er kichernd.

„Bist du so schlecht in der Schule?“, bohrte ich nach. Ich hatte ihn nicht für jemanden eingeschätzt, der sich durch die Prüfungen durchboxen müsste. Er lachte und amüsierte sich scheinbar über einen Witz, den ich nicht verstanden hatte. Irgendwie kam ich mir blöd vor.

„Ich bin nicht sonderlich schlecht. Nur etwas zerstreut. Es fällt mir schwer bei der Sache zu bleiben. Die meisten Lehrer gestalten ihren Unterricht nicht gerade abwechslungsreich und wenn es gerade ein Thema gibt, das mich eigentlich nicht so wirklich interessiert, dann schweife ich gedanklich schon mal ab. Die anderen kennen mich ganz gut und helfen mir gerne. Besonders vor Prüfungen lernen wir immer zusammen. Unser Klassenverband ist ziemlich stark.“, meinte er in einem Tonfall, der mich wieder besänftigte. Ich kannte in der Klasse noch niemanden so richtig. Ich wollte das ändern. Ich wollte endlich mal richtige Freunde haben.

 

 

Kapitel 2 – Schatten der Vergangenheit

 

Ich besuchte bereits seit zwei Wochen die Schule, als mich zuhause eine Überraschung erwartete. Ich trat durch die Tür ins Haus und hörte etwas Klappern. Die Geräusche waren ungewöhnlich, aber ich konnte mir bereits eine Erklärung dafür denken. Ich zog mir die Schuhe aus, stellte sie ordentlich hin und machte mich dann auf in Richtung Küche. Der Anblick überraschte mich jedoch, denn ich lag mit meiner Erklärung falsch.

„Mama? Du bist auf? Solltest du nicht noch im Bett liegen?“, fragte ich. Vor Verblüffung vergaß ich sogar eine ordentliche Begrüßung. Meine Mutter stand in der Küche am Herd und kochte. Genau wie früher. Ein leckerer Duft hing in der Luft und ließ mir glatt das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie hatte ein seliges Lächeln im Gesicht, während sie auf ihre Hände starrte, die geschickt das Gemüse schnitten, als wäre es nicht schon Jahre her, dass sie das getan hatte. Bei meiner Stimme hielt sie inne. Kurz huschte ein Schatten über ihr Gesicht. Ich hatte zu laut gesprochen. Sie wandte den Kopf in meine Richtung. Ich zuckte unwillkürlich zusammen und räusperte mich, als hätte ich einen kratzigen Hals. Das Lächeln kehrte zurück.

„Oh, Sora! Du bist schon zuhause? Dabei wollte ich dich doch mit dem Essen überraschen.“, meinte sie sanft. Ihre Stimme war liebevoll.

„Das ist schön. Was machst du denn?“, erwiderte ich leise. Sie wandte sich, munterer als zuvor, wieder dem Gemüseschneiden zu.

„Eintopf mit viel Gemüse. Wie du es magst. Mit viel Sellerie und ohne Karotten.“, antwortete sie. Zum Glück konnte sie nicht sehen, wie ich angewidert das Gesicht verzog. Als sie zu mir sah, lächelte ich schnell wieder.

„Ich freu mich schon drauf.“, meinte ich und schluckte schwer, sobald ich wieder unbeobachtet war.

„Wirklich schade. Du hast die Überraschung verdorben.“, seufzte meine Mutter und schmollte. Ich mochte es nicht, wenn sie so traurig war. Ich wollte, dass sie gut drauf war.

„Aber… ist doch nicht so schlimm. Ähm, wie wär’s, wenn ich mich schnell umziehe und wir dann gemeinsam kochen? Das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht. Oder?“, schlug ich vor. Meine Mutter strahlte mich sofort an. Wann hatte sie mich das letzte Mal so angesehen? Ihr Blick war nicht so trüb wie sonst. Er war klar. Sie sah aus wie jede andere Mutter sonst. Sie hatte nichts von ihrer alten Schönheit verloren. Mit diesem kleinen, koketten Lächeln könnte sie immer noch jeden Mann den Kopf verdrehen. Ich lächelte etwas und wandte mich dann um.

 

Das Essen mit meiner Mutter verlief relativ ruhig. Sie war wieder abwesend, in ihrer eigenen Welt. Es tat mir im Herzen weh, aber es hatte auch sein Gutes. Dann musste ich nicht ganz so aufpassen, dass sie nicht merkte, wie ich ihr Essen hinunterwürgte. Ich hasste Sellerie. Karotten wären mir lieber. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie sonst reagieren würde.

„Wie war die Schule?“, fragte meine Mutter plötzlich aus heiterem Himmel. Ich hielt inne und schluckte schnell den Bissen in meinem Mund hinunter.

„Ähm, ganz ok. Ich muss mich noch an den Unterricht und so gewöhnen, aber sie sind alle ganz nett zu mir.“, antwortete ich vage und linste zu ihr. Ihr Blick war immer noch etwas trüb, aber sie schien bei klarem Verstand. Zumindest klar genug, um mit mir ein richtiges Gespräch führen zu können.

„Hast du schon Freunde gefunden?“, wollte sie wissen. Ich senkte den Blick wieder auf meinen Teller.

„Ob wir schon Freunde sind, weiß ich nicht so recht, aber ich verstehe mich gut mit ihnen. Ich unterhalte mich gerne mit Kazuki. Er hat eine etwas andere Weltanschauung. Mit ihm zu diskutieren macht richtig Spaß.“, erzählte ich ihr.

„Oh, aber für einen Freund bist du doch noch viel zu jung.“, warf meine Mutter ein.

„Ich… bin 16, Mama. Außerdem bin ich nicht an Kazuki interessiert.“, erwiderte ich. Meine Mutter starrte ihr Essen an.

„Vielleicht jetzt noch nicht, aber wenn der Junge dir Avancen macht, kann es schon sein, dass er dich verwirrt. Du musst aufpassen. Nicht, dass noch was passiert.“ Ihre Predigt kam wie ein Schwall. Ich verstand kaum etwas, wagte es aber nicht, sie zu unterbrechen. Ich würde mich nicht in Kazuki verlieben. Und er würde sich auch nicht in mich verlieben. Das war für mich Fakt. Es war unmöglich. Und selbst wenn je Gefühle im Spiel wären, würden Kazuki und ich nie ein Liebespaar werden. Es sprach einfach zu viel dagegen. Ich merkte, dass meine Mutter verstummt war. Sie starrte vor sich hin. Was sie wohl in der Ferne sah? Ob sie an mich dachte? Oder an damals?

„Im Kunstunterricht mussten wir heute ein Porträt von unserem Partner malen. Mei hat mich gefragt und ich hab sie gezeichnet. Nächstes Mal müssen wir tauschen. Unser Lehrer meinte, ich könnte richtig gut zeichnen.“, erzählte ich, doch meine Mutter reagierte nicht. Ich redete einfach weiter, erzählte vom Unterricht, beschrieb ihr meine neuen Lehrer und einige meiner Mitschüler. Nach einer Weile lächelte sie sanft, doch ich konnte nicht sagen, ob meine Worte überhaupt bis zu ihr durchgedrungen waren. Ich seufzte lautlos und stand auf. Ich nahm die Teller, obwohl noch etwas Eintopf darin war, doch ich schüttete es einfach weg. Ich hasse Sellerie!

Ich spülte das Geschirr, während meine Mutter begonnen hatte, die Melodie eines Kinderliedes zu summen. Sie schien allmählich wieder die Realität wahrzunehmen.

„Dr. Yokina will morgen wieder zu Besuch kommen. Er wird sich freuen zu sehen, wie munter du wieder bist. Zur Feier des Tages könnte ich doch Kuchen mitbringen. Du weißt schon, aus der kleinen Bäckerei um die Ecke. Vielleicht haben sie ja wieder frischen Baumkuchen, den du so magst.“, schlug ich vor. Meine Mutter starrte in die Luft und lächelte verträumt.

„Baumkuchen… ja, das klingt gut.“, murmelte sie. Ich räumte das saubere Geschirr weg und wandte mich um. Ich legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte meine Lippen auf den Scheitel ihres karamellfarbenen Haares. Es roch süßlich, nach ihrem Lieblingsshampoo.

„Willst du dich auf die Terrasse setzen? Ich mach dir einen Tee, damit du schön entspannen kannst.“, schlug ich ihr vor. Sie nickte geistesabwesend und stand auf. Ich setzte Teewasser auf und bereitete alles vor, während ich ihr nachsah. Sie setzte sich auf die Terrasse in den alten Schaukelstuhl und starrte in den weiten Garten. Das Unkraut wucherte bereits, doch er hatte noch seine alte Schönheit. Wenn man den kleinen Dschungel so ansah, konnte man fast die Feen und Elfen sehen, die sich wohl dort versteckten. Ich lächelte sanft und dachte an früher, an die Zeit, als noch Kinder durch diesen Garten getobt waren und die verborgenen Geheimnisse erkundet hatten. Das Wasser kochte, ich goss den Tee auf und brachte ihn dann meiner Mutter.

„Pass auf! Er ist noch heiß.“, warnte ich sie, als sie mir die Tasse abnahm. Sie nickte und pustete wie ein kleines Kind.

„Setz dich! Lass uns reden! Ein richtiges Frauengespräch. Ja?“, fragte sie aufgeregt. Das Glitzern in ihren Augen war mir unheimlich. Es bedeutete, sie würde wieder auf jede einzelne Geste von mir achten, jedes meiner Worte auf die Goldwaage legen.

„Tut mir leid, aber ich muss noch Hausaufgaben machen. Du willst doch nicht, dass ich in der Schule Probleme habe, oder? Ich muss noch ein paar Dinge nachholen.“, erklärte ich ihr. Glücklicherweise konnte sie dem nicht widersprechen. Sie nickte und ich wandte mich um.

 

„Du bist heute so abwesend. Stimmt was nicht?“, fragte Kazuki mich, als es gerade zur Pause geklingelt hatte. Die erste Stunde war vorbei und ich war schon erschöpft.

„Nein, alles gut.“, wehrte ich ab. Wie konnte ich ihm auch meine Sorgen erklären, ohne ihm gleich meine gesamte Lebensgeschichte erzählen zu müssen?

„Dich bedrückt doch was.“, bohrte Kazuki weiter nach. Er sah mich aus seinen goldgrünen Augen an, die mein tiefstes Inneres ergründen zu können schienen. Unwillkürlich wandte ich mich etwas von ihm ab.

„Sora, hast du am Wochenende Zeit?“, fragte Itoe, ein etwas verrücktes Mädchen, das wohl regelmäßig ihre Haarfarbe wechselte. Diese Woche waren es verschiedene Rot- und Orangetöne, die mich an einen Sonnenuntergang erinnerten. Sie war meistens etwas aufgedreht, doch im Grunde ganz nett. Ich mochte sie, auch wenn es mir lieber wäre, sie würde ihre Neugier etwas zügeln.

„Ähm, ich denke schon, warum?“, antwortete ich, froh über die Ablenkung.

„Für einen kleinen, privaten Klassenausflug. Wir wollen in den Wald und dort übernachten. Das machen wir jedes Jahr um diese Zeit.“, antwortete sie. Ich dachte darüber nach, doch mir gefiel ihr Vorschlag einfach nicht. Ich konnte dem nichts abringen. Allerdings sah sie mich aus so flehenden Augen an, dass es mir unmöglich war ihre Einladung auszuschlagen.

„Ich… ich weiß nicht. Meiner Mutter geht es nicht so gut. Ich weiß nicht, ob ich eine ganze Nacht wegbleiben kann. Ich muss darüber nachdenken.“, meinte ich. Das war eine gute Ausrede. So würden sie nicht so enttäuscht sein, wenn ich ihnen absagte. Sie schienen nicht begeistert, aber sie waren auch nicht traurig. Itoe erklärte mir den Weg zum Treffpunkt und wir tauschten noch Nummern aus. Dann wandte sie sich ab und ging zu einer Mädchenclique. Ich spürte Kazukis Blick auf mir. Konnte er mir ansehen, dass ich nicht kommen würde? Oder bildete ich mir einfach zu viel ein?

„Ich würde mich freuen, wenn du auch kommen würdest.“, meinte er sanft. Mein Herz setzte unwillkürlich einen Takt aus und ich spürte, wie das Blut in meine Wangen schoss. Ich konnte nichts erwidern, doch mein Entschluss war ein bisschen ins Schwanken geraten. Kazuki stand auf und packte seine Sachen, da wir die Klasse wechseln mussten.

 

„Sie sind früh dran, Dr. Yokina.“, begrüßte ich den Mann an der Tür. Sein kurzes, gewelltes, brünettes Haar war wie immer etwas zerzaust, als wäre er gerade erst aufgestanden. Seine runde Brille saß etwas zu weit vorne auf der Nase. Überhaupt wirkte er immer etwas zerstreut, aber sein Verstand war messerscharf. Er war ein großer, schlanker Mann, der wusste, wie er mit seinem Umfeld umgehen musste. Er besaß eine Art, die man einfach mögen musste. Die Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Der man einfach vertrauen musste. Ich ließ den Doktor eintreten und führte ihn in die Küche.

„Wie geht es deiner Mutter?“, fragte er in einem vorsichtigen Tonfall. Ich setzte Wasser auf.

„Sehr gut. Gestern war sie auf den Beinen. Sie hat gekocht. Eintopf mit Sellerie und ohne Karotten.“, erzählte ich und starrte dabei den Wasserkocher an, als würde er ohne Beaufsichtigung Unfug machen. Dr. Yokina hatte sich inzwischen an den Tisch gesetzt. Ich konnte mir schon denken, wie er aussah. Ein Lächeln auf den Lippen, doch gleichzeitig ein allessehender Blick.

„Sellerie, aber keine Karotten. Wie Sora es mag.“, murmelte Dr. Yokina.

„Sie war den ganzen Nachmittag auf. Hat sogar bei der Wäsche geholfen.“, erzählte ich schnell weiter, als hätte ich ihn gar nicht gehört. Ich wandte mich um und entdeckte meine Mutter, die gerade durch die Tür trat.

„Oh, Herr Doktor, sie sind schon da? Ich konnte mich gar nicht mehr fertig machen.“, murmelte sie etwas abwesend und sah an sich herab. Sie trug noch ihren Morgenmantel und ihr Haar war ganz zerzaust. Dr. Yokina lächelte sie sanft an.

„Aber das ist doch kein Problem. Wir kennen uns schon so lange und ich finde, es gibt nicht viele Frauen, die selbst im Morgenmantel noch so eine gute Figur machen wie sie.“, erwiderte er charmant. Meine Mutter kicherte wie ein kleines Schulmädchen über das Kompliment. Unser Arzt gab immer wieder solche Komplimente von sich, aber er flirtete nicht mit meiner Mutter. Der Altersunterschied war zu groß und außerdem musste er sowieso dieses Arzt-Patienten-Verhältnis bewahren. Meine Mutter setzte sich an den Tisch und die beiden sprachen über belanglose Dinge. Das Wetter, die Gartenarbeit und die Politik. Ich kümmerte mich währenddessen um den Tee. Immer, wenn uns Dr. Yokina besuchte, redete er mit meiner Mutter zuerst über Gott und die Welt. So stellte er sicher, dass sie auch geistig bei ihm blieb. Ich hatte schon oft versucht, seine Methode nachzuahmen, um den Geist meiner Mutter an die Realität zu fesseln, doch ich hatte es nie geschafft. Ich goss den Tee in drei Tassen und stellte sie auf den Tisch. Dann holte ich die Schachtel der Bäckerei und schnitt den Baumkuchen in kleine Stücke. Ich stellte es ebenfalls auf den Tisch. Mutter erzählte gerade, was sie von einem neuen Politiker hielt. Sie sah den Baumkuchen an, doch erst als sie ausgesprochen hatte, griff sie nach einem Stück. Dr. Yokina beobachtete sie, während ich mich setzte und meinen Tee trank. Eine Weile saßen wir zusammen, als wären wir eine kleine glückliche Familie. Dr. Yokina band auch bald mich in das Gespräch ein. Wir gingen zum persönlicheren Teil über und er fragte mich über die Schule aus. Es war seine Idee gewesen, dass ich sie besuchen sollte. Er hatte sich auch um die Formalitäten gekümmert. Er hatte ganz klar seine Befugnisse überschritten, aber ich war ihm dankbar, dass er sich so um uns kümmerte. Während wir weiter über die Schule redeten, driftete meine Mutter allmählich ab. Sie wurde immer schweigsamer.

„Haruna.“, sprach Dr. Yokina meine Mutter sanft an. Er nannte sie schon seit langem beim Vornamen. Das schaffte mehr Vertrauen und er drang leichter zu ihr durch. Das hatte er mir mal erklärt, als ich noch kleiner war.

„Wollen wir über damals sprechen? Du weißt doch, was passiert ist. Um das Wohl deines Kindes wegen musst du es verarbeiten.“ Seine Stimme war ruhig und entspannt.

„Sora geht es gut. Sora ging es nie besser. Sie ist ein gutes Kind. Sie gehorcht immer.“, murmelte meine Mutter und stand auf. Dr. Yokina und ich wussten beide, dass es vorbei war. Sie drehte sich um und verließ die Küche, ohne auch nur ein weiteres Wort von sich zu geben. Zurück blieb eine unbehagliche Stille. Erst nach einer Weile wandte sich Dr. Yokina wieder an mich.

„Tut mir leid.“, murmelte er. Er war zu forsch gewesen. Er war ein hervorragender Arzt, doch er war auch jung. Ihm fehlte es noch an Erfahrung. Hinzu kam, dass er sich für uns viel zu verantwortlich fühlte. Ich lächelte ihn an.

„Es ist nicht Ihre Schuld. Ihr geht es schon besser. Ich hatte Angst, sie könnte einen Rückfall haben, wenn ich nicht mehr so viel bei ihr bin, aber ihr scheint es gut zu gehen.“, antwortete ich.

„Nicht nur ihr. Der Abstand tut auch dir gut.“, meinte mein Vertrauter. Ich senkte den Blick.

„Ich weiß, du machst dir Sorgen um deine Mutter, aber wenn du weiterhin so abhängig bleibst, wirst du nie ein eigenes Leben führen können. Willst du nicht auch mal erwachsen werden und eine Familie gründen? Dein Leben liegt noch vor dir.“, redete er sanft auf mich ein. Ich biss mir auf die Unterlippe. Was sollte ich groß sagen?

„Aber meine Mutter…“, setzte ich zu einem Widerspruch an. Er schüttelte den Kopf.

„Das wird nicht ewig gut gehen. Du bist bereits in der Pubertät. Dein Körper verändert sich. Ihr müsst beide voneinander loslassen.“, fiel er mir ins Wort. Ich konnte dem nichts entgegensetzen.

„Wie steht’s mit deiner Klasse? Hast du schon Freunde?“, wollte er in einem fröhlicheren Tonfall wissen. Ich erzählte ihm von meiner Klasse und berichtete auch von ihren Plänen.

„Du solltest hingehen. Das wird dir guttun. Ich kann auf deine Mutter ja aufpassen.“, versuchte er mich zu überreden. Ich konnte ihm schlecht etwas abschlagen.

 

Wir trafen uns samstags am frühen Nachmittag. Die anderen wirkten aufgekratzt. Sie freuten sich, dass ich doch noch gekommen war. Kazuki lächelte mich sanft an. Ich vermied Blickkontakt und folgte stattdessen Mei. Wir gingen einen kleinen Pfad entlang und tauchten in den Wald ein. Ich war etwas nervös, wusste ich doch nicht, was mich erwarten würde. Nach einem zehnminütigen Fußmarsch gelangten wir an eine große Lichtung. Es war friedlich hier. Der Rest unserer Klasse war bereits hier und sie waren schon fleißig gewesen. Es standen drei Zelte dort und vier weitere waren noch im Aufbau. Sie bildeten einen Kreis. Im Zentrum waren Holzscheite aufgereiht, die wohl ein Lagerfeuer bilden sollten. Die Neuankömmlinge stellten ihre Sachen ab und halfen beim Aufbau. Ich stand etwas verloren am Rand und wusste nicht recht weiter. Ich beobachtete die anderen. Ich wollte gerne helfen, aber was sollte ich machen? Endlich kam Itoe zu mir und grinste mich an.

„Ich freu mich, dass du doch kommen konntest. Hilf mir mal bei unserem Zelt!“, meinte sie fröhlich, legte den Arm um meine Schultern und zog mich mit sich. Ich war froh, dass sie mich einband, aber der Körperkontakt war mir zu viel. Glücklicherweise ließ sie mich schnell wieder los. Ich legte meine Tasche ab und folgte ihren Anweisungen. Saya hatte einen Plan in der Hand. Sie gab Anweisungen, während wir anderen das Zelt aufbauten. Ich stellte mich vermutlich nicht sonderlich geschickt an, aber irgendwie konnte ich all die Schritte korrekt ausführen. Es war das erste Mal, dass ich ein Zelt aufbaute. Als wir beim letzten Punkt angekommen waren, machte ich einen Schritt zurück und betrachtete unser Werk. In mir breitete sich leichte Zufriedenheit aus. Ich wandte mich um und stellte fest, dass die anderen bereits früher mit den Zelten fertig geworden waren. Es war irgendwie peinlich, dass wir so lange gebraucht hatten, aber niemand sprach uns darauf an. Stattdessen rief uns der Klassensprecher um die Feuerstelle.

„Okay, jetzt müssen wir festlegen, wer in welchem Zelt mit wem zusammen schläft.“, meinte er. Ich zuckte zusammen. Zusammen schlafen? Hieß das, ich musste mir mit jemand anderem ein Zelt teilen? Ob sie mich noch nachhause gehen ließen? Es war noch nicht so spät und die Sonne stand noch am Himmel. Den Weg würde ich vermutlich schon finden. Ich könnte einen Notfall vorschieben. Während meine Gedanken noch kreisten, merkte ich plötzlich, wie sich Gruppen gebildet hatten. Ich sah mich verwirrt um und stellte fest, dass sich alle bereits jemanden gesucht hatten, mit dem sie die Nacht verbringen würden. Die Zelte waren unterschiedlich groß, genauso wie die Gruppen. Es schien, als hätte jeder bereits seine Zeltgenossen gefunden. Ich erblickte Kazuki, der sich mit zwei Jungs unterhielt. Hiroki, einem schwarzhaarigen Schulschwänzer, und Ryu, dem Mädchenschwarm unserer Klasse. Ich presste die Lippen fest aufeinander und senkte den Blick. Ich fühlte mich etwas verloren und bereute zutiefst, dass ich mich hatte von Dr. Yokina hatte dazu überreden lassen.

„Sora, willst du zu uns?“, fragte Mei mich plötzlich. Ich blickte sie überrascht an und musterte sie eine Weile, um festzustellen, ob sie das nicht nur im Scherz gesagt hatte.

„Wir haben das große Sechserzelt, sind aber nur fünf.“, erklärte Etsu mit einem freundlichen Lächeln. Sie meinten das ernst. Mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, die ganze Nacht neben ihnen liegen zu müssen, allerdings… ich war froh für die Einladung.

„Das wäre nett.“, meinte ich leise. Ich nahm meine Sachen und ging zu dem größten Zelt. Die Mädchen ließen mich zu ihnen rein. Ich hatte einen Schlafsack dabei, den ich in einer Ecke ausbreitete. Den anderen fiel meine Nervosität auf. Als sie mich darauf ansprachen, erklärte ich ihnen, dass es für mich das erste Mal war, draußen zu schlafen und überhaupt mit Freunden zu übernachten. Sie waren überrascht, beruhigten mich aber schnell.

 

Die Sonne versteckte sich allmählich hinter dem Horizont. Der Himmel wurde in Abendröte getaucht und es ging eine sanfte Brise. Die Jungs hatten das Lagerfeuer angezündet. Ein paar hatten Baumstämme darum gelegt, die wir als Sitzbänke nutzten. Die Mädchen hatten an Proviant gedacht. Manche hatten Sandwiches dabei, andere hatten Marshmallows besorgt, welche wir an Stöcken ins Feuer hielten, bis sie allmählich fast schwarz wurden. Getränke wurden herumgereicht und allmählich waren alle irgendwie beschäftigt. Neben mir saßen Etsu und Itoe. Sie erinnerten sich gegenseitig an die Erlebnisse des vergangenen Klassenausfluges, kicherten immer wieder und schlugen sich peinlich berührt die Hände ins Gesicht. Ich klammerte mich an dem Stock fest und beobachtete das kleine, weiße Ding an dessen Ende, das von den gelborangen Flammen allmählich schwarz gefärbt wurde. Es tropfte schon, aber ich zog den Stock nicht zurück. Zu sehr faszinierte mich, wie es schmolz und sich verformte, dem Flammen zum Opfer fiel.

Da merkte ich, dass sich jemand neben mich setzte. Ich blickte kurz zur Seite und starrte für einen Moment verwirrt Kazuki an. Er lächelte sanft.

„Wenn du das noch essen willst, solltest du es allmählich wieder rausziehen.“, meinte er und kicherte leise. Ich sah wieder ins Feuer, machte Anstalten, das Marshmallow zu retten, zögerte aber, was ihm zum Verhängnis wurde. Es löste sich vom Stock und landete im verkohlten Holz, wo sich mit einem leisen Zischen auch der Rest schwärzte.

„Oh.“, gab ich nur von mir und zog den Stock heraus, an dessen Spitze noch die Reste klebten. Kazuki neben mir kicherte etwas lauter. Dann griff er in eine Tüte neben sich, holte unter Rascheln ein noch vom Feuer verschontes, weißes Marshmallow heraus, griff nach meinem Stock, um ihn zu sich zu ziehen, und spießte mein nächstes Opfer auf. Ich hielt es erneut in die Flammen. Wir starrten es beide an.

„Wie gefällt es dir bisher? Ich hab gehört, das ist heute dein erstes Mal.“, brach Kazuki schließlich sein Schweigen. Ich linste kurz zu ihm. Sein Blick war auf das Feuer gerichtet, sein Gesicht wurde von den Flammen erhellt. Kleine Schatten tanzten darauf, ließen ihn unwirklich erscheinen. Ich sah wieder mein weißschwarzes Marshmallow an.

„Ich… es ist… ungewohnt und ich weiß nicht recht, wie das hier normalerweise abläuft. Aber ich… bin froh, dass ihr mich eingeladen habt.“, antwortete ich zögernd und leise. Ich wagte einen erneuten Blick auf ihn und er schenkte mir ein Lächeln. Unsere traute Zweisamkeit mitten zwischen unseren Klassenkameraden wurde je gestört, als Mei an einem Ende des ovalen Lagerfeuerkreises stand und um Aufmerksamkeit bat.

„Okay, Leute, die Sonne ist untergegangen und ihr wisst, was das heißt.“, begann sie und sah begeistert in die Runde. Die anderen gaben zustimmende Laute, manche jubelten sogar. Ich verstand nicht recht. Hatte ich was verpasst?

„Es ist Tradition, dass man sich am Lagerfeuer Geistergeschichten erzählt.“, erklärte mir Kazuki mit gesenkter Stimme, weil er vermutlich meinen verwirrten Ausdruck bemerkt hatte. Ich kapierte, aber seine Erklärung hob meine Stimmung nicht gerade. Geistergeschichten? Ich mochte keine Geistergeschichten. Davon bekam ich nur wieder Alpträume.

„Also, wie üblich darf jeder erzählen. Wer die beste Geschichte auf Lager hat, gewinnt.“, sprach Mei ungerührt weiter. Ich sah Kazuki fragend an. Es gab einen Preis?

„Wir legen dann immer zusammen und besorgen dem Gewinner eine Kleinigkeit.“, erklärte er, als er meinen Blick richtig gedeutet hatte.

„Wer will anfangen?“ Mei blickte in die Runde und sah erwartungsvoll in die Gesichter. Manche drehten sich weg, als hätten sie ihre Frage überhört.

„Es will selten jemand anfangen. Die erste Geschichte wird meist nämlich schnell wieder vergessen.“, raunte mir Kazuki zu. Ich nickte, linste zu Mei und zog den Kopf ein, als sie in unsere Richtung blickte. Sie strahlte und für einen Moment befürchtete ich das Schlimmste, doch da stand Itoe neben mir auf.

„Wenn ihr alle zu feige seid, fängt halt der Profi an.“, meinte sie laut und mit einem Kichern, sodass man ihr diese Aussage kaum übel nehmen kann. Sie nahm Meis Platz ein, blickte in die Runde und grübelte. Dann begann sie mit einer Geschichte, die vor etwa 50 Jahren geschah. Eine Klasse war wie wir zelten gegangen. Einige waren in den Wald gegangen, aber nicht wieder zurückgekehrt. Andere hatten sie gesucht, waren ebenfalls nicht zurückgekommen. Die letzten gingen los, folgten einer Blutspur und fanden die zerstückelten Leichenteile ihrer Klassenkameraden auf groteske Weise in die Krone eines Baumes gehängt. Itoes Stimme hatte einen unheimlichen Klang. Düster und verzerrt. Alle lauschten gespannt. Die meisten machten ein tapferes Gesicht, nur Saya klammerte sich an Etsu und zeigte ihre Angst. Meine Hände zitterten, während ich meinen Stock fest umklammert hielt. Ich starrte ins Feuer, während vor meinem geistigen Auge die Horrorszenarien zum Leben erwachten. Itoe erzählte weiter, wie die Überlebenden einen Schrei hörten, diesem folgten und ihre Freundin halb tot in einer Hütte fanden.

„… Plötzlich schlug die Tür zu. Es blitzte und Schatten tanzten vor dem Fenster. Es klirrte, Splitter flogen durch die Luft.“, erzählte Itoe gerade mit erhobener Stimme. Da erklangen plötzlich wirklich das Geräusch von Fensterklirren, sowie ein spitzer Schrei. Ein paar der Mädchen schrien. Mir fiel vor Schreck der Stock aus der Hand, mein Marshmallow landete in dem verkohlten Holz. Ich wandte mich um, versteckte mich halb und klammerte mich an das nächstbeste fest, das ich zu fassen bekam. Mein Körper zitterte unkontrolliert. Ich spürte einen Arm um mich. Wärme hüllte mich ein. Langsam hob ich den Kopf und blickte in sanfte, goldgrüne Augen. Der Strudel fesselte mich eine Weile, sodass ich einen Moment brauchte, ehe ich mir meiner Umgebung wieder bewusst wurde. In meiner Panik hatte ich mich an Kazukis Brust geworfen und jetzt hielt er mich im Arm. Schnell wich ich zurück und senkte peinlich berührt wieder den Blick. Ich sah die anderen an, doch die meisten waren mit sich selbst beschäftigt. Kaum jemand hatte gemerkt, dass ich mich in Kazukis Arme gestürzt hatte. Die meisten der Mädchen funkelten nur mehr die Jungs an, die sich vor Lachen kugelten. Ich kapierte. Die Jungs hatten sich einen Scherz erlaubt und uns einen Streich gespielt. Sie hatten mit Hilfe ihres Handys diese unheimlichen Geräusche abgespielt. Ich vermutete zunächst, dass Itoe mit ihnen unter einer Decke steckte, aber ihr Blick verriet was anderes. Sie funkelte genau wie die anderen Mädchen die Jungs an. Sie war gar nicht erfreut, dass die Jungs ihre Geschichte gestört und so die ganze Spannung aufgelöst hatten. Alle beruhigten sich wieder und Itoe setzte sich. Das Ende der Geschichte wollte sie nicht mehr erzählen.

Andere begannen mit ihren Geschichten. Die wenigsten kamen an Itoe ran.

„So, Sora, willst du als nächstes?“, fragte Mei, nachdem Etsu mit ihrer Geschichte fertig war. Ich senkte den Blick. Ich fühlte mich nicht wohl dabei. Da spürte ich Kazukis Hand auf meiner Schulter. Er stand auf und lächelte.

„Ich erzähl als nächstes.“, meinte er und drängelte sich vor. Ich war froh darüber. Kazuki begann eine Geschichte über einen Geist, der in unserer Schule spuken sollte. Ein Mädchen war wohl auf unerklärliche Art ums Leben gekommen. Seine Stimme war ruhig, anders als Itoes, aber gerade deshalb war er als Erzähler so viel besser. Als er zum Höhepunkt der Geschichte kam, änderte sich seine Lautstärke kaum. Stattdessen erzählte er einfach bis zum Ende und verstummte. Die meisten brauchten eine Weile, bis sie wieder zu sich kamen. Kazukis Stimme hatte etwas ausgesprochen Fesselndes. Ich biss mir auf die Unterlippe, als er sich wieder neben mich setzte.

„Manchmal vergesse ich, wie gut du im Geschichtenerzählen bist.“, brach Itoe plötzlich das Schweigen und riss damit auch die letzten aus ihrer Trance. Kazukis Mundwinkel zuckte kurz.

„So, aber jetzt ist Sora dran. Zeig uns doch, was du zu bieten hast! Nach Kazuki ist das vielleicht ein bisschen schwierig, aber du weißt ja, die Geschichten von anderen waren ja auch nicht so gut.“, meinte Etsu und klopfte mir auf den Rücken. Ich war nervös, erhob mich aber dennoch. Ich ging zu dem Platz, an den sich alle gestellt hatten, die eine Geschichte erzählt hatten. Als ich in die Runde sah, waren unzählige neugierige Blicke auf mich gerichtet. Ich senkte den Blick und dachte nach.

„Ähm, eigentlich… kenn ich gar keine guten Geistergeschichten. Aber… ich… eine Geschichte kenn ich. Es geht um das Haus, in dem ich lebe. Es ist eine alte Geschichte.“, begann ich vorsichtig und versuchte mich daran zu erinnern. Das letzte Mal, als ich diese Geschichte gehört hatte, war ich keine fünf Jahre alt gewesen. Dennoch erinnerte ich mich noch ziemlich gut daran.

„Es heißt, dass zu der Zeit, als das Haus gebaut wurde, große Unruhen im Land herrschten.“ Ich erzählte von den damaligen Besitzern des Hauses und davon, wie nach und nach die Töchter der anderen Bewohner verschwanden und erst nach Monaten wiedergefunden wurden. Alle tot, auf verschiedene Art umgebracht.

„Seither sagt man, dass auf der Familie Taiyo ein Fluch lastet. Es heißt, dass jeder Junge mit Taiyo-Blut in den Adern schreckliches Unglück über die Familie bringen würde. Tatsächlich werden kaum Jungs geboren. Die Töchter behalten bei der Heirat meist ihre Namen. Aber hin und wieder wird doch ein Junge geboren.“, erzählte ich weiter. Jungs wurden als schwarzes Omen gesehen. Wurde ein Junge geboren, starben oft die anderen Kinder. Eine Epidemie zog in die Familie ein, Mitglieder starben im Feuer, Bergwerke stürzten ein, die Familie geriet in eine finanzielle Notlage, die jungen, gesunden erlitten schreckliche Unfälle, manche verloren den Verstand. Ein nur jedes erdenkliche Unglück hatte die Familie bereits heimgesucht. Dennoch hatte es die Familie nie schwer genug getroffen, um endgültig auszusterben. Als ich fertig war, mir keine weiteren Unglücksfälle mehr einfielen, verstummte ich und sah unsicher in die Runde. Die meisten sahen mich mit ausdrucksloser Miene an. Oh, nein! Ich hatte die Stimmung verdorben!

„Das war echt… gruselig.“, meinte Mei.

„Ja, total freaky!“, stimmte Etsu ihr zu.

„Hast du dir das gerade ausgedacht?“, wollte Hiroki wissen. Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Ich hab die Geschichte gehört, als ich noch klein war. Die meisten Unglücke lassen sich auch nachweisen. Aber ob es einen Zusammenhang zwischen einem Unglück und der Geburt eines Jungen gibt, ist natürlich nicht bewiesen.“, antwortete ich vorsichtig. Ich sah die anderen an, doch ich merkte, dass sie wohl nur mehr an die Geschichte dachten. Ich nutzte den Moment und setzte mich wieder auf meinen Platz. Kazuki musterte mich nachdenklich, doch dann ergriff Mei wieder das Wort.

„Okay, ich schätze, das reicht. Genug Gruselgeschichten für eine Nacht. Jetzt heißt es entscheiden. Wer hat die beste Geschichte erzählt?“, fragte sie in die Runde und war viel fröhlicher als vorhin. Die anderen begannen zu murmeln. Ich hörte verschiedene Namen, manche diskutierten miteinander. Nach ein paar Minuten brachte Mei wieder Ruhe in die Runde.

„Also, hat jeder seinen Favoriten? Dann stimmen wir jetzt ab. Wer ist für Itoe?“ Einige hoben die Hand. Saya neben ihr hatte Stift und Papier in der Hand und notierte sich das Ergebnis. Mei fragte alle Erzähler durch. Ich hob bei Kazuki die Hand, weil ich fand, dass er die beste Geschichte hatte und sie auch am besten erzählen konnte. Es überraschte mich, dass auch bei mir einige Hände erhoben waren. Mei und Saya brauchten für die Auswertung etwas, dann wandte sich Mei wieder an alle.

„Gut, euch auf die Folter zu spannen, wäre reinste Zeitverschwendung, da jeder von euch hoffentlich soweit zählen kann. Itoe ist auf dem dritten Platz mit ihrer Geschichte.“, sagte sie und wandte sich dann an Kazuki.

„Kazuki, du und Sora habt gleichviele Stimmen, aber da es ihr allererstes Mal ist, finden wir es angemessen, wenn sie eine Extrastimme bekommt.“, meinte Mei. Kazuki sah kurz zu mir her und zuckte mit den Schultern. Die anderen waren mit ihrem Vorschlag zufrieden.

„Lass Sora ruhig gewinnen! Sie hat ihre Sache gut gemacht.“, stimmte auch Kazuki mit ein. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

„Super! Dann ist das ja beschlossene Sache. Sora ist also unsere Gewinnerin.“

 

Nach den Geschichten haben sich manche noch unterhalten. Andere aßen noch etwas und ein paar wenige trauten sich noch einen kurzen Spaziergang zu machen. Ich blieb auf meinem Platz. Kazuki war aufgestanden, hatte sich mit anderen unterhalten. Nach einiger Zeit setzte er sich wieder neben mich und reichte mir eine Flasche. Ich nahm sie entgegen und trank davon.

„Entspann dich! Das Schwierigste hast du hinter dir.“, raunte Kazuki mir zu und lächelte leicht. Ich sah ihn kurz an und musste ebenfalls lächeln. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe.

Kapitel 3 – Seltsame Vorkommnisse

 

Die ersten gingen bereits früh zu Bett. Sie zogen sich in ihre Zelte zurück. Zwei der Jungs kümmerten sich immer um das Feuer, einige Mädchen zogen aus ihren Taschen Plastiksäcke, um den Müll zu verstauen, und begannen schon damit etwas aufzuräumen. Ich selbst blieb noch etwas sitzen. Als das Feuer fast erloschen war, rappelte ich mich mühsam hoch. Ich ging zum Sechserzelt und holte meine Tasche. Mit Saya zusammen versteckte ich mich hinter ein paar Bäumen. Während die eine aufpasste, dass die Jungs nicht hersahen, zog sich die andere um. Ich schlüpfte in eine bequeme, etwas abgetragene Jogginghose und ein T-Shirt, das keinerlei Rundungen zuließ. Weil es nachts immer noch ziemlich abkühlte, schlüpfte ich noch in eine Kapuzenweste. Dann gingen Saya und ich in unser Zelt zurück. Die anderen waren ebenfalls schon fertig umgezogen und wir legten uns hin. Ein paar saßen noch ums Lagerfeuer, aber die meisten zogen sich bereits in ihre Zelte zurück. Wir lagen alle bei gedämpftem Licht in unseren Schlafsäcken, aber wir unterhielten uns noch etwas. Die anderen begannen bald über die Jungs zu reden.

„Sora, was hältst du von Kazuki?“, fragte Itoe mich plötzlich. Ich hatte bisher kaum gesprochen und mich weitestgehend rausgehalten. Jetzt hatten sie mich aber direkt angesprochen.

„Ich… versteh nicht ganz.“, antwortete ich zögernd. Was sollte ich schon von ihm halten?

„Spiel nicht die Unwissende! Kazuki hat fast den ganzen Abend bei dir verbracht. Normalerweise unterhält er sich kaum mit irgendjemanden und ist total abwesend. Aber an dir scheint er Interesse zu haben.“, erklärte Saya und musterte mich mit einem durchdringenden Blick. Ich verkroch mich etwas tiefer in meinen Schlafsack. Am liebsten würde ich mich verstecken.

„D-das stimmt doch gar nicht. K-Kazuki… hat bestimmt kein Interesse an mir. Wir sind nur… äh… wir verstehen uns nur ganz gut. Das ist alles.“, erwiderte ich kleinlaut.

„Ach ja? Wenn du nichts von Kazuki willst, welcher der Jungs interessiert dich dann?“, wollte Etsu wissen. Meine Wangen liefen knallrot an. Ich war froh, dass es dunkel war.

„Da gibt’s niemand Besonderen.“, antwortete ich. Die Mädchen diskutierten, kamen aber letztendlich zu dem Schluss, dass ich bisher mit den Jungs einfach zu wenig zu tun hatte und sie deshalb nicht wirklich gut kannte. Ich hatte zwar eine schnelle Auffassungsgabe und konnte Menschen gut einschätzen, aber ich wollte die anderen nicht auf komische Ideen bringen. Sie ließen mich allmählich in Ruhe, wechselten das Thema und schließlich wurde es still in unserem Zelt. Das Licht war gedämpft. Als Saya es ausdrehen wollte, bat ich sie, es nicht zu tun. Ich erklärte es ihr damit, weil es mein erstes Mal war, dass ich woanders schlief und nach den ganzen Geistergeschichten hätte ich nur Angst, dass ich Alpträume davon bekommen könnte. Wenn ich in völliger Dunkelheit aufwachen würde, würde ich nur Panik bekommen. Sie verstand mich gut und vertraute mir an, dass es ihr früher ähnlich ergangen war. Ich war froh, dass sie mich damit nicht aufzog. Ich kuschelte mich tiefer in den Schlafsack und schloss die Augen. Ich hörte das gleichmäßige Atmen meiner Zeltgenossinnen. Der Wind ließ ein paar Blätter rascheln, in der Ferne erklangen die Rufe einer Eule. Ich war froh, nicht alleine in einem Zelt schlafen zu müssen.

 

Ich wusste nicht, ob mich ein Geräusch geweckt hatte oder ob es meine eigenen Bedürfnisse waren. Jedenfalls schlug ich mitten in der Nacht verwirrt die Augen auf. Ich richtete mich auf und brauchte erst mal einen Moment, ehe ich mich halbwegs erinnern konnte. Ich war noch schlaftrunken, konnte kaum denken. Da spürte ich es. Ich musste mal. Ich wollte die anderen aufwecken. Ich rüttelte Saya leicht, aber sie schlug meine Hand weg, murrte und drehte sich um. Auch die anderen waren nicht wach zu bekommen. Im Halbdunkel tastete ich nach der Taschenlampe. Ich fand sie und kroch auf allen Vieren aus dem Zelt. Draußen schaltete ich die Taschenlampe ein und leuchtete im Camp herum. In den Zelten war es ruhig, nur leise Schlafgeräusche konnte man hören. Ich zog mir meine Schuhe an und schlich ins Gebüsch. Ich suchte mir eine Stelle, wo mich bestimmt niemand sehen konnte. Ich platzierte die Taschenlampe in einer Astgabelung und verrichtete dann mein Geschäft. Als ich fertig war, griff ich wieder nach der Taschenlampe. Ich hörte Rascheln im Gebüsch. Ich war leicht neugierig und folgte den Geräuschen. Als ich durch ein paar Sträucher ging, stolperte ich über eine Wurzel. Einen Moment blieb ich reglos liegen, dann rappelte ich mich hoch. Ich klopfte mir den Staub von der Kleidung und sah mich um. Die Taschenlampe war am Boden gelandet. Das Licht flackerte. Schnell griff ich danach und hob sie hoch. Das Flackern ließ nicht nach. Der Schein wurde schwächer. Ich klopfte dagegen, schraubte den Deckel noch etwas fester zu, aber es half nichts. Ich sah mich um, doch ich hatte die Orientierung verloren. Als das Licht endgültig erloschen war, spürte ich, wie die Panik an mir hoch kroch. Ich klammerte mich an die Lampe fest. Wenn sie schon kein Licht mehr spendete, könnte sie mir notfalls zumindest noch als Waffe dienen. In der Dunkelheit waren die Geräusche viel lauter. Rascheln, Rufe, ein seltsames Grummeln, Schritte im Unterholz. Ich ging in die Richtung, in der ich die Zelte vermutete, und blickte mich stets wachsam um. Die Angst in mir schnürte mir die Kehle zu. Ich sah Schreckgespenster in der Dunkelheit, erinnerte mich an die Gruselgeschichten der andern. War eine nicht so ähnlich gewesen? Eine dumme Nuss war nachts alleine in den Wald gegangen und hatte sich, von Neugier getrieben, tiefer hineingewagt, nur um sich dann von einer Bestie fressen zu lassen. Meine Beine zitterten unkontrolliert. Zwischen den Bäumen kam allmählich etwas näher. Zuerst hielt ich es für Einbildung, das Werk meiner übereifrigen, von Angst getriebenen Fantasie. Aber dann wurde mir klar, dass die Schritte immer lauter wurden. Sie waren real. Da kam wirklich jemand auf mich zu. Glühende Augen kamen zum Vorschein. Ich wich zurück, stolperte über Unterholz, landete auf meinen Hintern. Fast gelähmt vor Angst krabbelte ich auf allen Vieren weiter. Schließlich zog ich mich hinter einen Baum, setzte mir die Kapuze auf und krümmte mich zusammen.

„Das ist nicht real. Das ist nur ein Traum. Ich liege noch immer im Zelt. Nein, zuhause. Ich bin in meinem Bett. Und gleich wache ich auf. Gleich. Gleich.“, murmelte ich und schaukelte hin und her. Ich hielt mir mit den Händen die Ohren zu, um die Schritte nicht mehr hören zu müssen. Ich begann zu wimmern und konnte das Zittern in meiner Unterlippe nicht mehr unterdrücken. Tränen sammelten sich in meinem Augenwinkel. Ein Kloß wuchs in meinem Hals. Ich machte mich noch kleiner.

 

Plötzlich legte sich etwas auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen, stieß einen erstickten Schrei aus und wich zur Seite.

„Ganz ruhig, Sora! Ich bin’s nur.“, erklang eine beruhigende Stimme. Die glühenden Augen waren lediglich das Licht einer Taschenlampe. Ich beruhigte mich wieder ein bisschen, aber mein Herz raste noch. Kazuki sah mich besorgt an. Ohne nachzudenken, stürzte ich mich in seine Arme und klammerte mich an ihm fest. Er schien zuerst überrascht, legte aber dann beide Hände um meinen Rücken und drückte mich an sich.

„Schhh, ist schon gut, Sora, ich bin da. Ich lass dich nicht allein.“, sprach er ruhig auf mich ein. Ich schüttelte mich unter Schluchzern, doch die Panik wich allmählich. Schließlich weinte ich nur mehr lautlos, während Kazuki mir beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Ich mochte seine Stimme. Sie schien meine Seele sanft zu streicheln. Ich hatte mich wieder beruhigt, da schob mich Kazuki etwas von sich, um mir ins Gesicht sehen zu können. Mit dem Ärmel seines Pullis wischte er die Spuren an meinen Wangen weg. Er musterte mich und lächelte mich zärtlich an.

„Geht’s wieder?“, wollte er wissen. Ich war lediglich zu einem Nicken imstande.

„Ich hatte vorhin schon so ein Gefühl, aber… kann es sein, dass du Angst vor der Dunkelheit hast?“, fragte er vorsichtig. Ich senkte den Blick und verspannte mich. Meine Knöchel waren schon weiß, so fest klammerte ich mich an den Pullover meiner Gesellschaft. Ich schluckte schwer.

„Ich… Als ich klein war, hatte ich einen Unfall gehabt. Noch heute träume ich davon, wie mich die Dunkelheit verschlingt.“, erzählte ich ihm mit brüchiger Stimme. Kazuki erwiderte nichts. Stattdessen schloss er mich wieder in seine Arme. Inzwischen, wo meine Angst gewichen war, spürte ich nur mehr seine Wärme und eine ungewohnte Geborgenheit. Meine Wangen wurden heiß.

„Es ist sehr tapfer von dir, dass du hier bist, obwohl du so viel Angst hast.“, flüsterte er schließlich. Ich zog den Kopf ein und kuschelte mich an seine Brust. Eine Weile blieben wir so, doch schließlich löste er sich wieder von mir.

„Hast du dich beruhigt?“, wollte er wissen. Ich nickte nur, da ich meiner Stimme nicht ganz traute. Er stand auf, hielt mir die Hand entgegen und zog mich dann ebenfalls auf die Beine. Im Schein der Taschenlampe sah ich den Schmutz an meiner Kleidung. Schnell klopfte ich mich ab. Kazuki zog mir einen Ast aus dem Haar. Er lächelte, als ich mir peinlich berührt mit der Hand durch die Haare fuhr, um alles wieder zu richten. Als ich wieder zu ihm sah, war ein Schatten über sein Gesicht gehuscht. Er sah mich mit einem seltsamen Blick an, als hätte er etwas bemerkt, das nicht passte. Als ich ihn aber vorsichtig darauf ansprach, lächelte er wieder und wehrte ab. Wir gingen zu den Zelten zurück. Er geleitete mich bis zum Eingang meines Zeltes und ging dann in sein eigenes. Ich stieg leise wieder hinein, kroch zu meinem Schlafsack und versteckte mich darin. Die anderen hatten glücklicherweise nichts davon bemerkt.

 

Ich kam im Laufe des Vormittags zuhause an. Meiner Kleidung hatte der Ausflug nicht sonderlich gut getan, aber nach einer Wäsche würde es schon wieder passen. Als ich eintrat, hörte ich Geräusche aus der Küche. Ich zögerte etwas, dann schlüpfte ich aus meinen Schuhen und ging den Flur entlang. In der Küche entdeckte ich Dr. Yokina, der gemeinsam mit meiner Mutter kochte. Sie erzählte ihm gerade irgendeine Geschichte aus ihrer Kindheit. Da bemerkte Dr. Yokina meine Anwesenheit.

„Ah, du bist schon zurück.“, grüßte er mich.

„Oh, Sora, schön, dass du da bist. Wir machen gerade Essen. Aber wie siehst du denn aus? So kannst du nicht an den Tisch.“, mischte sich meine Mutter ein. Sie redete so schnell und so viel. Sie war so fröhlich. Dr. Yokinas Anwesenheit tat ihr gut. Sie blühte dann immer auf.

„Ich geh mich gleich umziehen und waschen, Mama.“, antwortete ich nur und wandte mich um. Bevor noch jemand etwas sagen konnte, war ich bereits in meinem Zimmer verschwunden und schloss die Tür hinter mir. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ich war wirklich froh darüber, dass es meiner Mutter besser ging. Es störte mich auch nicht, dass Dr. Yokina es geschafft hatte, sie so zum Strahlen zu bringen. Nur eines verdüsterte meine Gedanken. Dass sie scheinbar nicht glücklich sein konnte, wenn ich in ihrer Nähe war. Ich war nur eine Nacht weg und schon hatte sich ihr Zustand verändert. Aber schon vorher war es mir aufgefallen. Den halben Tag ging ich jetzt zur Schule, war also weit weg von meiner Mutter, und allmählich zeigte sich eine Verbesserung ihrer Gesundheit, obwohl die Jahre zuvor ihr Zustand stets gleich geblieben war. Meine Knie wurden weich und ich rutschte auf den Boden. War ich schuld? Lag es an mir, dass es ihr so schlecht ging? Aber ich hatte doch immer mein Bestes gegeben. Lag es daran, dass ich nicht die Sora war, die sie sich so sehnlichst wünschte? Weil ich nicht ihre Sora war? Tränen brannten hinter meinen Augen. Was sollte ich jetzt machen?

 

Das Klopfen an der Tür riss mich aus meinen düsteren Gedanken.

„Alles okay bei dir? Du bist schon so lange da drin. Ist was passiert?“, erklang Dr. Yokinas Stimme gedämpft zu mir herein. Ich schniefte leise und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen von der Wange. Sobald ich meiner Stimme wieder halbwegs traute, brachte ich eine Antwort hervor.

„Nein, alles gut. Ich bin nur müde. Konnte nachts kaum schlafen.“, wehrte ich ab. Dr. Yokina schwieg einen Moment. Er kaufte es mir nicht ab. Das wusste ich. Gleich würde er auf mich einreden, mich bitten die Türe zu öffnen und mich dann mit seiner sanften Stimme überreden, ihm zu erzählen, was mir auf dem Herzen lag. Ich musste unwillkürlich an Kazuki denken. Er hatte eine ähnliche Art, aber dazu noch einen geheimnisvollen, undurchdringlichen Blick, der einen in eine Art Trance versetzen konnte, sodass man erst spät merkte, dass man ihm bereits alles erzählte und all seine dunklen Geheimnisse anvertraute.

„Das Essen ist fertig. Deine Mutter wartet schon.“, riss mich Dr. Yokina aus meinen Gedanken. Überrascht wandte ich mich um und starrte die geschlossene Tür an, als könnte ich durch sie hindurchsehen. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder gefasst hatte.

„Äh, i-ich… komme gleich.“, brachte ich völlig überrumpelt hervor. Die Schritte entfernten sich. Erst als ich sie kaum mehr hören konnte, erwachte ich aus meiner Trance. Ich stand auf. Auf wackeligen Beinen ging ich zu meinem Schrank. Ich zog mir meine Sachen aus, ließ alles am Boden liegen und suchte mir frische aus dem Schrank. Ich vermied den Blick in den Spiegel. Konnte ihn einfach nicht ertragen. Sobald ich angezogen war, sammelte ich mich und setzte mich an den Frisiertisch. Ich griff nach einer Bürste und fuhr damit durchs Haar. Sie waren leicht verfilzt. Ich bürstete sie, bis sie seidig waren. Dann legte ich die Bürste wieder zurück an ihren Platz und starrte das Spiegelbild an.

„Ich bin ein gutes Mädchen. Ich muss mich noch mehr anstrengen. Damit Mama wieder glücklich wird.“, murmelte ich zu dem Mädchen im Spiegel. Ihr Blick war starr, als wollte er sagen: „Das schaffst du sowieso nie.“ Er verspottete mich. Ehe ich zur Besinnung kommen konnte, hatte meine Hand bereits nach der Bürste gegriffen und ihr ins Gesicht geschlagen. Der Spiegel splitterte. Entsetzt wich ich zurück, wobei der Schemel mit einem lauten Poltern umkippte. Mein Herz raste. Ich atmete schnell und spürte bereits den Schwindel. Durchs Haus polterten Schritte.

„Ist was passiert? Sag doch was!“

„Sora, mein Schatz! Bist du verletzt? Liebes, mach die Tür auf!“

Die Stimmen der beiden Erwachsenen drangen nur wie durch Watte zu mir durch. Doch allmählich wurden sie lauter.

„A-alles gut. Der Schemel ist nur umgefallen. Ich bin nicht verletzt.“, antwortete ich so ruhig wie es mir möglich war. Ich versicherte ihnen noch einige Male, dass nichts passiert wäre, dann gingen sie endlich wieder. Ich schluckte schwer und stellte den Schemel wieder auf. Da sah ich die rote Spur, die sich über meine Handfläche bahnte. Eher kopflos, als würde mein Körper ohne mein Zutun arbeiten, suchte ich in einer Kommode nach Tüchern. Ich wischte das Blut ab, suchte nach der Ursache. Mein Handgelenk war verletzt. Ein Glassplitter steckte darin. Ich spürte ihn kaum. Eigentlich überhaupt nicht. Ich zog ihn heraus und beobachtete das Blut, das auf den Boden tropfte. Als sich eine kleine Pfütze gebildet hatte, griff ich wieder nach den Tüchern. Ich verband mein Handgelenk, wickelte das Tuch so fest darum, dass sich in meiner Hand eine leichte Taubheit ausbreitete. Sobald meine Wunde versorgt war, wischte ich das Blut vom Boden, versteckte die blutigen Tücher zwischen meiner Schmutzwäsche und griff nach einem großen, sauberen. Damit versteckte ich den Spiegel. Wachsam blickte ich mich im Zimmer um. Bevor ich es verließ, streifte ich mir noch einen Pullover über, mit langen Ärmel, in denen meine Hände verschwanden.

 

Am Tisch klapperte das Besteck, während wir aßen. Meine Mutter redete ziemlich munter, doch sie sah mich kaum an. Sobald sie Anzeichen von sich gab, dass sie bald verstummen würde, stellte Dr. Yokina ihr wieder eine Frage und brachte sie so wieder zum Reden. Ich nutzte den Moment und ließ den verhassten Sellerie in einer Serviette verschwinden. Ich aß schweigend, bis Dr. Yokina mir seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Wie war deine Nacht im Zelt?“, wollte er wissen. Ich schielte zu meiner Mutter. Sie starrte gedankenverloren in die Luft. Erst als ich nicht sofort antwortete, schenkte auch sie mir ihre Aufmerksamkeit. Ich erzählte vom Zeltaufbau, dem Lagerfeuer, den Gruselgeschichten. Ich erzählte vom Frühstück heute Morgen. Bloß eines ließ ich aus. Meinen unerfreulichen Spaziergang durch die Dunkelheit. Ich erzählte nicht, wie Kazuki mich beruhigt hatte. Nach dem Essen war meine Mutter kaum mehr ansprechbar. Sie stand einfach auf und verließ die Küche. Ich hörte, wie sie in das alte Arbeitszimmer ging. Das tat sie manchmal. Dann räumte sie einfach die Sachen um, ordnete die Bücher in den Regalen neu, nutzte ein System, das nur sie verstehen konnte. Dr. Yokina und ich blieben einen Augenblick sitzen. Das Schweigen war erdrückend. Ich stand auf und räumte den Tisch ab. Wortlos begann ich mit dem Abwasch. Unser Arzt half mir bald.

„Was ist noch passiert?“, fragte er. Ich zuckte zusammen. Ich hätte wissen müssen, dass ihm auffallen würde, dass ich ihm etwas verschwieg. Das war schon immer so gewesen. Er war nun mal aufmerksamer als meine Mutter. Ich senkte den Blick. Mit leiser Stimme erzählte ich ihm von meinem nächtlichen Ausflug. Ich flüsterte nur, damit meine Mutter auch wirklich nichts davon mitbekommen würde. Nachdem ich wieder verstummt war, legte Dr. Yokina unvermittelt seine Arme um mich und drückte mich an sich. Es war mir ein bisschen peinlich, aber ich genoss die vertraute Nähe. Unwillkürlich verglich ich sie mit Kazukis Umarmung. Es war anders, aber ich konnte den Unterschied nicht klar definieren. Ich schob die Gedanken beiseite.

 

Dr. Yokina blieb noch bis zum späten Nachmittag. Meine Mutter war die ganze Zeit auf den Beinen. Es war schön, sie zu beobachten, wie sie wie ein kleines Mädchen durchs Haus hüpfte und in jedem Zimmer etwas umstellte. Sie wirkte viel jünger als sonst. Ich glaube, die wenigsten würden ihr Alter richtig einschätzen. Das Abendessen brachte ich zu ihr ins Bett. Den restlichen Abend verbrachte ich mit einem Buch in meinem Zimmer.

 

Am nächsten Morgen ging es meiner Mutter wieder schlechter. Beim Frühstück im Bett war sie ganz lethargisch und auch beim Mittagessen am Tisch starrte sie nur in die Luft. Sie schob das Essen lustlos am Teller herum, ehe sie genug zu sich nahm, wie ihr Körper brauchte. Ich hatte mir angewöhnt, darauf zu achten, dass ihr Essen immer besonders nahrhaft war, damit sie auch genug Nährstoffe bekam, wenn sie mal nicht so viel aß. Am Nachmittag ging ich ins Bad und duschte mich. Meine Mutter hatte sich wieder hingelegt. Ich schlich wieder in mein Zimmer, ließ das Handtuch fallen und begann mich anzuziehen. Ich hatte mir gerade mal einen Rock angezogen, als meine Tür aufging. Meine Mutter stand im Rahmen und starrte mich an. Reflexartig bückte ich mich nach dem Handtuch und verdeckte meinen nackten Oberkörper.

„Mama, was machst du hier? Ich dachte, du würdest dich ausruhen.“, sprach ich sie mit zittriger Stimme an. Ihr Blick war starr, zeigte keinerlei Gefühlsregung. Er machte mir Angst. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn sie mich so ansah. Langsam kam sie näher.

„Sora? Wo ist meine Sora? Mein kleiner Engel?“, murmelte sie.

„Mama, ich bin doch da. Siehst du? Ich bin hier, genau vor dir.“, antwortete ich. Die Angst schnürte mir die Kehle zu und ließ meine Stimme nicht so ruhig klingen, wie sie sollte. Mit einem Mal machte sie einen Satz nach vorn, packte mich im Haar und zog daran. Ich schrie auf und flehte sie an, mich loszulassen.

„Was hast du mit meiner Sora gemacht? Wo ist sie? Du Dämon hast sie mir weggenommen!“, brüllte sie mit wutverzerrtem Gesicht. Sie schüttelte mich durch. Ich versuchte standhaft zu bleiben und es durchzustehen. Diese Anfälle waren schlimm, die pure Folter, aber sie dauerten nie lange an. Sie würde mich bald von sich stoßen, sich verwirrt im Zimmer umblicken und dann gehen, weil ihr einfiel, dass sie noch die Topfpflanze in ihrem Zimmer gießen musste.

 

In der Schule vermied ich jeglichen Blickkontakt und ich hielt mich in den Pausen von allen fern. Ich wollte nicht, dass mir jemand zu nahe kam. Bloß weg. Weit weg. In der großen Pause saß ich an einem Baum am Hof, versteckt von allen anderen. Niemand sollte mich finden oder zufällig über mich stolpern. Ich ließ den Bleistift über das Papier wandern und zeichnete abstrakte Bilder. Allmählich entstanden daraus die Monster aus meinen Alpträumen, die mit glühenden Augen in der Dunkelheit auf mich lauerten, darauf warteten, dass ich einen Moment unachtsam wurde. Ich war so vertieft, dass ich vor Schreck fast aufgesprungen wäre, als mich etwas an der Schulter berührte. Mit rasendem Herzen wandte ich den Blick um und sah Kazuki an.

„Ich wollte dich nicht erschrecken.“, entschuldigte er sich mit sanfter Stimme und ließ sich neben mir nieder. Ich senkte den Blick und zuckte mit den Schultern, konnte aber nichts sagen.

„Hab ich dir was getan?“, fragte er plötzlich. Ich sah ihn überrascht an. Wie kam er auf so eine Idee?

„Nein, wieso?“, wehrte ich sofort ab. Er lächelte mich leicht gequält an.

„Weil du mir aus dem Weg gehst.“, antwortete er. Ich starrte erneut meine Zeichnung an.

„Das… hat nichts mit dir zu tun. Ich wollte nur meine Ruhe. Hab schlecht geschlafen.“, erklärte ich sanft. Ich spürte Kazukis musternden Blick. Er schien mich zu durchschauen. Ich sah ihn vorsichtig an. Er hob die Hand und strich die Haare von meinem Hals. Sein Blick verdüsterte sich.

„Wer hat dir das angetan?“, fragte er mit mühsam gepresster Stimme. Ich strich meine Haare wieder vor und verdeckte meinen Hals, die Kratzer, die von Spiegelscherben herrührten. Er griff nach meinem Handgelenk und schob die Ärmel hoch, legte die Wunden frei, die ich versucht hatte zu verstecken. Ich wollte ihn abschütteln, mich wieder verstecken, aber sein Griff war stärker.

„Niemand hat mir was getan. Ich bin nur unglücklich gestürzt und gegen meinen Spiegel gefallen.“, erklärte ich schnell, doch ich sah in seinen Augen, dass ich ihn nicht überzeugen konnte.

„Sora…“, hauchte er kaum hörbar. Ich zuckte förmlich zusammen. Ich wusste kaum, was geschah, als ich ihn bereits von mir stieß und aufsprang. Ohne nachzudenken, lief ich davon.

 

Er wusste nicht, was er machen sollte. Sie war weg, ehe er sich wieder hochrappeln konnte. Gedankenverloren starrte er ihr hinterher. Er versuchte das Chaos in seinem Kopf wieder zu ordnen. Er hatte es gesehen. Sie war verletzt gewesen. Vermutlich kamen diese Wunden wirklich von Splitter. Aber es war kein Unfall gewesen. Die blauen Flecken am Handgelenk waren der Beweis dafür gewesen. Er starrte weiter in die Ferne, während er dieses unbestimmte Gefühl näher erkundete. Etwas war ihm aufgefallen. Etwas hatte nicht gepasst. Etwas hatte nicht gestimmt, war falsch gewesen. Aber was? Die Antwort war zum Greifen nah, als müsste er nur die Hand danach ausstrecken, doch er konnte sie nicht fassen.

„Sora, was verschweigst du mir? Warum vertraust du dich mir nicht an?“

 

Kapitel 4 – Soras Geheimnis

 

In den Tagen darauf vermied ich es mit Kazuki allein zu sein. Ich blieb in den Pausen bei den anderen oder flüchtete in die Mädchentoiletten, wo ich mich in einer Kabine einsperrte, damit Kazuki mich nicht weiter bedrängen konnte. Ich merkte, dass ich viel über ihn nachdachte. Mehr als ich vermutlich sollte. Nachts lag ich oft lange wach und erwischte mich bei dem Wunsch, Kazuki wäre hier und würde mich festhalten, mir Trost und Geborgenheit spenden.

Die Launen meiner Mutter schwankten stark. Es gab Tage, an denen sie unheimlich gut drauf war, als wäre sie ganz gesund. Dann gab es wiederum schlechte Tage, wo schon mal Gegenstände durch die Luft flogen und an der Wand zerschmetterten, fiel nur ein einziges falsches Wort. Dr. Yokina fielen meine Verletzungen bald auf. Ich erklärte sie mit meiner Ungeschicklichkeit. Der Arzt glaubte mir natürlich kein Wort, aber er konnte nichts tun. Ich würde ihm die Wahrheit nicht erzählen. Das wussten wir beide. Aber ich vertraute mich ihm in einer anderen Sache an. Kazuki. Ich erzählte Dr. Yokina von meinen seltsamen Wünschen in der Nacht nach ihm. Wie mein Blick während des Unterrichts fast schon magisch immer wieder zu ihm wanderte. Wie nervös und panisch ich wurde, sobald sich unsere Blicke einmal trafen. Wie sehr ich mir wünschte, ich könnte ihm die Wahrheit sagen. Aber das konnte ich nicht. Das würde ich nie können. Er würde mich hassen, mich verabscheuen. Das könnte ich nicht ertragen. Niemals!

„Du kannst es nicht ewig geheim halten. Diese Gefühle, die du da beschreibst,… Es klingt, als hättest du ihn ganz gern. Auf eine Art, auf die man einander auch näherkommt.“, antwortete Dr. Yokina mir. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich konnte kaum leugnen, dass ich Kazuki mochte. Aber doch nicht auf diese Art. Das ging doch nicht!

 

Meine nächtlichen Fantasien zeigten mir aber das Gegenteil. Während ich anfangs nur im Halbschlaf in Kazukis Armen gelegen hatte, gingen seine Hände inzwischen auf Wanderschaft. Er streichelte mir übers Haar, über den Rücken und seine Hand verschwand unter meiner Kleidung. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, zog er angewidert die Hand zurück und beschimpfte mich aufs Übelste, was er im wahren Leben wohl nie tun würde. An guten Tagen legte er seine Lippen an meinen Hals, ließ seine Zunge über mein Schlüsselbein wandern, während er mein Pyjamahemd aufknöpfte und dann über meinen Oberkörper leckte. In meiner Fantasie stellte er Dinge mit mir an, die mir die Schamesröte in die Wangen trieben. Es war manchmal so schlimm, dass ich am nächsten Morgen jedes Mal sofort rot anlief, sobald der reale Kazuki mich ansprach oder auch nur ansah. Ich verhielt mich komisch in seiner Nähe und ich fürchtete, dass das allmählich auffiel.

Schließlich verzog ich mich wieder in die Garten-AG. Ich wollte Kazuki nicht länger meiden. Je mehr ich mich von ihm fernhielt, desto schlimmer wurden meine Fantasien. Das musste aufhören. Das hatte sowieso keine Zukunft. Außerdem machte es mich am Ende nur unglücklich.

 

„Hey!“, grüßte Kazuki, als er mich auf der Bank sah.

„Hey!“, gab ich kleinlaut zurück und senkte den Blick. Ich schämte mich für mein Verhalten und für meine Fantasien, von denen er nichts wissen konnte.

„Hörst du auf mich zu meiden?“, fragte er sanft. Ich zuckte zusammen und hob den Kopf. Sein Blick war zärtlich und vertrauenserweckend. Er schien nicht so, als würde er mich ausfragen wollen. Oder als wäre er mir böse, weil ich ihm praktisch grundlos aus dem Weg gegangen war.

„Ich… Es tut mir leid. Ich… hatte viel Stress und war mit den Gedanken woanders.“, antwortete ich.

„Sora, tut mir leid, dass ich dich bedrängt habe. Das war taktlos von mir. Darf ich das wieder gutmachen?“, erwiderte Kazuki. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen. Besonders, als ich merkte, dass er seine Hand auf meine gelegt hatte.

„D-d-das ist nicht nötig.“, wehrte ich schnell ab.

„Doch. Außerdem würde es mich sehr freuen.“, entgegnete er.

„U-und wie willst du es wieder gutmachen?“, bohrte ich nach. Er lächelte dieses wundervolle Lächeln, das mein Herz zum Rasen brachte.

„Ich würde dir gerne nach der Schule meinen Lieblingsort zeigen.“, antwortete er sanft. Sein Blick, seine Stimme, sein Lächeln, seine ganze Aura war so unglaublich, dass ich einwilligte, ehe ich mir über die Konsequenzen Gedanken machen konnte.

 

„Ich bin froh, dass du mitkommst. Ich zeige nicht jedem diesen Ort.“, brach Kazuki sein Schweigen. Wir waren nach der Schule sofort in den Park gegangen und bestiegen den Hügel. Nach einer Weile kamen wir vom Weg ab. Es war uneben und ich hatte Schwierigkeiten mit dem Laufen. Da nahm Kazuki meine Hand. Sie war groß und warm. Und so stark. Ich hielt den Blick gesenkt, damit er nicht mein glühendes Gesicht sehen konnte. Mein Herz pochte heftig in meiner Brust. Wir erreichten den Gipfel des Hügels. Von dort hatte man eine wundervolle Aussicht. Es war ein kleines Paradies hier. Kazukis Blick war auf den Horizont gerichtet. Seine Gedanken schienen weit entfernt. Ich sah zu ihm auf. Langsam ließen wir uns ins Gras sinken. Kazuki erzählte mir, wie er diesen Ort gefunden hatte. Er war noch klein gewesen. Er und sein älterer Bruder hatten Verstecken gespielt. Dabei hatte er sich etwas verlaufen und dieses kleine Paradies entdeckt. Ich lauschte ihm gerne. Seine Stimme war so ruhig und sanft. Sie klang melodisch, wie Musik. Er war bestimmt ein wundervoller Sänger. Seine Stimme konnte alle in den Bann ziehen. Das hatte er beim Lagerfeuer bewiesen. Er lehnte sich leicht zurück und wandte mir den Blick zu. Ich drehte reflexartig den Kopf weg.

„Ich wünschte, du würdest dich mir anvertrauen.“, flüsterte Kazuki kaum hörbar. Ich sah ihn überrascht an. Da legte er den Finger unter mein Kinn und hob es an. Er beugte sich etwas vor und ehe ich verstand lagen seine Lippen auf meinen. Sie waren weich. Ich brauchte eine Weile, ehe ich kapierte, dass es diesmal keine meiner Fantasien war. Er küsste mich. Wirklich. Ich brach den Kuss abrupt ab und hielt den Kopf gesenkt, während mein Kopf glühte. Meine Gedanken kreisten. Was sollte das? Warum küsste Kazuki mich? Das war doch ein Traum, oder? Außer er hatte einen Scherz gemacht. Ich hob langsam den Kopf und sah ihm ins Gesicht, suchte nach Anzeichen, ob er mich wirklich bloß reingelegt hatte. Aber da war nichts. Sein Lächeln war sanft und sein Blick nicht aufdringlich. Ich presste die Lippen fest aufeinander, wusste nicht, was ich sagen sollte. Kazuki hob die Hand. Er strich mir ein paar Strähnen hinters Ohr und seine Finger strichen über meinen Hals. Jede Berührung kribbelte.

„Tut mir leid. Das kam wohl etwas überraschend.“, hauchte er. Mir schoss noch mehr Blut in die Wangen. Ein Teil von mir wollte ihm widersprechen, wollte ihm sagen, er brauche sich nicht entschuldigen, und ihm ‚Ich liebe dich‘ sagen. Doch im selben Moment, in dem mir klar geworden war, wie viel ich bereits für Kazuki empfand, wurde mir auch bewusst, dass wir nie zusammen sein könnten. Wir könnten uns nie näherkommen. Denn dann würde er alles sehen. Aber er durfte es nicht sehen. Er würde mich hassen, sich vor mir ekeln, mir vorwerfen, ich hätte ihn belogen.

„Anfangs war ich nur neugierig. Du hast dich irgendwie immer abgeschottet, da wollte ich mehr über dich wissen. Aber mit der Zeit hab ich gemerkt, dass ich mich wohl in deiner Nähe fühle. Ich unterhalte mich gern mit dir und es hat sich schrecklich angefühlt, als du mich gemieden hast. Ich mag dich. Sehr sogar.“, sagte er. Mein Herz schlug ein paar Takte schneller als sonst. Ich sah in seine Augen. Sein Blick war sanft, zeigte aber die stumme Aufforderung, dass er auf eine Antwort wartete. Ich umfasste mit beiden Händen seinen Arm, während seine Finger immer noch meine Haut berührten, und senkte den Blick.

„Ich, äh, a-also,… äh, i-ich… das ist… I-ich weiß nicht, was… ich sagen soll.“, gab ich von mir. Ich wär so gern bei ihm, aber ich konnte nicht. Das würde niemals gut gehen. Aber ich konnte ihm die Gründe nicht erklären. Kazuki ließ seinen Finger wieder unter mein Kinn wandern, um es anzuheben, damit ich ihm in die Augen sehen musste.

„Denk darüber nach, ja? Ich kann warten.“, meinte er sanft. Ich brachte ein Nicken zustande und er drückte seine Lippen auf meine Stirn.

 

„Du bist so schweigsam.“, riss mich Dr. Yokina aus meinen Gedanken. Der Arzt war zum Abendessen gekommen. Ich stocherte nur in meinem Fisch herum. Es war schon ein paar Tage her, dass Kazuki mich geküsst hatte. In der Schule hatte er sich so verhalten wie immer. Ich hatte auch mein Bestes gegeben, mir nicht anmerken zu lassen, was passiert war. Aber einigen Mädchen war aufgefallen, dass meine Gefühle für Kazuki anders waren als für die restlichen Jungs. Ich dachte fast ständig an ihn, überlegte immer noch eine Antwort und ließ manchmal auch meiner Fantasie freien Lauf. Was würde passieren, wenn ich mich auf ihn einließ? Wie würde er reagieren, wenn ich ihm die Wahrheit über mich erzählte? Würde er mich so akzeptieren, wie ich wirklich war? Oder würde er sich dann von mir abwenden? Ich bezweifelte, dass er es einfach so hinnehmen und wir zusammen glücklich sein würden. Ich hatte es vermieden, mit irgendjemandem darüber zu reden. Meine Mutter war vorhin, mitten unterm Essen, aufgestanden und polierte jetzt im anderen Raum das Silber, das das letzte Mal in Benutzung gewesen war, bevor ich überhaupt auf der Welt gewesen war.

„Mir geht einfach viel im Kopf herum.“, antwortete ich leise und spießte eine Karotte auf. Dr. Yokina hatte zu meiner Mutter gemeint, er wolle heute Karotten zum Essen. Natürlich hatte sie mir nichts auf den Teller getan, aber der Arzt hatte mir seinen Anteil abgegeben, sobald wir unter uns gewesen waren. Dr. Yokina musterte mich eingehend.

„Was beschäftigt dich denn so? Ist es immer noch dieser Junge?“, fragte er mit gesenkter Stimme. Aus dem Nebenraum war Summen zu hören. Meine Mutter war gut drauf. Ich antwortete nicht, aber Dr. Yokina nahm es als Bestätigung.

„Du solltest…“, begann er.

„Das wird niemals gut gehen.“, unterbrach ich ihn sofort. Ich wusste auch so, was er mir hatte sagen wollen. Es war nämlich immer dasselbe. Er riet mir immer, ich solle nicht nur an meine Mutter denken. Ich sollte mir über mich selbst Gedanken machen. Sollte überlegen, was ich selbst wollte. Beginnen, ein eigenständiges Leben zu führen. Aber ich wollte das nicht mehr hören. Ich hatte doch nur meine Mutter.

„Willst du es ewig verbergen? Das wird nicht gut gehen. Du machst dich damit nur unglücklich.“, entgegnete Dr. Yokina sanft. Ich antwortete nichts.

„Willst du Sotas Existenz ewig verleugnen?“, fügte er hinzu. Das war zu viel. Entsetzt sprang ich auf.

„Warum fangen Sie jetzt damit an?! Sprechen Sie nie wieder von ihm. Sota ist tot!“, schrie ich den Mann an, der nur mein Bestes wollte. Er starrte mich schockiert an. Ich wurde mir meines Ausbruches bewusst, murmelte eine Entschuldigung und wandte mich ab. Er wollte mich zurückhalten, aber ich riss meinen Arm sofort aus seinem Griff und eilte in mein Zimmer, wo ich mich einschloss.

„Er ist tot. Er existiert nicht mehr. Er hat nie existiert. Es wäre besser, hätte er nie gelebt. Seine Geburt war schlecht. Sie hat Mama traurig gemacht…“, murmelte ich dahin, während ich die Bilder der Vergangenheit zu vertreiben versuchte.

 

Es vergingen ein paar ruhige, ereignislose Wochen. Meiner Mutter ging es meist ganz gut. Es gab immer weniger schlechte Tage. Wenn Dr. Yokina kam, vermied er es mit mir über die Dinge zu sprechen, die mich aufregten. Er nahm Rücksicht auf mich, wollte mich davon überzeugen, dass er mich verstand und mir die Zeit gab, die ich brauchte. In der Schule lief alles gut. An manchen Tagen unternahm ich nach dem Unterricht mit den anderen Mädchen etwas. Ab und zu lud mich auch Kazuki ein. Die Mädchen wollten dann alles über unser ‚Date‘ wissen. Vermutlich war es ziemlich offensichtlich, was ich für Kazuki empfand. Eigentlich war es kein Geheimnis mehr, aber ich konnte es nicht zugeben. Die Angst, wie er reagieren würde, sollte er die Wahrheit erfahren, hielt mich immer wieder zurück. Er wartete immer noch geduldig. Diese Art von ihm brachte mich dazu, ihn jeden Tag ein bisschen mehr zu lieben. Es fing schon an wehzutun.

 

„Also, bald ist Elternabend. Gebt die Information zuhause weiter. Es wäre schön, wenn von jedem zumindest ein Elternteil kommt. Wenn die Eltern nicht Zeit haben, können natürlich auch andere Familienmitglieder kommen.“, erklärte der Lehrer vorne an der Tafel, während zwei Schüler Informationsblätter austeilten. Ich nahm eines entgegen und las mir die Informationen durch. Elternabend? Ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Es war natürlich wichtig, damit unsere Eltern wussten, wie es uns in der Schule wirklich ging. Wir waren Teenager. Die wenigsten erzählten ihren Eltern wohl alles. Zumindest wenn es ums Negative ging. Ich stellte mir meine Mutter dabei vor, wie sie durch die Schule ging. In einem ihrer schönen Kleider, mit perfekt frisierten Haaren und nur ein bisschen Make-Up, mehr brauchte sie ja nicht. Ihr Blick leicht trüb, aber klarer als sonst. Wie sie zu den Lehrern trat und nur Positives erwartete. Und dann kam mir das schlimmste Szenario überhaupt in den Sinn. Wenn nur ein Lehrer oder ein Elternteil ein falsches Wort verlor. Wäre sie so klar im Kopf, dass sie erwachsen reagierte und darüber hinwegsehen konnte? Oder würde sie einen Anfall der schlimmsten Sorte erleiden, Gegenstände durch die Gegend werfen und mich vermutlich auch noch vor Publikum verletzen? Das wäre der Supergau! Das konnte ich ihr nicht zumuten. Meine Mutter ging sowieso noch nicht an die Öffentlichkeit. Vor ein paar Tagen hatte sie mit Dr. Yokina einen kleinen Spaziergang gewagt. Aber nur bis zur nächsten Ecke. Ansonsten blieb sie nur im Garten. Ich musste mit Dr. Yokina sprechen. Vielleicht könnte er ja auch mitkommen? Dann wäre die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls nicht so hoch und er könnte Situationen entschärfen, bevor sie eskalierten.

 

„Elternabend? Hm, ja, das ist vielleicht noch etwas zu viel.“, meinte Dr. Yokina, als ich ihm das Informationsblatt zeigte. Er war am frühen Nachmittag gekommen, hatte mit meiner Mutter auf der Terrasse Tee getrunken und widmete sich jetzt nur mir, weil sie mitten im Gespräch eingeschlafen war. Der Arzt betrachtete nachdenklich das Blatt.

„Der Zustand deiner Mutter hat sich in den letzten Wochen zwar deutlich verbessert, aber sie ist immer noch ziemlich labil. So ein Menschenauflauf wäre zu viel für sie. Da hätte sie dann vermutlich einen Rückfall. Zumal ich mir ziemlich sicher bin, dass zumindest einer dieser Personen etwas über euch wissen könnte. Es wäre zu gefährlich, wenn jemand dieses Thema anschneiden würde.“, murmelte er, während ich das Geschirr abwusch.

„Ja, das dachte ich mir schon. Ich hab meinem Lehrer schon gesagt, dass meine Mutter wahrscheinlich nicht kommen kann.“, antwortete ich. Ein bisschen war ich enttäuscht, weil meine Familie nicht so normal war wie die der anderen. Aber ich hatte mich auch schon daran gewöhnt. Ich spürte die Hand meines Freundes auf meiner Schulter und sah auf.

„Was hältst du davon, wenn ich stattdessen komme? Wir sind zwar nicht blutsverwandt, aber ich kenne dich schon ewig. Außerdem war ich es ja, der überhaupt die Formalitäten geregelt hat.“, schlug er vor. Ich dachte eine Weile darüber nach, aber es sprach nichts dagegen.

 

Der Elternabend verlief gut. Es gab was zu essen, ein Unterhaltungsprogramm und in den Klassen verteilt waren die Lehrer, die Gespräche mit den Eltern oder anderen Angehörigen führten. Anfangs hatte man die Eltern im Allgemeinen auf dem Laufenden gebracht, über bevorstehende Ausflüge und Ereignisse berichtet. Dann hatten Einzelgespräche begonnen. Dr. Yokina hatte mit jedem meiner Lehrer gesprochen. Er log niemanden an, ließ aber alle in dem Glauben, er wäre ein entfernter Verwandter von mir. Das stimmte zwar nicht, aber eigentlich wäre es ja komisch, wenn ein Mann, mit dem ich überhaupt nicht verwandt war, statt meiner Familie gekommen wäre. Ich war bei manchen Gesprächen dabei, aber die meisten führte Dr. Yokina alleine mit meinem jeweiligen Lehrer. Ich verbrachte meine Zeit dann bei meinen Mitschülern. Manche diskutierten, ob dieser oder jener Lehrer irgendwelche Zwischenfälle von früher erwähnte.

 

Kazuki blickte zu den anderen. Die Mädchen saßen in der Klasse um einen Tisch und diskutierten angeregt. Bloß Sora war eher schweigsam, schien in Gedanken und blickte immer wieder zur Tür, sobald jemand reinkam. Er lächelte leicht. Sie war süß. Sehr sogar. Er merkte, dass er sie immer mehr mochte. Anfangs hatte er nur versucht, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, weil er gemerkt hatte, dass sie ihm etwas verschwieg. Dass sie Probleme hatte. Und er hatte herausfinden wollen, wer sie so verletzte. Doch ziemlich schnell hatte er gemerkt, dass er sie wirklich beschützen wollte. Es war offensichtlich, dass sie für ihn ebenso empfand, wie er für sie, aber etwas hielt sie davon ab, sich ihm anzuvertrauen, ihm näher zu kommen.

„Sora.“, erklang die Stimme des Mannes an der Tür, der mit Sora gekommen war. Kazuki musterte ihn. Sein kurzes, braunes Haar war leicht zerzaust und die Brille auf der Nase saß nicht wirklich gerade. Aber er hatte einen vertrauenserweckenden Blick und eine ruhige Ausstrahlung. Kazuki hatte mitbekommen, wie die anderen Mütter mit ihm gesprochen hatten. Sie waren offensichtlich von ihm angezogen worden, aber er schenkte seine Aufmerksamkeit lieber Sora. Irgendwie gefiel Kazuki das nicht. Sora hatte zwar angedeutet, dieser Mann wäre ein entfernter Verwandter, aber die Art, wie sie miteinander umgingen, war etwas zu vertraut für seinen Geschmack. Sora ging mit ihm. Kazuki stand auf, ehe er nachdenken konnte. Er folgte den beiden. Sie unterhielten sich wie üblich. Da klingelte Soras Handy. Es war ein altes, mit dem man nur telefonieren und SMS schreiben konnte. Sie hob ab. Kazuki war etwas zu weit weg, um zu verstehen. Er ging näher, blieb bei seinem Spind stehen und tat so, als würde er darin etwas suchen.

„Was?... Ist doch gut… Ja, Mama… äh, schon gut, ich mach das… Ich komme gleich.“, hörte er Sora ins Telefon murmeln. Sie legte auf.

„Mama hat Probleme. Sie wirkt verzweifelt. Stört es Sie, wenn ich nachhause gehe?“, fragte sie den Mann neben sich. Er lächelt freundlich.

„Geh ruhig! Ich statte deinen restlichen Lehrern noch einen Besuch ab und werde dann ebenfalls gehen. Ruf mich einfach an, wenn es deiner Mutter wieder schlechter geht.“, meinte er und strich ihr über den Kopf. Sora lächelte. Sie wirkte unbesorgter und glücklicher.

„Danke, Dr. Yokina!“, erwiderte sie und ging. Kazuki sah den Mann an. Wenn sie wirklich verwandt wären und so vertraut wie sie wirkten, warum sprach Sora dann so förmlich mit ihm? Das Mädchen ging. Der Arzt begab sich in ein Klassenzimmer, um das nächste Gespräch zu führen.

 

Kazuki fing den Arzt ab, als er aus dem Klassenraum kam.

„Sie sind statt Soras Mutter hier?“, sprach er ihn an. Der Mann musterte ihn und nickte.

„Ja, Haruna geht es heute nicht so gut, da bin ich eingesprungen.“, antwortete er.

„Ähm, ich… bin Kazuki. Ich gehe mit Sora in eine Klasse.“, stellte er sich vor, um das Gespräch anzukurbeln.

„Mein Name ist Kei Yokina.“, erwiderte der Mann freundlich.

„Ich hab schon von dir gehört. Sora hat von dir erzählt.“, fügte er hinzu. Kazuki fühlte sich etwas geschmeichelt, dass Sora von ihm erzählt hatte, dachte aber gleich daran, dass sie vermutlich auch über die anderen gesprochen hatte.

„Ähm, ich… hab gehört, Sie sind Arzt. Mein Bruder studiert gerade Medizin, da wollte ich fragen, ob er sich mal mit ihnen austauschen könnte.“, wechselte er das Thema und lächelte etwas. Dr. Yokina warf abwehrend die Hände in die Luft.

„Tut mir leid, ich bin nicht so ein Arzt. Ich bin Psychiater. An Medizin hab ich mich nie versucht.“, erklärte er.

„Psychiater? Hat Soras Mutter psychische Probleme?“, bohrte Kazuki neugierig nach.

„Tut mir leid, aber auch ohne Medizinstudium gilt die ärztliche Schweigepflicht. Ich darf keine Auskunft über Patienten geben, auch wenn Haruna und Sora mir sehr am Herzen liegen.“, erklärte er.

„Aber Sora braucht Freunde wie dich, also pass bitte gut auf sie auf.“, fügte er hinzu. Kazuki nickte und sah dem Psychiater hinterher.

 

„Du hattest also dieselbe Idee.“, erklang Itoes Stimme hinter Kazuki. Er drehte sich überrascht um und entdeckte ein paar seiner Klassenkameraden. Sie waren alle auf die Idee gekommen, in der Bibliothek bei den alten Zeitungen nach Informationen zu suchen.

„Was macht ihr hier?“, fragte Kazuki.

„Wir fanden diesen Mann bei Sora auch komisch und haben gehört, wie ihr euch unterhalten habt.“, antwortete Saya.

„Genau. Wir haben gehört, dass er Psychiater ist. Da sind wir auf die Idee gekommen, dass er Sora und ihre Mutter betreuen könnte, weil mal was passiert ist.“, fügte Etsu hinzu.

„Aber du hast dir wohl dieselben Gedanken gemacht.“, meinte Itoe.

„Ja, irgendwas war komisch. Und Sora verhält sich auch immer so eigenartig.“, stimmte Kazuki zu.

„Inwiefern eigenartig?“, wollte Mai wissen. Kazuki seufzte und überlegte, ob er es erzählen sollte.

„Sie… Manchmal ist mir aufgefallen, dass sie… verletzt ist. Nicht ernsthaft. Bloß Kratzer oder oberflächliche Schnittwunden. Aber sie hat auch so blaue Flecken, als ob sie jemand grob gepackt hätte. Ich hab kein gutes Gefühl dabei. Ich wollte sie darauf ansprechen, aber sie ist ausgeflippt.“, erzählte er etwas widerwillig. Die anderen wirkten bedrückt.

„Dann suchen wir jetzt einfach gemeinsam.“, meinte Saya.

„Auch wenn wir nicht sicher sein können, dass wir etwas finden. Es kann ja sein, dass dieser Vorfall, was auch immer das war, es gar nicht in die Zeitung geschafft hat. Oder vielleicht wurden auch die Namen weggelassen, dann ist es auch schwierig.“, warf Mai ein. Dennoch teilten sie sich auf und durchsuchten die alten Zeitungen nach Hinweisen.

 

Kapitel 5 – Die Wahrheit

Ich verbrachte ein relativ ruhiges Wochenende. Bis es Sonntagabend wurde. Es hatte den ganzen Tag geregnet. Meine Mutter war bedrückt. Sie war immer bedrückt, wenn es draußen so regnete. Dann war sie schlechter Laune und hatte schnell mal einen Anfall. Das hieß, ich musste aufpassen. Das Abendessen wollte sie wieder im Bett einnehmen. Ich stand in der Küche und kochte. Der Regen war deutlich zu hören. Ich dachte an den Vorfall zurück, der schon Jahre her war. Wie lange jetzt eigentlich? 10 Jahre? Nein, es waren schon 11. Ich seufzte leise und stellte dann die Teller und Schüsseln auf ein Tablett. Langsam ging ich zum Schlafzimmer meiner Mutter.

„Mama, bist du wach? Ich bringe dir dein Abendessen.“, sagte ich durch die Tür. Von drinnen kam ein unverständliches Gemurmel. Ich öffnete die Tür und trat ein. Das Licht war gedämpft und draußen herrschte tiefe Finsternis. Ich fühlte mich wieder unwohl, doch ich riss mich zusammen. Vorsichtig ging ich zum Bett und stellte das Tablett ab.

„Ich hab dir dein Lieblingsessen gemacht. Ich hoffe, du magst es.“, sagte ich sanft. Meine Mutter saß im Bett und starrte vor sich hin. Bei meiner Stimme war ihr Blick etwas gewandert, aber ansonsten hatte sie keinerlei Reaktion gezeigt. Ich überlegte, ob ich mit ihr reden sollte, als es an der Tür klingelte. Ich fragte mich, wer das sein konnte. Dr. Yokina hatte sich eigentlich nicht mehr angekündigt und normalerweise kam er auch nie so spät vorbei.

„Ich sehe mal nach, wer da ist.“, meinte ich zu meiner Mutter und eilte in Richtung Haustür. Als ich sie öffnete, erstarrte ich.

„K-Kazuki? Was machst du hier?“, fragte ich überrascht. Er kam herein und legte seinen Schirm ab.

„Ich muss mit dir über etwas reden.“, antwortete er ernst und griff in die Tasche seiner Jacke. Er zog ein Blatt Papier hervor und hielt mir einen Zeitungsartikel unter die Nase, den ich nur zu gut kannte.

„Darin steht, was sich vor 11 Jahren auf eurem Grundstück ereignet hat. Dass die zwei Kinder beim Spielen vom Regen überrascht und in eine Höhle gespült wurden, aber nur eines gerettet werden konnte.“, sprach Kazuki. Ich wandte den Blick von ihm ab und antwortete nichts.

„Dr. Yokina ist gar nicht mit dir verwandt, oder? Er behandelt euch. Weil ihr nie darüber hinweggekommen seid.“, fuhr er fort. Da ergriff er meine Hände und sah mich eindringlich an.

„Sora, sei ehrlich! Hat dir deine Mutter diese Verletzungen zugefügt?“, wollte er wissen. Entsetzt entzog ich ihm meine Hände und wich ein paar Schritte zurück. Da hörte ich etwas hinter mir und drehte mich um. Mutter war aufgestanden und hatte wohl einen Teil unseres Gespräches belauscht.

„Verletzungen? Welche Verletzungen? Ich würde meiner Sora nie etwas antun. Sie ist doch mein Engel! Mein Schatz! Mein Ein und Alles!“, sagte meine Mutter mit einer Stimme, die weit entfernt klang. Ich ging zu ihr und redete auf sie ein, dass sie sich wieder hinlegen sollte. Aber da sah sie mir in die Augen und über ihr Gesicht huschte ein düsterer Schatten. Sie packte mich an den Handgelenken. Ihr Griff war so stark, dass ich mich nicht wehren konnte.

„Was hast du mit meiner Sora gemacht? Wo ist meine Sora? Gib mir meine Sora zurück!“, schrie sie mich an.

„A-aber Mama! Ich bin’s doch! Deine Sora. Erkennst du mich denn nicht?“, erwiderte ich und versuchte sie zu beruhigen, aber es half nichts. Da mischte sich Kazuki ein und befreite mich aus dem Griff meiner Mutter.

„Was ist denn hier los?“, erklang plötzlich eine vertraute Stimme an der Tür. Dr. Yokina war gekommen. Meine Mutter kauerte an der Wand und murmelte immer wieder unverständliche Worte. Der Arzt erfasste die Situation ziemlich schnell. Eigentlich war es ein gewohntes Bild, bloß Kazukis Anwesenheit war neu.

„Alles in Ordnung, Sora?“, fragte der Weißhaarige mich besorgt und inspizierte meine Handgelenke.

„Das ist nicht Sora! Das ist ein Betrüger! Ein Trugbild!“, schimpfte meine Mutter. Ihre Worte waren verletzend. Dr. Yokina ging zu meiner Mutter und versuchte sie zu beruhigen.

„Sora?“, hauchte Kazuki. Das war zu viel. Ich hielt es nicht mehr aus. Ohne nachzudenken riss ich mich los und stürzte durchs Wohnzimmer aus der Terrassentür in den Garten. Ich ignorierte die Rufe hinter mir und lief durch den Regen. Einfach weg. Ohne Ziel und doch steuerte ich eine bestimmte Richtung an.

 

„Hier bist du!“, ertönte hinter mir Kazukis erleichterte Stimme. Ich kniete im Schlamm und starrte den mit Ranken überwucherten Felsen an.

„Geh weg! Du willst doch bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben.“, erwiderte ich. Die Tränen mischten sich mit dem Regen, der auf mich herniederprasselte. Meine Kleidung hatte sich schon vollgesogen. Kazuki verschwand aber nicht, er kam näher. Er ging neben mir in die Hocke.

„Ich weiß es.“, gab er von sich. Ich zog den Kopf ein und schüttelte mich unter lautlosen Schluchzern.

„Mir ist schon länger aufgefallen, dass an dir etwas eigenartig ist. Und die Art, wie du versuchst, dich von mir fernzuhalten. Außerdem hab ich gemerkt, dass was nicht stimmt.“, meinte er ruhig und beugte sich vor. Er wischte das Moos vom Felsen, das die Grabinschrift verdeckte.

„Es hätte mir eigentlich schon bei deiner Geschichte am Lagerfeuer auffallen müssen.“, meinte er und wandte sich ganz mir zu. Sanft griff er nach meinem Haar und zog mir einfach die Perücke vom Kopf. Zum Vorschein kam mein echtes Haar, das etwas heller war als die Perücke und mittellang.

„E-es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anlügen, aber… ich konnte es nicht sagen. Du hasst mich jetzt bestimmt. Wer würde sich auch mit jemanden wie mir abgeben wollen? Ich bin ein Junge. Jungs sind schlecht! Ich bringe nur Unglück. Alles wäre besser, wär ich nie geboren worden. Dann würde sie noch leben und Mama wäre nicht so unglücklich. Warum haben sie mich gerettet?“, schluchzte ich verzweifelt. Es war so grauenvoll. Warum hatte er das alles herausfinden müssen? Vielleicht wäre nie was passiert, wenn er es nicht herausgefunden hätte. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas passieren würde. Er wusste genau, dass es klüger war, wenn er sich von jetzt an von mir fernhielt. Kazuki war nicht dumm. Wenn er bisher alles herausgefunden hatte, würde er sicher auch auf genau diese Gedanken kommen. Doch da spürte ich einen Arm um meinen Rücken. Ein Finger legte sich unter mein Kinn und er hob es an.

„Hör auf, so etwas zu sagen! Du bist nicht verflucht. Es macht nichts, dass du ein Junge bist. Und was passiert ist, war ein Unfall. Ich verstehe dich. Ich bin dir nicht böse. Und ich hasse dich auch nicht.“, widersprach er ruhig, aber auch beharrlich.

„Ich liebe dich, Sota.“, fügte er hinzu. Mir stockte der Atem. Er beugte sich zu mir herab und küsste mich zärtlich.

 

Kapitel 6 – Sota

Ich zitterte am ganzen Leib. Meine Kleider waren klatschnass. Kazuki und ich waren zu lange im Regen gewesen. Jetzt standen wir im Bad. Dr. Yokina hatte meine Mutter ins Krankenhaus bringen lassen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie einen Anfall hatte, aber dieser hier hatte nicht abklingen wollen. Ich machte mir Sorgen um sie, aber so wie ich war, hätte ich mich ihr sowieso nicht zeigen können. Kazuki hatte das Wasser der Dusche aufgedreht und zog sich seine Jacke aus. Er ließ sie auf den Boden fallen und schlüpfte aus seinen Schuhen. Dann sah er zu mir. Als er merkte, dass ich mich nicht rührte und keinerlei Anstalten machte, mich ebenfalls auszuziehen, hielt er kurz inne. Er dachte einen Moment nach, dann kam er ohne zu zögern zu mir, packte mich und stellte mich einfach unter den inzwischen warmen Wasserstrahl. Ich schrie überrascht auf, doch da legte Kazuki bereits seine Lippen auf meine. Er küsste mich leidenschaftlich, bis ich mich allmählich in seinen Armen entspannte. Erst da löste er den Kuss.

„Ich will doch nicht, dass du dich erkältest.“, raunte er mir zu. Ich konnte mich kaum rühren, da zog er mir mein Shirt über den Kopf aus. Darunter trug ich einen BH, den ich mit Sandsäckchen ausgestopft hatte. Ich schämte mich sosehr dafür, dass er mich jetzt so sah, aber Kazuki schien es nicht zu kümmern. Stattdessen löste er den Verschluss meines BHs und dann meines Rockes. Ich stand nur in Unterhosen vor ihm. So vollkommen entblößt fühlte ich mich nicht gerade wohl.

„I-ich finde nicht, dass wir… wir sollten nicht… Ich bin nicht Sora. Noch dazu bin ich ein Junge.“, meinte ich und ließ unruhig meinen Blick wandern, während ich Augenkontakt vermied. Kazuki legte mir beide Hände an die Wangen und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Blick war sanft und ruhig. Er lächelte zärtlich.

„Ich weiß, dass du nicht Sora bist. Ich hab sie auch nie kennengelernt. Und auch dass du ein Junge bist, ist mir sehr bewusst, aber es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich.“, sagte er mit seiner samtenen Stimme, aber in einem Tonfall, dem ich einfach glauben musste. Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Er knöpfte sein Hemd auf und zum Vorschein kam ein schlanker Oberkörper mit gut definierten Muskeln. Er zog sich die Hose aus und stand nur mehr in Boxershorts vor mir. Ich faltete die Hände über meinen Schritt und schämte mich, dass mein Körper so reagierte.

„Mich stört es nicht, dass du ein Junge bist. Ich beweise es dir.“, flüsterte er und küsste mich, ehe ich ihn fragen konnte, was er damit meinte. Seine Hände strichen über meinen Körper. Wohlige Schauer liefen mir rauf und runter. Er löste seine Lippen von meinen und küsste stattdessen meinen Hals. Er leckte über mein Schlüsselbein, saugte an meiner Brustwarze und wanderte weiter hinab. Er liebkoste mich überall und es war ein noch viel unglaublicheres Gefühl, als ich mir in meiner Fantasie je hätte vorstellen können. Er ging auf die Knie. Mit einer Hand massierte er meinen Schritt. Meiner Kehle entkam ein Stöhnen. Kazuki sah zu mir hoch. Seine goldgrünen Augen schienen mich in den Bann zu ziehen.

„Hast du dich noch nie selbst angefasst?“, fragte er mit einem seltsamen Unterton.

„D-doch, aber… nur wenn’s wirklich notwendig war.“, antwortete ich kleinlaut und schämte mich noch mehr. Er steckte seine Finger in den Saum meiner Unterhose.

„Du bist so süß und noch so unschuldig.“, kicherte er leise und zog auch den letzten Stück Stoff runter. Was zum Vorschein kam, ließ mein Gesicht noch mehr erglühen. Mein steifes Glied sprang Kazuki förmlich ins Gesicht. Aber es schien ihn nicht zu stören. Er küsste die Spitze und begann über die gesamte Länge zu lecken. Er nahm die Hände zu Hilfe und liebkoste genau den Körperteil, der am deutlichsten definierte, dass ich doch kein Mädchen war.

 

„Ich bleibe heute bei dir, Sota.“, meinte Kazuki. Wir saßen beide in meinem Zimmer am Boden und lehnten mit dem Rücken an meinem Bett. Nach der heißen Dusche hatte ich aus meinem Schrank Pullover und Jogginghosen herausgesucht. Kazuki war etwas größer als ich, weshalb die Hose seine Knöchel nicht ganz verdeckte. Er hatte einen Arm um meinen Rücken gelegt und drückte mich an sich. Ich kuschelte mich an seine Brust.

„D-das vorhin… Das wäre nicht nötig gewesen.“, gab ich kleinlaut von mir. Kazuki strich über meinen Rücken und seine Hand glitt unter meinen Pulli. Es kribbelte, wo seine Finger meine Haut berührten.

„Doch, war es. Damit du ja nicht auf die Idee kommst, ich könnte dich nur als Ersatz für deine tote Zwillingsschwester sehen, die ich nie kennengelernt hab.“, flüsterte er. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Tatsächlich war mir schon mal der Gedanke gekommen, dass er sich wohl eher in meine Schwester verliebt hätte, wäre sie noch am Leben. Aber ich konnte ihn nicht fragen und ich konnte es mir auch nicht recht vorstellen. Fakt war, dass ich keine Ahnung hatte, wie Sora heute gewesen wäre. Sie war immer extrovertiert und neugierig gewesen. Abenteuerlustig und unerschrocken. Ein aufgewecktes Mädchen. Ich war damals sehr schüchtern gewesen und oft überängstlich. Das komplette Gegenteil. Aber niemand konnte sagen, was alles passiert wäre in den letzten Jahren.

„Ich liebe dich, Sota!“, hauchte Kazuki und riss mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Seine goldgrünen Augen hatten einen liebevollen Blick. Mein Herz schlug schneller.

„Ich… liebe dich auch, Kazuki.“, gab ich kaum hörbar von mir. Sein Ausdruck wurde noch zärtlicher. Er beugte sich vor und legte seine Lippen auf meine. Sein heißer Atem vernebelte mir die Sinne. Ich klammerte mich an ihm fest und wünschte, dieser wundervolle Moment würde bis in alle Ewigkeiten dauern.

 

Da öffnete sich abrupt die Tür. Kazuki löste eher langsam den Kuss und wir wandten die Köpfe um. Dr. Yokina stand im Türrahmen. Er schien über den Anblick überrascht.

„Sieht so aus, als hätte ich gar nicht mehr herkommen müssen.“, brach er schließlich sein Schweigen. Ich senkte den Blick und schämte mich irgendwie.

„Nein, das hätten Sie sich wohl sparen können. Ich passe auf Sota auf.“, entgegnete Kazuki. Er drückte mich näher an sich und mein Herz schlug schneller. Dr. Yokina musterte uns.

„Ich bin froh, dass es dir besser geht. Wo ist eigentlich deine Perücke?“, fragte er. Reflexartig griff ich mir ins Haar und bekam weniger zu fassen als sonst. Ich dachte an die vergangenen Stunden.

„Ah, die liegt noch draußen im Regen!“, fiel mir ein.

„Vermutlich ist sie nicht mehr zu retten.“, murmelte ich trübsinnig. Kazuki hob die Hand und ließ seine Finger durch mein Haar gleiten.

„Ist doch nicht so schlimm. Mir gefallen deine echten Haare sowieso besser. Ohne Perücke kann ich dir wenigstens wieder ins Gesicht sehen.“, erwiderte Kazuki. Mein Gesicht lief rot an. Dr. Yokina kam ein Stück zu uns und ging in die Hocke, um mit uns auf Augenhöhe zu sein.

„So einfach wäre es also gewesen, damit du dich zeigst?“, fragte er sanft und lächelte mich an. Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Situation war mir irgendwie so peinlich.

„Was… Was ist mit Mama?“, wollte ich wissen.

„Die Ärzte im Krankenhaus haben ihr Beruhigungsmittel verabreicht. Ich hab mich mit einem befreundeten Kollegen unterhalten. Er wird ab sofort die Behandlung deiner Mutter übernehmen. Es ist schließlich nicht mein Spezialgebiet und ich bin viel zu befangen.“, antwortete er.

„Und was geschieht jetzt mit ihr?“, fragte ich ängstlich.

„Mein Kollege wird morgen mit ihr reden. Ich hab ihm grob die Situation geschildert. Er hat gemeint, dass es das Beste wäre, wenn sie für eine Weile in eine psychiatrische Klinik zieht.“, antwortete er. Mir stockte der Atem. Meine Mutter wurde eingewiesen? Das war grauenhaft! Das wollte ich doch gar nicht.

„Dann… bin ich ganz allein.“, murmelte ich kaum hörbar.

„Du bist nicht allein.“, widersprach Dr. Yokina. Kazuki legte seine Hand an meine Wange und drehte mein Gesicht zu sich. Er sah mir tief in die Augen.

„Du wirst nie alleine sein. Ich werde immer für dich da sein, Sota. Versprochen!“, sagte er sanft.

„Ich hab mir darüber schon länger Gedanken gemacht.“, mischte sich Dr. Yokina wieder ein. Ich sah ihn fragend an. Er überlegte zuerst, als müsse er sich die Worte noch zurechtlegen.

„Ich würde gerne deine Vormundschaft übernehmen. Mit deinen 16 Jahren bist du eigentlich alt genug, um dich entmündigen zu lassen, aber in deiner speziellen Situation ist ein psychiatrisches Gutachten vonnöten. Das ganze Verfahren könnte ziemlich stressig werden. Außerdem glaube ich nicht, dass es so gut ist, dich alleine zu lassen. Du wirkst zwar sehr gefasst, aber du könntest immer noch Probleme bekommen.“, erklärte er. Ich dachte darüber nach, musste den Vorschlag erst noch verarbeiten. Kazuki schien schneller kapiert zu haben.

„Sie wollen Sotas Vormund werden? Überschreiten Sie da nicht irgendeine Grenze als Psychiater? Was ist überhaupt mit anderen Verwandten?“, wollte er wissen.

„Auch wenn ich als Psychiater in dieses Haus gekommen bin, liegt mir Sotas und auch Harunas Wohl sehr am Herzen. Es gibt zwar andere Verwandte, aber ich denke, du kennst die Geschichten.“, antwortete er. Kazuki sah mich fragend an.

„Unsere anderen Verwandten wollten nie was mit mir zu tun haben. Früher haben noch mehr hier gelebt. Sora wollte mich immer miteinbeziehen, während die anderen mich gemieden haben. Auch Mama hatte nie viel über diese Geschichten nachgedacht. Aber… nach diesem Vorfall hatten sie Angst und sind gegangen, bevor ihnen noch etwas passieren konnte. Und wie es Mama ergangen ist, weißt du ja.“, erklärte ich ihm. Wir schwiegen eine Weile, dachten über alles nach. Schließlich richtete sich Dr. Yokina auf und streckte sich.

„Gut, wenn du sowieso Gesellschaft hast, werde ich gehen. Sota, denk einfach über meinen Vorschlag nach. Wenn du mich nicht als Vormund willst, helfe ich dir auch dabei, dass du für mündig erklärt wirst. Das ist allein deine Entscheidung. Denk also gut darüber nach!“, meinte er. Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Er wandte sich an Kazuki.

„Ich überlasse Sota fürs Erste in deiner Obhut. Pass gut auf ihn auf! Wenn was ist, meine Nummer ist eingespeichert und ich kann innerhalb von zehn Minuten hier sein.“, meinte er. Kazuki drückte mich fester an sich. Dr. Yokina wandte sich um und ging, nachdem er sich verabschiedet hatte. Kazuki und ich blieben alleine zurück. Ich hatte das Gefühl, als würde sich mein Leben von nun an vollkommen verändern. Es würde nicht mehr viel mit meinem bisherigen zu tun haben. Dieser Gedanke machte mich zwar neugierig, aber vor allem auch Angst. Ich kuschelte mich an Kazukis Brust und lauschte seinem Herzschlag. Seine Nähe beruhigte mich und seine Wärme spendete Geborgenheit.

 

3 Wochen später

 

Ich starrte aus dem Fenster, während die Landschaft an mir vorbeirauschte. Das Rattern des Zuges hatte einen gleichmäßigen, beruhigenden Takt. Ich lächelte leicht, als ich daran dachte, dass ich endlich nachhause konnte. 3 Wochen Therapie waren zwar notwendig gewesen, aber die Kontaktsperre hatte mir zu schaffen gemacht. Ich hatte nichts von Kazuki oder Dr. Yokina gehört. Kazuki hatte mir vor meiner Abreise versprochen, er würde auf mich warten, aber ich wusste nicht, was sich getan hatte. Vielleicht hatte er seine Meinung bereits geändert? Dieser Gedanke machte mir Angst. Dr. Yokina hatte gemeint, er würde sich um die Sache mit der Vormundschaft kümmern. Außerdem wollte er seinen Kollegen bei der Suche nach einem guten Platz für meine Mutter unterstützen. Sie sollte zwar in eine Anstalt mit etwas Abstand, aber die Distanz sollte auch nicht zu groß sein, damit ich sie besuchen konnte, sobald es ihr besser ging. Dr. Yokina hatte mir erklärt, dass es wichtig wäre, dass ich sie im Laufe ihrer Therapie auch besuchen müsste. Damit sie der Wahrheit wirklich ins Auge blicken konnte. Ich selbst hatte mich auf Dr. Yokinas Rat hin ebenfalls in Therapie begeben. Mir war klar, dass ich Probleme hatte. Auch jetzt noch. Ich hatte mein Leben praktisch als Mädchen verbracht, verleugnet, dass ich ein Junge war. Ein psychischer Schaden war da nicht zu vermeiden gewesen. Ich musste mich erst daran gewöhnen, in Jungenkleidung herumzulaufen, die Jungentoilette zu benutzen oder auch nur auf den Namen ‚Sota‘ zu reagieren ohne gleich auszuflippen. Während der Therapie, in der ich Gruppen- und Einzelsitzungen hatte, war das kein allzu großes Problem. Dort kannten mich alle nicht anders. Aber bei dem Gedanken, meiner Schulklasse gegenüberstehen zu müssen und ihnen zu erklären, dass ich sie die ganze Zeit angelogen hatte, drehte sich mir fast der Magen um. Kazuki hatte zwar gemeint, er würde den anderen alles erklären, aber ich wusste nicht, ob wirklich jeder so verständnisvoll war. Ich hatte sie angelogen und es war ihr gutes Recht, wütend auf mich zu sein. Besonders wenn ich daran dachte, dass ich bei unserem kleinen Klassenausflug im Zelt der Mädchen geschlafen hatte. Und auch sonst hatte ich viel Zeit mit den Mädchen verbracht, was ich wohl nicht getan hätte, wenn sie gewusst hätten, dass ich ein Junge war.

 

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Schnell sprang ich auf und griff nach meinem Gepäck auf der Ablage, an das ich aber nicht drankam. Beim Einsteigen hatte mir der Schaffner noch geholfen. Ich war zu klein dafür. Hilfesuchend blickte ich mich um und ein älterer Mann war so freundlich, mir mein Gepäck zu reichen. Ich bedankte mich höflich und ließ mich dann von den anderen Fahrgästen nach draußen schieben. Das Gedränge am Bahnsteig war zu viel. Ich ließ mich treiben, versuchte an den Rand zu gelangen und blieb schließlich bei einer Säule stehen. Es dauerte nicht lange, da leerte sich der Bahnsteig. Als der Weg endlich frei war, blickte ich mich um. Da entdeckte ich ein bekanntes Gesicht und lächelte. Dr. Yokina sah mich ebenfalls und kam mit einem freundlichen Lächeln auf mich zu.

 

„Wie geht es Mama?“, wollte ich wissen, als wir im Auto saßen.

„Ihr geht es ganz gut. Sie hat sich schnell eingelebt und bisher hatte sie auch keine Anfälle gehabt. Allerdings liegt noch ein langer Weg vor ihr. Sie hat immer wieder nach Sora gefragt.“, erzählte er. Sein Unterkiefer mahlte angespannt, als würde ihn etwas beschäftigen.

„Stimmt was nicht?“, fragte ich vorsichtig.

„Nein, alles gut. Ich werde bloß einfach den Gedanken nicht los, dass ich früher handeln hätte müssen.“, antwortete er. Seine Stimme klang bedrückt. Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm.

„Ich bin überzeugt, Sie haben immer nur an unser Wohl gedacht. Ich weiß zwar nicht, was gewesen wäre, hätten Sie sich anders entschieden, aber so wie es ist, ist es nicht schlimm.“, antwortete ich. Dr. Yokina lächelte.

„Gut, ich bin froh, dass du es so siehst. Aber eines würde ich gerne ändern.“, meinte er. Ich sah ihn fragend an, denn ich wusste nicht, was er meinte.

„Hör auf mich zu siezen. Ich bin jetzt dein Vormund und so viel älter bin ich sowieso nicht. Also, sag Kei zu mir.“, erklärte er und zwinkerte mir zu.

„Dieses Vormundschaftsverfahren ist schon durch? Ich dachte, sowas dauert immer.“, erwiderte ich überrascht. Dr. Yokina, ich meinte Kei, kicherte etwas.

„Tut es normalerweise auch, aber die Situation erforderte eine relativ schnelle Klärung der Verhältnisse. Außerdem hat mein Vater ein paar Beziehungen genutzt und einige Hebel in Bewegung gesetzt, um die Sache zu beschleunigen. Ich konnte ihn überzeugen, dass es zu deinem Besten ist, wenn du jetzt, während du noch in therapeutischer Behandlung bist, dich nicht mit Gerichtsverfahren und all dem herumschlagen musst, sondern dich ganz auf deinen Heilungsprozess konzentrieren kannst.“, erklärte er. Ich war ihm dankbar. Er tat so viel für mich. Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, um meine Schuld bei ihm zu begleichen. Angefangen damit, dass ich den Haushalt übernahm, solange ich bei ihm lebte. Fürs Erste würden wir in seiner Wohnung bleiben. Wenn ich etwas stabiler war und mich bereit fühlte, würde ich mein altes Haus aufsuchen und irgendwann wohl auch wieder dort leben, sobald ich mit den Erinnerungen klarkam. Wir schwiegen, während jeder seinen eigenen Gedanken etwas nachhing.

„Willst du mich gar nicht fragen?“, brach Kei schließlich das Schweigen.

„Was fragen?“, bohrte ich nach, auch wenn ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, was er meinte. Aber ich hatte ein bisschen Angst vor der Antwort. Er musterte mich aufmerksam, dann richtete er seinen Blick wieder auf die Straße. Wir blieben an einer roten Ampel stehen.

„Er ist fast täglich gekommen und hat nach dir gefragt. Als ich ihm erklärt hab, dass auch ich keinen Kontakt zu dir haben darf, hat er sich stattdessen nach deiner Mutter erkundigt. Er schien sehr besorgt.“, erzählte Kei. Mein Herz machte einen Satz. Ich wandte den Kopf in Richtung Fenster, damit er meine roten Wangen nicht so sah. Kazuki hatte sich also selbst während meiner Abwesenheit um mich bemüht. Ich merkte, wie sehr ich ihn vermisste. Ich brauchte ihn. Ich wollte ihn sehen. Am liebsten sofort auf der Stelle. Aber mir war klar, dass das noch warten müsste.

 

Keis Wohnung war ein gemütliches, kleines Appartement. Es war nicht größer als nötig, aber auch für zwei Leute nicht zu klein. Kei erzählte mir, dass er kaum etwas vorbereitet hatte. Er hatte lediglich ein zweites Einzelbett besorgt, damit niemand auf der Couch schlafen musste. Ansonsten war die Wohnung ziemlich unverändert. Ich lebte mich schnell ein. Kei hatte einige meiner Sachen aus dem Haus geholt. Die meisten hatte er aber dort gelassen. Ich brauchte keine Mädchenkleider mehr. Stattdessen hatte er mir neue Kleidung für Jungs besorgt. Ich fühlte mich wohl bei ihm. Ich musste mich nicht mehr verstecken, musste nicht darauf achten, ob meine Perücke richtig saß oder meine Augen, die im Gegensatz zu Soras einen leichten Grünschimmer hatten, nicht zu sehen waren. Mein Haar hatte ich kurz gelassen. Kazuki hatte ja gemeint, das würde mir besser stehen.

 

Am dritten Tag meiner Rückkehr wollte ich meine größte Angst überwinden. Ich schrieb Kazuki eine SMS und machte mich schon früh auf den Weg. Ich ging in den Park und mit jedem Schritt wurde ich nervöser. Aber ich wollte nicht kneifen. Ich musste es durchziehen. Je länger ich wartete, desto schlimmer würde es werden. Ich musste mich meinen Ängsten stellen. Während ich mir gut zuredete, entdeckte ich in der Ferne meinen über alles geliebten Kazuki. Ich ging langsam auf ihn zu, musterte ihn genau und stellte fest, dass sein Gesicht in meinen Erinnerungen bereits zu verblassen begonnen hatte. Kurz vor ihm blieb ich stehen. Er musterte mich mit einem Lächeln. Sein Blick verschlug mir den Atem. Fast hatte ich vergessen, wie schön der grüngoldene Strudel seiner Augen war. Und sein Lächeln ließ mein Herz höher schlagen. Doch da wurde ich mir bewusst, dass ich als Junge vor ihm stand. Inzwischen war so viel Zeit vergangen, dass er sein Bild von mir geändert haben könnte. Doch er sah mich immer noch mit diesem zärtlichen Blick an.

„H-Hallo!“, brachte ich kleinlaut hervor. Kazuki schwieg, kam stattdessen auf mich zu und zog mich in seine Arme. Er umarmte mich fest.

„Ich hab dich vermisst, Sota.“, flüsterte er mir zu. Mein Herz sprintete los. Ich klammerte mich an ihm fest.

„Ich dich auch, Kazuki. Ich hab nur so lange durchgehalten, weil ich dich so gern wiedersehen wollte.“, gab ich leise zurück.

„Ein Glück. Ich dachte schon, sie würden dir einreden, eine Beziehung mit mir wäre etwas Schlechtes.“, seufzte er erleichtert. Ich merkte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Verwirrt hob ich den Kopf von seiner Brust.

„W-Warum sollten sie das tun?“, fragte ich unsicher. Er lächelte mich an.

„Weil ich deine Heilung behindern könnte.“, antwortete er gequält. Ich schüttelte heftig den Kopf.

„I-ich hab ihnen ziemlich alles erzählt, was passiert war. Gerade weil du mich praktisch gezwungen hast, die Wahrheit einzusehen und mich so akzeptiert hast, wie ich bin, tut mir deine Nähe doch gut.“, erwiderte ich sofort. Dann senkte ich den Blick auf seine Brust.

„Auch wenn ich Angst hatte, dass du mich nicht mehr mögen könntest.“, fügte ich kaum hörbar hinzu. Kazuki legte seine Hand an meine Wange und zwang mich ihn anzusehen.

„Was redest du da für einen Unsinn? Ich dich nicht mehr mögen? Ich liebe dich. Ich will mit dir zusammen sein. Am liebsten würde ich dich nie wieder gehen lassen.“, antwortete er. Ich konnte nichts erwidern, weil mich das Glück gerade überwältigt hatte. Er lächelte sanft und näherte sein Gesicht dem meinen. Zaghaft berührten seine Lippen meine. Er küsste mich zärtlich. Ich schloss die Augen und wusste im selben Augenblick mit völliger Sicherheit, dass alles gut werden würde, solange Kazuki an meiner Seite blieb und mich unterstützte. Er löste den wundervollsten Kuss der Welt wieder und wir lagen uns eine Weile schweigend in den Armen. Ich liebte ihn mit jeder Faser meines Körpers.

„Ich hab den anderen alles erklärt. Sie verstehen deine Situation.“, sagte Kazuki schließlich leise. Ich sah ihn wieder an. Er strich mir beruhigend über den Rücken.

„Fühlst du dich bereit, den anderen gegenüber zu treten?“, fragte er. Ich senkte den Blick erneut.

„Nur, wenn du bei mir bleibst.“, antwortete ich kaum hörbar. Seine Antwort war ein Lächeln.

 

Ich umklammerte Kazukis Hand so fest, ich konnte. Er erwiderte den Druck sanft und spendete mir so Sicherheit und Geborgenheit.

„W-Wissen sie eigentlich auch, was zwischen uns ist?“, fragte ich vorsichtig, während ich den Blick auf den Weg gerichtet hielt. Ich war nervös, aber ich würde keinen Rückzieher machen.

„Ja, natürlich. Ich wollte ihnen Zeit geben, damit sie alles verarbeiten können. Ich hatte nicht vor, bei dem Treffen von deiner Seite zu weichen. Und ich glaube, es ist ziemlich offensichtlich, was ich für dich empfinde. Würden sie es erst beim Treffen herausfinden, würden sie dich vielleicht noch mit unangenehmen Fragen bombardieren und das wollte ich dir ersparen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Ich meine, es macht ja doch einen Unterschied, ob sie dich für ein Mädchen halten und wissen, dass wir zusammen sind, oder sie wissen, dass du ein Junge bist.“, antwortete er. Am Ende wirkte er etwas unsicher und ich spürte seinen Blick auf mir. Ich sah ihn an.

„Nein, schon gut. Ich bin froh, dass du das getan hast. Ich… liebe dich ja und wenn es dir nichts ausmacht, dass ich ein Junge bin, kann es ruhig jeder wissen.“, versicherte ich ihm. Er löste seine Hand aus meiner, um den Arm um meine Taille zu legen und mich an sich zu ziehen.

„Es macht mir nichts aus. Ich liebe dich und ich werde immer für dich da sein.“, flüsterte er mir ins Ohr. Ich wusste, er konnte unmöglich wissen, was die Zukunft für uns bereithielt, doch mir war auch klar, dass er sein Versprechen ernst nehmen würde. Solange er an meiner Seite war, würde ich alles schaffen. Ich würde meinen Mitschülern gegenübertreten, mich aufrichtig bei ihnen entschuldigen, weil ich sie angelogen hatte, und hoffen, dass sie mir vergeben würden. Aber ich hatte Kei und Kazuki an meiner Seite. Egal, was die anderen nun von mir hielten, ich würde nie mehr alleine sein. Das war mir nach allem klar geworden. Meine größte Angst hatte sich in Luft aufgelöst. Ich kuschelte mich mehr an Kazuki.

Es würde alles gut werden. Ganz bestimmt!

 

Ende

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Tag der Veröffentlichung: 14.06.2016

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