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Prolog

„Wollen wir Freunde werden?“, fragte das kleine Mädchen den traurigen Jungen. Er hob den Kopf von seinen angezogenen Knien und sah das Mädchen an, das neben ihm nach vorn gebeugt stand, mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt und ihn mit einem Lächeln musterte. „Wieso?“, fragte er und sah sie misstrauisch an. Wieso wollte das fremde Mädchen ausgerechnet mit ihm befreundet sein? Sie sah ihn etwas verwundert an. „Wieso nicht? Du bist hier allein und ich hab auch gerade niemanden zum Spielen. Und Freunde kann man außerdem nie genug haben. Willst du denn nicht mit mir befreundet sein?“ Sie sah ihn etwas traurig an. Dieser Blick rief den Beschützerinstinkt in dem Jungen hervor. „Doch!“, sagte er laut und beugte sich zu ihr. Dann wunderte er sich über sein eigenes Verhalten. „Toll! Dann zeig ich dir meinen Lieblingsplatz.“, rief das Mädchen freudig aus und lächelte wie vorher. Sie nahm seine Hand, zog ihn auf und mit ihr mit. Er war über ihren Enthusiasmus überrascht und ließ sich mehr oder weniger freiwillig mitziehen. Das Mädchen und der Junge liefen neben einer hohen Mauer entlang. Die Straße wollte nicht enden. „Beeilung! Sonst ist es zu spät.“, trieb das Mädchen ihn an. In der Ferne waren Grillen zu hören. Die Luft roch nach dem Meer, das hinter der Mauer verborgen lag. Die Wolken färbten sich bereits violett. Auf der Straße waren nur die hallenden Schritte der Kinder zu hören. Schließlich hielten sie an. Das Mädchen ließ seine Hand los und ging zu der Mauer, die Spalten, Risse und die Überreste von Stufen hatte. Sie kletterte hinauf, jeder Griff und jeder Schritt sicher platziert. „Los, komm! Sonst siehst du es nicht.“, sagte das Mädchen, als sie den Kopf zu dem Jungen drehte. Dieser zögerte, dann folgte er ihr auf die Mauer. Schließlich standen beide oben und blickten auf das Meer, das durch die letzten Sonnenstrahlen glitzerte. „Wow!“, rief der Junge erstaunt aus und ein kleines Lächeln zierte sein zuvor noch trauriges und geplagtes Gesicht. Sie beobachteten den Sonnenuntergang. Der Junge nahm vorsichtig die Hand des Mädchens. ‚Ich werde dich immer beschützen.‘, dachte der Junge und sah das lächelnde Mädchen neben sich an.

Kapitel 1 – Ein neuer Schüler

 

Es war ein Tag wie jeder andere – dachte ich. Als ich morgens aufstand, hatte ich nicht geahnt, dass dieser Tag der Anfang meines neuen Lebens war. Aber ich fange am besten von vorne an. Mein Name ist Shinako Hana. Ich bin 16 Jahre alt und ein ganz normales Mädchen. Ich habe langes, hellbraunes Haar und lebe allein in einer kleinen Wohnung im Keichen-Viertel. Ich besuche die 2. Klasse der Tako-Oberschule. Ich bin kein Genie, aber meine Noten sind besser als die von anderen, auch ohne tagelanges Lernen. Neben der Schule arbeite ich noch in dem kleinen Café 'Muse'. Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt selbst und habe keine Freunde. Ich bin sehr schüchtern und es fällt mir schwer, meine Meinung zu sagen. Auf andere machte ich da schon oft einen kühlen Eindruck. Ansonsten gibt es nichts Besonderes von mir zu erzählen. Also zurück zu diesem Tag. Ich saß an meinem Platz wie gewöhnlich und machte meine Mathe-Aufgaben fertig, weil ich am Abend zuvor zu erschöpft gewesen und gleich eingeschlafen war. Ich hatte Probleme damit, mich zu konzentrieren. Meine Mitschüler waren ziemlich laut und tuschelten aufgeregt. In ihre Gespräche wollten sie mich nicht miteinbeziehen. Wir waren nicht besonders gute Freunde. Eigentlich ja gar keine. Ein paar kannte ich seit der Grundschule, aber das war auch schon alles, was uns verband. Meine Mitschüler nahmen Abstand zu mir. Anfangs fühlte ich mich sehr unwohl, aber ich hatte mich daran gewöhnt. Ich konnte nicht verhindern, ein paar Gesprächsfetzen aufzuschnappen. „… Wirklich? Ich hatte gehört, er sei von seiner alten Schule geflogen…“ – „…Er war angeblich schon im Gefängnis…“ – „…er hat seine Freundin geschlagen…“

Ich fragte mich, über wen sie sprachen. Da fiel mir ein, dass ja für heute ein neuer Mitschüler angekündigt worden war. Ich hatte schon lange damit aufgehört, mir Hoffnungen zu machen, ein neuer Mitschüler könnte ein Freund werden. Besonders wenn es ein Junge war. Ich seufzte und wendete mich wieder meinen Aufgaben zu. Normalerweise war Mathe meine Stärke, aber heute stand ich irgendwie auf der Leitung. Ich kaute auf meiner Unterlippe und beobachtete eine Gruppe von Mädchen, die sich gerade ausmalten, wie der Neue wohl so sei. Ich schüttelte darüber den Kopf. Wie konnte man sich nur so für Jungs interessieren. Zu meinen Interessen zählten Dinge wie Lesen, Naturwissenschaften, Sprachen, Tiere. Jungs gehörten nicht dazu. Vielleicht war das auch ein Grund, wieso mich die anderen Mädchen mieden. Ich wendete den Blick ab und starrte aus dem Fenster. Ein Vogel flog am Fenster vorbei und landete sanft auf einem Ast der großen Eiche auf dem Schulhof. Wie gern wäre ich ein Vogel. So frei, keine Sorgen, keine Probleme. Aber ich war ein Mensch. Ein Mädchen. Ich konnte nicht fliegen. Ich konnte manchmal noch nicht einmal richtig laufen. Eine der ersten Eigenschaften, die anderen zu mir einfielen, war meine Tollpatschigkeit. Natürlich war ich nicht so tollpatschig, wie viele sagten. Ich fiel nicht jede Treppe hinunter, eigentlich war ich sehr geschickt. Ich wurde nur leicht abgelenkt. Aber eines stimmte: Ich zog das Unglück fast magisch an. Wann immer mir etwas Peinliches passieren konnte, passierte es auch. Ich war nur froh, dass es zumindest Grenzen zu geben schien. So stolperte ich zwar ab und zu über meine eigenen Füße, aber ich landete nie in einer peinlichen Stellung. Trotz Rock hatte auch noch nie ein Junge meinen Slip gesehen, wie es in Shojo-Mangas oft vorkommt.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich die plötzliche Stille in der Klasse bemerkte. Ich sah mich kurz um und erkannte den Grund. Der Lehrer stand bereits in der Klasse und hatte für Ruhe gesorgt. Ich hatte wohl die Klingel überhört, was kein Wunder war. Es war ziemlich laut gewesen und die Klingel ist leicht zu überhören. Der Lehrer stand vorne. Ich bewunderte die Autorität, die er ausstrahlte. Ohne ein Wort konnte er die ganze Klasse auffordern, Platz zu nehmen und die Gespräche einzustellen. Er erinnerte mich immer an meinen Vater. Ich biss mir auf die Lippe und vertrieb den Gedanken wieder. Stattdessen nahm ich die Tür ins Visier. Ich erkannte den Schatten einer Person, die draußen wartete. Ob das wohl der Neue war? Wir wussten zwar, dass wir einen Schulwechsler bekamen, aber nicht in welche Klasse er kommen sollte. „Bevor ich heute anfange, haben wir einen neuen Schüler.“, begann der Lehrer, als es still wurde. Er wendete sich zur Tür, welche sofort geöffnet wurde. Herein trat ein Junge, der etwa einen Kopf größer war als ich. Seine braunen Haare standen wie sie wollten und hingen in sein Gesicht. Die Luft im Raum war so dick, dass man sie fast schneiden konnte. Die Stimmung war unangenehm. Ich verstand, wieso. Es war selten, dass ich mit den anderen einer Meinung war. Der Junge ließ den Blick durch die Klasse wandern. Jeder vermied den Blickkontakt mit ihm. Seine Augen wurden von seinen Haaren fast vollständig verdeckt. Jedoch blitzten sie bedrohlich hervor und verursachten einen eisigen Schauer. Als sich unsere Blicke trafen, blickte ich jedoch nicht weg. Irgendetwas an ihm faszinierte mich fast. Ich verstand mich selber nicht. Ich rutschte tiefer in meinen Stuhl und schluckte. „Das ist Youriko Akuma. Er kommt aus Osaka. Seid nett zu ihm!“, stellte der Lehrer den Neuen vor. Er wendete sich an Akuma Youriko, aber dieser erwiderte kein Wort. Er hatte mich immer noch fixiert. Langsam hielt ich es aber nicht mehr aus. Ich senkte den Blick und starrte auf meine Bücher am Tisch. Warum sah er mich so an? Ich spürte seinen Blick immer noch auf mir ruhen. Die Autorität des Lehrers wurde von der bedrohlichen Ausstrahlung des neuen Schülers überdeckt. Der Lehrer bat den Neuen sich zu setzen. Stumm gehorchte er und setzte sich auf seinen Platz, welcher genau hinter meinem war. Sobald er saß, begann der Lehrer mit dem Unterricht. Ich versuchte mich auf ihn zu konzentrieren und dem Unterricht zu folgen, aber das war heute ziemlich schwer. Ich spürte ständig den bohrenden Blick des Neuen in meinem Nacken. Wie konnte mich nur jemand auf den ersten Blick hassen? Ich zog den Kopf ein und versuchte ihn zu ignorieren. Das klappte nicht ganz so, er lenkte mich immer noch ab. Nach der ersten Stunde gingen viele nach draußen. Ich blieb auf meinem Platz und nahm ein Buch heraus. Ich las immer, wenn ich konnte, manchmal auch unterm Gehen, weshalb ich oft stolperte. Wenn Akuma Youriko nicht so unheimlich gewesen wäre, stünde jetzt schon die halbe Klasse um seinen Tisch um ihn auszufragen. Aber sie hielten Abstand, großen Abstand. Ehrlich gesagt, hätte ich das auch gerne getan, aber irgendetwas hielt mich an meinem Platz fest. Ich schlug das Buch auf und begann zu lesen. Aber schnell schweifte mein Blick ab und ich sah die anderen an der Tür. Eine unsichtbare Mauer stand zwischen den anderen und mir und dem Neuen. Mir tat er plötzlich leid. Ich wusste genau, wie es war gemieden zu werden. Ich fasste allen Mut zusammen, atmete nochmal tief durch und drehte mich zu ihm um. Die Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, blieben mir im Halse stecken und mein freundliches Lächeln, das ich aufgesetzt hatte, wurde zu einer seltsamen Fratze. Akuma starrte mich aus so hasserfüllten Augen an, dass mir die Luft wegblieb. Erlösung brachte die Schulklingel, die die zweite Stunde ankündigte. Ich drehte mich schnell wieder nach vorne und tat so, als wollte ich meine Sachen vorbereiten. Ich hatte noch nie jemanden mit so einem angsteinflößenden Blick gesehen.

Kapitel 2 – Der erste Eindruck

 

Nach der vierten Stunde war Mittagspause. Ich holte meine Lunch-Box hervor und begann zu essen. Hinter mir hörte ich nichts. Ich wagte einen Seitenblick und erhaschte aus dem Augenwinkel einen Blick auf Akuma. Er starrte mich immer noch an, hatte nichts zu essen. Ich sah wieder nach vorn. Ich überlegte, ob ich mich nochmal umdrehen sollte. Vielleicht hatte er ja nichts zu essen. Ich könnte ihm den Rest von meinem anbieten. Ich war noch am Nachdenken, da stand er auf und ging sofort nach draußen. Ich schaute ihm verwundert nach, genau wie alle anderen, die noch in der Klasse waren. Sein plötzliches Verlassen überraschte jeden. Sobald er jedoch draußen war, begannen die noch Anwesenden Vermutungen über seine dunkle Vergangenheit anzustellen. Ich schüttelte den Kopf über ihre Ideen. Der erste Eindruck täuschte. Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Anfangs hielten mich alle für cool und stark. Sie sagten, ich wäre reif und so erwachsen. Aber schon nach kurzer Zeit erkannten die meisten, dass das nicht stimmte. Ich verstaute meine leere Box in meiner Tasche und las in meinem Buch weiter. Als es klingelte holte ich meine Englischbücher heraus. Als es um mich herum still wurde, bemerkte ich Akumas Rückkehr. Es hatte sich etwas verändert. Sein Blick bohrte sich nicht mehr in meinem Rücken. Ich spürte, wie sich Erleichterung in mir breit machte. Der Unterricht verlief richtig angenehm, im Gegensatz zu den ersten vier Stunden. Sobald die Klingel das Ende der letzten Stunde verkündete, packte ich meine Sachen und verließ die Klasse. Ich ging schnell zu meinem Spind und wechselte die Schuhe, als ich merkte, dass mich jemand beobachtete. Akuma war mir gefolgt. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. Ich litt schon unter Verfolgungswahn. Ich eilte zu meinem Fahrrad, öffnete das Schloss und stellte meine Tasche im Korb ab. Dann sprang ich schnell auf mein Rad und verließ das Schulgelände. Ich fuhr die Straße entlang, den Berghang hinab und konnte gerade noch rechtzeitig vor den geschlossenen Bahnschranken anhalten. Während der Zug vorbeirauschte, dachte ich an Akuma Youriko. Sein Blick hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich suchte nach einer Erklärung, wieso er es gerade auf mich abgesehen hatte, fand aber keine. Die Schranken öffneten sich wieder und ich fuhr weiter, meine Gedanken immer noch bei Akuma. Ich kam beim Café 'Muse' an und zog mir die Uniform an. Sie bestand aus einem kurzen Kleid, einem Halstuch, das ich mit einem Ring zusammenband, und einer Haube. Als ich hier anfing, fand ich die Uniform zwar süß, aber an mir einfach nur peinlich. Mittlerweile war es mir jedoch schon egal. Ich hatte mich daran gewöhnt. Ich verstaute meine anderen Sachen im Spind und ging an meinen Arbeitsplatz. Das Café war weit genug von der Schule entfernt, sodass ich nie einen Kunden hatte, den ich aus meiner Schule kannte. Das war mir auch recht. Ich konnte darauf verzichten, dass mich jemand so sah. Sie sollten von mir halten, was sie wollten. Das Café war nicht besonders groß, es kamen auch nicht jeden Tag hundert Kunden, aber ich verdiente genug. Das musste ich auch. Die Arbeit fiel mir heute ungewöhnlich schwer. Ich machte einige Fehler. Normalerweise machte ich nie welche. Ich vertauschte Bestellungen und die Kasse bereitete mir große Probleme. Auch meinem Chef fiel dies auf. Er nahm mich nach meiner Schicht zur Seite. „Was ist heute mit dir los, Hana-san? Sonst machst du doch nie einen Fehler. Stimmt vielleicht etwas nicht?“ Er musterte mich besorgt. Ich spielte an meinem Halstuch und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Chef. Es ist alles in Ordnung… nun ja, es ist nur… wir haben einen Neuen in der Klasse und der ist… irgendwie seltsam.“, antwortete ich schließlich zögernd. Der Gesichtsausdruck meines Chefs änderte sich. „Ahhh, verstehe. Du brauchst nicht schüchtern sein. Ich bin sicher, er empfindet ebenso.“ Er lächelte breit und wandte sich zum Gehen. Ich warf die Hände abwehrend hoch und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein, nein, sie verstehen das falsch. Ich…“ Ich stöhnte und ließ die Arme fallen. Mein Versuch alles zu erklären war fehlgeschlagen. Er war bereits verschwunden. Na toll! Wenigstens wusste er nicht, über wen ich gesprochen hatte. Aber wie ich meinen Chef kannte, würde er spätestens nächste Woche nicht mehr darüber sprechen, solange ich selbst Akuma nicht mehr erwähnte. Ich zog mich schnell um, verstaute meine Uniform wieder im Spind und verließ das Café durch den Hinterausgang, wo mein Fahrrad stand. Der Nachhauseweg verlief ohne Zwischenfälle, allerdings hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Ich hielt am Supermarkt an, um den Wocheneinkauf zu erledigen. Diese Woche war es mal wieder knapp mit dem Geld, deshalb nahm ich mir vor sparsamer zu sein. Schließlich kam der Sommer bald und ich wollte mir ein paar neue Klamotten kaufen. Vielleicht sollte ich mir einen zweiten Job suchen? Ich hatte so viele Sorgen, dass ich nicht mehr an Akuma Youriko dachte. Als ich zuhause ankam, stellte ich meine Sachen ab. Meine Wohnung war sehr klein. Sie bestand nur aus zwei Räumen: Badezimmer und Wohnzimmer mit einer Kochnische. Ich hatte kein richtiges Bett, sondern schlief nur auf einem Futon. Ich stellte die Schachtel vom Café 'Muse' mit ein paar Kuchen, die übrig geblieben waren, auf den Tisch, daneben meine Schultasche. Ich holte mir ein Glas Saft und setzte mich auf den Boden an den Tisch, der mir kaum bis an die Knie reichte. Ich packte meine Hausaufgaben aus und während ich sie machte, aß ich den Kuchen. Ich saß lange an meinen Hausaufgaben. Es war heute so viel passiert. Um 11 Uhr abends klappte ich mein letztes Buch zu. Ich war nicht ganz fertig geworden, aber ich hatte mehr geschafft als am Abend zuvor. Ich räumte das Geschirr in die Spüle, steckte meine Bücher in die Schultasche und holte den Futon aus dem Kleiderschrank. Ich zog mir meinen Pyjama an und legte mich auf den Futon. Obwohl – oder gerade weil – viel passiert war, konnte ich schnell einschlafen.

Kapitel 3 – Unerwartete Begegnung

 

Am nächsten Morgen wachte ich nur schwerfällig auf. Ich hatte schlecht geträumt, konnte mich aber an den Traum nicht mehr erinnern. Mühsam rappelte ich mich hoch, räumte den Futon weg und ging ins Bad. Das Bad war nicht besonders groß. Es gab ein Waschbecken, darüber einen Spiegel, eine enge Dusche und eine Toilette. Für einen Erwachsenen wäre das Bad zu klein, aber zum Glück gehörte ich eher zu den kleingeratenen. Ich zog mich aus und warf meine Sachen auf den Boden. Mit der Zahnbürste in einer Hand drehte ich das Wasser unter der Dusche auf und stellte mich darunter. Ich beeilte mich. Jede Minute, die ich verschwendete, bedeutete eine höhere Wasserrechnung. Ich wusch mir die Haare und stellte dann das Wasser ab. Mühsam trocknete ich mich ab und verließ dann das Bad wieder. Ich holte aus dem Schrank meine Schuluniform und sah auf die Uhr. 7:28 Uhr. Hm, wenn ich mich beeilte, könnte ich noch in die Schulbibliothek gehen. Ich zog mich schnell an, holte aus dem kleinen Kühlschrank die Lunch-Box, die ich vorbereitet hatte, schnappte Tasche, Wohnungsschlüssel und ein Marmeladenbrot, das ich mir als Frühstück gemacht hatte, und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus bekam ich wieder das Gefühl beobachtet zu werden. Ich schüttelte den Gedanken ab und lief zu meinem Fahrrad. Während der Fahrt aß ich mein Brot. 15 Minuten später stellte ich mein Fahrrad ab und betrat das Schulgebäude. Außer ein paar Clubs und Frühaufstehern war das Gebäude noch leer. Ich betrat die Bibliothek, nickte der Bibliothekarin zu, die kurz von ihrem Buch aufsah, und stellte meine Tasche auf einem Tisch ab. Außer der Bibliothekarin am Tresen waren nur 2 Schüler da, die wohl Nachforschungen für ihre Hausaufgaben oder ein Projekt anstellten. Ich ging durch die Bibliothek, betrat einen Gang und blieb auf halber Höhe des Bücherregals stehen. Mein Blick tastete die Buchrücken ab und suchte ein Wörterbuch für Englisch. Ich fand eines und ging zurück zu meiner Tasche. Mithilfe des Wörterbuches machte ich meine Englischaufgaben fertig. Ich liebte Sprachen und konnte Französisch, Spanisch und auch Chinesisch. Englisch konnte ich im Prinzip auch, aber ich hatte dennoch meine Probleme damit. Nachdem ich mit Englisch fertig gewesen war, stellte ich das Wörterbuch zurück und ging in die Romanabteilung. Ich suchte mir das nächste Buch, das ich lesen wollte. Dann holte ich meine Tasche und ging zur Bibliothekarin. „Das will ich zurückgeben.“, sagte ich ihr und gab ihr das Buch aus meiner Tasche. Sie nahm es wortlos entgegen, tippte etwas in den Computer und legte das Buch auf einen Stapel hinter sich. „Und ich würde gerne das hier ausleihen.“ Ich gab ihr das neue Buch. Sie nahm es entgegen, scannte es ein und gab es mir zurück. Ich verließ die Bibliothek und machte mich auf in Richtung Klasse. Die Tasche um die Schulter, das Buch aufgeschlagen in der Hand ging ich zum Treppenhaus. Meine Klasse, die 11 b, lag im ersten Stock. Ich war in mein Buch versunken, deshalb achtete ich nicht auf die Stufen. Ein Fehler, den ich leider öfter machte und aus dem ich wohl nie lernen würde. Ich verfehlte eine Stufe und fiel rückwärts gen Boden die Treppe hinunter. Ich bereitete mich schon auf den Aufprall vor, da spürte ich, wie kräftige Arme mich auffingen. Ich blickte hoch. Akumas wütende Augen sahen auf mich herab. Mir stockte der Atem. Ich unterdrückte einen angsterfüllten Schrei. Stattdessen sagte ich mir: Reiß dich zusammen! Er hatte mich aufgefangen und gerettet. Ich atmete tief durch. „D-danke, Youriko-kun!“ Ich versuchte meine Stimme kräftig klingen zu lassen, aber sie klang eingeschüchtert. Bei seinem Nachnamen sah ich, wie er zusammenzuckte. Ich wurde mir plötzlich seiner Arme um meinen Körper bewusst und es wurde heiß. Ich sank den Blick. „K-könntest du mich… Könntest du mich bitte runterlassen?“, fragte ich schüchtern. Ich spürte seinen Blick auf mir. Dann stellte er mich vorsichtig auf die Beine. Ich richtete mir meinen Rock und spürte die Röte in mein Gesicht aufsteigen. „Danke.“, sagte ich nochmal und ging nach oben. Ich wagte es nicht, den Blick zu heben, aber ich hörte Akuma hinter mir. Ob er mich schon die ganze Zeit beobachtete? Bei diesem Gedanken begann mein Herz zu pochen. Ich betrat die Klasse und setzte mich mit einem gemurmelten „Guten Morgen!“ auf meinen Platz. Akuma kam kurze Zeit später nach. Er war draußen geblieben, vielleicht dass es nicht so aussah, als wären wir zusammen gekommen. Wieder tuschelten die anderen über Akuma. Sein Blick war an meinen Rücken geheftet. Die Schulklingel ertönte und kurze Zeit später trat der Lehrer ein. „Also, Ruhe bitte! Wir schreiben heute einen unangekündigten Test.“, verkündete er und ein Stöhnen erfüllte die Klasse. Ich ließ den Kopf hängen. Ausgerechnet heute einen unangekündigten Test, noch dazu in Englisch. Ungeachtet der Widersprüche verteilte der Lehrer die Tests. Ich beugte mich über mein Blatt und versuchte mich zu konzentrieren. Nach einigen Minuten spürte ich Akumas Blick sich nicht mehr in meinen Nacken bohren und ich konnte mich endlich auf meinen Test konzentrieren, sodass es kein Totalreinfall wurde.

 

Kapitel 4 – Ein neuer Kollege

 

Die Mittagspause verbrachte ich wieder allein auf meinem Platz. Akuma hingegen verschwand nach draußen, was mir sehr recht war. Ich dachte über den Test nach und versuchte mir auszurechnen, wie viele Punkte ich wohl ungefähr erreicht haben könnte. Ob ich noch positiv wäre? Könnte knapp werden. Ich durfte mir keine schlechten Noten erlauben. Schließlich wollte ich später studieren und ich brauchte unbedingt einen guten Job. Ich seufzte und wandte mich wieder meiner Lunch-Box zu. Ich konnte nur das Beste hoffen. Nächste Woche begannen die Prüfungen. Ich hatte keine Probleme mit den Prüfungen. Die meisten Fächer konnte ich bestehen ohne viel Lernen, aber mit Englisch könnte ich Probleme bekommen. Ich beschloss mein Bestes zu geben, da ging die Tür auf und Akuma kam wieder herein. Er ging stumm auf seinen Platz. Die Klingel kündigte das Ende der Pause an.

 

Ich kam überpünktlich zur Arbeit und ließ mir beim Umziehen Zeit. Als ich meine Schicht begann, bemerkte ich, dass es ungewöhnlich still im Café war. Ich sah mich um, da winkte mich mein Chef zu sich an einem Tisch. Ihm gegenüber saß jemand und vor ihnen lagen Unterlagen. „Bring uns bitte zwei Kaffees und noch ein Stück von der Erdbeertorte, Hana-san!“, sagte mein Chef. Ich zuckte zusammen, als ich Akuma ihm gegenüber sah. Ich verbeugte mich und eilte in die Küche. Was wollte der denn hier? Ich erinnerte mich an die Unterlagen. Vielleicht sollte ich unauffällig einen Blick darauf werfen? Ich stellte die Tassen und die Torte auf ein Tablett und verließ die Küche wieder. Am Tisch angelangt stellte ich vorsichtig das Tablett auf den Tisch. Während ich die Tassen vor Akuma und meinen Chef stellte, erhaschte ich einen Blick auf die Papiere. Ich kannte sie. Das waren Arbeitspapiere, die ich selbst auch unterschreiben musste, als ich hier angefangen hatte. Ich nahm das leere Tablett und begrüßte neue Kunden. „Willkommen im Café 'Muse'.“ Ich verbeugte mich und führte sie zu einem freien Tisch. Ich gab ihnen die Karten und nahm ihre Bestellung auf. Währenddessen versuchte ich Gesprächsfetzen zwischen Akuma und meinem Chef aufzuschnappen. Dies klappte nur schwerlich. Aber der Verdacht, dass er hier zu arbeiten anfangen würde, erhärtete sich. Als nach einer halben Stunde die Gäste, die noch da waren, versorgt waren, rührte ich in der Küche den Teig für einen Kuchen an. Das war noch ein Grund, wieso ich hier arbeitete. Wenn nichts los war, durfte ich backen und kochen üben. Ich hörte meinen Chef nach mir rufen und wollte die Küche verlassen. Da knallte ich mit der Nase gegen etwas Hartes. Ich sah auf und blickte in Akumas dunkle Augen. „E-es tut mir Leid, Youriko-kun.“ Bei seinem Namen verfinsterte sich wieder sein Blick. Unvermittelt wich ich einen Schritt zurück. „Oh, ich wusste nicht, dass ihr euch kennt. Das ist schön. Dann kannst du ihn ja einweisen.“ Mein Chef tauchte hinter ihm auf. „Einweisen?“ Er antwortete nicht, stattdessen drehte er sich um und kümmerte sich um neue Gäste. Ich starrte ihm hilflos hinterher, dann wandte ich mich wieder an Akuma. Erst jetzt bemerkte ich, dass er eine Uniform trug. „D-du arbeitest jetzt hier?“, fragte ich unsicher. Verfolgte er mich? Anstatt einer Antwort bekam ich ein Nicken. Ich zog den Kopf ein und schlüpfte an ihm vorbei. Ich zeigte ihm, wie man die Kasse bediente und wo alles war. Nach der kurzen Einweisung wich ich ihm möglichst aus.

Kapitel 5 – Seltsames Verhalten

 

Ich war noch nie so erleichtert gewesen, dass meine Schicht zu Ende war. Ich musste mich schnell noch umziehen, dann schnappte ich meine Sachen und ging durch die Hintertür hinaus. Draußen atmete ich tief durch und ließ die Anspannung fallen. Meine Sachen legte ich in den Fahrradkorb. Ich wollte gerade aufsteigen, als die Tür aufflog. Akuma ging auf mich zu. Unwillkürlich wich ich zurück und stolperte. Akuma war mit einem Satz bei mir, fing mich auf und stieß mich etwas unsanft gegen die Wand. Er stützte sich mit einer Hand neben meinem Kopf an der Wand ab und fixierte mich mit seinen düsteren Augen. Ich schluckte. Was hatte er vor? Er musterte mich von oben bis unten, dann ließ er von mir ab. Er drehte sich um und ging zu einem anderen Rad, das wohl seines war. Er stieg auf, warf mir noch einen eisigen Blick zu und fuhr los. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und atmete tief durch. Dann stieg ich selbst auf mein Fahrrad und fuhr nachhause. Unterwegs dachte ich die ganze Zeit an Akuma. Wieso hatte er das gemacht? Ich stellte mein Fahrrad ab und schloss es am Ständer ab. Da bemerkte ich ein neues Fahrrad. Neu stimmte nicht ganz. Das Fahrrad selbst wirkte schon älter, aber ich hatte es noch nie zuvor hier gesehen. Mir stockte der Atem, als ich erkannte, dass es Akumas war. Er wohnte im selben Haus wie ich? Ich nahm meine Tasche aus dem Korb und betrat das Wohngebäude. Ich wandte mich an die Postfächer und nahm die Zeitung und meine Post heraus. Ich ging hoch in meine Wohnung. Vor der Tür kramte ich die Wohnungsschlüssel aus der Tasche. Ungeschickt, wie ich war, fielen mir die Schlüssel aus der Hand. Ich wollte mich bücken, da fiel mir auch die Post aus der Hand. Ich ging runter auf die Knie und begann alles zusammenzusammeln. Ich bemerkte plötzlich, dass mir jemand half. Er hielt mir die Post entgegen. „Danke.“ Ich nahm sie lächelnd entgegen. Mein Lächeln erstarb jedoch, als ich meinen Helfer sah. „Y-Youriko-kun!?“ Sein Gesicht war ausdruckslos. Er drehte sich ohne ein Wort um, hob die Hand, als wollte er sich verabschieden und ging in die nächste Wohnung. War es Zufall, dass wir in dieselbe Klasse gingen, dieselbe Arbeitsstelle hatten und in demselben Haus wohnten? Ich war mir nicht sicher. Ich betrat meine Wohnung und stellte meine Sachen ab.

 

In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Die Tatsache, dass Akuma Youriko in der Wohnung nebenan lebte, beunruhigte mich. Gleichzeitig schlug bei dem Gedanken mein Herz schneller. Ich dachte an die Szene im Hinterhof des Cafés. Wieder fragte ich mich, was er von mir wollte. Wieso konnte er mir nicht einfach sagen, was ihn an mir störte? Mir wurde klar, dass er noch überhaupt nichts gesagt hatte. Wie sich wohl seine Stimme anhörte? Ich schüttelte den Kopf. Wieso dachte ich nur immer an Akuma? Vielleicht wegen diesem Gefühl? Es fühlte sich vertraut an, in seiner Nähe zu sein. Sein eisiger und angsteinflößender Blick machte mir nicht nur Angst, sondern hatte auch etwas

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.04.2016
ISBN: 978-3-7396-5025-8

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