Blutschwur der Schreiber der Großen Schriften:
„Ich wurde geboren um diese Zeiten und Taten zu belegen,
geboren, um Helden- und Fehltaten meines Zeitalters zu belegen,
damit unsere Nachkommen daraus lernen und nichts vergessen wird.
Frei von eigenen Ansichten und Eindrücken und Meinungen
soll diese Ära niedergeschrieben werden.
Im Blute derer, die vergangene Zeitalter geprägt haben,
im Blute derer, die vergangene Zeitalter geschrieben haben,
im Blute derer, die dieses Zeitalter prägen werden,
in meinem Blute, der dieses Zeitalter niederschreibt.
Es bindet mich an die Wahrheit,
ob gut oder schlecht,
ob gramvoll oder freudenreich.
Und so gelobe ich bei meinem Geburtsrecht,
mich der Verantwortung anzunehmen und zu schreiben;
ein neues Kapitel im großen Leben unserer dreier großen Völker.
Denn ich bin ihr Bibliothekar.“
Eintrag in die Bücher der Großen Schriften:
„Den Königen drohen dunkle Zeiten.
Gefüge werden brechen, Geheimnisse ans Licht gezerrt.
Tränen der Gram werden geweint werden müssen, um zurückzuerlangen, was rechtmäßig den Erben gehört.
Die Seher haben es gedeutet. Der Zwillingsmond wird das Firmament zum Brennen bringen.“
Blut.
Der Geruch von frisch vergossenem Blut.
Das Gefühl des Triumphes, wenn die scharfe Klinge des Schwertes sich in warme Gedärme bohrt. Das entsetze Erkennen des eigenen Todes. Der brechende Blick beim letzten Atemzug.
Vergossenes Blut des Feindes.
Er hatte sie überrannt. Gnadenlos. Erbarmungslos.
Die Brut wäre beinahe vom Angesicht der Erde verschwunden.
Die ernsten blauen Augen, von Schock geweitet. Stahl, der sich tief in die Brust bohrt. Rotes Blut, das sich über das Kettenhemd ergießt.
Die leuchtenden blauen Augen, in denen die Erkenntnis des Verrates leuchtet. Stahl, der die Gedärme zerfetzt. Rotes Blut, das sich über das Kettenhemd ergießt.
Er hatte die Zwillingssterne zu Fall gebracht, er hatte rotes Verderben über das große dunkle Tal gebracht.
Und dann war er an einem Kind gescheitert.
Tollwütig, jähzornig, die Augen in leuchtend grellem Grün und er war da gewesen, der rote Schimmer am äußeren Irisrand. Und er war nur so kurz davor gewesen, es gänzlich zu Ende zu bringen, nur einen schnellen Schwerthieb, als brennender Schmerz in seinem Leib explodierte.
Das Zerreißen von Fleisch, das Durchbohren von Innereien, sein eigenes rotes Blut, das sich über seinen Körper ergoss.
Schmerz, atemraubender Schmerz, die Erkenntnis, geschlagen zu sein, ein Hieb mit dem Handrücken, der fallende Bastard, das Knacken von Knochen, der näherkommende Boden, dumpfer Aufprall. Aufrappeln, den Arm gegen den aufgeschlitzten Bauch pressen, das Schwert packen, das tollwütige Kind suchen und finden. Auf es zugehen, um den letzten Stich auszuführen, zielgenau in ein schlagendes Herz. Den roten Schimmer in den Augen als Vorwand nehmen. Die Wildheit ausmerzen. Den Erben vernichten. Den Sieg erringen. Rotes junges Blut vergießen.
Hinterrücks niedergestreckt von einem Feigling, einem Speichellecker, einem billigen Kindermädchen!
Gefangen genommen, verurteilt, vernichtet.
Doch sein Erbe würde auf ewig weiterleben.
Blut.
Das vergossene rote Blut des Feindes.
Viel zu oft trug es seine Gedanken in letzter Zeit zurück in die Vergangenheit.
Viel zu oft ertappte er sich, wie er in leiser Wehmut versank, obwohl er doch keinen wirklichen Grund mehr hatte, es zu tun. Draußen, vor den Fenstern tobte ein Wintersturm, der Schnee und Eis über das Tal fegte und es in eine glatte Fläche voll weißer Diamanten verwandelte. Es hatte schon lange keinen so schneereichen Winter mehr gegeben, wie dieses Jahr. Das Meer toste in hohen Wellen gegen die mächtigen Klippen, Gischt spritzte bis weit an die Mauern der Drillingsburgen hoch.
Raghnall seufzte leise, ohne den Blick von der tobenden See zu nehmen.
Seine Söhne waren bei so einem Wetter geboren worden.
Canice und Conlaoch.
Auf den ersten Blick so gleich wie zwei Schneeflocken, auf den zweiten genau so unterschiedlich.
Raghnall seufzte erneut und seine Gedanken wanderten in der Zeit zurück.
Das einzige, was sich in all den Jahrhunderten nicht geändert hatte, war der Platz an dem die Burg stand. Damals, als die Schreie seiner gebärenden Frau durch die aufgehängten Vorhänge und Tücher gedrungen waren, war dieses Heim nicht mehr gewesen, als ein rundes dunkles Dún aus Holz und Stein. Jetzt war es eine riesige Landesburg, in die in Zeiten der Not der gesamten Ortschaft als Unterschlupf diente.
Er hatte seinen Söhnen zwei Burgen neben der seinen erbauen lassen, damals, in der Zeit, als die Römische Republik in ihrer vollen Blüte stand. Es waren dank Dashiells römischen Architekten für die damaligen Zeiten hochmoderne Mischungen aus Atriumhäusern und Kastellen gewesen. Prächtige, zweistöckige Gebäude mit Hypokaustenheizungen, die die Räume wärmten. Raghnall lachte leise. Das Meersalz hatte den Mörtel und die Steine, aus denen die Häuser gebaut waren, schneller zerfressen, als die Handwerker flicken und kitten konnten. Der Architekt, ein kleiner drahtiger Kerl mit giftigen Augen, hatte getobt, vor Zorn eine Wand mit dem Hammer eingeschlagen und sich an eine neue Planung gemacht.
Heraus kam der Grundstock dieser Burgen.
Der Architekt hatte sich neu orientiert. Keine offenen luftigen Zimmer aus Terrakottasteinen, sondern eine massive Burg mit schmalen Fensterschlitzen zur Meerseite aus dunklem Basalt, den er aus dem heutigen Deutschland hatte herschiffen lassen. Eine große Eingangshalle markierte das Zentrum des Gebäudes. Von dieser Halle gingen die Küche ab, ein kleinerer Raum für Privataudienzen und ein luxuriöses römisches Bad. Eine für die damaligen Verhältnisse gewaltige Steintreppe führte in die Schlafkammern im oberen Stock. Die mit heißer Luft betriebenen Fußbodenheizungen hatte sich der Architekt allerdings nicht nehmen lassen und wieder mit eingebaut.
Im Laufe der Jahrhunderte wurden die drei Burgen Stück für Stück erweitert.
Hier ein Flügel hinzugefügt, dort ein weiteres Zimmer erschlossen. Wurde eine Burg erweitert, wurden die anderen beiden Burgen mit erweitert. Jede der Burgen wurde von einer hohen Ringmauer abgeschirmt. Nur wenig später kamen zwei weitere Mauerringe dazu, die das komplette Areal der drei Burgen umschlossen. Die Burggräben wurden vertieft, die Toranlagen verstärkt, Schießscharten vermehrt. So war aus dem Platz, an dem vor über viertausend Jahren noch ein kaum zwanzig Quadratmeter großes Dún gestanden hatte, eine riesige Burganlage geworden, die Schutz vor Angriffen und ein Heim für die Herrscher des Braeden-Tals bot.
Canice und Conlaoch.
Wieder wanderten Raghnalls Gedanken zu seinen beiden Söhnen und er fragte sich, weshalb er in den letzten Wochen nur so oft an sie dachte. War es, weil er seine beiden Enkelsöhne nach all diesen langen Jahren endlich wieder bei sich hatte? Es musste daran liegen. Wenn er Ian und Conor beieinanderstehen sah, schien es ihm manchmal, als würden statt ihnen ihre Väter dort stehen. Conor, so ernst und nachdenklich wie Canice und Ian, so fröhlich und albern wie Conlaoch. Wie seltsam es doch war, dass die beiden die Charakterzüge ihrer Onkel geerbt hatten statt die ihrer Väter.
Und dann war da noch Phelan.
Raghnalls Herz schmerzte, wenn er an seinen jüngsten Enkelsohn dachte.
Er hatte die schwarzen Haare seiner schottischen Wolfsmutter geerbt und viele munkelten, dass er mit ihrem Erbe das Erbe der Ersten in sich trug. Raghnall schnaubte in das leere Zimmer. Natürlich tat er dass, ob es allerdings von Morrigans Seite herkam, war fraglich, immerhin war seine Schwiegertochter keine Geborene sondern eine, von seinem törichten Sohn Conlaoch gebissene Wölfin gewesen. Raghnall durfte nicht darüber nachdenken, was hätte alles passieren können, wäre Morrigans wölfisches Wesen wilder und tollwütiger.
Grund Gütiger, bei allen Göttern, da hatte er gestanden, frech und wild wie ein zwanzigjähriger Menschlingsbursche und in seinen Armen hing ein dürres kleines Wesen mit verfilztem Haar und panisch aufgerissenen Augen.
„Athair [äir], ich liebe sie.“
Noch heute hörte Raghnall den Klang von Conlaochs Stimme, erinnerte sich an das glückliche Leuchten seiner blauen Augen. Und an die kleine Wölfin, deren Verstand beinahe drohte, zu versagen, ob all dieser auf sie hereinbrechenden fremden Eindrücke.
Er hatte sie in die Obhut seiner Schwester gegeben, die damals noch mit ihm unter demselben Dach gewohnt hatte, um in Ruhe mit seinem Jüngsten zu reden. Nur um ihn dann das erste und letzte Mal mit einer Rute so heftig zu verprügeln, bis der Haselnussast nur noch aus wirren Fasern bestand.
Eine Wölfin.
Da hatte dieser dumme, nichtsnutzige, hirnlose Narr doch tatsächlich in einem Anfall von wussten die Götter was, eine wilde Wölfin gebissen und zu einer Werfrau gemacht.
Raghnall hatte getobt, Conloach geheult wie ein Welpe und die kleine Wölfin saß bei Raghnalls Schwester Rian und lernte, dass Feuer zwar Wärme spendete, aber auch Schmerzen verursachte. Und als sich Raghnall wieder beruhigt hatte und zu den beiden zurück in den Dún gekommen war, hatte die schwarzhaarige Wölfin ihre natürlich Scheu vergessen und tobte wie ein kleines Kind zwischen Töpfen und Pfannen und Kleidern und Tüchern herum, stieß einen erschrockenen Schrei aus, als sie in einer Silberschale das erste Mal ihr Spiegelbild sah, drehte und wendete das seltsame Stück, suchte dahinter nach dieser seltsamen Fratze und erkannte schließlich, dass sie diese Fratze war. Als sie sich zu Raghnall drehte, diese große silberne Schale in der Hand, die Dashiell vor langer Zeit aus Rom mitgebracht hatte, als sie sich zu ihm umdrehte, ihm diese Schale hinhielt, mit funkelnden bernsteinfarbenen Augen und einem lauten perlenden Lachen, als sie ihm so voll kindlicher Freude ihr Spiegelbild zeigen wollte, welches er nicht sehen konnte, da sie die Schale nicht mehr vor ihr Gesicht hielt, da hatte Raghnall begriffen, weshalb sein dummer Sohn sie gebissen hatte. Er hatte mitgelacht, sich vor sie gekniet und sein Gesicht vor die Schale gehalten. Die kleine Wölfin hatte vor Freude gekreischt, die Schale zu sich gedreht, nur um erneut aufzukreischen und sie vor Raghnalls Gesicht zu halten. Sie hatten dieses Spiel an diesem Tag unzählige Male gespielt und Raghnall war von ihrem Lachen gefangen genommen worden.
„Morrigan, Raghnall. Sie ist eine Mór rígain.“
Seine geliebte Schwester Rian, die oft genug die Gabe besaß, hinter die Dinge sehen zu können, hatte ihn nur sanft angelächelt. Raghnalls Blick war auf das kleine Wesen mit den kindlich leuchtenden Augen gefallen, welches sich vertrauensvoll an ihn gelehnt hatte. Dieses Wesen sollte der Meinung seiner Schwester nach eine große Königin sein? Nun, sie musste es wissen.
„Möchtest du Morrigan heißen, kleine Wölfin?“
Sie hatte ihn fragend angesehen und er hatte ihr die Bedeutung ihres Namens erklärt, nicht sicher, ob sie überhaupt verstand, was er ihr erzählte.
„Morrigan …“
Es hatte kehlig geklungen, als er sie das erste Mal hatte sprechen hören. Morrigan, die große Wolfskönigin. Raghnall stand vor der alten silbernen Schale, die mittlerweile blind vom Alter war und er fragte sich kurz, wann er das Zimmer gewechselt hatte. Er lachte schnaubend. Jetzt wanderte er schon wie seine Gedanken umher, ohne es aufhalten zu können. Er wurde alt.
Morrigan.
Sie musste wirklich so etwas wie eine Königin unter den Wölfen sein, Raghnall hatte sonst keine Erklärung dafür, dass ihr Verstand normal und nicht verkümmert war. Sie hatte sich unglaublich schnell an das Leben als Werfrau angepasst, hatte mit Rian gelernt zu reden und wie sie all die Dinge zu benutzen hatte, die sie, die Zivilisierten, im alltäglichen Leben benutzten. Mit kindlicher Freude und Begeisterung hatte sie all das fremde Wissen aufgesaugt wie ein Schwamm. Sie hatte voller Freude Kleider getragen und vor Raghnall posiert und vor Conlaoch kokettiert. Nach nur zwei Jahren hatten sie geheiratet.
Und sie hatten vergessen, dass Morrigan keine Geborene war, sie hatten vergessen, dass sie eine wilde Wölfin gewesen war und dann hatte dieser dumme Narr von seinem Sohn nichts Besseres gewusst, als sie zu bespringen, als sie in ihren wölfischen Gestalten rennen waren, und sie zu schwängern! Denken war noch nie wirklich eine Stärke von Conlaoch gewesen.
Raghnall seufzte herzhaft, als sich die alten Sorgen von damals in ihm regten, obwohl die drohende Gefahr längst vergangen war. Es gab gute Gründe, die die Vereinigung zweier Wermenschen in ihren tierischen Gestalten missbilligte. Das mögliche Schwängern des Weibchens zum Beispiel. Wurde eine Werfrau schwanger, behielt sie bis zum Tag der Geburt die Form, die sie im Moment der Empfängnis angenommen hatte und es war besser für alle, wenn die Frau dabei menschlich war. In ihrer wölfischen Form war die Gefahr zu groß, dass sie sich selbst vergaß und Raghnall hatte es nicht gewagt, sich damals auszumalen, was geschehen könnte, wenn eine Wölfin, die zu einer Werfrau gebissen worden war, tragend in ihrer wölfischen Gestalt feststeckte. Doch Morrigan hatte eine bemerkenswerte Willenskraft an den Tag gelegt. Ihr Geist war klar geblieben und sie hatte ihren neuen Menschen in sich nicht vergessen.
Und sie hatte nach neun Monaten einen blond befellten Welpen geboren. Conor.
Sein Enkelsohn. Als Wolf geboren, als Wolf die ersten Jahre seines Lebens verbracht, ein ernster nachdenklicher kleiner Kerl, der am Liebsten bei seinem Großonkel Conroy auf dem Schoß hockte oder lag und sich von ihm in der Geschichte ihrer Völker unterrichten ließ. Dann, als er das ungefähre Alter eines zwölfjährigen Menschlings erreicht hatte, war seine Mutter mit ihrem Wolfswelpen irgendwo in den alten Wald zu einem Weisen gegangen und als sie zurück in die Burg kam, hatte sie einen schlaksigen Jungen mit braungebrannter Haut und wilden blonden Haaren an der Hand, der die Augen seines Vaters hatte und das Lächeln seines Onkels. Conlaoch war zusammen mit seinem Bruder auf dem Festland gewesen, um eine Allianz mit dem Rat zu festigen, als Morrigan beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, dass Conor endlich seine menschliche Seite zu leben hatte. Es war ein gefährlicher Schritt gewesen, Werkinder verwandelten sich erst, wenn sie am Ende ihrer Pubertät angelangt waren, um der Gefahr zu entgehen, ob den Schmerzen entweder den Verstand zu verlieren oder in der Verwandlung stecken zu bleiben.
„Ay, Con-Con!“
Ein kleines schmutziges Ding kam um die Ecke gerannt, kleine Zweige und Blätter hingen in den verfilzten Haaren, die Hose und der Wams waren zerrissen, wo die Schuhe abgeblieben waren, wussten allein die Götter.
Raghnall schüttelte gedankenverloren den Kopf, als er an seinen jüngsten Enkelsohn dachte. Er büxte seinen Ammen aus, verlor grundsätzlich seine Schuhe und wenn er sich irgendwann erbarmte und von seinen Ausflügen zurückkam, dann sah der kleine Kerl immer aus, als ob er noch nie mit Wasser und Seife in Berührung gekommen wäre. Phelan war als Kind viel zu neugierig und viel zu abenteuerlustig gewesen, als gut für ihn gewesen war. Er fiel von Klippen und Bäumen, steckte in Erdlöchern fest und bevor er überhaupt lesen und schreiben konnte, wusste er schon, wie jeder einzelne Knochen in seinem Körper hieß, den er sich schon gebrochen hatte. Als Morrigan damals mit Conor aus dem Wald zurückgekehrt war, war ihr Jüngster offensichtlich wieder windiger und schneller als seine Kinderfrau gewesen und ihr abgehauen.
Niemand erfuhr, wohin dieser kleine Satansbraten immer verschwand, es sei denn, sie machten sich auf die Suche nach ihm und fanden ihn, wie er in einer für sich ausweglosen Lage feststeckte. Meistens waren es Beigan und Borgúlfr, die mit ihm an den Händen zurückkamen.
Phelan war so ein fröhliches, ausgelassenes Kind gewesen.
Raghnalls Miene verzog sich vor Schmerzen.
Und dann geschah der Angriff auf die Drillingsburgen.
Phelan war damals gerade auf dem lächerlichen Stand eines zehnjährigen Menschlingsjungen. Er träumte davon, eines fernen Tages in die Fußstapfen seines Vaters und Onkels zu treten und ein mutiger und heldenhafter Heerführer zu werden. Wenn er nicht gerade versuchte, sich bei irgendwelchen waghalsigen Aktionen den Hals zu brechen, trainierte er verbissen mit Darragh den Schwertkampf oder ließ sich von seinem Onkel Canice in Strategie unterrichten. Wobei bei Phelan Strategie meist als reinstes Selbstmordmanöver endete. Er war schlicht zu impulsiv und zu angriffslustig, um besonnen genug Kalkül in seine geplanten Handlungen zu legen.
Und was Raghnall immer noch am Meisten schmerzte, Phelan hatte ein schlafwandlerisches Talent für das Kämpfen. Man gab ihm das Blatt eines Baumes in die Hand und wenn man ihn danach fragte, konnte er einem innerhalb kürzester Zeit aufzeigen, wie er daraus eine tödliche Waffe herstellen würde und wie er sie zu benutzen hatte. Er war als Achtjähriger bereits ein besserer Schwertkämpfer als mancher Soldat in Raghnalls Armee gewesen.
Und dann dieser schwarze Tag für alle im Tal, aber am Meisten für Raghnall und seine Familie.
Raghnall lachte bitter auf und wandte sich zum Fenster. Vor da hatte er den besten Blick auf die Stelle, an der seine beiden Söhnen ihr Leben gelassen hatten.
Die Soldaten des Braeden waren weg gewesen, um sich für eine lächerliche Machtdemonstration zur Einschüchterung darzubieten, einen halben Tagesritt entfernt im Landesinneren. Er war weggewesen, hatte seine Söhne mit kaum fünfhundert Männern zur Verteidigung der Burg zurückgelassen. Er hatte auf die Sicherheit der Ringmauern vertraut, auf die abschreckende Wirkung seines Namens. Wer konnte schon mit diesem Feind rechnen? Wer hatte damit rechnen können? Raghnalls Gesichtszüge verhärteten sich.
Sie waren zu spät gekommen. Seine Söhne hatten zwar noch gelebt, doch noch in derselben Nacht hatten sie diese Welt verlassen. Erst war das Leben aus Canice gewichen und kurz vor der Morgendämmerung hatte Conlaoch seinen letzten Atemzug getan.
Die Trauer um seine Söhne und die Angst um seine drei Enkelkinder, vor allem aber um Phelan, hatten ihn erstarren und unverzeihliche Fehler begehen lassen.
Seine Söhne, die versuchten, den Angriff vor den Mauern abzuwehren.
Und sein Enkelsohn, der damals gerade einmal im Alter eines zehnjährigen Menschlings gewesen war, der die wenigen in der Burg verbliebenen Männer und die Frauen und die Kinder in eine Schlacht geführt hatte, von der heute noch die Einwohner erzählten.
Dieser Enkelsohn, der, mit seinen Kurzschwertern bewaffnet, inmitten von Kriegern und Soldaten stand.
Dieser Enkelsohn, der, wie ihm einige schworen, beinahe tollwütig durch die Kämpfenden fegte und tötete, als wäre er ein alter erfahrener Krieger, dem der Tod keinen Schrecken mehr barg.
Dieses Kind, welches an diesem Tag seine Kindheit verlor.
Raghnall krallte sich am Sims des Fensters fest und presste fest die Lippen zusammen.
Die Angst, die in ihm herangewachsen war wie ein giftiges Geschwür, die ihm die Luft zum Atmen genommen hatte, die ihn gelähmt hatte und die ihn folgenschwere Entscheidungen hatte treffen lassen.
Er hatte sie weggeschickt.
Er hatte in seiner kopflosen Angst und Panik seine Enkelkinder in eine Kutsche verfrachtet und sie weggeschickt. Von Lehrmeister zu Lehrmeister. Von Kriegsheld zu Kriegsheld.
Immer mit dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn Phelan nicht Phelan gewesen wäre. Wenn Phelan nicht dieses unverschämte Glück gehabt hätte und in dieser Schlacht ebenso gefallen wäre wie sein Vater und sein Onkel. Wenn Beigan nicht an seiner Seite gewesen wäre.
Wenn Conor getötet worden wäre.
Wenn Ian getötet worden wäre.
Es durfte niemals geschehen, dass seine Enkelsöhne nur durch Glück einen Kampf überstanden. Sie mussten jeden Kampf und jede Schlacht durch Können für sich entscheiden. Und so hatte Raghnall entschieden, dass sie in die Welt ziehen und das Kriegshandwerk lernen würden. Er schickte sie überall dorthin, wo er wusste, dass dort fähige Lehrer waren, die seinen Enkelsöhnen all das beibringen konnten, was nötig war, um zu Überleben. Er schickte sie in das weit entfernte Japan und nach China, zu den Mongolen und Hunnen, in die eisige Wüste der sibirischen Steppe um sie abzuhärten. Und irgendwann auf dieser Reise, die doch in Wirklichkeit nichts anderes, als eine Flucht gewesen war, hatte er seinen Enkelsohn verloren.
Raghnall wandte sich vom Fenster ab.
Phelan würde nie wieder eine Schlacht nur durch Glück und Zufall und der Gnade der Götter überleben, sondern weil er der beste Kämpfer war, der auf dieser Erde wandelte.
Ein kleiner Schuh weckte Raghnalls Aufmerksamkeit. Liebevoll strich er über das alte trockene Leder. Er hatte vor langer Zeit unter seinem Bett gelegen, wohin sein rechter Zwilling verschwunden war, wusste niemand.
Ein leises Klopfen ließ Raghnall aufschrecken. Er wandte sich um und sah seinen Butler an der Tür stehen.
„Master O’Braeden, Master Delano ist eben eingetroffen. Er wartet im Zigarrenzimmer“, verkündete er stoisch und verneigte sich. Raghnall nickte erhaben.
„Danke, Tobias. Ich komme sofort.“
Der Butler verneigte sich noch einmal, dann trat er rückwärts zurück und zog die Tür leise ins Schloss. Raghnall seufzte verhalten.
Er hatte einen mächtigen Krieger erschaffen und dabei seinen Enkel verloren.
Er würde damit leben müssen, er würde den Hass, den Phelan ihm entgegen brachte, akzeptieren und erdulden. Aber er wusste auch, dass das Wissen, dass sein Enkelsohn nicht mehr hilflos war, ihn trotz des Hasses nachts ruhiger schlafen ließ.
Raghnall strich ein letztes Mal über den kleinen Schuh, dann wandte er sich zur Tür und verließ das Kinderzimmer.
„Wie, nichts?“
Phelan starrte Yuri ungläubig an. Der Wissenschaftler seufzte verhalten. Und wieder von vorn. Zum, Yuri überlegte kurz, um sicher zu gehen, dass er sich nicht verzählt hatte, nein, hatte er nicht, zum zehnten Mal. Der Wolf war bewundernswert hartnäckig in seiner Verbohrtheit.
Yuri holte Luft, um zum zehnten Mal genau dasselbe zu sagen, wie die neun Mal davor, doch Phelan unterbrach ihn unwirsch.
„Ich stelle dir hier die neuesten und besten und teuersten medizinischen Geräte zur Verfügung, die man für Geld kaufen kann und du kommst mir hier mit nichts?“, tobte er weiter. Yuri knirschte mit den Zähnen.
„Phelan, halt den Mund und lass ihn reden“, wandte Julien gereizt ein. Im Gegensatz zu Phelan hatte er es gleich beim ersten Mal erklären verstehen wollen, auch wenn es ihn aufregte. Tierisch aufregte. Er fragte sich kurz, weshalb er sich eigentlich darüber so echauffierte.
Phelan schnappte laut nach Luft, verschränkt die Arme vor der Brust und schwieg trotzig. Yuri stieß die Luft aus, setzte sich auf die Kante des Tisches, auf dem sein Mikroskop und noch andere medizinischen Geräte standen, und stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab.
„Zum zehnten Mal jetzt nur für dich allein, Phelan“, begann er mühsam beherrscht. Phelan knurrte ihn warnend an, doch der Vampir ignorierte es.
„In dem Moment, indem sich euer Blut vermischt, starten eure weißen Blutkörperchen mit der Abwehr. Sie versuchen, wie sie es auch sollen, den unerwünschten Eindringling zu vernichten. In deinem Fall, Phelan, heißt dass, deine Fresszellen nehmen Juliens in sich auf, und versuchen ihn dadurch zu vernichten. Das Problem dabei ist nur, das Julien, als dein Eindringling, genau dasselbe mit dir versucht, und zwar in deinem Körper. Salopp gesagt, er versucht, dich wie eine Burg zu erobern. In dieser Phase, indem eure Immunsysteme damit beschäftigt sind, sich gegenseitig gegen euch zu wehren, verfärbt sich euer Blut schwarz. Ich weiß nicht, weshalb, aber es tut es.
Das macht es jedes Mal ungefähr vier Tage lang, dann, mit einem Schlag ist alles vorbei. Euer Blut färbt sich wieder rot und der Eindringling ist weg. So richtig weg. Absorbiert. Ich habe auf nur alle erdenklichen Arten euer Blut untersucht und ich habe nichts gefunden, was darauf schließen lässt, dass das mit euch geschehen ist. Wissenschaftlich gesehen hat sich nichts verändert.“ Yuri zuckte hilflos mit den Schultern. Sie waren nun schon seit vier Monaten wieder in Irland und seitdem hatte Yuri jede unbeobachtete Minute damit verbracht, an Phelans und Juliens Blut zu forschen und zu arbeiten und herausgekommen war - Nichts.
Er mischte Proben, das Immunsystem reagierte, es nahm sich gegenseitig auf und dann, dann war da nichts. Immer und immer wieder, jedes verdammte Mal. Yuri hatte es durch alle Maschinen gejagt, die er zur Verfügung hatte, und jedes verdammte Mal erhielt er dasselbe Ergebnis.
„Du hast Millionen für diese verfluchten Geräte ausgegeben und es gibt nichts, was ich euch sagen kann.“ Yuri rubbelte sich hektisch über das Gesicht.
„Ich habe euer Blut auf alle nur erdenklichen Arten untersucht. Auf molekularer Ebene, auf zellularer, und egal, was und wie ich es auch gedreht und gewendet habe; ihr seid nicht anders“, gestand er leise. Phelan knurrte wieder.
„Die Wissenschaft kann keine Ergebnisse herzeigen. Es tut mir leid.“ Yuri zuckte hilflos mit den Schultern.
„Da ist aber was in mir! Julien ist in mir!“, protestierte Phelan wütend. Er spürte es doch. Juliens Präsenz in ihm, leise zwar und diskret, aber eindeutig vorhanden. In ihm.
Yuri stieß einen herzhaften Seufzer aus und starrte mit leerem Blick auf die Wand aus grobem Stein. Wieder saß er in den Tiefen der Kerker von Phelans Burg und machte verbotene Experimente. Er schien das Talent zum Wiederholungstäter zu haben.
„Phelan. Wir sind mehr als die Menschlinge. Bis heute hat noch kein Wissenschaftler erklären können, weshalb wir Vampire und Wermenschen existieren, wie wir existieren. Jede ihrer Thesen hinkt an irgendeiner Stelle. Ich gebe es nur ungern zu, aber wir sind nicht nur Wissenschaft …“
„Oh, bitte, Yuri!“, unterbrach Phelan unwirsch, „Immer wenn ihr Quacksalber keine Antwort mehr wisst, dann kommt ihr mit Magie daher! Und jetzt willst du mir etwa auch noch allen Ernstes erzählen, dass das, was uns passiert ist, Magie ist?“
„Nein, ich sage nicht, dass das hier etwas magisches ist, aber auf jeden Fall ist da mehr … Oh, Phelan, ich weiß es nicht, was mit euch passiert ist! Ich kann es auf wissenschaftlichem Weg nicht erklären, weil hier die Wissenschaft versagt! Ich meine, kannst du mir erklären, weshalb wir uns mental unterhalten können? Ich kann es nicht und keiner meiner Kollegen kann das, ich habe die Ergebnisse der Hirnstromuntersuchungen gesehen, die sie bei einigen Probanden gemacht haben und die zeigen nichts an! Aber wir können es trotzdem! Was, wenn ihr beide genauso ein Mysterium seid?!“ Yuri sah Phelan eindringlich an, dann wandte er sich an Julien, der desinteressiert in den Forschungsunterlagen blätterte.
„Vielleicht ist doch etwas an diesem Zwillings-Gerede dran. Vielleicht ist es, weil eure Stammbäume bis zu den Ersten zurückverfolgt werden können. Ich weiß nicht, weshalb ihr noch lebt und ich weiß nicht, weshalb ihr immer noch dieselben seid, wie davor. Es tut mir leid, ich wünschte, ich könnte euch eine andere Antwort geben, aber ich kann es nicht.“ Yuri ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. Er war einer der begnadetsten Wissenschaftler auf dieser Welt und er hatte das erste Mal in seinem langen Leben keine Lösung gefunden. Es kratzte ihn ziemlich an seinem Stolz, wenn er ehrlich war.
„Was meinst du, wie ich mich fühle? Es gibt keine Ergebnisse, weil es keine Veränderungen gibt, aber gleichzeitig bin ich der festen Überzeugung, dass du und Julien seit diesem, seit diesen, seitdem, dass ihr seitdem miteinander irgendwie verbunden seid“, gestand Yuri leise. Oh, das klang alles so völlig bescheuert und dämlich! Das klang wie eines dieser beknackten Märchen, die seine Kinderfrau ihm immer erzählt hatte, damit seine Gedanken sich auch mit anderen Dingen als nur der trockenen Wissenschaft beschäftigten.
„Eure Gene sind immer noch die gleichen. Eure Chromosomen sind unverändert. Euer Blut sieht aus, wie das eines normalen Vampirs und eines normalen Werwolfs. Es scheint, als ob euer Immunsystem euch besiegt und vernichtet, wie es es mit einem Grippevirus macht. Und trotzdem weiß ich, dass ihr anders seid, auch wenn die Ergebnisse das Gegenteil behaupten. Aber ich kann nichts finden! Ihr seid eine wissenschaftliche Sackgasse! Ich kann mich an keinen Fallbeispielen orientieren, weil es die nicht gibt!“ Yuri warf frustriert die Arme in die Luft, um seine Misere zu verdeutlichen. Phelan knurrte mürrisch den Autoklaven an, in dem Yuri seine Materialen sterilisierte, als ob der an der Misere Schuld hätte. Yuri verkniff sich ein Auflachen.
Sein Freund wirkte im Moment wie ein wildes Tier, das alles, was es nicht kannte als Gefahr einstufte und pauschal zur Warnung anknurrte.
„Und was machen wir jetzt?“, riss Julien ihn aus seinen Gedanken. Yuri dreht sich zu ihm.
„Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als euch zu beobachten und zu sehen, ob und wenn ja, wie ihr euch verändert. Mehr können wir nicht tun“, antwortete er ehrlich. Julien blies die Backen auf.
„Okay, hört zu: Ich bin selber alles andere als begeistert von diesem Ergebnis. Ich habe mir weit mehr daraus erhofft. - Aus wissenschaftlicher Sicht, versteht sich. Fakt ist aber: vom medizinischen Standpunkt aus, habt ihr euch nicht verändert. Fakt ist aber auch, dass ihr durch diese Vermischung irgendwie miteinander verbunden seid. - Und nein, Phelan, ich habe keine Ahnung, wie und wieso und weshalb, also frag erst gar nicht!“, fuhr Yuri Phelan an, der schon wieder zu einem wütenden Einwand angesetzt hatte.
„Ist euch das Warum wirklich wichtig, dann werde ich noch einmal von vorne beginnen, aber ich kann euch jetzt schon sagen, ich werde nichts finden. Ich habe nichts übersehen und ich habe nichts vergessen. Ich bin vom Wissen her auf dem allerneuesten Stand, wenn nicht sogar noch einen Schritt darüber hinaus, glaubt mir, wenn ich nichts finde, findet niemand was. Wir können also zwei Dinge tun: Wir konzentrieren uns weiterhin auf das, was mit euch geschehen ist und stellen immer und immer wieder fest, dass ihr euch aus medizinischer Sicht nicht verändert habt oder wir kümmern uns jetzt um die Folgen, ohne das ‚Warum‘ dahinter ergründen zu wollen und reagieren spontan auf etwaige Veränderungen und ich bleibe weiterhin am Ball und hoffe, dass uns irgendwann einmal die Lösung in den Schoß fällt“, schlug er freundlicher vor.
„Aber rein vom logischen Standpunkt aus müssen wir anders sein!“, brauste Phelan auf.
„Mein Programm sagt, dass da Veränderungen auf genetischer Ebene vorhanden sein müssen!“
„Dann hat dein scheiß verficktes Programm eben einen scheiß verfickten Fehler gemacht! Bei Jupiters Schwanz, ihr habt euch nicht verändert und damit basta!“, brüllte Yuri los und wedelte mit ein paar Zetteln vor Phelans Nase herum, die er sich wahllos von seinem Schreibtisch gegriffen hatte.
„Und es ist mir mittlerweile auch scheißegal, ob ihr euch jetzt genetisch verändert habt oder nicht, ich will jetzt wissen, wie weit eure Verbindung zueinander greift!“
Um seinen lauten Worten Nachdruck zu verleihen, warf Yuri das Papier in Phelans Richtung. Der presste fest die Zähne aufeinander.
„Fein“, schnappte er und verschränkte die Arme vor der Brust, „Dann kümmern wir uns eben da drum und ignorieren, dass wir Freaks sind.“
„Ihr seid keine verdammten Freaks!“ Yuri war kurz davor, sich vor Frust die Haut vom Gesicht zu ziehen.
„Ihr seid völlig normal!“ Yuri stieß einen lauten Frustschrei aus. „Warum geht das nicht in deinen sturen Wolfsschädel?“ Er spürte, wie er hektische Flecken auf den Wangen bekam.
„Okay, Yuri-Herz, ganz ruhig, ganz ruhig. Ruhig. Ruhig …“, murmelte er zu sich selbst und massierte sich heftig die Nasenwurzel. Der Knorpel knackte dabei bedenklich.
„Wenn du dich noch einmal Freak nennst, dann schnall ich dich hier auf die Liege und experimentiere richtig mit dir herum, hast du mich verstanden, Phelan?“, fauchte er mühsam beherrscht.
„So. Schluss damit. Stand heute und jetzt: Ihr seid nicht anders als davor. Punkt. Schluss. Ende. Aus. Keine weiteren Diskussionen mehr. Ich bleibe da dran, versprochen. Jetzt kümmern wir uns um eure Verbindung zu einander“, entschied er. Yuri sammelte seine weggeworfenen Blätter wieder ein und sortierte sie, bevor er sie wieder zurück auf den Tisch legte.
„Wir werden jetzt testen, in wie weit ihr miteinander verbunden seid.“ Yuri sah beide auffordernd an.
„Und ich wage mal zu behaupten, dass es unter anderem auch auf emotionaler Ebene ist. Also, ihr beiden Hübschen. Jetzt bitte in paar Mal langsam und tief ein- und ausatmen und runter kommen“, schlug er vor. Obwohl beide ihn wütend anblitzten, leisteten sie Yuris Aufforderung artig Folge.
„So. Es steht in nächster Zeit nicht viel an, also werdet ihr beide euch gegenseitig und selber beobachten, in wie weit ihr euch durch die Stimmung und körperliche Schmerzen beeinträchtigt beziehungsweise beeinflusst. Der Zorn, der eben in euch hochkam, war offensichtlich bei euch beiden eine Mischung aus der jeweils eigenen Aufgewühltheit und der des anderen. Wobei ich festgestellt habe, dass Emotionen bei Phelan wohl schneller hochkochen, als bei dir, Julien.“
Yuri schnappte sich einen Block und kritzelte hektisch drauflos.
„Was glaubst du, ist der Grund, dass es bei Phelan ausgeprägter war, als bei mir?“, wollte Julien neugierig wissen. Yuri schnaubte und legte den Kopf schief.
„Du willst jetzt keine freudsche Analyse von mir, oder? - Keine Ahnung, vielleicht, weil er ein äußerst emotionaler Mann ist?“, behauptete er desinteressiert und vertiefte sich wieder in seine Notizen.
„Für einen so begnadeten Wissenschaftler hast du verdammt wenig Ahnung, möchte man meinen“, spottete Phelan gehässig. Yuris Augenbraue wippte nur kurz nach oben.
„Herzchen, um das zu eurer aller Zufriedenheit zu ergründen, solltest du dich zu mir auf die Couch legen damit ich eine ausgeprägte Psychoanalyse an dir vollziehen kann und ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. Also belassen wir es dabei, dass ich weiß, dass du deine Gefühle zwar gekonnt versteckst, sie aber nichtsdestotrotz da sind und zwar, wie ich ebenso weiß, in sehr großem Maße. Und wenn du jetzt nicht augenblicklich dein Schandmaul hältst, flöße ich dir hirnvernebelnde Drogen ein und manipulier dich!“, bemerkte er gönnerhaft und beendete seine Notizen.
„Na, worauf wartet ihr? Auf eine schriftliche Einladung? Verschwindet und experimentiert und geht mir nicht länger auf die Nerven!“, scheuchte er sie ungeduldig davon. Julien verdrehte die Augen, sah zu Phelan und machte sich auf den Weg zur Tür.
„Raus jetzt, Phelan, du störst mich nur!“
Phelan schnaubte mürrisch, folgte aber Julien nach draußen.
Er war mit den Ergebnissen nicht zu frieden. Ganz und gar nicht zufrieden.
Yuri legte den Block beiseite und rieb sich die Stirn.
Er konnte keine befriedigende Lösung bieten und er wusste nicht, warum. Auch wenn er das nie zugeben würde, er vertraute Phelans Programm und dessen Berechnungen, und laut diesen Berechnungen müsste es eine Veränderung in ihrer DNA geben. Das Programm behauptete steif und fest, dass es eine Mutation zu geben hatte, eine, die das Weiterleben des Infizierten nicht ermöglichte, da eben diese entstandene Mutation so gravierend war, dass das Geschöpf daran starb. Er konnte es den beiden nicht sagen, denn er hatte keine Erklärung für ihr Weiterleben. Denn bei ihnen war da keine Mutation. Nicht einmal die kleinste.
Yuri seufzte herzhaft und räumte seine Utensilien zusammen, bevor er den Tisch weit nach hinten in eine dunkle Ecke schob, in die das Licht der Lampe nicht reichte. Die Apparaturen stellte er dazu und warf über alles ein großes schwarzes Tuch.
War es Phelans Zwillingstheorie?
War es die Magie, die in ihnen allen verankert war? War da tatsächlich Magie in ihnen verankert, wie viele behaupteten?
War es, weil man sagte, ihre Stammbäume reichten bis zu den Ersten ihrer Geschlechter zurück?
War es, weil das Schicksal bestimmt hatte, dass die beiden das Erbe ihres Vaters und Großvaters fortführen würden und es unter ihnen zu einem Reich der Blüte kommen sollte?
Der Vampir seufzte erneut.
Zu viele ungeklärte Komponenten schwirrten über all dem herum und keine von ihnen war für ihn als Wissenschaftler befriedigend.
Warum hatten sie überlebt?
Warum waren sie nicht mutiert?
Warum ausgerechnet diese beiden?
Was befand sich hinter ihren Genen, hinter dem Bereich der Wissenschaft, im Dunkel des Fantastischen, dessen Teil sie alle waren?
Yuri verließ die alte Zelle und schloss sie vorsorglich ab. Er versteckte den Schlüssel und huschte lautlos durch die verborgenen Gänge zurück zu Raghnalls Burg.
Es war nun schon die dritte Versammlung in Folge, die Conor geschwänzt hatte.
Phelan massierte sich den Nacken und erhob sich leise ächzend von seinem Platz. Sein Bruder war ein Meister darin, Ausreden zu erfinden, weshalb er keine Zeit hatte, an Ratsversammlungen teilzunehmen. Mal war es die Aktualisierung der Bibliothek, mal ein wichtiges Schriftstück, welches er dringend zu übersetzen hatte, mal eine spontane Reise nach Irgendwo im Nirgendwo, um ein antikes Buch zu begutachten. Phelan wusste, dass Conor schlicht keine Lust darauf hatte, als Nachfolger an Ratsversammlungen teilzunehmen. Er war Zeit seines Lebens darauf geschult worden, die Gespräche wie ein Diktiergerät in sich aufzunehmen, aber es fiel ihm schwer, diesen Gesprächen als Kommunikation zu folgen.
Darüber hinaus kannte er sich mit den Eigenheiten der einzelnen Mitglieder nicht aus. Er wusste nicht, wem er beim Wiedersprechen Honig ums Maul schmieren musste, und bei wem er mit klaren Ansagen sein Ziel erreichte. Phelan kannte zwar nicht mehr alle Mitglieder, aber er begriff schnell, wie er sich wem gegenüber wie zu verhalten hatte, um an sein Ziel zu kommen. Darauf war er Zeit seines Lebens geschult worden. Er wusste, wann er reden musste und er wusste, wann es reichte, wenn er einfach nur die Brust aufblähte. Meistens beschränkte er sich sowieso nur auf das böse Schauen und überließ das Reden Julien. Oder Raghnall und Dashiell.
Ein jung aussehender Werwolf mit goldblondem schulterlangem Haar kam auf ihn zu. Er hatte eine schmalgliedrige Gestalt und bewegte sich mit einer schon graziösen Anmut. Phelan schenkte ihm ein ehrliches Lächeln.
„Leofwin!“, grüßte er freudig. Der Angesprochene verneigte sich leicht vor ihm.
„Nenn mich Lieven, das ist zeitgemäßer“, erwiderte er mit warmer Stimme.
„Lieven, schön dich zu sehen“, Phelan erwiderte die Verneigung. Sie sahen sich kurz in die Augen, dann machte Lieven einen Schritt nach vorn und nahm Phelan fest in die Arme.
„Wofür war das denn?“, wollte Phelan belustigt wissen, als er aus der Umarmung entlassen wurde.
„Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, antwortete Lieven ehrlich. Phelan lachte auf.
„Ich stecke dich für zehn Jahre in Frauenröcke und das Erstbeste, was du tust, ist meinen Bruder als Raghnalls Nachfolger vorzuschlagen!?“ Er legte Lieven seine Hände auf die schmalen Schultern und drückte sie sanft. Lieven verdrehte lachend die Augen.
„Ihr habt mir das Leben gerettet und meinen Ruf wieder hergestellt. Das war das Mindeste, was ich für euch tun konnte“, behauptete er bescheiden. Phelan lächelte wehmütig.
„Ich habe deinen Vater sehr gemocht“, sagte er traurig.
„Ich weiß. Er hat nie an dir gezweifelt.“
Phelan verlor sich kurz in der Erinnerung an den Grafen Eyck, Lievens Vater, und wie der vor knapp einhundertdreißig Jahren Phelan um Hilfe gebeten hatte, da er befürchtete, einer Verschwörung zum Opfer zu fallen, die nicht nur ihm, sondern auch seinem Erben Lieven das Leben kosten würde. Er hatte Recht behalten. Eyck war durch die Verräter getötet worden und der Mord wurde seinem Sohn in die Schuhe geschoben. Phelan war mit Lieven geflohen und da die halbe Welt zwei flüchtige Männer gesucht hatte, hatte er Lieven kurzerhand in Frauenkleider gesteckt und ihn als seine stumme Gattin vorgestellt. Und während er Lieven versteckt und am Leben hielt, suchten Conor und Yuri heimlich nach Spuren und Beweisen.
Nach zehn Jahren Odyssee quer durch den amerikanischen Kontinent waren die wahren Täter gefasst und Lieven konnte sein Erbe antreten. Und als Dank hatte Lieven den Vorschlag gebracht, Conor nach seiner Rehabilitation als Raghnalls Erbe einzusetzen und er hatte bei einem Gespräch unter vier Augen mit Raghnall darauf bestanden, dass Conor darüber aufgeklärt würde, dass er das Recht hatte, sich einen Berater seiner Wahl zu nehmen.
Lieven war kein guter Kämpfer, aber er war ein verdammt guter Politiker.
Und er war schuld daran, dass Phelan nun wieder dazu verdammt war, sich Tage mit langweiligen unwichtigen Problemen um die Ohren zu schlagen. Zum Dank bekam Lieven einen kräftigen Schlag gegen den Oberarm.
„Au! Wofür war das denn?“, jammerte Lieven erschrocken und rieb sich die schmerzende Stelle.
„Für die gnadenlose Langeweile, der ich nun dank dir wieder ausgesetzt bin“, knurrte Phelan gespielt böse. Er packte Lieven am Genick und gab ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange.
„Und der hier war dafür, dass ich wieder zuhause und frei bin.“
Lieven lachte fröhlich und durch Phelan schoss kurz das Gefühl der Eifersucht. Verwirrt runzelte er die Stirn. Weshalb war er denn nun eifersüchtig? Auf Lievens Lachen? Das war ja Blödsinn. Er stockte und sah sich um.
Am großen Tor stand Julien und sah mit teilnahmsloser Miene zu ihnen nach oben. Bei Phelan fiel der Groschen. Kurz war er versucht, Julien noch mehr zu ärgern, doch er unterließ es. Wer wusste, zu welchem Leichtsinn Julien sich verleiten ließ, wenn er seine Eifersucht begründet sah.
„Ich denke, du solltest ihn nicht so lange warten lassen“, wisperte Lieven in diesem Moment in sein Ohr. Phelan sah ihn erstaunt an.
„Ich habe keine Ahnung, weshalb es niemandem auffällt, aber meiner Meinung nach sieht es ein Blinder. - Es war schön, dich nach so langer Zeit, wieder gesehen zu haben, mein Freund!“, verabschiedete er sich laut von Phelan, tätschelte ihn am Oberarm und ging dann mit einem sanften Lächeln die Treppen nach unten zum großen Tor. Er passierte Julien, verneigte sich vor ihm und verschwand nach draußen. Phelan sah ihm verblüfft nach.
Es war offensichtlich, dass er und Julien …? Sie mussten wohl noch etwas an ihrer Diskretion feilen. Er schlenderte gelassen zu Julien ans Tor.
„Hej“, grüßte er breit grinsend. Julien sah ihn verwirrt an.
„Äh, auch hej? Du weißt aber schon, dass wir uns heute schon mal gesehen haben?“, hakte er nach. Phelans Grinsen wurde breiter.
„Jup. Du hast zwei Sitze neben mir gesessen. Bock auf echten, guten irischen Kaffee?“, schlug er vor und schob seine Hände in die Hosentaschen. Julien nickte irritiert.
Auf dem ganzen Weg zurück zu Phelans Burg lag dieses entrückte Lächeln auf Phelans Gesicht. Mal wurde es breiter, dann schmälerte es sich etwas, aber es blieb die ganze Zeit über hartnäckig da und es verwirrte Julien. Und es machte ihn wütend, weil Phelan eisern schwieg.
Mit verschränkten Armen lehnte er sich neben er Kaffeemaschine an die Anrichte und beobachtete, wie Phelan gelassen Kaffee aufbrühte, Whisky in die Tassen kippte, der Wolf hatte immer noch nicht gelernt, dass Irish Coffee aus einem Glas getrunken wurde, Kaffee dazugab und es mit einem großen Berg Sahne garnierte. Mit seinen Kreationen in beiden Händen schlenderte er zu dem großen Tisch, den Haesten geschreinert hatte, und stellte die Tassen ab.
„Okay, raus mit der Sprache: Was ist los mit dir?“, hielt es Julien nicht mehr aus und stapfte vorwurfsvoll auf Phelan zu. Phelan drehte sich zu ihm, immer noch dieses Lächeln auf dem Gesicht.
„Du musst nicht auf Lieven eifersüchtig sein.“
Julien runzelte verwirrt die Stirn.
„Ich bin nicht eifersüchtig auf … Oh. Scheiße.“ Er biss sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Verfluchte Bindung.
„Aber ich mag es, dass du es bist. - Wenn auch völlig grundlos“, raunte Phelan in sein Ohr. Julien erschauderte leicht. Das war unfair. Wenn der blöde Kerl das machte, dann begann alles in ihm zu Kribbeln. Er spürte Phelans raue Handflächen auf seiner Wange.
„Hey, nicht frustriert sein, bitte. Ich steh drauf, wenn du eifersüchtig bist“, behauptete Phelan mit einem Lachen in der Stimme.
„Arschloch“, knurrte Julien ungehalten.
„Ich liebe dich auch“, entgegnete Phelan ungerührt und legte seine Lippen auf Juliens.
Du manipulierst mich!, beschwerte sich Julien, schlang die Arme um ihn und presste sich an ihn.
Jap. Phelans Zunge schob sich fordernd zwischen Juliens Lippen. Und ich weiß, dass du da drauf stehst.
Ihr Kuss gewann an Intensität, wurde wilder und leidenschaftlicher. Phelan packte Julien am Hintern, drehte ihn um und setzte ihn auf dem Tisch ab. Seine Hände zerrten Juliens Hemd aus dem Hosenbund, streichelten seine kühle Haut am Rücken und entlockten Julien leise genüssliche Seufzer. Phelans Lippen wanderten über Juliens Mund zu dessen Kiefer, den Hals hinunter. Er knabberte an der zarten Haut, leckte darüber und saugte an ihr, aus Juliens genüsslichen Seufzern wurde ein genüssliches Stöhnen und er ließ zu, dass Phelan ihn sanft aber bestimmt nach hinten auf die Tischplatte drückte.
Oh, verdammt, das war der beste, der heißeste, der absolut einmaligste Sex in seinem Leben gewesen! Julien schlang die Arme um Phelan, der sich zufrieden brummend an seine Brust schmiegte.
„Wow“, wisperte er noch völlig in seinen Gefühlen gefangen. Phelan brummte nur wieder und gab ihm einen Kuss auf die haarlose Brust.
Was unten in der Küche als harmloser Kuss begonnen hatte, hatte sich zu einem sexuellen Feuerwerk entwickelt. Mit einem Mal war eine Erregung über Julien zusammengeschlagen, wie er sie noch nie empfunden hatte und sie waren wie die Tiere noch in der Küche übereinander hergefallen. Mit Müh und Not hatten sie es nach dieser ersten, recht ungestümen Runde dann nach oben in Phelans Schlafzimmer geschafft. Julien kicherte leise.
Na ja, bis auf seine Hemdknöpfe. Die lagen wohl noch unten in der Küche verstreut.
„Mein Shirt liegt auch noch unten“, brummte Phelan träge und seufzte zufrieden.
„Das ist gruslig“, meinte Julien. Phelan hob den Kopf.
„Was?“
„Dieses miteinander verbunden-sein. Du hast meine Gedanken gespürt, die ich nur an mich dachte …“ Julien schnaubte, ohne wirklich ärgerlich zu sein. Phelan stützte sein Kinn auf Juliens Brustbein ab und sah ihn ernst an.
„Es tut mir leid. Ich … manchmal … jetzt, da ich weiß, dass es so ist … da, da blitzen manchmal deine Empfindungen in mir auf, als wären es meine. Allerdings habe ich nicht deine Gedanken gelesen, du hast einen speziellen Mir wurden die Knöpfe von meinen Designerhemd gerissen-Blick.“ Phelan strahlte ihn unschuldig an.
„Verarsch mich! Ich habe keinen Mir wurden die Knöpfe von meinen Designerhemd gerissen-Blick!“, protestierte Julien ungläubig. Phelan gab ihm einen Kuss auf die Brust.
„Doch, hast du. Du runzelst die Stirn, dein Blick wird kurz leidend und dann zucken deine Mundwinkel nach unten. Und gleich darauf kriegst du dieses depperte, versonnene Grinsen“, erklärte er lachend. Julien fixierte ihn kritisch.
„Echt jetzt?“, hakte er nach.
„Echt jetzt“, beteuerte Phelan ehrlich. Julien lauschte in sich, spürte, dass Phelan wirklich die Wahrheit sagte, und schüttelte kurz über sich selbst den Kopf.
„Du hast dich seitdem verändert“, sagte er nachdenklich. Phelan hob fragend die Augenbrauen.
„Ich weiß nicht, ob es wirklich du bist, aber du bist … ungezwungener, leichtlebiger. Das ist schön“, versuchte Julien zu erklären. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Ich war schon vorher nicht mehr der, der ich mal war.“
„Ich weiß. Aber wer bist du jetzt? Und bist das wirklich du oder bist das du und ein Teil von mir? Ich möchte wirklich gerne, dass das du bist. Du lachst viel öfter. Du summst manchmal leise vor dich hin, wenn du meinst, niemand hört dich. Und manchmal, manchmal starrst du aus dem Fenster ins Nichts und hast diesen zufriedenen Gesichtsausdruck dabei. Ich wünsche mir, dass das wirklich nur du bist, der so fühlt und nicht, dass ich dich beeinflusse.“ Julien spielte nervös mit einer Strähne von Phelans Haaren. Phelan drehte den Kopf, legte sein Ohr auf Juliens Brust und schloss die Augen. Nachdenklich lauschte er dem kräftigen Herzschlag und wartete, bis sich seiner ihm angepasst hatte.
„Ach, Iuls“, begann er zärtlich, „du machst dir zu viele Gedanken. Ich bin wieder zuhause, ich bin bei dir, ich darf dich haben, ich bin frei; natürlich bin ich anders als in New Orleans. In New Orleans zehrte ich von geborgter Zeit. Jetzt hab ich alle Zeit der Welt.“
Er schlang seinen Arm um Juliens Brustkorb.
„Wir haben alle Zeit der Welt“, fügte er leise hinzu, ohne seine Augen zu öffnen. Er hörte, wie sich Juliens Herzschlag erhöhte.
„Was macht dein Training mit Yuri? Machst du Fortschritte?“, wechselte er das Thema. Julien seufzte verhalten. Phelan wollte nicht darüber reden. Hatte ihn das wirklich gewundert?
„Er sagt, ich sei ein Naturtalent und ich hätte das Zeug, ein guter Manipulator zu werden“, antwortete er ehrlich. Er spürte, wie sich Phelans Mund auf seiner Haut zu einem Lächeln verzog.
„Er meint, es kommt keiner mehr in meinen Kopf rein, wenn ich es nicht will. Er zeigt mir gerade, wie ich unerwünschte Eindringlinge abwehren kann.“
„Das ist gut“, stimmte Phelan zufrieden zu. Ja, es war gut. Kein ungeschützter Julien mehr, der von jedem dahergelaufenen Sadisten manipuliert werden konnte, wie dieser es wollte. Phelan verkniff sich tapfer, daran zu denken, was Robert mit ihm getrieben hatte. Julien ging es gut, er hatte keine Schäden davongetragen und er hatte auch nicht mehr nachgefragt, ob er wusste, was Robert mit ihm getrieben hatte, als dieser ihn wie ein Ding benutzt hatte.
Sie mussten etwas gegen diese Verbindung unternehmen. Phelan strich sanft über Juliens Seite. Yuri musste ihnen irgendwie beibringen, wie sie diese unsichtbare Autobahn, die zwischen ihnen Empfindungen im Eiltempo hin und hertransportierte, zu blockieren war. Es konnte doch nicht so viel anders sein, als sich gegen Manipulation zu wehren.
„Hey, ich rede mit dir!“, empörte sich Julien, zog leicht an Phelans Haaren und riss den Wolf aus seinen Gedanken.
„Verzeih, ich hab nicht zugehört“, entschuldigte er sich verlegen. Julien schnaubte.
„Das habe ich bemerkt. Ich hab dich gefragt, ob sich unsere Bindung verstärken würde, wenn wir mehr von unserem Blut getauscht hätten“, wiederholte Julien leicht ungeduldig. Phelan richtete sich auf und seine Augen blitzten auf.
„Willst du es probieren?“, schlug er vor. Julien sah ihn kurz entsetzt an.
„Du meinst das ernst?“, hakte er ungläubig nach. Phelan nickte zustimmend.
„Oder glaubst du, dass es uns tötet?“
Julien nagte nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Glaubte er das? Er kam nicht dazu, den Gedanken zu vertiefen, denn Phelan sprang auf die Beine und eilte zu dem kleinen Barschrank in seinem Schlafzimmer. Hastig griff er nach zwei leeren Gläsern.
„Du willst das jetzt wirklich testen?“ Julien setzte sich erstaunt auf. Das passte nicht zu Phelan, dass er so impulsiv handelte. Phelan analysierte und wog ab und… Nein, das war nicht wahr. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Phelan erst nachgedacht hatte, nachdem er etwas getan hatte. Es war nur so verdammt lange her, dass Phelan so gewesen war. Lag es an ihm? Lag es an seinem Blut, welches jetzt durch Phelans Körper mit floss, auch wenn es nicht zu sehen war? Waren es seine Empfindungen, seine Neugier oder waren das wirklich Phelans?
Der biss sich kurzerhand in sein rechtes Handgelenk und ließ sein Blut in eines der Gläser träufeln.
„Ja. Ich habe genug davon, zu warten. Ich hab genug davon, keine Lösungen zu bekommen. Und wenn ich schon nicht weiß, was mit mir geschehen ist, dann will ich zumindest wissen, was mit mir passiert, wenn ich selber Dinge probiere. - Hier. Gib von dir was rein“, forderte er Julien auf und hielt ihm das andere Glas hin. Julien schwankte zwischen Neugier und Vorsicht, als er nach dem Glas griff.
„Aber nicht zu viel auf einmal“, warnte er noch, dann bohrte er seine Eckzähne in die dünne Haut über seiner Pulsader. Er gab kaum einen Zentimeter Blut in das Glas, dann ließ er den Blutstrom versiegen.
„Ich werd schon nicht daran sterben“, behauptete Phelan sorglos, schnappte sich das Glas aus Juliens Hand und reichte ihm das mit seinem eigenen Blut.
„Na, hoffentlich“, murmelte Julien unbehaglich. Nachdenklich schnupperte er an Phelans Blut. Es roch würzig. Stark. Und äußerst schmackhaft, wie er feststellte.
„Probieren geht über Studieren.“ Phelan grinste ein wildes Grinsen, prostete Julien zu und leerte das Glas in einem großen Schluck. Der erschrockene Schrei blieb Julien im Hals stecken.
War der denn wahnsinnig? Er konnte doch nicht einfach so, wie einen Whisky, wie Wasser, so völlig hirnlos …
„Bist du übergeschnappt?“, japste er aufgebracht. Phelan sah ihn unschuldig an.
„Was denn? Ich-hhrg…“ Phelan klappte zusammen. Er würgte heftig, presste sich die Hände gegen den Bauch und sank ächzend vor dem Bett auf die Knie.
„Faol? Faol?“ Julien stellte hektisch das Glas neben sich auf den Nachttisch und rutschte vom Bett.
„Faol?“
Keine Panik, er durfte jetzt keine Panik bekommen! Oh, Gott, das war eine scheiß dämliche Idee von diesem blöden Wolf gewesen! Er hatte zu viel auf einmal getrunken! Er würde sterben! Oh, bei allen Göttern, Phelan würde doch sterben!
„Schmeckt das scheiße!“
Phelan kniete auf dem Boden und grinste Julien leidend an. Quicklebendig und wohlbehalten. Julien holte aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
„Aua!“, beschwerte Phelan sich entrüstet. Er legte die Hand auf die Wange und ließ sie heilen.
„Du dummes, dämliches, bescheuertes, blödes … hirnloses … Arschloch! Ich dachte, du stirbst und du Wichser hast nichts Besseres zu tun, als Faxen zu machen!“
Am Liebsten hätte er Phelan noch einen Tritt gegeben, aber Julien schaffte es, sich im letzten Moment zu beherrschen. Stattdessen raufte er sich wild die Haare. Phelan erhob sich mit einem breiten Grinsen.
„Wie konntest du nur?“, klagte Julien ihn an. Phelan schlang seine Arme um ihn und drückte ihn an sich.
„Lass mich los, du bescheuerter Köter!“ Julien wand sich hektisch aus der Umarmung.
„Darüber macht man keine verfickten Scherze, du dämlicher Schwanzlutscher!“
Julien krallte sich am Bettpfosten fest und holte ein paar Mal tief Luft, um sich zu beruhigen.
„Entschuldige“, hörte er Phelan nuscheln.
„Es wäre hilfreicher, wenn du dämlicher Wichser deine Entschuldigung ernst meinen würdest.“ Julien stieß heftig die Luft aus und richtete sich energisch auf. Er mahnte sich, ruhig zu werden, gelassen zu werden und als er sich halbwegs sicher war, dass er sich nicht gleich auf Phelan stürzen und ihn windelweich prügeln würde, drehte er sich zu ihm um.
Phelan stand da, nackt und sexy wie wusste der Geier wer ihn geschaffen hatte, spielte mit seinen Fingern herum, den Kopf leicht gesenkt, die Stirn in tiefe Dackelfalten gelegt und glotzte ihn treu-doof an. Julien schnaubte.
„Das zieht nicht“, erwiderte er unwirsch. Zu den tiefen Stirnfalten und dem herzerweichenden Blick kam ein unschuldiges strahlendes Grinsen hinzu.
„Das auch nicht.- Wie geht es dir?“, wollte er harsch wissen. Als hätte diese Frage einen Schalter umgelegt, richtete sich Phelan auf, beendete das treu-doofe-mitleidheischende Schauspiel und legte nachdenklich seinen Kopf schief.
„Gut. Blut schmeckt scheiße und mir ist ein wenig schwummrig im Magen, aber sonst geht’s mir gut“, antwortete er und nickte zustimmend.
„Moment, halt, warte: Nein, alles normal. Keinen Drang, dir an die Kehle zugehen, und weiterzutrinken, kein Bedürfnis, mich von der Sonne zu verstecken ...“ Phelan schürzte nachdenklich die Lippen.
„Nope. Alles wie sonst auch“, endete er und stemmte die Hände in die Hüften. Julien schnaubte nur nochmal, warf ihm einen bösen Blick zu und drehte sich zum Nachttisch, auf dem das Glas mit Phelans Blut stand.
Mit einem leicht mulmigen Gefühl im Bauch nahm er es in die Hand und setzte es an seine Lippen. Im Gegensatz zu Phelan nippte er erst einmal zaghaft daran. Er schmeckte die Stärke und Kraft, die sich in diesem Blut befand, es schmeckte herb und seltsamerweise leicht erdig. Julien nahm einen größeren Schluck. Wärme, beinahe schon Hitze, strömte von seinem Magen aus durch seinen Körper, jagte durch seine Blutbahnen bis in die kleinsten Blutgefäße und ließen seine Haut kribbeln.
„Ich wusste nicht, dass du so mächtig bist“, wisperte er ergriffen. Phelan zuckte nur mit den Schultern.
„Ich bin, was ich bin“, gab er als Antwort.
„Wow. Wer weiß es alles?“, Julien leerte das Glas und musste sich schwer beherrschen, es nicht auszulecken. Diese süße Macht, diese verlockende Stärke konnte einen süchtig machen. Er stellte das Glas hastig auf den Nachttisch.
„Con, Yuri und jetzt du. Darragh und Beigan ahnen etwas, aber sie wissen es nicht hundertprozentig.“ Phelan legte Julien seine Hand auf die Schulter und strich sanft über die kühle Haut.
„Du schmeckst hervorragend“, lobte Julien begeistert und drehte sich zu ihm. Phelan legte mit einem Grinsen den Kopf schief.
„Dann bin ich also ein guter Jahrgang?“, neckte er. Julien lachte.
„Oh, ja, das bist du.“ Er konnte nichts gegen das gierige Grollen in seiner Stimme machen. Er roch das Blut, das durch Phelans Adern rauschte, auf seiner Zunge lag noch sein süß-herber Geschmack.
„Frag mich vorher“, unterbrach Phelan seine Schwärmerei. Julien sah ihn verwirrt an.
„Hä?“, fragte er dümmlich und schalt sich augenblicklich selbst. Man hä-hte nicht. Man fragte, Wie bitte? oder im äußersten Notfall ließ man ein Was? verlauten, aber als Lyrias Sohn hä-hte nicht!
„Du kannst gerne von mir trinken, aber du fragst mich vorher, ist das klar? Ich werde nicht einfach so gebissen. Du darfst, aber du fragst mich vorher“, bestimmte Phelan entschlossen. Julien lachte ungläubig auf.
„Weißt du, was du mir da gerade eben erlaubst?“, wisperte er fassungslos.
„Das du von mir trinken darfst?“, schlug Phelan irritiert vor. War das jetzt so unverständlich gewesen?
„Phelan, von einem anderen das Blut zu trinken, heißt, ihn in sich aufnehmen, ihn zu einem Teil seiner selbst machen. Die Erlaubnis zu erhalten, von deinem Partner das Blut zu trinken, bedeutet bei uns Vampiren bedingungsloses Vertrauen. Vertrauen darauf, dass der Partner dich dabei nicht tötet. Vertrauen darauf, dass er dich nicht manipuliert. Du, du hast …“ Juliens Stimme versagte und er räusperte sich heiser.
„Du hast damit dein Leben in meine Hände gegeben.“
„Oh“, machte Phelan überrascht, „Tatsächlich? Na so was. Dann ist ja gut, dass ich dir vertraue.“ Er zuckte gelassen mit den Schultern und schlang seine Arme um Julien.
„Ist dir gerade die Ernsthaftigkeit hinter meiner Ansprache entgangen?“, fragte Julien schnippisch.
„Nein, ganz im Gegenteil. Die Ernsthaftigkeit hat mich wie eine wilde Katze angesprungen und mir ihre Klauen ins Fleisch gebohrt“, unkte Phelan leicht spöttisch. Dann wurde er ernst.
„Ich vertraue dir“, fügte er hinzu.
Ganz einfach. Ich vertraue dir. So schlicht und doch war sich Julien mit einem Schlag die Tiefe dieser Worte bewusst. Phelan vertraute ihm. So sehr, dass er Julien erlaubte, von ihm zu trinken. So sehr, dass er Julien erlaubte, ihn zu beißen. Das war so viel mehr, als das, was er selbst Phelan geben konnte.
„Heulst du?“, riss ihn Phelan aus seinen Gedanken.
„Ich kann nicht weinen!“, fuhr Julien ihn unwirsch an.
„Du hast Tränen in den Augen. Nass.“ Um seine Worte zu unterstreichen, strich Phelan ihm mit seinem Finger sanft unter dem rechten Auge entlang und hielt ihn Juliens vor das Gesicht. Die Haut schimmerte leicht feucht.
„Ich … ich weine …“, flüsterte er erstaunt. Phelan holte Luft, um etwas zu sagen, schwieg dann aber doch.
„Halt den Mund und versau’s nicht“, knurrte Julien nur. Phelan schaffte es tatsächlich, eine Minute lang zu schweigen und Julien den Moment zu gönnen, in dem dieser sich über diese neueste Entwicklung wundern konnte.
„Ich halt den Mund und versau’s nicht“, stimmte Phelan artig zu.
„Aber genaugenommen heulst du ja nicht richtig, du hast nur sehr nasse Augen“, versaute er es letztendlich doch. Julien seufzte resigniert.
„Du musst dringend an deinem Timing arbeiten, Wolf“, knurrte er ungehalten.
„Na ja, aber es stimmt doch. Wirklich geweint hast du nicht, es war eher so, als ob du was im Auge hättest und dein Auge hätte ziemlich stark getränt“, verteidigte sich Phelan weiter. Selbst wenn er wollte, er konnte nicht aufhören, Julien aufzuziehen. Dazu fühlte er sich im Moment viel zu gut, viel zu albern und viel zu ausgelassen.
„Als wären alle Sorgen verschwunden. Als wäre ich einfach nur ich“, flüsterte er leise. Julien sah ihn fragend an.
„Du bist einfach nur du?“, schlug er vorsichtig vor. Phelan lächelte milde.
„Ich denke, ich bin seit langer, langer Zeit wieder einfach nur ich.“
Er beugte sich zu Julien vor und gab ihm einen langen, zärtlichen Kuss.
Egal, was Yuri jemals herausfinden sollte und egal, dass er im Moment seine Empfindungen mit Julien teilte, er fühlte sich mehr als er selbst, als je zuvor.
Julien schnappte im ersten Moment erschrocken nach Luft, als Phelans Glücksgefühle auf ihn hereinprallten, dann ließ er sich von ihnen tragen.
Phelan war glücklich.
Und Phelans Glück war momentan wortwörtlich auch sein Glück und damit konnte er eigentlich ziemlich gut leben.
Desmond hüpfte gerade kichernd auf einem Bein durch den großen Versammlungssaal, als ein stechender Schmerz durch Juliens rechten Oberarm fuhr. Julien zuckte mit einem lauten Zischen zusammen und Desmond stellte augenblicklich sein Herumgehüpfe ein.
„Dad? Wieso hörst du auf?“, fragte er verwundert. Julien zwinkerte verwirrt. Wieso tat sein Arm weh? Desmond überbrückte die Distanz zu seinem Vater.
„Dad? Alles okay? Sollen wir aufhören?“
Julien schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Desmond hatte sich freiwillig als Versuchsobjekt für Julien bereitgestellt und ließ sich vorbehaltlos von seinem Vater manipulieren. Er wusste, dass Julien diese Macht nicht missbrauchte, und ihn Dinge machen ließ, die er nicht wollte. Bis gerade eben trainierte Julien die körperliche Kontrolle ohne den Geist zu vernebeln. Und Desmond war eine wahre Herausforderung. Er hatte eigene ganz spezielle Art, die Manipulation abzuwehren, meist gepaart mit irgendwelchen Albernheiten, die Julien zum Lachen brachten und aus seiner Konzentration rissen.
Julien rieb sich nachdenklich den Arm.
„Alles in Ordnung, Des“, beteuerte er grübelnd. Desmonds Augenbrauen schnellten ungläubig nach oben.
„Und wen willst du hier jetzt gerade verarschen?“, fragte er tadelnd und stemmte die Hände in die Hüften.
Phelan zischte vor Schmerzen, als sich die Klinge des Schwertes tief in das Fleisch seines Oberarmes bohrte. Darragh grunzte missbilligend. Dieser Hieb hätte nicht treffen dürfen, dieser Hieb war so lächerlich vorhersehbar gewesen, mit einem weiteren missbilligenden Grunzen drehte er die schlanke Schwertklinge im Fleisch herum, bevor er sie wieder herauszog. Phelans empörten Schmerzensschrei ignorierte er.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Dar?“ Phelan ließ sein eigenes Schwert fallen und griff sich an seinen blutenden Oberarm. Unflätige Flüche vor sich hin zischend ließ er die Stichwunde hastig heilen.
„Musstest du gleich darin herumbohren, wie in einem kaputten Zahn?“, beschwerte er sich entrüstet. Darragh schürzte nur die Lippen.
„Habe ich jetzt endlich wieder deine volle Aufmerksamkeit?“, wollte er nur wissen. Phelan war kurz davor, seinem Mentor und Ziehvater mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht zu springen und dieses in blutige Fetzen zu tranchieren. Er knurrte angriffslustig. Darragh schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen. Die flache Seite des Schwertes landete mit einem schnalzenden Geräusch auf Phelans Kopf. Phelans Knurren wurde eine Spur tiefer.
„Mach nur weiter so, Junge, und du endest mit dem Bauch über meinen Knien, während ich dir deinen blanken Hintern versohle“, drohte Darragh gelassen.
„Habe ich jetzt wieder deine Aufmerksamkeit oder ziehst du es weiterhin vor, vor dich hinzuträumen?“, wiederholte er spöttisch. Phelan schnitt ihm eine kurze Grimasse.
„Ich habe nicht geträumt!“, verteidigte er sich aufgebracht.
„Ich …“ Phelan stockte und legte den Kopf schief. Er was? Ja, was war das gerade gewesen?
„Es war, als ob ich nur mein halbes Hirn zur Verfügung gehabt hätte. Als ob die Hälfte von mir nicht da gewesen wäre, als ob sich mein Gehirn selbstständig gemacht hätte und sich einfach mit etwas anderem beschäftigt hätte. Ohne mein Zutun, ohne meinen Willen“, versuchte er zu erklären. Darragh schnaubte.
„Das muss aufhören“, bestimmte er herrisch. Phelan stieß einen hilflosen Ton aus. Wie sollte er denn etwas beenden, von dem er nicht einmal wusste, dass er es angefangen hatte?
„Du musst dich dringend mit Yuri unterhalten. Diese Verbindung zwischen dir und Julien muss unterbunden werden. Es kann nicht sein, dass er dein Training derart stört.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ging er zu einer der Bänke, die an den Wänden des Dojos standen, in dem er und Phelan miteinander trainierten. Phelan bückte sich, um sein Schwert wieder aufzuheben.
„Du meinst, es war Julien?“, hakte er nach. Sein Arm fühlte sich noch etwas lädiert an, er ließ ihn langsam kreisen. Verdammt, das war wirklich ein gemeiner Hieb gewesen. Er schenkte Darragh noch einen bösen Blick, dann ging er zu ihm. Der griff nach seinem Handy.
„Natürlich. Er trainiert gerade Manipulation mit seinem Sohn“, klärte er Phelan gönnerhaft auf.
„Das weiß ich!“, herrschte Phelan ihn an. „Ich habe die Termine meines Heeres im Griff.“
Das hatte er nicht, und Darragh wusste das. Phelan stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Kopf kreisen.
„Zumindest weiß ich, was Julien im Moment macht“, fuhr er erhaben fort. Darragh schnaubte.
„Ja, weil er es in deiner Burg tut“, bemerkt er mit diesem Schnauben. Phelan schob die Zunge zwischen Zähne und Oberlippe. Herrlich, wie Darragh sich über ihn lustig machte, einfach nur herrlich.
„Lass stecken“, knurrte Phelan unwirsch. Darragh schnaubte nur wieder und hielt sich sein Smartphone ans Ohr. Phelan hörte das Tuten, als es irgendwo klingelte.
„Was willst du? Hat er sich selbst mit seinen Messern aufgespießt?“
Yuri klang leicht genervt, als er den Anruf entgegennahm. Phelan vermutete, dass Darragh in mitten in einem völlig sinnfreien, aber für Yuri überlebenswichtigem Experiment gestört hatte.
Darragh lachte schnaubend, dann schlenderte er davon, um in Ruhe und ohne einen unerwünschten Zuhörer mit ihrem Heiler reden konnte. Phelan ließ sich gereizt auf die Bank fallen, schnappte sich sein Smartphone und wagte es, den Kalender zu öffnen. Eine Flut an Terminen sprang ihm regelrecht entgegen. Er würde Conor feuern, was interessierte ihn, wer von seinem Heer wann wo welchen Arzttermin hatte?
Julien schüttelte sich wie ein nasser Hund.
„Das war gruslig“, murmelte er und ignorierte tapfer den kritischen Blick seines Sohnes.
„Krempel deinen Ärmel hoch“, befahl Desmond harsch und als Julien seiner Meinung nach nicht schnell genug reagierte, legte er selbst Hand an.
„Dad, was ist das?“, wollte er wissen, als er Juliens Hemdsärmel weit nach oben geschoben hatte. Auf der blassen Haut leuchtete ein roter Striemen. Julien glotzte sich auf den Arm und sein Verstand ratterte augenblicklich verschiedene mögliche Ausreden herunter.
„Phelan hat sich beim Training verletzt“, sagte er nachdenklich und riss erschrocken seine Augen auf. Weshalb hatte er denn jetzt die Wahrheit gesagt?
„Dad? Gibt es da etwas, was du mir sagen möchtest?“ Desmond nahm seine Hand von Juliens Arm und verschränkte seine Arme vor der Brust. Julien schob die Zunge zwischen Zähne und Oberlippe.
„Phelan und ich sind seit diesem Vorfall in New Orleans…“
„Eurem Bluttausch?“, unterbrach Desmond kritisch und sah dabei seiner Mutter unglaublich ähnlich. Julien nickte fahrig.
„Sag ich doch! Nun, wir sind seitdem miteinander verbunden. Ich fühle, was er fühlt. Er fühlt, was ich fühle.“ Julien kratzte sich nachdenklich am Kopf. Desmond schwieg, in seiner Miene war keinerlei Regung zu erkennen.
„Er trainiert gerade mit Darragh“, sagte er schließlich nach einer Weile.
„Vielleicht hat ihn Darragh mit dem Schwert getroffen.“ Desmond nahm seine Arme herunter und schob seine Hände tief in die Hosentaschen seiner Jeans. Er spürte die Plastikverpackung einer Zigarettenschachtel und begann, sie zwischen seinen Finger zu zerknüllen. Das leise Knistern entspannte ihn ein wenig.
„Weil du ihn mit deinem Training mit mir abgelenkt hast!“, rief er plötzlich aus, riss eine Hand aus der Hosentasche und schlug sie sich gegen die Stirn.
„Das ist es! Dad! Durch deine konzentrierte Manipulation hast du unbewusst Onkel Phelan von seiner Konzentration abgelenkt und dadurch konnte Darragh ihn verletzen und deshalb hast du diese rote Stelle am Arm und es tat weh!“
War Julien der einzige, den es aus der Bahn warf, dass seine Gedanken und seine Gefühle nicht mehr nur noch ihm gehörten, sondern er sie mit seinem besten Freund und Liebhaber teilte?
„Das ist unglaublich!“, fuhr Desmond aufgeregt fort und lachte auf. Dann wurde er mit einem Schlag ernst.
„Das muss aufhören, Dad. Das ist gefährlich. Wenn so etwas im Kampf geschieht, könntet ihr beide sterben“, entschied er energisch und jetzt klang er wie seine Großmutter Lyria. Das erschreckte Julien mehr, als die Tatsache, dass es Desmond offensichtlich am Allerwertesten vorbei ging, dass sein Vater eine obskure mentale Symbiose mit einem Werwolf eingegangen war.
Desmond drehte auf dem Absatz um und marschierte entschlossen zu seiner Jacke, die er an eine der Zierfiguren des großen Kamins gehängt hatte. Conor würde ihn lynchen, wenn er das sehen könnte.
„Was tust du da?“, wollte Julien wissen.
„Ich ruf Yuri an. Diese Verbindung muss wirklich dringend unterbunden werden“, klärte Desmond ihn auf, kramte sein Smartphone aus seiner Jacke und wählte Yuris Nummer.
„Was ist denn los heute, verdammt nochmal?“, hörte Julien den Wissenschaftler am anderen Ende der Leitung in den Hörer schnauzen.
„Was willst du jetzt von mir? Hat er sich beim Manipulieren das Hirn verknotet?“
Desmond knurrte gereizt in den Hörer und verließ den Saal, um ohne störenden Zuhörer mit Yuri zu reden.
Julien fühlte sich leicht übergangen. Und das reizte ihn gerade mächtig. Er stieß ein warnendes Fauchen aus und wurde von seinem Sohn ignoriert.
Yuri marschierte, unflätige Flüche, die sich ausschließlich um irgendwelche Geschlechtsteile und rückseitige Körperöffnungen drehten, fluchend durch die unterirdischen Verbindungsgänge von Raghnalls Burg zu Phelans. Er war verdammt noch Mal beschäftigt, doch das schien weder diesen sturen Hund Darragh, noch diesen vorlauten Welpen Desmond zu interessieren! Mit einem gefährlichen Fauchen knallte er die schwere Holztür, die in die Kerker von Phelans Burg führte, hinter sich zu.
„Ah, bei Jupiters Schwanz!“, tobte er in die Stille der leeren Verliese. „Ich hätte es beinahe geschafft, aber nein! Nein! Ich muss ja hier herkommen! Sie sterben ja nicht einmal, was kann also so verdammt dringend und wichtig sein…“ Er stieß die Kellertür auf, trat in die Eingangshalle der Burg und sah sich Darragh und Desmond gegenüber, die ihn ungeduldig ansahen.
„… dass ich meine wirklich wichtigen Forschungen unterbrechen muss?“, raunzte er die beiden unwirsch an. Nur noch zehn Minuten länger und er hätte einen bahnbrechenden Durchbruch gehabt. Und die geheime Zutat im O’Neall’schen Blutpudding. - Jetzt war der Zug abgefahren und der übriggebliebene Nachtisch wahrscheinlich gefressen oder entsorgt. Und er musste warten, bis es wieder welchen gab.
Desmond hob abwehrend die Hände, während Darragh nur eine Augenbraue hob.
„Also?“, fuhr Yuri die beiden schnippisch an, „Was ist jetzt so unsäglich wichtig?“
„Die beiden müssen lernen, ihre Verbindung zu einander zu blockieren. Es geht nicht, dass Phelan in seinem Training unkonzentriert wird, nur weil Julien gerade seinen Sohn manipuliert“, erwiderte Darragh ruhig.
„Und es kann nicht sein, dass mein Dad verletzt wird, nur weil Phelan sich nicht konzentrieren kann, weil mein Vater mich manipuliert. So etwas kann tödlich enden!“, fügte Desmond hinzu.
„Hat es tödlich geendet? - Nein. Also wozu dann der ganze Aufriss?“ Yuri verschränkte die Arme vor der Brust.
„Weil es nervt.“ Phelan trat mit zwei Tassen Kaffee in den Händen aus der Küche. Er reichte sie an Darragh und Desmond weiter, bevor er Yuri einen kurzen Kuss auf die Nase gab.
„приве́т[priwjät], hallo, Yuri. Und weil der Mistkerl das Schwert in meinem Fleisch umdreht, damit es richtig wehtut“, fügte er noch hinzu, dann ging er zur Wohnzimmertür.
„Was ist? Wollt ihr das in der Eingangshalle im Stehen diskutieren?“, forderte er sie auf, ihm zu folgen. Yuri fluchte wieder zum Erröten unflätig, riss in einer theatralischen Geste seine Arme in die Luft, und folgte seinem Heerführer mit mürrischer Miene.
Desmond beugte sich nah zu Darragh.
„Er hat das Rezept immer noch nicht geknackt“, vermutete er treffsicher. Darraghs rechte Augenbraue machte einen belustigten Hüpfer.
„Nein“, stimmte er trocken zu. Desmond prustete verhalten.
„Verreck an deiner elendigen Zunge!“, zischte ihn Yuri auf Russisch an.
„Na, na, na. Mäßige dich, Yuri Borondin“, tadelte Phelan mahnend und der Wissenschaftler hörte Julien im Wohnzimmer kichern.
„Und du gleich mit!“ Yuri machte eine ordinäre Geste in Phelans Richtung, dann stob er an ihm vorbei in den Raum und warf sich neben Julien auf die Couch.
„Nicht geschafft?“, fragte der mitfühlend. Yuri zeigte ihm einen verschwindend kleinen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger an.
„So verdammt knapp davor, aber es ist ja so verdammt wichtig!“, fauchte er niedergeschlagen.
„Seit wie vielen Jahrhunderten versuchst du das schon? Drei-vierhundert?“, mutmaßte Phelan und nahm in einem Sessel Platz.
„Siebenhundertdreinundneunzig“, antwortete Desmond an Yuris Stelle gutgelaunt, was ihm einen vernichtenden Blick des selben einbrachte. Er zuckte gelassen mit den Schultern.
„Themawechsel“, befahl Darragh ernst. Sie hatten jetzt lange genug auf Yuris Achilles herumgeritten. Yuri schenkte ihm einen dankbar-trotzigen Blick.
„Desmond hat Recht. Wen diese Verbindung im falschen Moment greift, kann es sehr wohl für einen von beiden, wenn nicht sogar für beide tödlich enden. Und ich habe nicht vor, es darauf ankommen zu lassen. Dafür sind mir beide zu wichtig“, bemerkte Darragh trocken. Yuri rubbelte sich hektisch über das Gesicht und versuchte krampfhaft, den gescheiterten Versuch hinter die geheime Zutat des O’Neall’schen Blutpuddings zu kommen, zu verdrängen und sich auf das aktuelle Malheur zu konzentrieren. Er schnaubte frustriert und strich sich sein Haar zurück.
„Lasst mich nachdenken und haltet den Mund, ihr stört sonst meine Konzentration!“, fuhr er seine Kameraden an. Phelan schnaubte belustigt. Er erhob sich und verließ das Wohnzimmer, um Yuri einen dreifachen Espresso zu brühen.
Als er wieder zurückkam, saß Yuri immer noch mit seinen Händen in seinen Haaren da und starrte schweigend ins Nichts. Er stellte ihm kommentarlos die Tasse Espresso auf den Couchtisch und nahm wieder auf seinem Sessel Platz. Desmond nagte auf seiner Unterlippe herum und drehte unablässig die Tasse in seinen Händen. Darragh stand starr wie eine Statue neben dem Kamin und wartete. Phelan fragte sich kurz, ob der Boden schon die Konturen seiner Fußabdrücke angenommen hatte und sein alter Freund einfach nur da hineinrutschte, oder ob es purer Zufall war, dass Darragh immer an derselben Stelle stand.
„Du müsstest theoretisch dazu in der Lage sein, Phelans Emotionen auf dieselbe Weise abzublocken, wie der Versuch, manipuliert zu werden“, sagte Yuri schließlich nachdenklich. Julien sah ihn aufmerksam an.
„Du musst dir ins Gedächtnis rufen, dass Phelan ein Eindringling ist, bei dem es zu verhindern gilt, dass er in dich hinein darf“, fuhr Yuri ernst fort und Julien klebte regelrecht an seinen Lippen. Im nächsten Moment zuckte er vor Schmerzen zusammen.
„Abblocken“, erinnerte Yuri gelassen. Julien versuchte, dem Vorschlag nachzukommen. Er holte tief Luft, erinnerte sich an die Übungen, die er ganz zu Beginn mit Yuri gemacht hatte, um sich zu fokussieren und seinen Geist mit sich in Einklang zu bringen. Der Schmerz nahm zu und ließ ihn leise keuchen. Julien schloss die Augen. Langsam, viel zu langsam nahmen die Schmerzen ab.
„Genau so. Du machst das sehr gut“, lobte Yuri mit schmeichelnder Stimme.
„Geh ein wenig tiefer. Noch ein wenig.“
Desmond sah verwirrt zu Darragh. Von was redete der Beißer da? Tiefer gehen? Sollte sein Vater jetzt in die Hocke? Darragh schmunzelte stumm und schüttelte verneinend den Kopf. Wer nicht manipulieren konnte, verstand nicht, was Yuri damit sagen wollte. Und das war auch gut so, Darraghs Meinung nach. Nicht jeder sollte gleich erkennen können, was ein Manipulator meinte, wenn er etwas sagte, was das Manipulieren anbelangte.
Er sah prüfend zu Phelan, der sich mit scheinbar gelassener Miene mit einem scharfen Messer im Unterarm herumbohrte. Blut tropfte auf seine Hose und den Teppich zu seinen Füßen, doch Phelan kümmerte sich nicht darum. Sein Blick war fest auf Yuri und Julien gerichtet. Darragh nahm sich vor, dass die Rollen der Selbstverstümmelung gerecht verteilt werden würden.
„Du bist wahrlich ein Naturtalent“, lobte Yuri vier Tage später. Julien lächelte leicht verlegen. Allerdings musste er zugeben, dass er Recht hatte. Er war gut darin, zu manipulieren und er war gut darin, Phelans Empfindungen abzublocken. Mehr oder weniger. Im Moment musste er sich noch verdammt konzentrieren, dass er von Phelan abgeschottet blieb. Julien hoffte, dass sich das schleunigst besserte, sonst würde ihm ein langes, anstrengendes Leben bevorstehen.
„Wie macht sich Phelan?“, wollte er wissen und ließ seinen verspannten Nacken kreisen. Yuri schürzte die Lippen.
„Wie ein Felsblock im Wasser. Er geht sang- und klanglos unter“, grunzte er amüsiert. Julien grinste breit.
„So schlecht?“, hakte er nach.
„Schlechter“, sagte Phelan, als er das Wohnzimmer betrat. Er schnitt eine Grimmasse, passierte die beiden und griff sich eine Karaffe aus Bleiglas vom Beistelltisch.
„Ich muss manipulieren, damit meine Beute nicht schreit, während ich sie fresse. Mehr nicht, denn danach ist sie tot und kann nicht mehr schreien. Oder überhaupt was machen. Ich bin schon wieder weg. Und ich bin ein totaler Manipulationsversager.“ Phelan grinste unbekümmert, wedelte mit seiner Glaskaraffe und schlenderte zurück zur Tür. Julien legte den Kopf schief und sah ihm nach.
„Und das stört dich nicht?“, rief er Phelan hinterher. Der drehte auf dem Absatz um und lehnte sich an den Türrahmen.
„Nicht so sehr wie Yuris Beleidigungen“, bemerkte er mit einem spöttischen Grinsen. Juliens Kopf legte sich noch ein bisschen schräger.
„Wie ist es, wieder frei zu sein?“, wechselte er das Thema. Phelan lachte überrascht auf.
„Anstrengend. Ich werde besser überwacht als die letzten dreihundertachtzig Jahre.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Aber du ahnst ja gar nicht, wie viel Spaß es macht, sie zu ärgern.“
Yuris Augenbrauen schoben sich mahnend nach oben.
„Was hast du vor?“, wollte er kritisch wissen. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Och, ein bisschen Tollkirsche und ein Tröpfchen Fingerhut, tun dem Geschmack von Whisky gut“, reimte er gut gelaunt. Yuri und Julien öffneten beide gleichzeitig den Mund, um Ermahnungen auszusprechen, als sie Desmonds Rufen unterbrach.
„Onkel Phelan! Dieser seltsame Sud kocht!“
Phelans Grinsen wurde diabolisch.
„Merkt euch eure Predigt für später, ich habe zu tun. - Und Iuls: schön weiterüben!“ Er zwinkerte Julien verschwörerisch zu und verschwand dann eilig in der Küche. Yuri machte seinen Mund wieder zu und verdrehte die Augen.
„Seit er wieder hier ist, könnte man meinen, er sei zehn“, schnaubte er grimmig. Julien nickte mit einem schiefen Lächeln.
„Aber er lacht mehr als in New Orleans“, wandte er ein. Yuri seufzte.
„Das entschuldigt trotzdem nicht, dass er seine heimlichen Bodyguards vergiften will.“
Julien zuckte mit den Schultern.
„Sie bleiben ja nicht für lange tot“, bemerkte er gleichgültig.
„Stimmt. Na, dann: Weiter im Text!“ Yuri klatschte in die Hände und Julien richtete seine Konzentration wieder darauf, Phelan aus sich herauszuhalten.
„Warum tun sie das?“, fragte Julien unvermittelt.
„Warum tut wer was?“, hakte Yuri nach. Wovon redete sein Freund denn nun schon wieder? Von Phelan, wie er unschuldige Leute vergiftete, die nur ihre Arbeit machten?
„Warum behandeln sie uns wie kleine hilflose Kinder?“, fügte Julien hinzu.
„Weil ihr ihre Kinder seid?“, vermutete Yuri spöttisch.
„Wir sind erwachsen. Und Krieger. Bessere Krieger als so manch anderer hier.“
„Und ihr seid die Erben des Rates. Und ihr seid Hitzköpfe. Und Narren. Und Idioten, die sich bei der erstbesten Gelegenheit in Schwierigkeiten bringen. Und die ungefähr die Hälfte der Ratsmitglieder am Liebsten tot sehen will“, zählte Yuri auf und gab Julien einen Klaps auf den Kopf.
„Du sollst dich konzentrieren, verdammt nochmal!“
„Doch so viele?“, rief Julien erschrocken aus. Dass sie im Rat nicht gerade viele Freunde hatten, war Julien auch klar, aber dass es die Hälfte sein sollte, die gegen sie waren, schockierte ihn.
Yuri verdreht die Augen.
„Ich habe keine Ahnung, ob es wirklich die Hälfte von ihnen ist oder nur ein Drittel und das ist jetzt auch scheißegal, ich sagte, du sollst dich konzentrieren!“, herrschte er Julien unwirsch an. Manchmal war dieser intelligente Mann hier vor ihm echt zu dämlich. Julien räusperte sich, rollte mit den Schultern und konzentrierte sich brav.
„Und es gibt wirklich keine Veränderungen an ihm und mir?“, wisperte er nach kaum zwei Sekunden. Yuri knirschte mit den Zähnen.
„Nein. Immer noch nicht. Und nein, ich weiß auch immer noch nicht, weshalb. Und nein, ich habe keine weitere Möglichkeit der Untersuchung übersehen. Meine Kellerzelle da unten sieht aus, wie der Messestand eines Geräteherstellers für Medizin und Forschung. Das einzige, was ich noch nicht versucht habe, ist Kernspaltung oder Teilchenbeschleunigung.“
„Hat Teilchenbeschleunigung nicht was mit Physik zu tun?“, hakte Julien skeptisch nach. Yuris Blick wurde gönnerhaft.
„Strahlentherapie? Schon mal davon gehört, du Genie? Ist das vielleicht Physik?“, belehrte er ihn herablassend.
Julien fragte sich kurz, ob der diesem überheblichen Scheißkerl nicht einfach in die hämisch grinsende Visage schlagen sollte, so richtig mittig in die riesigen Zähne oder auf die große Nase.
„Wichser“, sagte er stattdessen nur. Yuri grinste breit.
„Gern geschehen, Jammerlappen. Und jetzt weiter im Text, sonst kann ich es gleich bleiben lassen. Ich bin noch dran, auch wenn ich zwischendurch versuche, hinter die geheime Geheimzutat der O’Nealls zu kommen. Auch ich muss einen Schein waren“, klärte er Julien auf und jetzt klang er überhaupt nicht mehr überheblich oder herablassend.
„Ich kann nur nicht ständig daran forschen. Ich stehe noch unter Beobachtung. Sollen sie alle ruhig glauben, dass es mich um den Schlaf bringt, weil ich nicht herausfinde, was Amy in ihren Pudding kippt. Solange sie mich für einen spleenigen Narren halten, habe ich meine Ruhe. - Meinst du, es bringt was, wenn ich Phelan sage, er soll sich zum Abblocken deiner Emotionen eine Backsteinmauer vorstellen?“, grübelte er nachdenklich. Julien lachte.
„Wenn du ihm dabei nicht zu viele Details über die Mauer erzählst. Nicht, dass er sich am Efeu verzettelt und vergisst, wozu diese Mauer wirklich gut sein soll“, scherzte er und dann spürte er sie. Wie sie diskret die Burg umrundeten.
Die gehören zu mir, sagte Yuri in Gedanken und verdrehte die Augen. Julien lehnte sich auf der Couch zurück und legte den Kopf in den Nacken.
„Kardamom?“, überlegte er laut. Yuri runzelte verwirrt die Stirn.
„Kardamom?“, wiederholte er dümmlich. Was wollte Julien denn jetzt mit Kardamom?
„Ich habe manchmal das Gefühl, Kardamom herauszuschmecken“, fuhr Julien grübelnd fort und bei Yuri fiel der Groschen. Er redete hier vom O’Neall’schen Blutpudding.
„Meinst du wirklich?“ Yuri tat, als ob er gründlich überlegen würde.
„Du könntest Recht haben, es schmeckt manchmal, wie Kardamom riecht.“ Yuri tippte sich mit seinem Zeigefinger gegen die Nase, um seine Aussage zu unterstreichen.
„Ich habe Amy vor kurzen vier Unzen davon kaufen sehen. Auf dem Markt, an dem Stand ganz hinten links“, behauptete Julien ernst.
„Seit wann ist da ein Kräuterstand? Und seit wann geht Amy nicht mehr zu dem, der da in der Mitte herumsteht? Diesem Zum Dritten Platz oder wie der heißt.“
„Weil es den schon lange nicht mehr gibt. Mindestens seit zehn Jahren nicht mehr!“, tadelte Julien sanft.
„Vor zehn Jahren war ich noch damit beschäftig, Milben aus meinem Gefieder zu putzen. - Ich habe nicht die leiseste Ahnung, weshalb keines der Geräte nichts anzeigt. Natürlich erleichtert es mich ungemein, dass ihr euch augenscheinlich kein Stück verändert habt … ja glaub ich das, weshalb drehen die jetzt wieder um? Ist unser Marktplausch so spannend? Phelan hat in New Orleans die Kräuter immer bei einer Voodoohexe gekauft. Er hat immer behauptet, dort würden sie am besten schmecken. Ich war nur froh, dass ich nichts von denen essen musste, ich hatte dabei immer ein ungutes Gefühl. Was, wenn die uns verhexen wollte?“ Yuri riss dramatisch seine grau-grünen Augen auf und Julien lachte pflichtschuldig. Aus den Augenwinkeln sah er Yuris diskrete Beobachter wieder zurückkommen. Wenn er nicht wissen würde, dass sein Freund rund um die Uhr beschattet wurde, hätte er sie nicht bemerkt. Und wenn er nicht jahrhundertelang von Darragh darauf trainiert worden wäre. Er war ehrlich beeindruckt, dass sein Vater und Raghnall vier Männer abstellten, um auf Yuri ein Auge zu haben.
„Ich habe diese Hexe nämlich mal belauscht und die meinte, dass sie Phelan zwanzig Prozent mehr berechnet, als ihren anderen Kunden“, behauptete Yuri mit wichtiger Miene. Julien stellte fest, dass sein Freund einen hervorragenden Schauspieler abgeben würde. Am besten den sympathischen Bösewicht, Yuri konnte teuflische bösartig sein, wenn es sein musste, besaß dabei aber immer noch einen herrlich anziehenden Charme. Und wenn er dann noch dieses offene Grinsen grinste, perfekt. Die Welt würde augenblicklich dem Bösen anheimfallen.
„Das ist nicht dein Ernst! So viel? Das ist ja grotesk!“, empörte sich Julien, allerdings war er ehrlich empört. Zwanzig Männer beschatteten Phelan? Das war ja beschämend.
„Wenn ich es dir sage. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört“, bekräftige Yuri ernst. Auf seinem Gesicht erschien ein gehässiges Grinsen und seine Augen funkelten triumphierend.
„Aber was glaubst du, was geschehen ist, als Phelan das herausgefunden hat?“, lockte er Julien. Der beugte sich neugierig vor und er fühlte sich, als ob sein diabolisch grinsender Freund ihn soeben in einen dunklen Abgrund zerrte, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.
„Er hat er sie an die Hausmauer genagelt. Mit Armbrustbolzen, die er ihr mit der bloßen Hand in den Leib gerammt hat. Vier Mal. Danach hat er sie im Meer ertränkt. Mit Steinen beschwert. Fünf Mal. Und dann hat er sie vergiftet. Mit Whisky, Fingerhut und Tollkirsche.“ Yuris Grinsen wurde unnatürlich breit und triumphierend.
„Woher weißt du das alles?“, wollte Julien lachend wissen.
„Conor hat die vier eben gefunden“, sagte Yuri lapidar.
„Aua“, kam die verspätete Reaktion von Julien, auf die Eröffnung, Phelan hätte vier seiner Leibwächter mit Armbrustbolzen an Raghnalls Burgmauer genagelt.
„Lassen wir den Welpen sich austoben, dann ist er nachher nicht mehr so aufgedreht, wenn ich ihm seine neuesten Kunststückchen beibringen werde“, meinte Yuri lässig und erhob sich.
„Ich brauch einen Espresso. Kaffee?“
Und Phelan tobte sich an seinen Beschattern aus. An allen zwanzig. Und er fühlte sich gut dabei. Denn das war die einzige wirklich spannende Abwechslung, die sein Leben im Moment mit sich brachte. Nebenher frischte er seine Kenntnisse in Altägyptisch und Altgriechisch wieder auf, lernte mit Yuri, sich eine schöne rote Backsteinmauer vorzustellen, die Julien aus ihm fernhielt und langweilte sich auf Ratsversammlungen, die er allein, seltener mit Conor, besuchte.
Der Winter war im Braeden eingezogen. Er kam mit Eisregen und Schneestürmen und einem völlig übertriebenen Weihnachtsfest daher und Phelan verbrannte gerade den letzten Rest des Weihnachtsbaumes im Kamin des Wohnzimmers.
Er lachte leise vor sich hin. Es war ein schönes Fest gewesen. Ein wenig überladen und zu kitschig, aber trotz allem ein schönes Fest. Seitdem hatten sich Beigan und Borgúlfr bei ihm im linken Flügel der Burg eingenistet. Waren sie bis dahin nur gelegentliche Übernachtungsgäste gewesen, hatten sie am siebenundzwanzigsten Dezember ihr Hab und Gut in seine Burg geräumt.
Sein Lachen wurde lauter.
Seine Burg war mittlerweile eine sitcomreife Männer-WG.
Ein brummiger Single-Werbär mit seinem schwulen Vampirbruder, der bei seinem bisexuellen Heerführer in der Burg zur Untermiete hauste, und dem den Kühlschrank leer fraß. Dann eben dieser schwule Vampir, der sich Hals über Kopf in den ebenfalls bisexuellen Neuankömmling aus den Staaten verknallt hatte, diesen sich aber erfolgreich mit Zickereien vom Leib hielt, der auch hier wohnte. Und dann natürlich Julien. Der Liebhaber des Burgbesitzers, der nebenher mit seiner Frau schlief, die in ihrem himmelblauen Cottage in der Nähe der Burg wohnte und deren Sohn sich peux a peux hier ein kleines Nest baute. Der war allerdings heterosexuell und hatte einen Frauenverschleiß, der seinesgleichen suchte. Mit Conor und Yuri, die immer wieder ohne anzuklopfen oder ohne sich anzumelden, hereinschneiten, hatten sie sogar ihren eigenen Running-Gag.
Das war der Moment, in dem Phelan lauthals loslachte. Er lehnte, immer noch den Schürhaken in der Hand, an seinem großen steinernen Kamin, und lachte Tränen, nur für sich allein.
„Jetzt ist er völlig durchgedreht“, bemerkte Beigan mitleidig und lehnte sich an den Türrahmen.
„Wer?“, fragte Borgúlfr neugierig und trieb seinen Bruder mit vollster Absicht beinahe in den Tod, indem er sich so neben ihn hinpositionierte, dass Haesten, den er mitgebracht hatte, gegen Beigan stieß. Und sich keinen Millimeter mehr rühren konnte. Haesten schoss das Blut ins Gesicht, als er eng an Beigan lehnte. Der versuchte tapfer, Haestens Geruch nicht einzuatmen, und scheiterte an dem Fakt, dass er Sauerstoff benötigte, um zu überleben. Kurz wünschte er sich, einer dieser Fantasyvampire zu sein, die so tot waren, dass sie nicht einmal mehr atmen mussten.
„Dein Heerführer“, krächzte Beigan mit leichter Verspätung seinen Bruder an. Es war unfair, dass ihm seine Gefühle so in den Rücken fielen. Vor allem wegen eines so hoffnungslosen Falles. Er unterdrückte einen herzhaften Seufzer.
Phelan holte laut und tief Luft, um sich wieder zu sammeln, und drehte sich zur Tür. Nur um gleich darauf erneut in schallendes Gelächter auszubrechen.
„Pilze?“, tippte Haesten einfach so ins Blaue. Beigan legte seinen Kopf leicht schief.
„Also zumindest fliegt er nicht“, bemerkte er nachdenklich. Was aber nicht zwingend heißen musste, dass sein Heerführer nicht irgendwelche anderen Pilze konsumiert hatte.
„Würde er fliegen, würde er jetzt nackt und gackernd an der Decke hängen“, fügte Beigan noch hinzu, als er bemerkte, dass Haesten nichts mit dem Begriff fliegen im Zusammenhang mit berauschenden Pilzen anfangen konnte. Haesten machte „Oh“ und gluckste leise. Die leicht zuckenden Bewegungen dabei gingen Beigan durch Mark und Bein.
„Lässt du uns mitlachen?“, fragte Borgúlfr neugierig. Phelan hob japsend die Hand.
„Ich … ich lebe in einer scheiß Daily-Soap …“, sagte er schnaufend. Borgúlfr sah ihn abwartend an.
„Single-Bär mit schwulem Vampir-Bruder, der mit bisexuellem Kumpel beim bisexuellen Heerführer wohnt, der einen bisexuellen Partner hat, der sich neben her noch mit einer Frau vergnügt und der Bruder des Heerführers und dessen bester Freund als Running-Gag, die immer unangemeldet hereinschneien. Oh, und der Sohn der Frau, mit der der Partner des bisexuellen Heerführers noch schläft, und zwar in ihrem himmelblauen Cottage ganz in der Nähe, der hier Stück für Stück einzieht, damit er in Ruhe seine unzähligen Weiber flachlegen kann.“ Phelan richtete sich umständlich auf, stemmte die Hände in die Hüften und blies die Backen auf.
„Soap-Opera“, beendete er seine kurze Zusammenfassung.
„Staffel eins läuft gerade erst im Free-TV an“, fuhr er fort und ein neues Kichern stahl sich in seiner Brust hoch.
„Wovon läuft gerade Staffel eins im Fernsehen? Und warum verbarrikadiert ihr hier die Tür mit euch?“ Julien stand in der Eingangshalle der Burg, die Hände lässig in den Hosentaschen seines Maßanzugs gesteckt und sah seine Freunde neugierig an. Beigan drehte sich umständlich zu ihm um, streifte notgedrungen mit seinem Schritt Haestens Hüfte, was ihn fast hart werden ließ, und öffnete den Mund, um zu antworten. Statt etwas zu sagen, verzogen sich seine Lippen zu seinem Schmunzeln. Kopfschüttelnd stieß er ein Lachen aus.
„Von Sodomie und Burgorra“, antwortete er einer albernen Eingebung folgend, und Phelan quittierte diesen lahmen Scherz mit neuem herzhaftem Gelächter.
„Fliegt der gerade wieder?“, vermutete Julien kritisch und nickte mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. Das würde zumindest erklären, weshalb die drei hier die Tür versperrten.
„Nein, er hängt nicht nackt an der Decke und gack…“ Haesten verstummte mitten im Wort.
„Ach du heilige Scheiße!“, stieß er regelrecht erschrocken aus.
„Er hat Recht! Wir sind eine scheiß Daily-Soap!“ Er quetschte sich umständlich zwischen den Brüdern heraus ins Wohnzimmer. Beigan seufzte unterdrückt, als ihm sofort Haestens Körperwärme fehlte.
„Sag ich doch.“ Phelan warf achtlos den Schürhaken in die Nähe des Kamins und ließ sich in einen Sessel fallen. Haesten nahm auf dem Sofa Platz.
„Also manchmal habt ihr echt ein Rad ab“, hörten sie Julien in der Halle lachen.
„He, das war dein Lover, der auf die Idee gekommen ist, nicht ich.“ Borgúlfr ließ Julien den Vortritt ins Wohnzimmer, bevor er ihm folgte.
„Daily-Soap. Sicher, dass du keine Pilze gegessen hast?“, hakte Julien ungläubig nach und warf sich der Länge nach auf die zweite Couch. Borgúlfr landete mit einem genüsslichen Ächzen im anderen Sessel. Notgedrungen nahm Beigan neben Haesten Platz.
Phelan riss theatralisch die Augen auf.
„Sieh dir das alles mal objektiv an. Das hier hat eindeutig Sitcom-Potenzial. Wenn ich das Talent dazu hätte, das alles aufzuschreiben, ich würde ein verficktes Drehbuch daraus machen und es an RTÉ schicken!“, behauptete Phelan so ernsthaft, dass Julien wusste, er amüsierte sich köstlich. Sollte ihm recht sein. Phelan brauchte das. Er brauchte diese albernen Gedanken, um wieder zu sich selbst zu finden, nach dieser langen Zeit in seinem düsteren Sumpfgefängnis. Julien lächelte leicht.
„Und was treiben wir heute Abend? Party? Kiffen, saufen, fliegen?“, wollte Borgúlfr gutgelaunt wissen. Die fünf Männer sahen sich kurz ratlos an.
„DVD-Abend?“, schlug Julien vor. Er hatte keine Lust, ins Paeds zu fahren und sich dort volllaufen zu lassen. Oder irische Volkslieder zu singen. Oder nach Galway zu fahren und dort einen Club unsicher zu machen. Und sich da dann volllaufen zu lassen. Irgendwie lief seit einiger Zeit eh immer alles auf sich volllaufen lassen hinaus. Seit dieser Bär mit ihnen um die Häuser zog. Borgúlfr war ein schlechter Umgang für ihn. Ein sehr, sehr schlechter, bestimmte Julien für sich.
Borgúlfr sprang aus dem Sessel auf und klatschte in die Hände. Beigans sehnsüchtigen Blick auf den freigewordenen Platz kommentierte er nur mit einem warnenden Knurren.
„Nun, denn, meine lieben Freunde“, begann er feierlich, „wir hätten folgenden Stapel ungesehener Filme zur Auswahl.“ Er öffnete den beachtlichen DVD-Schrank und holte einen mächtigen Berg Filme heraus.
„Ich will Action!“, rief Haesten begeistert. Borgúlfr sortierte brav alle actionlastigen Filme heraus und reichte sie ihm.
„Hier, du darfst die Pornos durchsehen“, bot er seinem Bruder gnädig an. Beigan griff nach dem beachtlichen Stapel Erwachsenenfilme.
„Bäh! Was will ich denn mit Mösen?“, echauffierte er sich prompt. Borgúlfr sah ihn tadelnd an.
„Nicht jedem geht einer ab, wenn er einen Männerarsch sieht, manche benötigen dazu Bäh-Mösen“, tadelte er belehrend. Phelan fragte sich kurz, auf welches Niveau diese Unterhaltung wohl sinken würde, wenn sie in spätestens vier Stunden betrunken waren, und zog ein paar Splatterfilme aus dem Stapel, der mit lautem Gepolter umfiel. Borgúlfrs Blick war tödlich.
„Sag ich doch, Soap-Opera“, nuschelte Phelan belustigt und las sich grinsend die Inhaltsangabe durch. Julien sprang elegant auf die Beine.
„Ich hol Aquavit“, beschloss er und klatschte laut in die Hände.
„Bring Knabberkram mit“, verlangte Phelan, ohne von seinen blutrünstigen Filmcovern aufzusehen. Julien stieß einen dramatischen Ton aus und verdrehte die Augen. Haesten war mit einem Satz auf den Beinen.
„Ich helf dir tragen“, bot er selbstlos an.
„Genau. Geh brav helfen“, ätzte Beigan und schenkte Haesten einen höhnischen Blick. Borgúlfr gab seinem Bruder einen harten Tritt gegen das Schienbein.
„Warum ist er so?“, fragte Haesten, als er mit Julien in der Küche war und Chips und Nüsse und Schokolade in einen Korb packte. Julien stellte die drei Flaschen Aquavit auf die Anrichte.
„Beigan? Der ist nicht so, das ist alles nur Show“, begann er mit einem sanften Lächeln. Haesten schnaubte ungläubig.
„Ist es wirklich. Beigan ist ein netter Kerl“, beteuerte Julien und holte Gläser.
„Ja, das merke ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe. Sei mir nicht böse, ich weiß er ist dein Freund, aber nett ist anders“, meinte Haesten zynisch. Julien seufzte leise. Er sah die Blicke, die Beigan Haesten zu warf, wenn dieser es nicht sah. Es waren dieselben Blicke gewesen, die er seinem damaligen Gefährten zugeworfen hatte. Julien haderte kurz mit sich selber, dann holte er tief Luft.
„Sein Gefährte hat ihn sitzen gelassen, weil er sich eine Frau geholt hat. Der Wichser war zu feige, zu Beigan zu stehen und hat sich lieber ein dümmlich kicherndes Weibsstück an die Seite geholt, um vor seinem Rudelanführer gut dazustehen. Zu Beigan hat er gesagt, dass es in einer Männerbeziehung keine Zukunft gäbe und er verpflichtet ist, dem Rudel Junge zu schenken. Aber sie könnten ja trotzdem noch ab und zu miteinander ficken, wenn ihm der Arsch juckt“, erzählte er und er merkte selbst, wie er von Wort zu Wort bitterer klang. Haesten hob überrascht die Augenbrauen.
„Es ist Phelan zu verdanken, dass der Typ noch lebt und sein Weibchen besteigen kann. Beigan war kurz davor, ihn umzubringen. Und bei seiner nächsten festen Beziehung hat er nach einem Jahr festgestellt, dass er die Affäre war und zu Hause Frau und Kind auf seinen Partner warteten. Es hat ihn mehr verletzt, als er einen merken lässt. Er ist nicht dieses arrogante, gefühlskalte Arschloch. Na ja, arrogant ist er schon.“ Julien lachte leise auf. Haesten nagte nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.
„Er stößt jeden von sich, den er nicht kennt, damit niemand merkt, wie sensibel er eigentlich ist. Und vor allem stößt er die weg, die er mag“, endete Julien ernst.
„Dich auch?“, hakte Haesten nach.
„Mich kennt er schon mein ganzes Leben lang. Nein, ich habe immer noch Welpenschutz. Hab einfach nur Geduld mit ihm. Er ist wirklich ein netter, freundlicher Mann. Ein wenig verstockt, vielleicht, aber wenn er erst einmal aufgetaut ist und sein wahres Gesicht zeigt, wirst du sehen, dass er ein toller Gesprächspartner und Freund ist.“ Julien lächelte ihn aufmunternd an. Haesten senkte nachdenklich den Blick. Er wollte Beigan wirklich gerne kennenlernen. Dieser kühle blonde Mann war irgendwie faszinierend.
„Na, los, gehen wir wieder zurück, bevor unsere Reisser noch vom Fleisch fallen“, schlug Julien gut gelaunt vor und gab ihm einen leichten Knuff.
„Und lass dich nicht von ihm ärgern“, gab er ihm noch mit einem verschwörerischen Grinsen mit. Haesten grinste schief.
„Ich versuch’s“, versprach er tapfer.
„Wie oft der männliche Darsteller Ja, lutsch ihn oder ähnliches sagt“, schlug Julien vor. Er war etwas angeheitert und das Spiel war kindisch, aber es machte mordsmäßig Spaß. Sie spielten eine Art Wahrheit oder Pflicht, bei dem sie raten mussten, wie oft etwas in einem der Filme gesagt oder getan wurde. Im aktuellen Fall, einem Pornofilm, war Julien dran, eine Aufgabe zu stellen, da er beim letzten Film gewonnen hatte. Es waren neunzehn Autos explodiert und Julien, der zweiundzwanzig geschätzt hatte, war am Dichtesten von allen dran gewesen.
„Was ist oder ähnliches?“, hakte Borgúlfr neugierig nach und balancierte sein Schnapsglas auf der Nase.
„Saug an meinem Riemen, saug meinen Schwanz, eben so was“, fuhr Julien fort und machte eine kreisende Handbewegung. Haesten tippte sich nachdenklich gegen das Kinn.
„Zwölf Mal“, behauptete er zuversichtlich.
„Vierzehn Mal“, schätzte Phelan. Er gab Beigan, der alles andere als ernsthaft mitspielte, einen groben Tritt gegen das Schienbein.
„Und du machst jetzt richtig mit. Und wer verliert muss in die Pflicht!“, bekräftigte er nachdrücklich. Beigan verdrehte entnervt die Augen. Wie alt war er eigentlich, dass er so einen Blödsinn mitmachen musste? Er nuschelte etwas undeutliches, was er sagte, wusste er selber nicht genau, er war zu betrunken dazu.
„Einarsson!“, warnte Phelan drohend. Beigan stieß einen entnervten Schrei aus.
„Mein Gott, ich schau keine Hetenpornos, was weiß ich, fünfzig Mal?“, schnauzte er Phelan gereizt an. Der hob nur die Augenbraue, seine Augen funkelten.
„Ist das dein ernsthaftes Angebot, Einarsson?“, hakte er nach. Julien lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Und wäre Beigan nicht so betrunken, dann würde es ihm genauso gehen. Und er würde seine Schätzung korrigieren. Oder sich ausklinken. Aber Beigan war betrunken und er war gereizt, Julien wusste, es lag daran, dass er neben Haesten sitzen musste, und entweder war ihm dieses gefährliche Blitzen in Phelans Augen egal, oder er sah es nicht.
„Ja und jetzt nerv mich nicht!“ Beigan kippte sich ein volles Whisky-Glas Aquavit in den Rachen und schüttelte sich leicht.
„Der Verlierer wird von allen anderen geküsst“, gab Phelan den Wetteinsatz an. Beigan zuckte nur mit den Schultern und goss sich sein Glas erneut mit dem Branntwein voll. Der Blick, den Phelan Borgúlfr zu warf, war diabolisch. Borgúlfr erwiderte ihn nicht weniger boshaft.
Selbst in dieser Art Erwachsenenfilm, in denen sich Sexszene an Sexszene reihte, ohne eine wirkliche Handlung innezuhaben, waren fünfzig dieser plump-motivierende Aussprüche zu einem Blow-Job mehr als nur übertrieben. Phelan wusste das. Julien wusste das ebenfalls. Alle wussten es und Beigan wahrscheinlich ebenso, aber Stolz gepaart mit Alkohol und Trotz war kein guter Ratgeber. Und da Beigans Schätzung jenseits von Gut und Böse lag, beugte sich Borgúlfr, nachdem der Film zu Ende war, zu seinem Bruder und gab ihm einen dicken Schmatzer auf den Mund. Phelan gab Julien einen Knuff.
„Du bist“, sagte er mit diesem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Julien erhob sich elegant, beugte sich zu Beigans Gesicht und nahm es sanft in beide Hände.
„Auf die alten Zeiten“, raunte er ihm ins Ohr und dann presste er sanft seine Lippen auf Beigans. Es war noch genau so vertraut, wie damals, als sie ihre kleine Affäre im Heer gehabt hatten. Nichts ernstes, es war nur eine Sex-Beziehung gewesen und beide hatten mit offenen Karten gespielt. Beigan hatte gewusst, dass Julien eigentlich lieber mit Phelan ins Bett gestiegen wäre und Julien hatte gewusst, dass er für Beigan nur etwas zum Vögeln war. Beigan ließ bereitwillig Juliens Zunge in seinen Mund und unterdrückte ein genüssliches Schnurren.
Julien beendete den Kuss.
„Danke“, meinte er mit einem verschmitzten Lächeln und ging zurück an seinen Platz. Beigan nippte zufrieden an seinem Glas.
„Ich denke, das solltest du jetzt wegtun“, behauptete Phelan mit einem lockenden Unterton in der Stimme, den Julien mittlerweile nur zu gut kannte, und nahm Beigan das Glas weg. In derselben Bewegung, in der er das Glas auf den Beistelltisch neben der Couch stellte, kniete er sich über Beigan. Phelan griff dessen Kinn und hob es an.
„Du lernst es nie“, murmelte er fast lautlos, beugte sich vor und küsste ihn. Fordernd, leidenschaftlich. Phelan drückte mit sanfter Gewalt Beigans Kinn nach unten, seine Zunge schob sich in seinen Mund, strich über Beigans, reizte, neckte. Beigan wurde hart und er war froh, dass er saß, denn dieser Kuss war unglaublich. Seine Finger krallten sich ohne sein Zutun in die Ärmel von Phelans Sweatshirt. Er versank.
Phelan beendete den Kuss abrupt und richtete sich auf und warf Haesten einen triumphierenden Blick zu. Beigan keuchte leise.
„Versuch das mal, zu toppen“, richtete Phelan seine Aufmerksamkeit auf Haesten. Der zwinkerte verwirrt. Was meinte sein Heerführer denn damit?
„Was … wie …?“, stammelte er irritiert. Phelan beugte sich weit zu ihm vor.
„Versuch, das zu toppen. Küss besser“, half er freundlich. Beigan schüttelte den Kopf und sein Verstand klärte sich. Was zum Henker war das für ein Kuss gewesen? Seit wann konnte dieser Trampel so gut küssen? Und weshalb versteckte der Kerl diesen Sexappeal so? Er schluckte trocken und starrte zu Phelan und Haesten, hörte mit halbem Ohr, wie Phelan Haesten reizte, es besser zu machen.
„Du glaubst, ich könnte das nicht?“, biss Haesten augenblicklich an. Julien biss sich grinsend auf die Zunge. Phelan war ja so ein mieser Arsch! Er kicherte in seinen Branntwein.
„Ich weiß es nicht, ich habe dich bisher immer sehr erfolgreich jeglicher Art der körperlichen Nähe ausweichen sehen, aber aufgrund deiner Ablehnung gegen eben diese körperliche Nähe, würde ich behaupten: Nein, du kannst es nicht“, erwiderte Phelan triumphierend. Haesten schnappte laut nach Luft. Was dieser überhebliche Scheißkerl da gerade behauptete, war so was von unter aller Kanone und so was von arrogant und selbstherrlich und überhaupt!
„Jetzt pass mal auf“, begann er hitzig und zeigte mit dem Finger auf Phelan. Der verschränkte mit einem spöttischen Grinsen die Arme vor der Brust.
„Nur weil ich nicht jedem dahergelaufenen Kerl meine Zunge in den Hals stecke, heißt das nicht, dass ich das nicht kann!“ Warum ließ er sich nur auf diese kindische Diskussion ein? Er sollte über diesen Sticheleien stehen!
„Dann beweis es“, forderte Phelan gönnerhaft. Haesten knirschte laut mit den Zähnen. Warum ließ er sich dazu hinreißen, mit Phelan zu diskutieren? War es dummer männlicher Stolz, der ihn dazu verleitete? Es war auf jeden Fall sein Ego, das sich bis in seine Tiefen durch diese dumme Behauptung eines Betrunkenen ärgern und herausfordern ließ.
„Fein!“, schnappte er herablassend, erhob sich und strich seine Hose glatt. Bevor er vor seinem eigenen Mut davonrannte und es sich doch noch anders überlegen konnte, schwang sich Haesten entschlossen auf Beigans Schoß. Der Vampir war noch erregt von Phelans Kuss, Haesten packte sein Gesicht, zog es zu sich und küsste ihn.
Die zarte, fast scheue Berührung stand im völligen Gegensatz zu Haestens entschlossenem Blick, mit dem er Beigan bedacht hatte. Haesten wartete auf Beigans Reaktion und wurde mutiger. Sein Kuss wurde entschlossener, er schmeckte Aquavit auf den weichen Lippen und drängte seine Zunge zwischen sie.
Phelan sah zu Borgúlfr und grinste breit. Der Bär erwiderte das Grinsen und nippte an seiner Bierflasche.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte es Haesten, den innigen Kuss zu beenden. Er stieß heftig die Luft aus und rutschte hastig von Beigans Schoß. Mit fest zusammengepressten Lippen nahm er wieder Platz. Beigan leckte sich kurz über die Lippen, sein Blick war fest auf den dunklen Fernseher gerichtet. Sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab.
„Welchen Film wollen wir jetzt sehen? - Splatter?“, fragte Phelan, als ob er die angespannte Stimmung, die auf einmal herrschte, nicht wahrnehmen würde. Julien fragte sich, ob sein Freund nicht etwas übers Ziel hinausgeschossen war, mit seiner Reizerei. Er sah abwechselnd Haesten und Beigan an, doch keiner von beiden wandte ihm den Blick zu, sondern starrten stur geradeaus. Julien konnte ihre schnellen Herzschläge spüren.
Vertrau mir, hörte er Phelan in seinem Kopf sagen und er klang alles andere als betrunken oder angeheitert. Im Gegenteil, er klang verdächtig nüchtern. Phelan zwinkerte ihm gut gelaunt zu.
Vertrau mir. Ich weiß, was ich tu.
Ehrlich gesagt, war sich Julien da nicht wirklich sicher.
Beigan lehnte an der Burgmauer und starrte über das graue Meer.
Der kalte, klamme Wind zerrte an seinen Haaren und Kleidern und bohrte sich hartnäckig einen Weg durch den Stoff. Seine Haut war kalt und gerötet, seine Finger begannen schon, sich bläulich zu verfärben, doch der Vampir spürte die Kälte nicht.
Er spürte schon lange keine wirkliche Kälte mehr auf seiner Haut. Anfangs, als er von seinem Vater gebissen worden war, hatte er noch Kälte gespürt, hatte gespürt, wie der Schnee seine Haut auskühlte, die Schmerzen, die sich in seinen Gliedern festbissen, wenn er zulange ohne schützende Kleidung im Schnee stand, doch im Laufe der Jahre war dieses Gefühl verschwunden.
Was er allerdings spürte, war die Kälte in seinem Inneren, die langsam begann, zu schmelzen. Beigan seufzte leise.
Und wessen Schuld war das? - Phelans natürlich.
Er schnaubte grimmig, nestelte in der Tasche seiner engen Jeans herum und zerrte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten heraus. Das war auch die Schuld dieses dämlichen Wolfes, er hatte schon seit vierzig Jahren keine Zigarette mehr angefasst und jetzt, jetzt hatte er auf einmal wieder das dringende Bedürfnis zu Rauchen.
Und alles nur wegen eines dämlichen Trinkspiels, an dessen Regeln Beigan sich nicht einmal mehr erinnern konnte, weil er schlichtweg zu betrunken gewesen war.
Er duckte sich hinter die Zinnen und zündete eine Zigarette an.
Moment, halt, es ging um Filme, Beigan runzelte konzentriert die Stirn. Um Filme und um abgeschlossene Wetten über dumme Dinge, die darin passieren würden. Wie oft in einem Actionfilm ein Auto explodierte oder wie viele Schlägereien es dort gab. Oder wie oft die Darsteller in einem Porno „Ja, fick mich!“ oder irgendeinen anderen Scheißspruch von sich gaben. Eigentlich ein kindisches Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel, wer verlor, musste entweder Trinken oder irgendeinen Mist machen. Da Beigan nur halbherzig mitgemacht hatte, hatte er viele Drinks hinuntergekippt, bis Phelan beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, dass er auch mal in die Pflicht genommen werden müsste.
Mit dem ersten richtigen Kuss hatte er noch leben können, der war von Julien gewesen und Beigan wusste, wie es war, Julien zu küssen, immerhin hatten sie im Heer mal etwas miteinander am Laufen gehabt.
Der zweite ging ihm sofort in den Schwanz, so ungern er es sich auch eingestand. Phelan hatte ihn geküsst. Lange, leidenschaftlich und unglaublich erregend. Beigan hätte nie geglaubt, dass ein einziger Kuss ihm so den Boden unter den Füßen wegziehen konnte, das war allerdings auch vor diesem ersten Kuss von Phelan gewesen.
Er schnaubte wieder, schnippte die aufgerauchte Zigarette weg und zündete sich gleich die nächste an. Wer konnte auch ahnen, dass dieser unbeholfene, trampelige Scheißkerl so ein verdammt guter Küsser war?
Und dann, dann war er nur noch ein Spielball von zwei Wölfen gewesen und dafür hasste er Phelan und Haesten. Und er hasste sich dafür, dass er mit sich hatte spielen lassen.
Dumpf erinnerte er sich daran, wie Phelan Haesten reizte und neckte, dieses gefährliche Leuchten in den schwarzen Augen, dass alle, die ihn kannten, davor warnten, sein Spiel weiter mitzuspielen, doch Haesten kannte diesen gerissenen Wolf noch nicht gut genug.
Es war ein schnippisches „Fein!“, welches Beigan hatte aufschrecken lassen. Und plötzlich hatte sich Haesten auf seinen Schoß geschwungen, seine Hände auf Beigans Wangen gelegt und ihn trotzig angeblickt.
Und geküsst.
Vorsichtig und scheu, innig und fest und dann hatte er seine Zunge mit sanfter Gewalt zwischen Beigans Lippen geschoben.
Es war nicht fair von Phelan, so mit ihm zu spielen!
Beigan biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie blutete, nur um nicht loszuheulen.
Dieser scheißdämliche Wolf wusste, dass sein Herz einen Hüpfer machte, wenn er Haesten sah und er wusste, dass Beigan nicht wollte, dass es das tat. Warum musste er dann also darauf herumreiten und so etwas provozieren?
Er wollte das nicht!
Nicht noch einmal. Nicht schon wieder!
Nie mehr wieder, weil er es nicht ertragen würde, wenn man ihm noch einmal eine Frau vor die Nase setzen und behaupten würde, dass eine Beziehung zwischen zwei Männern keine Zukunft hatte, weil sie keine gemeinsamen Kinder zeugen konnten. Weil das Wohl des Rudels doch an erster Stelle stand und jedes Rudel Junge brauchte.
Er hatte schon einmal Frau und Kinder gehabt und er war ein Wolf und Wölfe sehnten sich nach einer Familie und er kannte es schon, eine Familie zu haben, also würde er wieder eine Familie wollen und Beigan wollte kein Zwischenspiel sein, dafür war er nicht geschaffen, er wollte etwas echtes. Jetzt schossen ihm doch die Tränen in die Augen, mit einem wütenden Aufschrei schleuderte er die Zigarette über die Mauer. Ein kläglicher Ersatz, um seinen Frust loszuwerden.
Beigan wirbelte wütend auf sich selbst herum, mit dem Vorsatz, nicht zu weinen und sich stattdessen am Boxsack seines Bruders auszutoben, und erstarrte.
Haesten hatte die Schultern hochgezogen und seine Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen.
„Hei“, grüßte er und schenkte Beigan ein schiefes Lächeln. Beigan starrte ihn sprachlos an. Wie lange stand der Wolf schon hier oben? Nicht lange, seine Kleidung strahlte noch die Wärme von beheizten Räumen aus. Er schluckte hart.
„Wegen gestern …“, begann Haesten, als er von Beigan keine Reaktion erhielt. Durch Beigan ging ein harter Ruck.
„Lass stecken“, wiegelte er unwirsch ab. Er war kein dummer Welpe mehr, der sich von so etwas groß aus der Bahn werfen ließ. Heute noch ein wenig vielleicht, aber morgen war alles wieder wie immer.
„Nein.“ Haesten sah Beigan fest in die Augen. „Nein, ich lasse es nicht stecken.“
Beigan presste fest die Kiefer aufeinander.
„Können wir dann wenigstens aus der scheiß Kälte raus? Ich frier mir sonst den Arsch ab“, behauptete er und machte sich erst gar nicht groß Mühe, nett zu sein.
Stoß ihn weg von dir, bevor es richtig wehtut, mahnte er sich und schob sich an Haesten vorbei, in den Wachturm. Er würde jetzt einfach weitergehen, den Wolf hinter sich ignorieren und dann würde das Problem von alleine verschwinden.
Hätte in dem alten Kohlebecken in der Ecke kein Feuer gebrannt, hätte der Plan vielleicht funktionieren können. So allerdings bremste Beigan ab und starrte in die Flammen. Als er hochgekommen war, hatte noch kein Feuer gebrannt, das wusste er ganz genau.
„Ich frier mir auch nicht gerne den Arsch ab, das haben wir wohl gemein“, meinte Haesten und schloss die Tür hinter sich. Die plötzliche Stille war mit den Händen greifbar. Beigan holte kurz Luft, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich neben dem Kohlebecken an die kalte Steinwand. Beschäftigen. Ablenken. Er zog gierig am Filter.
„Deshalb das Feuer“, sagte er nur, um irgendetwas zu sagen. Haesten zuckte mit den Schultern.
„Ich wusste nicht, dass du rauchst“, meinte er und deutete mit der Hand auf die Zigarette zwischen Beigans Fingern. Er war nervös. Nervöser, als er es sein wollte.
„Hab seit vierzig Jahren keine mehr geraucht. Willst eine?“, bot Beigan an. Haesten zuckte wieder mit den Schultern.
„Gerne. Danke.“
Er fing die Schachtel auf, die Beigan ihm zuwarf und bediente sich.
„Du wolltest nur hier mit mir eine rauchen?“, fragte Beigan spöttisch. Haesten schnalzte mit der Zunge. Dieser Vampir hier machte es ihm nicht wirklich einfach.
„Er kann das gut“, begann er, während er auf die glühende Spitze seiner Zigarette starrte, „andere Leute zu manipulieren ohne in ihren Kopf reinzugehen.“
Beigan brauchte einige Sekunden, bis er begriff, dass Haesten von Phelan sprach. Er schnaubte missmutig.
„Ja, er ist verdammt gut darin, mit einem zu spielen und da hin zu schieben, wo er dich haben will“, knurrte er. Und er fiel auch noch darauf herein. Immer noch. Nach all den scheiß langen Jahrhunderten.
Haesten holte tief Luft, sammelte all seinen Mut zusammen und stieß einen herzhaften Seufzer aus.
„Mir hat der Kuss gestern gefallen.“ Es klang beinahe trotzig, wie er es Beigan entgegenschleuderte. Dessen Augenbrauen zuckten kurz nach oben.
„Und dir auch“, behauptete er sicher. Beigan sah ihm fest in die Augen, hoffte, dass er den Wolf einfach nur niederstarren konnte, damit der sofort den Mund hielt. Es funktionierte nicht.
„Und dabei weiß ich noch nicht einmal, ob ich dich überhaupt leiden kann“, gestand Haesten und lachte kurz auf. Beigan nickte. Er schluckte die bittere Galle herunter, die sich auf den Weg nach oben machte. So war der Plan, den er selbst seit langer Zeit verfolgte. Wer einen nicht mochte, tat einem nicht weh. Trotzdem schmerzte es, zu hören, dass Haesten ihn nicht einmal ein wenig gern hatte.
„Weißt du“, sagte Haesten und wandte den Blick ab um seine Zigarette ins Kohlebecken zu werfen, „es war schön, als ich eine Frau und Kinder hatte.“
Beigan zuckte leicht zusammen. Er wollte es nicht hören. Er wollte nicht hören, wie toll es doch war, eine Familie zu haben. Er hatte es schon so oft gehört und es reichte ihm.
„Ich sagte, lass stecken. Interpretier nichts in etwas hinein, wo es nichts hineinzuinterpretieren gibt!“, fuhr er dazwischen. Erleichtert stellte er fest, dass seine Stimme nicht zitterte und nichts von dem preisgab, was in ihm tobte. Wut und Enttäuschung. Verzweiflung. Resignation.
„Willst du mir jetzt etwa vorschreiben, was ich zu fühlen habe?“ Haestens Augen blitzten wütend auf und er kam einen Schritt auf Beigan zu. Zu nahe, der Wolf war zu nahe und hinter ihm war die Wand, die ihn am Zurückweichen hinderte.
„Ich bin vielleicht nicht einmal halb so alt wie du, Beigan Einarsson, aber ich bin alt genug, um zu wissen, was ich wann, wo und wie fühle!“, fuhr Haesten ihn an und hackte ihm seinen Zeigefinger kräftig in die Brust. Beigan öffnete den Mund, um etwas Bissiges zu erwidern, doch Haesten schnitt ihm mit einer unwirschen Geste das Wort ab, bevor er auch nur einen Ton sagen konnte.
„Nur weil ich es einmal hatte, heißt das nicht, dass es das ist, was ich will! Was ich jetzt will! Was ich jetzt will, ist ein Platz, an dem ich endlich Zuhause sein kann! Ein Platz, an dem ein Rudel auf mich wartet! Ein Platz, wo ich sicher bin, wo ich beschützt bin, wo ich geliebt werde! Und … und was dann noch so alles kommt, das weiß ich nicht, ich bin kein verdammter Hellseher, aber ich …“ Haesten verstummte schlagartig. Er hörte Beigans Herz, welches viel zu schnell in dessen Brust schlug. Er kannte dieses Hämmern, diesen viel zu schneller Schlag, Haesten nahm seinen Finger von Beigans Brustkorb, nur um seine flache Hand daraufzulegen. Schnell, viel zu schnell. Die leise, flache Atmung durch den Mund, hektisch, und der Versuch, es zu unterdrücken.
„Dein Herz verrät dich.“
Die Haltung bewahren, nicht ergeben die Augen schließen, nicht schlucken, um zu zeigen, dass dein Gegenüber Recht hat. Beigan blinzelte nicht und Beigan schluckte auch den Kloß in seinem Hals nicht hinunter, obwohl der ihn zu ersticken drohte. Er stand starr vor Haesten und blickte ihm fest in die Augen. In diese klaren blauen Augen. So dunkelblau, wie Beigan es noch nie zuvor als Augenfarbe gesehen hatte. Zwei beruhigende Atemzüge machen. Einatmen und wieder ausatmen.
„Es schlägt. Sonst wäre ich ja tot“, sagte er belehrend.
„Wie kannst du nur so kalt sein?“, fragte Haesten fasziniert.
„Es war doch nur ein Spiel, in Gang gesetzt von Phelan, um ihn zu amüsieren. Manchmal sind wir nur seine Spielzeuge, mehr nicht“, fuhr Beigan fort und mit jedem Wort gewann er seine Fassung wieder. Nur seinen Herzschlag unter dieser warmen Hand bekam er nicht unter Kontrolle.
„Du lügst“, stellte Haesten sachlich fest.
„Und du nervst“, gab Beigan herablassend zurück.
„Warum bist du so?“, wollte Haesten wissen.
„Jeder ist, wie er ist.“
Er war stolz auf sich, er klang ganz normal. Und wenn dieser Wolf endlich seine verdammte warme Hand von seiner Brust nahm, konnte er ganz normal seine Zigarette ins Kohlebecken werfen und gehen. Haesten ließ seine Hand wo sie war und erfühlte den schnellen, beinahe hektischen Herzschlag. Seine Finger bogen sich in die Wolle von Beigans Pullover.
„Welchen Grund sollte Phelan haben, so mit uns zu spielen? Er würde uns nie wehtun wollen. Er würde dir nie wehtun wollen. Du bist sein bester Freund, er würde für dich sterben, also, was meinst du, war der Grund, weshalb Phelan das gemacht hat?“ Haestens Augen blickten ihn fragend an.
„Wenn es dich so brennend interessiert, dann frag ihn einfach. - Oder hast du Angst vor ihm?“
Natürlich hatte Haesten Angst vor Phelan, jeder, der ihn nicht gut genug kannte hatte das, und Beigan wusste es.
„Ja, das hab ich. Obwohl es weniger Angst, als scheiß Respekt vor ihm ist. Er ist mächtig und gegen ihn fühle ich mich klein und schwach, obwohl er mir nie das Gefühl gibt, es zu sein. Dazu ist er zu fair“, antwortete Haesten ehrlich und ein leicht spöttisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Und deshalb stelle ich mir die Frage, weshalb er es gestern so hartnäckig provoziert hat, dass wir uns küssen. Denn das passt nicht zu seiner Fairness, es sei denn, er glaubt, einen guten Grund dafür zu haben.“ Haesten machte einen Schritt auf Beigan zu.
„Ich hab’s dir eben schon gesagt, wenn es dich so wahnsinnig interessiert, dann frag ihn“, wiederholte Beigan gereizt. Das war ihm zu nah. Er mochte es nicht, wenn man ihm zu nah kam und er keine Fluchtmöglichkeit hatte. Und die andere Alternative, nämlich Haesten niederzuschlagen, kam für ihn nicht in Frage. Beigan packte Haesten am Handgelenk, um dessen Hand endlich von seiner Brust zu nehmen, ihn wegzuschieben und zu gehen.
„Ich frag aber nicht ihn, sondern dich!“, erwiderte Haesten mit Nachdruck und verstärkte seinen Griff an Beigans Pullover.
„Ich will es von dir hören. Ich will von dir die Wahrheit hören“, verlangte er hartnäckig.
„Haesten, lass mich los.“ Er wollte Haesten nicht wehtun, aber wenn der nicht augenblicklich seinen Pullover losließ, würde er einfach aus ihm rausschlüpfen und zwischen den Beinen von diesem sturen Wolf hindurchkrabbeln, wenn es sein musste.
„Wie oft hast du es schon gehört?“, fragte Haesten plötzlich. Beigan sah ihn verwirrt an. Wovon redete der Kerl denn jetzt auf einmal?
„Wie oft wurdest du verlassen, weil eine Beziehung mit einem Mann nicht fruchtbar ist, keine Zukunft hat?“
Beigans Gesichtsmuskeln spannten sich an. Er presste so fest die Zähne zusammen, dass sein Kiefer schmerzte.
„Woher?“, zischte er. Zorn wallte in ihm hoch. Woher wusste dieser Wolf davon?
„Julien hat so etwas angedeutet“, gestand Haesten ehrlich. Beigan riss grob Haestens Hand von seinem Pullover und stieß ihn heftig von sich.
„Du redest mit Julien über mich?“, brauste er auf.
„Was redest du mit Julien über mich? Immerhin kannst du mich ja nicht einmal leiden!“
Das war das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Mögen tat ihn dieser verdammte Wolf nicht, aber über ihn reden, die Freunde über ihn ausquetschen, das konnte man offensichtlich.
„Ja! Weil jeder hier behauptet, du wärst gar kein so riesen Arschloch, sondern völlig in Ordnung und nett und sowieso! Aber Borgúlfr ist dein Bruder und Phelan dein bester Freund, natürlich sagen die so etwas! Aber Julien ist ehrlich zu mir, auch in solchen Dingen und er hat mir gesagt, dass du wirklich nett sein kannst, wenn du willst, du willst nur nie, und er hat gesagt, dass du scheiß Arschlöcher als Partner hattest, die dich nicht verdient hätten, eben weil du so ein netter Kerl seist und dass du ein großes Herz hättest, aber das einzige, was ich von dir sehe, ist ein großkotziges, selbstgefälliges, herablassendes Arschloch, dass jeden um sich herum beleidigt und niedermacht!“, tobte Haesten los.
Und auf einmal war er sich sicher. Er mochte Beigan, denn es interessierte ihn wirklich, wie der eigentliche Beigan war. Und weshalb Beigan sich so kaltherzig aufführte.
„Und außerdem mag ich dich!“, fügte er trotzig hinzu.
„Ich denke, du magst mich nicht!“, warf Beigan ihm wütend vor.
„Ich habe gelogen!“
„Hast du nicht!“, behauptete Beigan und kam drohend auf Haesten zu. Auf seinem Gesicht erschien ein grimmiges Grinsen.
„Du hast vorhin nicht gelogen, du hast die Wahrheit gesagt. Also komm mir jetzt nicht mit einem Ich mag dich daher, nur um Schön-Wetter zu machen, hast du mich verstanden? Es geht dich nichts an, mit wem ich im Bett war, warum ich mit demjenigen im Bett war und warum ich mit keinem mehr von ihnen zusammen bin. Du magst mich nicht und deshalb muss ich es dir nicht sagen!“, zischte er zornig und baute sich vor Haesten auf. Jeder, wirklich jeder - bis auf Phelan und Borgúlfr - wäre jetzt zurückgewichen, doch Haesten stand völlig unbeeindruckt vor ihm und sah ihn gelassen an. Er stand vor Beigan, sah ihm völlig unbekümmert in die Augen und er hatte keine Angst, fühlte sich nicht bedroht. Beigan stellte kurz fest, dass sie gleich groß waren und wischte diese Erkenntnis unwirsch beiseite.
„Ich will keine Frau mehr und ich will auch keine Kinder mehr. Nicht jetzt und nicht in der nächsten Zukunft. Ich weiß nicht, was in den nächsten Jahren sein wird, ob ich in zwanzig Jahren immer noch so denke, aber ich weiß, was ich jetzt will. Und das ist keine Familie mit einer Frau und einem Kind“, erklärte Haesten mit warmer Stimme.
Jetzt, da er hier stand, war ihm mit einem Mal völlig klar, was er wollte, vielleicht hatte er es auch schon viel länger gewollt und es sich einfach nicht eingestanden. Wahrscheinlich hatte er es schon länger gewusst, Haesten war ein Mann, der sich ziemlich schnell sicher über seine Bedürfnisse und Wünsche war, doch die unterschwellige Angst, doch wieder vertrieben zu werden, hatte ihn diesen Wunsch verdrängen lassen.
Ein scheues Lächeln huschte über seine Lippen, dann schnellte er vor, packte Beigan am Kragen seines Pullovers und zog ihn an sich.
„Du bist ein Idiot, Beigan Einarsson“, murmelte er und presste seine Lippen auf Beigans.
Sie waren kühl und er schmeckte den rauchigen Geschmack der Zigarette, Haesten wartete, ob Beigan auf seinen Angriff reagierte. Beigan zwang sich, Luft durch die Nase zu ziehen, um sich nicht selbst zu ersticken. Er wollte Haesten von sich stoßen, doch anstatt ihn an den Schultern von sich zu schieben, legten sich seine Hände sanft darauf und strichen zu Haestens Hals. Er schloss seine Augen und seine Lippen passten sich Haestens Bewegungen an. Seine Hände glitten vom Hals und wanderten zu dem breiten Rücken. Fuhren über die Muskeln, packten zu und zogen den kräftigen Körper fest an seinen schlanken. Die Körperwärme drang durch ihre Kleider auf seine kühle Haut, Beigan beendete den Kuss und seufzte leise.
„Aber irgendetwas müssen du und dein bester Freund ja gemein haben“, neckte Haesten leise.
„Er ist der größere von uns beiden“, behauptete Beigan, ohne die Augen zu öffnen und lehnte seine Stirn gegen Haestens. Er hörte den Wolf vor sich lachen und dann spürte er, wie Haesten seinen Klammergriff um seinen Pullover löste und sich dessen Hände auf seine Hüften legten.
„Findest du?“, hakte Haesten amüsiert nach.
„Nein.“ Beigan lachte heiser auf.
„Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt“, sagte Haesten, nachdem sie eine Zeit lang schweigend dagestanden hatten, mit geschlossenen Augen, ihre Stirnen aneinander gelehnt, den Atem des anderen lauschend.
„Wenn du nebenher eine Frau fickst, weil es mit ihr eine Zukunft gibt, bringe ich dich um.“
Es war keine leere Drohung und Haesten wusste das. Er schüttelte den Kopf.
„Geh vorher und sag es mir nie. Und tritt mir dann nie wieder unter die Augen und schlag mir vor, dass wir weiterhin Freunde sein können, denn dann muss ich dir die Kehle ausreißen“, fuhr Beigan leise fort. Haesten schüttelte wieder verneinend den Kopf.
„Ich bin kein Spielzeug und kein Zeitvertreib“, endete Beigan beinahe lautlos. Es tat weh, sich selbst so verletzlich vor jemand anderem zu zeigen, vor allem vor jemand anderem als Phelan. Denn bei Phelan konnte er sich nicht verstellen, konnte er nicht stark spielen, wenn er sich schwach fühlte, denn Phelan wusste immer, wie es wirklich um seinen besten Freund stand. Und Beigan hatte sich vor Phelan auch nie erklären müssen. Phelan hatte schon als kleiner dummer Welpe gewusst, wie es um Beigan stand, sogar noch bevor der es selbst gewusst hatte.
„Ich bin kein komplettes Arschloch“, bemerkte Haesten an. Mit den Gefühlen anderer zu spielen, war verachtungswürdig und etwas, was er nicht tun würde.
„Nein. Aber ich“, behauptete Beigan belustig und konnte kaum glauben, wie erleichtert er sich fühlte.
„Nein, nicht ganz. Nur zu neunundneunzig Prozent“, witzelte Haesten. Beigan lachte wieder auf.
„Ich krieg das Kotzen, wenn du mit Kerzen um die Badewanne und Rosenblätter darin ankommst.“
„Ich habe einen Schwanz zwischen den Beinen und keine Möse“, stellte Haesten schnippisch klar.
„Sicher?“, Beigan wagte es, die Augen zu öffnen und wurde augenblicklich von Haestens gefangen genommen.
„Wir können es gerne herausfinden. Ich hoffe nur, dass meine Vermutung sich dann nicht bewahrheitet.“ Diese wundervollen dunkelblauen Augen funkelten herausfordernd. Beigan runzelte verwirrt die Stirn.
„Welche Vermutung?“
„Die von New Orleans. Große Klappe, mickriger Schwanz.“ Haesten grinste breit und anzüglich. Beigan lachte leise auf.
„Du weißt aber schon, dass man das nicht sagt, sondern zeigt“, neckte er und er bemerkte, dass es sich gut anfühlte, dieses kindische Herumgealbere und er bemerkte, dass es ihm gefehlt hatte, jemand zu haben, mit dem er es machen konnte. Mit dem er es auf diese Art machen konnte.
„Du weißt aber schon, dass ich keine unerfahrene Jungfrau bin?“ Haesten hob den Kopf, unterbrach die Berührung an Beigans Stirn und zwang diesen, den Kopf ebenfalls zu heben.
„Welch ein Glück für mich. Dann muss ich dir wenigstens nicht alles zeigen.“
Und wie es guttat. Ein breites Grinsen stahl sich auf Beigans Gesicht. Ganz ohne sein Zutun und ohne, dass Beigan es unterdrücken konnte.
„Schaun wir mal, wer wem was zeigt“, meinte Haesten, streckte den Hals nach vorn und gab ihm einen Kuss. Nicht sanft oder zögernd, sondern bestimmt und energisch. Beigan erwiderte ihn, zog Haesten wieder fest an sich und schob ihm auffordernd seine Zunge zwischen die Lippen.
Ihr Kuss hatte wenig Sanftes an sich, er war gierig und leidenschaftlich. Beigans Hände wanderten von Haestens Rücken zu dessen Hintern und drückten fest die Gesäßbacken. Mit einem zustimmenden Brummen schob sich Haesten den forschen Händen entgegen, während er sich gleichzeitig an Beigans Bein rieb.
Und obwohl er es nicht wollte, begann Beigan zu hoffen.
Dass es dieses Mal funktionieren würde, dass es endlich funktionieren könnte.
Und auf der einen Seite hätte er sich für diese Hoffnung am Liebsten selbst geschlagen, doch auf der anderen Seite fühlte sich diese Hoffnung gut an, fühlte er sich seit Langem wieder gut.
Trotzdem, er würde Phelan eine aufs Maul hauen, wenn er ihn das nächste Mal sah. Und zwar richtig.
„Gehen wir zu dir?“, wisperte Haesten ihm heiser ins Ohr. Beigan erstarrte kurz, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
„Weißt du, ich denke, es wird Zeit, dass ich mich vergewissere, ob ich falsch lag, in New Orleans, oder nicht.“ Haestens Augen funkelten. Beigan biss sich auf die Unterlippe.
„Was jetzt? Lass mich hier nicht betteln wie eine Tussi, okay?“ Haesten sah ihn demonstrativ gequält an.
„Ne, besser nicht. Nicht, dass du doch noch mit Kerzen und Rosen ankommst“, unkte Beigan und grub seine Finger in Haestens Hintern. Der rieb aufreizend seinen Schritt an Beigans Härte.
„Oder willst du lieber hier?“
Beigan ächzte verhalten. Nein. Das wollte er nicht. Nicht heute. Irgendwann mal vielleicht, aber heute, heute wollte er nicht, heute wollte er ganz furchtbar spießig in seinem Bett. Er trennte sich widerwillig von Haesten und packte ihn an der Hand.
„Scheiße, was machst du mit mir?“, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Haesten zuckte mit den Schultern.
„Meine Art, dich kennenzulernen, denke ich. Du hast wunderschönes Haar“, flüsterte er. Seine Zungenspitze schnellte vor und strich an Beigans Ohrmuschel entlang. Wenn dieser Wolf so weitermachte, spritzte er sich noch in die Hose. Beigan schnellte herum, um Haesten einen wilden Kuss zu geben.
Verdammte Scheiße, Sigurðrsson, das wollte ich nie wieder!, behauptete Beigan in Gedanken und er klang leicht verzweifelt. Haesten saugte mit einem lüsternen Funkeln in den Augen an dessen Unterlippe.
„Scheiß drauf, was du wolltest oder nicht. Soll ich mir erst in die Hose spritzen, bevor du mich endlich in dein Zimmer nimmst?“, warf er Beigan vor. Er griff beherzt in Beigans Schritt, rieb über der engen Jeans dessen steifen Penis und drückte kurz die Eichel. Beigan ächzte atemlos und warf den Kopf in den Nacken. Grund Gütiger, wie lange war es jetzt schon her, dass jemand anderer ihn in der Hand gehabt hatte?
„Du … hast gewonnen … Ge-geh’n wir …“, japste er und entriss Haesten sein bestes Stück. Haesten grinste sehr breit und sehr anzüglich.
„Na endlich. Denn wenn du jetzt noch weiter hier dumm herumstehst, können wir den Teil im Bett gleich überspringen und zum postkoitalen Moment übergehen. - Du warst wirklich gut. Glaube ich. Ein wenig schnell vielleicht …“, scherzte er, befreite seine Hand und strich mit den Fingerspitzen über Beigans Geschlecht.
„Idiot.“ Beigan lachte heiser auf.
Haesten lächelte. War das hier jetzt der wirkliche Beigan? Hatten sie alle doch recht gehabt? Offensichtlich.
„Los jetzt. Es sei denn, du willst in mein Schlafzimmer gehen. Das liegt allerdings neben dem von Phelan.“
Phelan. Beigan knurrte verhalten. Auf den war er immer noch wütend. Weil er mit ihm gespielt hatte. Es hätte auch nach hinten losgehen können und Haesten hätte sich zurückziehen können und würde jetzt gar nichts mehr mit Beigan reden. Es hätte auch sehr gut passieren können, dass Haesten diese Situation so verdammt unangenehm gewesen wäre, dass er gehen wollte.
„Okay“, riss ihn Haesten ungeduldig aus seinen ängstlichen Gedanken, „Vorschlag: Wir gehen jetzt zu dir, wir vögeln, wir vögeln noch eine Runde und dann reden wir über unsere tiefsten Geheimnisse, wie es Mädchen nun mal so tun.“
Beigan prustete lachend.
„Du hast ein Rad ab!“, gluckste er. Haesten grinste nur zweideutig. Er packte noch einmal kräftig in Beigans Schritt, lachte, als der erschrocken aufkeuchte, und nahm ihn an der Hand.
„Kein größeres als du“, stellte er fest und zog ihn mit sich aus dem Turmzimmer, zum südlichen Flügel, in dem Beigan mit seinem Bruder wohnte.
Phelan hockte zusammengekauert im Windschatten des Wehrturms.
Seine Finger waren blau und mittlerweile gefühllos, seine Kleider waren durchnässt und begannen, zu gefrieren, aber es war es wert. Beigans Lächeln war es wert, dass er sich garantiert eine verdammte Erkältung zuziehen würde. Der sanfte Blick aus den sonst so harten Augen seines Freundes war es wert, dass er hier oben hockte und sich sprichwörtlich den Allerwertesten abfror. Wenn es in die falsche Richtung eskaliert wäre, hätte er eingegriffen und hätte die Sache geklärt, bevor Beigan etwas wirklich Dummes und Verletzendes zu Haesten gesagt hätte.
Umständlich schlitterte er über die glitschigen Dachschindeln nach unten, verlor den Halt und legte die restliche Strecke bis zum Wehrgang im freien Fall zurück. Seine steifen Beine versagten ihm den Dienst und anstatt elegant zu landen, verstauchte er sich den rechten Knöchel und prallte unsanft mit der Schulter gegen die Mauer. Phelan ächzte leise und rappelte sich auf. So mussten sich alte Menschlinge fühlen. Steif und kalt. Er humpelte ins Innere des Wehrturms, indem immer noch das Feuer im Kohlebecken brannte. Es roch nach Beigan und Haesten, nach den Zigaretten, die sie geraucht hatten und nach ihrer Erregung. Phelan streckte sich, seine steife Wirbelsäule knackte laut und wärmte seine klammen Hände am Feuer.
Julien schuldete ihm vierhundert Euro und Borgúlfr zwei Kästen deutsches Bier. Er ließ seine angeschlagene Schulter kreisen und den Bluterguss heilen.
„Ich schwör dir, Einarsson, wenn du das in den Sand setzt, setz ich dir eine“, drohte er dem Feuer grimmig, bevor er das Feuerbecken vom Gestell nahm und nach draußen in den stärker werdenden Eisregen stellte, damit es gelöscht wurde.
Texte: Emme DeVille
Bildmaterialien: A. M. Creatives / Emme DeVille
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2015
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