Cover

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Für Vee

 

Weil ich manchmal Deine persönliche Heimsuchung bin und weil Du mich erträgst, wie nur wahre beste Freunde einen ertragen können.

 

 

Salute, mi familia.

 

 

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1. Von einem Markttag, Erinnerungen und einer kleinen Hatz

 

„Nein! Du parkst dich augenblicklich wieder da hinten in die Ecke und verhältst dich still und leise und vor allem un-sicht-bar!“

Die selbst ernannte und einzige Wanderhexe namens Irm funkelte den Kühlergrill noch einmal warnend an, dann warf sie in einer dramatisch-ausschweifenden Geste ihre wilden Locken zurück und drehte sich auf dem Absatz um. Sie musste ins Dorf, sie brauchte Kartoffel, Milch, Brot … Und Butter! Oh, ja, Butter, das war sehr wichtig! Sie machte sich eine geistige Notiz, damit sie ja nicht die Butter vergaß. Kaffeebohnen, Kakaobohnen, Rinderhaxen, Schweineohren … Sie runzelte kurz die Stirn. Wieso sollte sie Schweineohren kaufen?

„Derne! Raus aus meinem Einkaufszettel!“, warnte sie und blitzte das kleine niedliche bunt gescheckte Fellknäul an, dass mit treuen schwarzen Knopfaugen neben ihr her tippelte.

Aber ich hab Hunger?, fragte das Fellknäul jämmerlich. Das Fellknäuel namens Derne sah aus wie ein zu klein geratener Zwergspitz mit einem Hochflor-Patchworkteppich als Fell und war mit Abstand die niedlichste und süßeste Hundeschnute auf der ganzen Welt. Irm ging vor ihm in die Hocke. Der kleine Kerl war zum Steineerweichen putzig. So lange er ein zwergiger Zwergspitz war und nicht der Dämon, der in ihm hauste.

„Okay, Schweineohren“, gab sie nach und kraulte sein kleines Kinn. Diese verfluchten süßen schwarzen Knopfaugen mit den langen, dichten Wimpern, mit denen Derne so gut klimpern konnte.

Derne war ihr bester und ältester Freund. Sie kannten sich, seit Irm ihn damals im Wald gefunden hatte, ein kleines, kaum handgroßes Knäul Fell, das neben seiner toten Mutter lag und vor Hunger schrie. Und dabei so unglaublich süß aussah, dass es eigentlich nicht von dieser Welt sein konnte.

Was anfangs noch wie ein kleiner hilfloser und verflucht süßer Welpe wirkte, stellte sich drei Nächte später als ein besessener kleiner verflucht süßer Welpe heraus, als Derne - damals noch namenlos, Irm war noch kein passender Name für ihren neuen Freund eingefallen - sich bei einem heftigen Schluckauf in ein zwei Meter Monster mit grünen Flammenaugen, Unterarm langen Reißzähnen und Klauen und schwarz-grün leuchtendem Fell verwandelte.

Das Monster hatte noch einmal gehickst und auf dem Boden hatte wieder ein kleiner bunt gescheckter Zwergspitzwelpe gesessen, der Irm mit großen treuen Knopfaugen anglotzte und keinen Schluckauf mehr hatte.

Und der sich dann als Derne vorgestellt hatte.

Und Irm hatte wie versteinert in ihrem Bett gesessen, ihr kleines putziges und offensichtlich besessenes neues Haustier angeglotzt wie ein Schaf und der erste Gedanke, der ihr damals in den Sinn gekommen war, war dass ihre Tante hoffentlich nichts von dem Lärm mitbekommen hatte, denn Derne hatte beim Verwandeln ihre Spielzeugtruhe um zwei Meter verschoben.

Er hatte sich als Derne der Große Schwarze und mächtiger Kriegsdämon vorgestellt, der bei Körpertauschzauber in den falschen Körper geraten war und nun hoffnungslos darin feststeckte, vorgestellt. Weil sein alter Körper verbrannt worden war, sonst hätte er ja keine Notwendigkeit darin gesehen, den Körper zu tauschen. Derne hatte vorgehabt, in den Wolf zu fahren, der die Mutter des kleinen Welpen gerissen hatte. Dass er stattdessen in einen vier Wochen alten Zwergspitzwelpen gefahren war, konnte er sich nur so erklären, dass ihm in der Eile einen Fehler beim Hineinfahrzauber passiert war. Und jetzt war er verdammt dazu, niedlich und süß zu sein. Und dabei waren Dämonen nicht niedlich und süß. - Außer Derne. Und eigentlich war Derne auch nicht wirklich groß gewesen. Er war zu freundlich, um ein wirklich großer Dämon zu sein. Er war ja nicht völlig grundlos verbrannt worden. Immerhin brachte er mit seinem umgänglichen Wesen große Schande über seine Familie. Er hatte schon immer viel zu viel geredet.

Flöckchen mag ja Schweineohren, ich ja nicht ganz so sehr, wie sie, aber ich möchte dir ja keine weiteren Umstände machen, du weißt ja, ich bin bescheiden, erwiderte Derne mit einem hörbaren Grinsen. Irm verdrehte die Augen.

„Ja. Ja, ja, ja“, wiegelte sie lachend ab.

„Wo ist sie überhaupt?“

Im Busch neben ihr raschelte es. Irm drehte sich zu ihm und sah grell blau leuchtende Augen, die zwei Mal zwinkerten, dann teilten sich die Zweige und ein schneeweißer Zwergspitz, nur einen Zentimeter höher als Derne trat elegant heraus. Flöckchen war eine ausgewachsene, sehr starke und mächtige Eishundedämonin. - Die sich in Derne verknallt hatte und ihm zuliebe jetzt anstatt in der prächtigen Gestalt eines weißen Schneewolfs eben in der kleinen Gestalt eines niedlichen Zwergspitzes herumlief.

Flöckchen musste Dinge tun, die man als wohlerzogene Dämonin allein tut, schnarrte sie kratzig. Irm schüttelte die Gänsehaut ab. Flöckchens Stimme war so kalt und schneidend wie ein Eissturm und wenn sie unerwartet sprach, dann erfassten einen Schauer. Und ihr Lachen fühlte sich an, als ob man spitze Eiszapfen in die Ohren gesteckt bekommen würde. Sehr große Eiszapfen. Mit scharfen Kanten. Die einen bluten lassen konnten. Und Derne war ausgerechnet dieser Stimme hoffnungslos verfallen. Er klimperte die weiße Hündin total verknallt an und erhielt prompt einen sanften Hundekuss von ihr. Mochte er noch so nett sein, aber das war etwas eindeutig Dämonisches. Was sonst verknallte sich in diese Scheußlichkeit von Stimme?

„Wenn wir im Dorf sind, verhaltet euch bitte wie normale Hunde. Das heißt, keiner redet, keiner lässt es schneien, keiner lässt die Erde erzittern, Katzen werden nur gejagt, nicht pulverisiert“, zählte Irm mahnend an den Fingern ab. Flöckchen und Derne nickten artig.

„Unhöfliche Menschen werden nicht verflucht, Flöckchen! Kinder nicht angenagt, Derne!“

Jetzt war Irms Blick regelrecht drohend. Die beiden Hundedämonen kläfften artig.

Manchmal war es eine Pein, wenn man nur Dämonen als Freunde hatte.

Für Dämonen bedeuteten Menschen Nahrung, Spielzeug und etwas zum Anpinkeln, wie Flöckchen Irm einmal erklärt hatte. Es gab Bergdämonen, bei denen war das Anpinkeln von Menschen so etwas wie ein Volkssport. Irm schüttelte sich angeekelt bei dem Gedanken, von einem vier Meter großen Bergdämon angepinkelt zu werden und zwang sich hastig, an etwas anderes zu denken, als an die Menge Urin, die wohl aus vier Metern Dämon heraussprudeln konnte.

„Denkt an meine Worte, Freunde“, raunte sie den beiden noch einmal zu, als sie die ersten Häuser der Ortschaft erreicht hatten.

„Sonst könnt ihr euch eure Schweineohren in den Wind schießen!“

 

Irm nannte sich selbst die einzige Wanderhexe des Landes und damit hatte sie nicht unrecht. Hexen und Zauberer wanderten nicht durch die Gegend, sie lebten als weise Berater und magische Unterstützer bei Werwolfrudeln oder, wenn sie aus den Ostbezirken kamen, bei den Vampirclanen. Wenn es gute und treue Hexen oder Zauberer waren, dann waren sie schon seit Generationen die Haus- und Hofhexen oder -Zauberer.

Irms Tante Estelle zum Beispiel war in der siebten Generation die Rudelhexe des mächtigsten Werwolfrudels im großen Süd-West-Wald. Sie war eine hochgewachsene, gertenschlanke Dame von makelloser Eleganz und Ästhetik, die hervorragend zu den vornehmen Wölfen des Süd-West-Waldes passte. Estelle war von vornehmer Natur, gut situiert und äußerst manierlich, ihre Frisur und Kleidung saß immer perfekt und sie verlor nie die Contenance.

Es sei denn, ihre Nichte zerriss sich kurz vor einem wichtigen Fest ihr neues Seidenkleid, während sie über den Zaun kletterte, statt das Tor zu benutzen, weil sie mal wieder zu spät dran war, oder brachte einen offensichtlich von einem Dämon besessenen Köter aus dem Wald mit nach Hause und weigerte sich hartnäckig, ihn wieder wegzugeben. Oder ihre Nichte verdrosch den dämlichen Neffe des Rudelanführers Primus Arkos Lupin de l'Ouest. Was war dieser Kerl für eine verwöhnte Drecksplage gewesen! Dumm wie ein Laib Brot, machte Primus Arkos‘ Neffe namens Primus Raulf seine fehlende Intelligenz mit Grausamkeit und bösen Streichen wett und hielt sich dabei für den gewieftesten aller West-Wölfe, da er dabei nie erwischt wurde.

Fakt war, das verfluchte Balg war einfach nur verzogen und das ganze Rudel ließ ihm schlicht alles durchgehen. Und dann bedeutete sein Name auch noch „Weisheit“. Irm schnaubte abfällig, während sie am Marktstand Kartoffeln in einen großen Stoffbeutel sortierte. Derne legte fragend den Kopf schief und wurde ignoriert.

Irm hatte in dieses Rudel gepasst, wie kurze Hosen im Schneesturm, wie Salz in Karamellpudding, wie Schweinemagen zu Schokolade.

Irm war wild, unternehmungslustig, mehr daran interessiert, wie die Welt außerhalb der Mauern des großen Rudelschlosses aussah, als an ihrem Benimmunterricht - der sowieso für die Katz gewesen war, sie hatte ihrer Lehrerin eh nie wirklich zugehört - und sie war irgendwie immer zerzaust gewesen.

In den engen, hochgeschlossenen Kleidern, die die gehobene Damen des Süd-Westens trugen, fühlte sie sich wie eine Bratwurst in zu enger Pelle und wenn sie darin nicht gerade an Atemnot litt, stolperte sie über die unsinnig langen Rocksäume. Musste sie dann auch noch die schweren Colliers tragen, die Schulter und Hals komplett umhüllten, war sie nach nur wenigen Minuten am Japsen wie ein altersschwacher Geißbock nach dem Aufstieg zum Wolfskamm, dem höchsten Berg der Gegend.

Und sie hatte es geschafft, ihrer Tante nach dreihundert Jahren das erste graue Haar zu bescheren.

Das allerdings, weil sie mit T-Dreieinhalb im Schlepptau nach Hause gekommen war. Irm stand an einem Stand mit Ölen und wählte spontan ein Fläschchen, das nach Karamell roch und eins, das nach Lebkuchen duftete. T-Dreieinhalb liebte den Geruch von Süßigkeiten.

T-Dreieinhalb war das Ergebnis eines schief gegangenen Erweckungszaubers.

Irm war von ihrer Tante in den Wald geschickt worden, um ein lebloses Objekt zu erwecken und zu ihr zu bringen. Erweckungszauber waren komplizierte Zauber, wie ihre Tante Estelle ihre erklärt hatte, die für Anfänger, wie Irm es damals gewesen war, ein hohes Maß an Konzentration benötigten, und die am besten allein durchgeführt wurden. So wurde die damals zehnjährige Irm also von ihrer Tante in den Wald geschickt, in der einen Hand ihren Stoffbären, in der anderen ein Säckchen mit Kräutern und sie hatte erst wiederzukommen, wenn das verdammte Spielzeug lebte. Im Nachhinein hatte Irm erfahren, dass Erweckungszauber gar nicht einmal so kompliziert waren, wie sie sich anhörten und dass sie ihre Tante nur lange genug weit genug aus dem Schloss haben wollte, weil eine wichtige Besprechung mit einem angesehenen Rudel befreundeter Werwölfe stattgefunden hatte. Ihre Tante Estelle wollte sichergehen, dass das chaotische Kind dabei keinen Schaden anrichten konnte, denn das Kind neigte dazu, im unpassendsten Moment Streiche zu spielen oder mit ihrem besessenen Hund Chaos zu verursachen.

Dessen damals natürlich nicht bewusst, war sie also so tief in den Wald marschiert, wie noch nie in ihrem Leben, hatte es sich auf einer Lichtung bequem gemacht und mit dem Erweckungszauber begonnen. Kräuter zermahlen, Sprüchlein murmeln, den Stoffbären taxieren, Kräutermehl werfen, war doch alles einfach, hatte sie sich damals gedacht. Es wäre vielleicht auch tatsächlich einfach gewesen, wenn sich nicht im entscheidenden Moment ein kleiner verirrter Lichtstrahl im zerbrochenen Glas eines Scheinwerfers gespiegelt hätte und die Aufmerksamkeit des Mädchens von ihrem Bären auf dieses seltsame Objekt, welches zu der Reflexion gehörte, gelenkt hätte.

Einen ohrenbetäubenden Knall später kämpfte sich ein riesiges, verrostetes Vehikel, mit fehlender Windschutzscheibe, kaputten runden Scheinwerfern und schief hängender Stoßstange aus dem Dickicht. Es hupte misstönig und machte einen erfreuten Hüpfer nach oben. Auf drei Felgen und einem platten Reifen. Und, und Irm schwor bis heute Stein auf Bein, dass es sich so zugetragen hatte, und dann hatte es Sitz gemacht, in dem es sich hinten auf seinen Unterboden hatte fallen lassen. - Schon damals war Irm klar gewesen, dass das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war, immerhin waren da ja die Achsen und der ganze andere Kram, der da unten an einem Vehikel rumhing. Nun, dieses Vehikel hatte sich auf seinen hinteren Unterboden fallen lassen und hatte dann Irm angesehen. Mit seinen kaputten Scheinwerferaugen. Und es hatte geblinzelt. Und mit den Überresten seiner Scheibenwischer gewinkt.

Man kann nichts zurücklassen, was einem zuwinkt!

Nach dem größten Donnerwetter, was bis dato über Irm hereingebrochen war, durfte sie das Vehikel behalten, allerdings nur unter der Prämisse, dass das Ding ganz hinten in der hintersten Ecke des Vehikelhauses blieb, wo kein Gast versehentlich auf es aufmerksam wurde und dass sich Irm ganz allein um das Ding zu kümmern hatte. Der Ingenieur des Rudels, der dafür sorgte, dass die anderen, die ästhetischen Vehikel des Rudels funktionierten, hatte ihr trotzdem ein wenig dabei geholfen. Denn Vehikel waren seltene Dinge in dieser Welt und wer eins besaß, besaß ein Statussymbol, denn den Stoff herzustellen, mit dem Vehikel fahren konnten, war eine teure Angelegenheit, die sich nicht viele leisten konnten. Er hatte ihr erklärt, dass das Ding ein Transporterbus war, in dem man große und schwere Dinge transportierte oder mit dem viele Leute gleichzeitig fahren konnten, also eine Art hässliche unästhetische Limousine, und dass es wahrscheinlich ein „T3“ sei, obwohl es genaugenommen nur noch ein halber T3-Bus war.

Und so hatte Irm ihn „T-Dreieinhalb“ getauft.

T-Dreieinhalb benötigte keinen Treibstoff, T-Dreieinhalb fuhr mit ihrer Magie. T-Dreieinhalb hatte so viel Magie von ihr abbekommen, dass er sich selbst herstellte. Und T-Dreieinhalb hatte so viel von ihrer Magie, dass sein Innenraum so groß war, dass sie sogar ein separates Schlafzimmer darin hatte. Und ein kleines Lesezimmer. Und ein extra Bad. Nur Wasser musste sie selber aus den Flüssen holen. Und von außen sah er aus, wie ein normales T3-Vehikel.

Irm tauchte aus ihrer Vergangenheit wieder auf, vergewisserte sich, dass Derne und Flöckchen immer noch bei ihr waren und brave Hunde spielten und feilschte mit der Verkäuferin um den Preis der Milch und Butter.

Es war ein schönes Dörfchen hier. Das Fachwerk der Häuser war gepflegt, ihre Fassaden sauber und hinter den Fenstern hingen bestickte Gardinen. Es war nur auffällig, dass viele von den bunten Fensterläden geschlossen waren und in den Gärtchen davor das Unkraut wucherte. Für Irm war es unvorstellbar, wie man so eine liebliche Idylle verlassen konnte. Es schien den Bewohnern hier gut zu gehen, keiner sah aus, als ob er Hunger oder Not leiden würde.

Die Leute hier waren freundlich und nett, bis jetzt hatte noch keiner der Marktleute versucht, sie übers Ohr zu ziehen, und keiner warf ihr argwöhnische Blicke zu, weil sie eine allein reisende Frau war. Alles in allem war das hier ein idyllisches Örtchen inmitten eines großen, dichten Waldes.

Obwohl, irgendetwas gab es hier, was Irm leicht die Haare aufstellen ließ. Sie schlenderte mit ihrem vollen Korb über den Marktplatz, lauschte mit halbem Ohr dem Tratsch mit dem sie sowieso nichts anfangen konnte, weil sie die Leute nicht kannte, aber durch den sie erfahren konnte, wer eventuell Bedarf an einem helfenden Kräuterbeutel hatte und genoss das Klappern der vielen Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster, als sie in der Ecke eines Hauses einen Hexensack sah.

Das war es also gewesen. Die Bewohner dieses Dorfes waren Hexen und Zauberern so abgeneigt, dass sie Hexensäcke an ihren Häusern versteckten, um sämtliche Magie zu blockieren. Irm seufzte leise. Es schien, als ob sie hier keinen Kräuterbeutel verkaufen würde oder Zutaten für Zaubertränke erstehen konnte.

Allerdings hatte sie in T-Dreieinhalb noch köstliche Teesorten, vielleicht konnte sie die an den Mann oder die Frau bringen. Ihr Blick wanderte wieder zum Hexensack.

Wie dilettantisch musste man sein, wenn man seine Hexensäcke so offensichtlich versteckte? Wussten diese Leute denn nicht, dass man Hexensäcke verbarg, damit die Hexen und Zauberer sie nicht fanden und wegnehmen konnten? Mit einem leisen Tztz schüttelte sie den Kopf und ging weiter.

Bei einem Süßwarenstand kaufte Irm eine Tüte Bonbons und Schokoladentrüffel.

Aber da hier ja offensichtlich Hexensäcke verteilt waren, weshalb fühlte sie dann nichts? Wenn Hexensäcke verteilt waren, dann hatten Hexen und Zauberer in ihrer Nähe das Gefühl, irgendwie nicht ganz zu sein, da die Säcke den magischen Teil in ihnen blockierten. Irm wagte in einer Ecke einen kleinen Test. Sie griff tief in die Bonbon-Tüte und ließ einem der Köstlichkeiten Haare wachsen. Es waren schöne, glatte orangefarbene Zuckerhaare, die das Bonbon krönten. Sie sah hastig zum Hexensack und wartete auf eine Reaktion. Ein Brummen, ein Massenauflauf der „Verbrennt die Hexe!“ schrie, Stadtwachen, irgendwas. Es geschah nichts. Irm ließ die Haare wieder vom Bonbon verschwinden und wackelte nachdenklich mit der Nase.

Vielleicht waren die Hexensäcke nur Tarnung und gar nicht echt. Aber wer machte denn so was Blödes? Sie kam mit ihren Gedanken nicht weiter, denn Derne zog unnachgiebig an ihrem rechten Schuh.

„Was?“; fauchte sie leicht gereizt, immerhin hatte sie gerade ein wichtiges Problem hier, welches zu lösen galt.

T-Dreieinhalb, wisperte der Dämonenhund leise. Irm runzelte die Stirn.

„Was?“, hakte sie dümmlich nach.

T-Dreieinhalb. Da hinten. Auf dem Platz, wo die ganzen Lasttiere stehen, raunte Derne ihr hektisch zu. Irm wirbelte herum und änderte urplötzlich ihre Richtung zur anderen Seite. Jetzt standen ihre Nackenhaare stramm wie Soldaten.

Werwölfe.

Böse dreinschauende, knurrige Werwölfe marschierten über den Platz. Fünf an der Zahl. Der in der Mitte war ihr Anführer und die waren nicht nett. Ob die Hexensäcke doch Alarm geschlagen hatten? Irm schluckte.

Problem, stellte Flöckchen treffsicher fest und Irm verkniff sich, sie zu treten.

„Scheiße, ja“, zischte sie. Nachdenken, schnell. Hexensäcke, grimmige Werwölfe, ein T-Dreieinhalb, der nicht wie befohlen im Wald wartete und unsichtbar war, sondern äußerst sichtbar zwischen Pferden und Mauleseln stand und wo es sich nur noch um Sekunden handelte, bis er entdeckt werden würde. Und zwar von grimmigen Werwölfen.

„Derne! Zu T-Dreieinhalb! Unsichtbar machen, wegziehen! Flöckchen! Ausreißer spielen!“, kommandierte sie herrisch. Bevor sie blinzeln konnte, war Derne schon verschwunden und Flöckchen mit einem kläffenden Satz dabei, etwas zu jagen, was nur sie sehen konnte.

„Das ist doch … Flöckchen! Hier her!“ Irm schnaubte gereizt, raffte ihren weiten Rock aus vielen bunten Stoffstreifen, packte den Korb fester und hastete ihrem ausgebüxten Hund hinterher.

„Flöckchen!“

 

Etwas Kleines flitzte zwischen seinen Beinen durch, mit einem Kläffen, welches einem die Ohren bluten lassen konnte, so kratzig war die Stimme, Aatu der Werwolf wirbelte herum und sah dem kleinen Fellmonster nach, wie es unter einem Stand verschwand. Die Marktfrau dahinter kreischte erschrocken auf, der Ton konnte einem auch die Ohren zum Bluten bringen, dann hörte er ein wütendes „Flöckchen!“ und eine Frau mit seltsamer Kleidung, wilden Haaren und einem vollen Korb im Arm rannte auf ihn zu. Aatu verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen, etwas an diesem Weib ließ ihn misstrauisch werden. Seine Hand legte sich vorsichtshalber auf den Griff seines Schwertes.

„Flöck-chen!“

Die Stimme der Frau klang verdammt wütend, nur schien das dieses Flöckchen herzlich wenig zu interessieren, Aatu drehte sich in die Richtung eines heiseren Kläffens und sah den weißen Köter auf einem leeren Marktkarren sitzen und fröhlich hecheln. Er grunzte schnaubend.

„Was soll das denn sein? Etwa ein Hund? Das Ding taugt ja nicht mal, um Pantoffeln daraus zu machen, so klein ist es. Da ist ja jede Ratte größer“, spottete er herablassend. Seine Kameraden grinsten breit, zwei von ihnen glucksten. Die Frau bremste abrupt ab und drehte sich langsam zu ihm. Dass ein paar Meter weiter ihr ausgebüxter Hund hockte, schien sie vergessen zu haben.

„Ich brauch Flöckchen dazu auch nicht, meine Pantoffeln aus Wolfsfell halten meine Füße warm genug“, erwiderte sie bissig. Die Geräusche auf dem Markt erstarben schlagartig. Die Werwölfe neben dem Spötter drehten zwar hastig ihre Gesichter weg, doch Irm hatte sehr wohl gesehen, dass sie grinsten. Der Fünfte allerdings packte den Griff seines Schwertes fester. Oh, ganz toll. Einer mit richtig viel Humor und ganz viel Testosteron, stellte sie zynisch fest.

„Was? Will mich der böse Wolf jetzt abstechen? Bitte. Fein. Gerne!“, provozierte sie herausfordernd, stellte sacht ihren Korb auf den Boden und trat ein paar Schritte von ihm weg. Die Einkäufe waren teuer gewesen und sie hatte nicht vor, dass das Essen zu Schaden kam.

„Na, sieh mal einer an, da ist ja unser kleiner Ausreißer. Oh, du bist ja eine kleine Ausreißerin. Na, komm her, du kleiner Wicht, ich tu dir schon nichts.“

Einer der Werwölfe ging mit einem freundlichen Lächeln in die Hocke und streckte seine Hand nach Flöckchen aus, die ihre Scharade beendet hatte und sich vorsichtig näherte, darauf bedacht, ihre Tarnung als einfacher Haushund nicht aufzugeben, aber dennoch im Falle eines Falles eingreifen zu können. Ihr Blick ging hektisch von Irm zu dem fremden Werwolf und zurück zu Irm und dann machte sie einen Satz auf den Werwolf zu und sprang ihm freudig entgegen. Sie wurde sanft hochgehoben und Finger kraulten sie liebevoll im Nacken, als ihr Träger sich mit ihr auf dem Arm zwischen Irm und dem zornigen Werwolf stellte.

„Aatu, bitte. Mylady, ihre Ausreißerin. - Flöckchen, richtig?“

Der Werwolf stieß diesen Aatu unsanft mit dem Ellbogen nach hinten und wandte sich dann an Irm, die augenblicklich ihre zu Fäusten geballten Hände sinken ließ. Er war ein großer breitschultriger Mann mit kantigen Gesichtszügen, die von einem wilden roten Bart beinahe verdeckt waren. Sein nicht weniger rotes Haupthaar kringelte sich in wilden nicht weniger roten Locken auf seinem Kopf. Irm mochte den warmen Ausdruck in seinen grau-grünen Augen.

„Ähm, ja. Flöckchen. Sie … muss wohl eine Maus gesehen haben, sie jagt unheimlich gern Mäuse, sonst hört sie wirklich gut, aber wenn sie Mäuse sieht, dann eben nicht mehr, und sie ist mir aus dem Halsband geschlüpft.“

Irm wühlte in ihrer riesigen Umhängetasche und fand zwischen ihren Kräuterbeuteln und allerlei anderem Krimskrams zu ihrer Erleichterung eine Leine mit Halsband.

„So, kleines Fräulein, jetzt ist Schluss mit lustig, jetzt bist du wieder ein braves Mädchen und kommst her.“

Sie stülpte Flöckchen das Halsband über den Kopf und nahm sie dem Werwolf ab.

„Danke für’s Einfangen und einen schönen Tag noch!“

Irm schenkte dem rothaarigen Werwolf noch ein entschuldigendes Lächeln, setzte Flöckchen auf dem Boden ab, griff nach ihrem Korb und versuchte, ihr Weggehen nicht allzu sehr nach Flucht aussehen zu lassen.

Verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt!

Sie und ihr großes Mundwerk!

Sie und Werwölfe!

Werwölfe überhaupt!

Was mussten sie aber auch auftauchen? Und was mussten es auch noch welche von der ganz humorlosen Sorte sein?

„Du bist nicht zu klein für Pantoffeln“, bekräftigte Irm störrisch und ignorierte Flöckchens vorwurfsvollen Blick ebenso, wie die verwirrten der Bewohner.

„Für Kinderpantoffeln würde dein Fell allemal reichen!“

 

2. Von einem entführten Hund, einem T3-Vehikel und einem Hexensack


„Aatu, was zum Höllenfeuer ist los mit dir?“, wollte Zev, der Werwolf, der auf dem Marktplatz Flöckchen auf den Arm gehoben hatte, vorwurfsvoll wissen. Aatu hockte auf einem Fass, hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt und funkelte abwechselnd Zev und das kleine Fellknäuel auf dessen Arm böse an.

Derne verkniff sich im letzten Moment ein wütendes Fauchen. Zum einen, weil Hunde nicht fauchten und zum anderen, weil sein Dämonenfauchen in seiner Hundeform schlicht lächerlich klang. Und weshalb zum großen Dämon war der Kerl da überhaupt so sauer? Wenn hier einer einen Grund dazu hatte, sauer zu sein, dann ja wohl er, Derne der Winzige, ehemals Derne der Große Schwarze. Immerhin hatte er sich einfangen lassen, wie ein blöder normaler Haus- und Hofköter. Derne knurrte verhalten und schmiegte sich tiefer in Zevs Armbeuge.

Er hatte sich einen ganzen Beutel Schweineohren verdient, immerhin hatte er T-Dreieinhalb dazu gebracht, sich unsichtbar zu machen und sich von ihm zurück in den Wald ziehen zu lassen. Hatte hier auch nur irgendeiner eine leise Ahnung davon, wie schwer es war, etwas zu ziehen, was keiner sah, und dabei so zu tun, als ob man mit der Schnur, mit der man zog, spielte, denn diese verdammte Schnur war nämlich sehr wohl sichtbar. Derne verengte seine runden Augen zu schmalen Schlitzen und funkelte diesen Aatu böse an. Und dann war er diesem, diesem Blödwolf hier mitten in die bösartigen Hände getippelt, als er sich auf die Suche nach Irm und Flöckchen gemacht hatte.

„Hm“, machte Zev nachdenklich und kraulte Derne hinter dessen süßen putzig kleinen spitzen Öhrchen.

„Wenn deine kleine weiße Kameradin Flöckchen heißt, wie wirst dann du wohl heißen?“, grübelte er freundlich. Derne hob den Kopf und hechelte erfreut. Zev war in Ordnung, und das nicht nur, weil er nett zu ihm war, naja, nicht ausschließlich. Derne sammelte seinen Verstand zusammen, der sich beim Kraulen hinter den Ohren immer ziemlich flugs verabschiedete, und dachte angestrengt nach.

Der Kerl kannte seine Flöckchen! Vielleicht ließ er ihn ja gehen, wenn er einfach nur seine treuen süßen kleinen Kulleraugen weit genug aufriss und ihn sehnsüchtig anfiepte …

„Matsch?“, tönte es bissig vom Fass. Derne schnellte herum und knurrte drohend. Es klang unglaublich niedlich und unglaublich nicht-bedrohlich.

„Aatu“, warnte Zev und ein leicht ungeduldiger Unterton schwang in seiner Stimme mit.

„Der kleine Kerl hier hat dir überhaupt nichts getan, also hör auf, deine schlechte Laune an ihm auszulassen!“

Aatu schnaubte nur.

„Er gehört zu diesem Weibsbild!“, brauste er schließlich auf. Zev hob fragend eine Augenbraue und Derne legte irritiert-neugierig seinen Kopf schief. Was hatte Irm nun schon wieder angestellt? Sie war nämlich eine Meisterin, sich in Schwierigkeiten zu bringen, vor allem mit Werwölfen! Derne seufzte leise, was könnte er für Geschichten über Irm erzählen.

„Da ist etwas!“, behauptete Aatu und sprang von seinem Fass auf. Aufgebracht tigerte er über den großen Innenhof der Burg, wohin sie Derne nach seiner Entführung gebracht hatten. In die Wolfsburg. In die ziemlich vernachlässigte Wolfsburg, wie Derne zum wiederholten Male auffiel.

Zumindest Dernes Meinung nach war es ein schwerer Fall von Hundesentführung. Obwohl er es für einen Gefangenen ziemlich gut hatte. Es war manchmal doch von Vorteil, wenn man so unglaublich süß und niedlich aussah, wie er. Er wurde von Arm zu Arm gereicht, gekrault und von einer sehr netten Werwolfdame auf den niedlichen kleinen Apfelkopf geküsst, hatte von der Köchin eine dicke Scheibe Bratwurst bekommen und jetzt hing er satt und zufrieden in Zevs Armen und ließ sich kraulen. Derne rülpste verhalten. Trotzdem könnten die hier mal wieder anständig durchputzen.

„Und was soll da sein?“, hakte Zev geduldig nach. Aatu wirbelte zu seinem Kameraden und sah ihn mit blitzenden Augen an. Derne schnupperte unauffällig an ihm. Er mochte zwar ein Idiot ohne Gleichen sein, aber er roch gut. Stark, mutig, ehrlich, treu. Alles gute Eigenschaften, die ein guter Werwolfanführer haben musste. Und nach ein bisschen nett roch er auch. Das konnte aber auch Zevs Geruch sein. Wahrscheinlich war es Zevs Geruch, Aatu war alles andere als nett, der Typ war ein dämlicher Blödwolf. Derne schnappte mit seinem Maul spielerisch nach Aatus langen Haaren, die ihm der laue Wind vor die Nase wehte.

„Ich weiß es nicht, aber irgendetwas ist mit ihr nicht in Ordnung! Ich habe keine Ahnung, was es ist, aber ich werde es herausfinden!“, drohte Aatu störrisch. Derne streckte sich, als Aatu sich aufrichtete, und die Haarsträhne sich aus seiner Reichweite bewegte.

„Ich spinne nicht, Zev! Sie ist nicht normal. Ich weiß es, hier, ganz tief in mir drin spüre ich, dass da etwas an ihr ist. Etwas, was andere nicht haben“, beteuerte er ernst. Zev seufzte leise.

„Aatu, willst du damit sagen, sie ist eine Hexe? Und selbst wenn, sie kann hier nicht zaubern, es sind überall Hexensäcke versteckt. Hier in der Burg, in der ganzen Stadt. Hier ist sie nur ein kleiner schwacher Mensch und nicht mehr. Sie kann uns weder verzaubern, noch verfluchen, noch sonst etwas tun“, beteuerte Zev beschwichtigend. Aatu schüttelte verneinend den Kopf und Derne schlug eifrig mit seiner kleinen Pfote nach den fliegenden Haaren, so versunken in sein Spiel, dass ihm der Inhalt des Gespräches völlig entgangen war. Fröhlich nach Aatus Haaren schlagend lehnte er sich weit vor.

„Es ist etwas an ihr, basta. Auch wenn du es nicht verstehst, Zev, etwas hat sie an sich, was… Verflucht noch eins, willst du blöde Töle dich umbringen?“

Aatu schnellte nach vorn und bekam gerade noch Dernes Hinterlauf zu fassen, bevor dieser sich das Köpfchen auf dem Steinboden aufgeschlagen hätte. Derne winselte leise. Er war von einem Arm gefallen. Wie tief konnte Derne der jetzt Winzige eigentlich noch sinken? Aatu fluchte unterdrückt, drehte den winzigen Hund um und hielt ihn vor sein Gesicht. Derne zwinkerte ihn mit seinen süßen kleinen runden Augen treu an.

„Die macht mir schon genug Kummer, ich will ihr nicht auch noch erklären müssen, dass ihr Köter sich das Hirn aufgeschlagen hat, weil er von einem Arm gefallen ist“, tadelte Aatu mürrisch.

„Wenn du Derne auch nur ein Haar krümmst, kannst du was erleben, Werwolf!“

Aatu, Zev und Derne drehten ihre Köpfe zum Burgtor, unter dem Irm wie eine Rachegöttin stand und Aatu böse anfunkelte. Derne kläffte erfreut, als er Flöckchen neben ihr auftauchen sah. Flöckchen kläffte zurück, bescherte Zev und Aatu eine schaurige Gänsehaut und raste aufgeregt zu ihrem Derne.

„Flöckchen!“

Irm stampfte wütend mit dem Fuß auf und marschierte ihrer Hündin entschlossen hinterher. Flöckchen ignorierte sie geflissentlich und hüpfte schaurig kläffend und schwänzchenwedelnd um Aatu und Zev herum.

„Wieso zum Kuckuck habt ihr meinen Hund geklaut?“, warf sie Aatu aufgebracht vor und entriss ihm unsanft ihren kleinen Freund. Derne fiept erschrocken auf.

„Wir haben …. weil wir … ich …“ Aatu schnappte entrüstet nach Luft und gestikulierte wild mit seinen Händen zu Derne. Der sah ihn mit hündischer Gelassenheit an.

„Ich habe deinem verfluchten Vieh gerade das jämmerliche Leben gerettet!“, brauste er auf. Irms Augenbraue schnellte ungläubig in die Höhe.

„Frag Zev! Frag ihn!“, Aatu zeigte anklagend auf Zev, der mit einem milden Lächeln da stand und schwieg. Das hier war nicht sein persönlicher Kleinkrieg und er würde sich da schön raushalten. Irm sah fragend in Dernes Knopfaugen.

„Er ist von Zevs Arm gefallen und hätte ich ihn nicht aufgefangen, dann hätte er sich seinen dummen kleinen Schädel aufgeschlagen und warum zum Höllentor verteidige ich mich überhaupt vor dir?“ Aatu raufte sich fassungslos die Haare.

„Und wie kommst du hier überhaupt rein?“, schrie er sie entnervt an. Zev grinste spitzbübisch. Die beiden hatten eindeutig Unterhaltungswert. Er lehnte sich an einen Stützbalken und lauschte interessiert.

„Durch das Tor?“, äffte Irm ihn an. Aatus Kopf schnellte zum Burgtor, unter dem seine Rudelbrüder die Zwillinge Velvel und Seff standen, die eigentlich Wache halten sollten und den Auftrag hatten, den Besuch dieses Weibstücks anzumelden und nicht, sie gleich hereinzubitten. Er hätte andere dafür abkommandieren sollen, nicht ausgerechnet die beiden, die diese kindische und peinliche Szene auf dem Marktplatz mitbekommen hatten. Er knurrte sie grimmig an und erntete nur ein breites fröhliches Grinsen von den beiden, während sie rückwärts zurück unter den Torbogen schlichen.

„Danke, dass ihr euch um meinen kleinen Hund gekümmert habt. Ich habe ihn die ganze Zeit gesucht. Er hat sein Halsband durchgebissen. Ich hatte ihn in einer Ecke im Ort angebunden, als ich Flöckchen nachgejagt bin. Eine Marktfrau hat mir gesagt, dass ihr ihn gefunden und mitgenommen habt. - Vielen, vielen Dank. Sonst sind sie so wohlerzogen, ich habe keine Ahnung, was heute mit den beiden los ist“, bedankte Irm sich herzlich bei Zev und wandte sich ans Gehen.

„Oh, und noch was“, sie drehte sich noch einmal zu Aatu um. Der blies gereizt die Backen auf. Was wollte sie denn noch?

„Ihr…“

Weiter kam sie nicht, denn die beiden Zwillinge Velvel und Seff kamen regelrecht panisch durch das Tor gerannt.

„Aatu! Aatu, du musst dir …“ - „Aatu! Da draußen steht ein …“

Aatus warnendes Knurren ließ die beiden schlagartig verstummen.

„Sieh einfach selbst“, nuschelte Seff eingeschüchtert und verschanzte sich hastig hinter seinem älteren Bruder. Aatu stieß Velvel grob zur Seite und schritt energisch auf das Burgtor zu, in der Hoffnung, dass das, was die beiden Zwillinge erschreckt hatte, noch da war und er seinen Zorn auf dieses Weibsbild daran auslassen konnte. Er erstarrte.

„Was um … alles … was …?“, stammelte er erschrocken. Irm zuckte zusammen, als eine alte misstönige Hupe erklang.

„T-Dreieinhalb!“, hauchte sie erschüttert. Zev sah sie fragend an.

„Das darf doch nicht wahr sein!“

Irm ließ Derne zu Boden gleiten und eilte zu Aatu ans Tor. Dort stand T-Dreieinhalb, wackelte fröhlich auf seinen Achsen herum, knarzte und quietschte dabei und ließ seine Scheinwerferaugen aufblenden.

„Wie … kommt … ohne … er … das …“

Wäre Irm nicht so verdammt sauer auf ihr heute so verdammt widerspenstiges T3-Vehikel gewesen, hätte sie Aatus Sprachlosigkeit äußerst amüsiert und sie hätte sich sicherlich zu der einen oder anderen verbalen Spitze hinreißen lassen, doch so stemmte sie nur ihre Hände in die Hüften und funkelte T-Dreieinhalb vorwurfsvoll an.

„Ich sagte, du sollst im Wald bleiben! Was ist denn heute nur mit dir los, dass du nie hörst?“, warf sie ihm vor.

„Siehst du, ich hatte recht! Das ist Magie!“, rief Aatu triumphierend in Zevs Richtung, als er endlich seinen Verstand wiedergefunden hatte. Zev kam gemächlich näher.

„Oh, ein T3-Vehikel. Ich habe schon seit Ewigkeiten keines mehr gesehen. Es ist verzaubert, nehme ich an?“, fragte er Irm interessiert. Irm nickte abwesend. Sie war damit beschäftig, T-Dreieinhalb wütend anzublitzen.

„Aber es kann hier keine Magie geben, es sind überall Hexensäcke!“, fuhr Aatu unbeirrt fort und wedelte mit seinen Armen in der Luft herum. Zev machte eine desinteressierte Handbewegung und näherte sich T-Dreieinhalb. Jetzt zu versuchen, Aatu zu erklären, was er vermutete, wäre Perlen vor die Säue werfen, also schwieg er und begutachtete weiter das Fahrzeug.

„Bist du ein schönes Kerlchen. Kein Rost, keine Beule.“

Bewundernd strich er dem T3-Vehikel über die platte Schnauze. T-Dreieinhalb hupte erfreut.

„Ah, genau! A pro pos Hexensäcke. Ihr müsst die Dinger wesentlich besser verstecken. Und funktionieren tun sie auch nicht“, fiel Irm wieder ein, was sie hatte sagen wollen, bevor ihr der ungehorsame T-Dreieinhalb dazwischen gefunkt hatte. Aatu blinzelte verwirrt und jetzt hatte sie auch Zevs ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Bitte?“, hakte Aatu verwirrt nach.

„Eure Hexensäcke. Da drüben zum Beispiel. Dort findet sie man doch gleich. Oder auf dem Marktplatz. Ich habe sie sofort gesehen. Und sie funktionieren auch nicht. Wer die euch auch immer aufgeschwatzt hat, man, dem würde ich aber den Hosenboden stramm ziehen, das kann ich euch sagen.“

Irm lachte leicht schadenfroh, bei dem Gedanken daran, dass wohl bald einem Scharlatan von einem erzürnten Rudel Werwölfe die Leviten gelesen würden.

„Sie funktionieren“, widersprach Aatu immer noch leicht verwirrt. Wieso konnte diese Hexe - und sie musste eine sein, sie kannte Hexensäcke und sie hatte ein verzaubertes T3-Vehikel - die Hexensäcke finden? Noch nie hatte ein magischer Mensch ihre Hexensäcke gefunden, sie lagen in perfekten Verstecken!

„Nein, tun sie nicht. Sonst würde T-Dreieinhalb ja wohl kaum selbstständig hier herumfahren, obwohl er eigentlich im Wald zu bleiben hat!“, raunzte Irm das Vehikel an. T-Dreieinhalb ignorierte sie und ließ sich lieber von Zev streicheln.

„Doch, tun sie!“, behauptete Aatu störrisch. Irm verdrehte die Augen und entfachte Feuer in ihrer Handfläche. Das war für Zev der Beweis, dass er recht hatte. Er strahlte zufrieden. Nun musste nur noch Aatu überzeugt werden. Der Werwolf seufzte verhalten. Das würde anstrengend werden.

„Nein, tun sie nicht, sonst könnte ich auch nicht zaubern. Und ich habe es schon vorhin auf dem Marktplatz getestet, da konnte ich sogar unter einem Hexensack einem Bonbon Haare wachsen lassen und nichts ist passiert und es hätte etwas passieren müssen, weil ich ja einer magischen Tätigkeit nachgegangen bin“, äffte sie Aatu triumphierend an.

„Und sie haben sehr wohl gute Verstecke!“ Aatu bemerkte selbst, dass er kindisch klang.

„Wieso siehst du sie?“, fragte er beinahe verzweifelt. Irm verdreht leicht die Augen.

„Noch mal. Die Dinger sind nicht echt. Sie sind Tand, Tinnef, Kitsch, Schund, Müll, Mist, such dir was aus, aber sie sind nicht echt und sie blockieren auch keine Magie“, wiederholte sie beinahe schon mitleidig.

„Mädchen“, unterbrach Zev mit sanfter Stimme Irms und Aatus Zankerei.

„Irm“, stellte sie sich halbherzig vor, ohne Aatu aus den Augen zu lassen.

„Irm. Diese Hexensäcke sind sehr echte und sehr starke Hexensäcke, denn seit sie hier in und um die Burg und im Dorf verteilt sind, konnte keine Hexe und kein Zauberer hier Magie wirken. Und es hat auch noch nie eine Hexe und noch nie ein Zauberer die Säcke gefunden“, klärte er sie warmherzig auf. Irm runzelte kritisch die Stirn.

„Und du bist dir da auch ganz sicher?“, hakte sie nach. Zev nickte zustimmend.

„Es haben schon viele Hexen und viele Zauberer versucht, hier einzudringen, und jeder ist bisher an den Säcken gescheitert.“

Irm verschränkte die Arme vor der Brust und starrte den Hexensack in seinem dunklen Versteck tief in den Deckenbalken des Burgtores herausfordernd an.

„Zugegeben, das ist wirklich ein gutes Versteck. Und normalerweise dürfte ich den Hexensack da auch gar nicht sehen, aber ich tu es und ich …“ Sie unterbrach sich selbst und wandte sich wieder an Zev.

„Ich muss mit eurem Zauberer oder eurer Hexe darüber reden. Es ist gefährlich und leichtsinnig, sich auf Hexensäcke zu verlassen, wenn diese nicht hundertprozentig funktionieren. Ich kenne jemanden, der kann euch neue herstellen, allerdings kann ich das nicht einfach so über euren Zauberer oder eure Hexe hinweg anordnen“, bot sie an. Zev lächelte milde, schwieg aber.

„Ich mein das ernst, ihr könntet wirklich in große Gefahr geraten, wenn die Säcke im falschen Moment versagen!“, warnte Irm und marschierte entschlossen zurück in den Burghof. Dort hatten sich mittlerweile an die dreißig Werwölfe versammelt. Irm nickte ihnen zum Gruß zu, ließ den Blick schweifen und fand schließlich, was sie suchte. Den hohen schlanken Turm der Magier. Ihre Tante Estelle lebte auch in einem hohen Turm im Schloss ihres Rudel, Irm hatte das zwar nie nachvollziehen können, wenn sie eine Rudelhexe wäre, sie würde mitten unter ihrem Rudel leben und schlafen wollen, aber offensichtlich war sie da die einzige, die da so dachte. Die Rudelhexen und Rudelzauberer waren regelrecht versessen auf ihre dämlichen hohen Türme. Sie streckte sich, um einen entschlossenen Eindruck zu vermitteln, und ging drei Schritte auf den Turm zu, bevor sie wieder stehen blieb. Langsam drehte sie sich zu Aatu und Zev um, die am Tor standen und sie ansahen. Aatus Blick war zornig und verschlossen, der von Zev sanft und beinahe mitleidig.

„Ihr habt gar keinen …“, flüsterte Irm verstehend.

„Deshalb die Hexensäcke. Ihr habt keinen Zauberer und keine Hexe.“

Plötzlich kam sie sich nicht nur unglaublich dumm vor, sondern auch noch unglaublich beleidigend. Sie senkte verlegen den Blick. Sie hatte gerade dieses fremde Rudel total bloßgestellt. Irm warf einen Blick zurück auf den Turm. Die Läden waren fest verschlossen, an die Tür waren schwere Balken genagelt worden, um sie zu verschließen. Hoch oben am Dach fehlten Schindeln und die Regenrinne war verbogen und durchgerostet. Der Garten um den Turm, in dem Kräuter wachsen sollten, war wild und zugewuchert.

„Ich … ich werde einen Hexensackmacher zu euch schicken. Er schuldet mir noch einen Gefallen. Er soll euch neue, stärkere Hexensäcke machen. Ich … ich geh dann lieber mal. Ich werde es niemandem erzählen, ich schwöre es bei meiner Magie, sollte ich es tun, dann soll mich der Blitz verbrennen, ich … Derne, Flöckchen! Wir gehen jetzt.“ Irm räusperte sich beschämt.

„Es weiß jeder. Was glaubst du, weshalb wir die Hexensäcke überhaupt brauchen?“, hakte Zev sanft nach. Irm zuckte nur mit den Schultern und rieb sich verlegen die Unterarme.

„Und ihr könnt gerne noch ein wenig bleiben. Ich würde mir sehr gerne dein T3-Vehikel ein wenig genauer ansehen und deinen beiden Hunden scheint es hier sehr gut zu gefallen.“

Irm wusste nicht, wann Zev zu ihr getreten war, als er seine große Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie holte gerade Luft, um einen Einspruch zu erheben, als Aatu vorschnellte.

„Du kannst sie hier nicht einfach so einladen, Zev! Dazu hast du nicht die Befugnis!“, fuhr er seinen Rudelbruder wütend an. Zev wandte sich gelassen um.

„Und du hast nicht die Befugnis, sie wegzuschicken, Aatu. Die Hexensäcke sind bei ihr ohne Wirkung. Ich kann sie nicht gehen lassen, bevor sie nicht mit Rafe gesprochen hat“, erwiderte er ruhig.

„Sie bleibt nicht hier! Ich will keine Hexe hier haben! Solange Rafe nicht hier ist, habe ich die Verantwortung über dieses Rudel …“, brauste Aatu auf und seine bernsteinfarbenen Augen funkelten zornig.

„Und wenn ich der Meinung bin, dass du dich mal wieder von Dingen übermannen lässt, die deinen sachlichen Verstand ausschalten, dann widerspreche und widersetze ich mich deinen Befehlen, denn du bist nur der Stellvertreter, solange Rafe unterwegs ist und nur, weil du persönliche Probleme mit Hexen hast, werde ich nicht so dumm sein und eine Hexe gehen lassen, bei der die Hexensäcke ohne Wirkung sind! Wir haben schon genug Probleme, da werde ich mir nicht noch eins aufhalsen! Die Hexe und ihre Hunde bleiben hier, bis Rafe zurückkommt und dann wird er entscheiden, was zu tun ist! Und du wirst dich seiner Entscheidung fügen, egal, wie sie auch ausfallen mag, denn er ist der Rudelanführer und nicht du!“, fuhr Zev dazwischen und seine Stimme bekam einen drohenden Klang. Irm hob überrascht die Augenbrauen. Dann war dieser Aatu gar nicht der Rudelanführer. Interessant. Wobei, wenn sie bleiben musste, dann musste sie noch eine kleine Winzigkeit klären. Sie räusperte sich diskret, hob den Zeigefinger, öffnete den Mund und schaffte es, ein „Ähäm“ herauszubringen, als ein Wolf sie unterbrach, der in halsbrecherischem Tempo durch das immer noch offene Burgtor gerannt kam. Irm schloss den Mund wieder und fragte sich, ob sie es jemals schaffen würde, einen Satz nicht nur ausreden zu können, sondern ihn überhaupt einmal anzufangen. Sie schnaubte leicht genervt.

„Úlfur! Wieso verlässt du deinen Posten?“

Vergessen war die hitzige Diskussion mit Zev. Wenn die Wache im Wald seinen Posten verließ, musste etwas Dringendes vorgefallen sein.

Der Wolf verwandelte sich unter Heulen und Stöhnen in einen hochgewachsenen, schlanken blonden Mann. Irm stellte fest, dass die Kehrseite von ihm äußerst prächtig geraten war.

„Matchit“, keuchte er außer Atem. Sein Oberkörper hob und senkte sich hektisch. Es war anstrengend, sich zu verwandeln, wenn man sich davor körperlich verausgabt hatte. Aatu knirschte laut mit den Zähnen.

„Er kommt. In knapp einer halben Stunde ist der da. Hab ihn gesehen. Sein ganzes Heer. Mindestens einhundert Mann.“

Úlfur ließ sich auf den Boden fallen und rollte sich auf den Rücken. Mit geschlossenen Augen versuchte er, wieder zu Atem zu kommen und Kräfte zu sammeln. Die Vorderseite war auch nicht zu verachten, bemerkte Irm zustimmend. Dann sickerte eine Information in ihr Gehirn. Wer, hatte der zugegeben doch recht sexy Werwolf gerade gesagt, kam?

Der Matchit?“, hakte Irm nach und wurde ignoriert.

Es ging ein Ruck durch Aatu. Er wirbelte zu seinem Rudel herum.

„Bewaffnen! Schnell! Alle, die eine Waffe tragen können! Aufstellung an den Mauern!“, blaffte er und marschierte eilig zu einer Tür. Auf dem Burghof entstand Hektik, als alle auseinanderstoben, um dem Befehl Folge zu leisten.

„Stopp!“

Aatu gefror auf der Stelle ein und drehte sich langsam zu Irm um.

„Stopp? Stopp? Sag mal, hast du sie noch alle? Du kannst doch nicht einfach … Halt einfach den Mund und stell dich da hinten in die Ecke, wo du aus dem Weg bist!“, explodierte er. Das war ja das Allerhöchste! Bremste diese Hexe, die keiner hier haben wollte, ihn einfach ungefragt aus! Irm kam auf ihn zugeeilt, ihr Blick war entschlossen.

„Er werden keine Kinder kämpfen, hast du mich verstanden?“, fuhr sie ihn an. Aatu unterdrückte den Drang, ihr eine Ohrfeige zu verpassen.

„Zähl nach, Hexe!“, knurrte er mühsam beherrscht. „Wir sind viel zu wenig!“

„Keine Kinder!“, wiederholte sie stur. „Zev, gibt es hier einen Hinterausgang?“, fragte sie energisch. Zev deutet mit einem schiefen Grinsen zur Rückseite der Wehrmauer. Aatu knirschte laut mit den Zähnen.

„T-Dreieinhalb, hierher!“, brüllte Irm und kam ihrem T3-Vehikel entgegen, bevor das auch nur einen Meter rollen konnte. Sie legte ihm die Hände und die Stirn gegen den Kühlergrill.

„Du siehst diese Tür. Wenn ich es dir befehle, wirst du mit allen, die sich in dir befinden da durch fahren und du wirst weiter fahren, immer weiter und du wirst Rafe, den Anführer von ihnen suchen und du wirst nicht aufhören zu fahren, bis du ihn gefunden hast. Und erst wenn du ihn gefunden hast, darfst du dich schlafen legen, wenn ich nicht mehr sein sollte, hörst du, T-Dreieinhalb? Und solange du Rafe suchst, wirst du die, die mit dir fahren mit allem beschützen, was du hast. Hast du mich verstanden?“, flüsterte sie dem T3-Vehikel zu und die Wölfe sahen die Wellen, die von Irms Fingerspitzen über das Vehikel glitten. T-Dreieinhalb hupte traurig.

„Alle Kinder und Alten und Schwachen in den Bus!“

Irm richtete sich ruckartig auf. Sie eilte an T-Dreieinhalbs Seite und öffnete die große Schiebetür.

„Mütter, die kämpfen, lassen ihre Jungen bei einer Person, der sie vertrauen! T-Dreieinhalb wird sich um sie kümmern!“

Irm wartete nicht, ob ihrem Befehl Folge geleistet wurde. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie schien ein wenig über sich zu schweben, als sie auf Aatu zueilte.

„Lass deine Wölfe hier Spalier stehen, wenn sie bereit sind. Frag nicht, mach es!“, herrschte sie ihn an. Aatu nickte verdattert und schluckte seine Frage hinunter. Was tat sie da?

„Ihr habt sie gehört! Aufstellen!“, brüllte er den Befehl weiter und etwas in ihm wurde warm und zuversichtlich. Er warf einen kurzen Blick zu Irm, die unter dem Torbogen verschwunden war.

Weshalb half sie ihnen?

Irm tauchte irgendetwas kauend wieder im Burghof auf. Auf halber Strecke spuckte sie das, was auch immer sie im Mund gehabt hatte, in ihre Hand und verrieb es auf ihren Handflächen.

„‘Tschuldigung, ich musste kurz an euren Hexensack, Kräuter klauen. - Weiß er, wie viele ihr seid?“, fragte sie Aatu.

„Nein. Er geht wohl von fünfzig aus, aber das … wir sind jetzt siebzig, aber Rafe ist weg und vier von uns suchen ihn und Krieger haben wir nur vierzig“, antwortete er ehrlich. Irm nickte knapp.

„Du stehst oben und verhandelst. Zev bleibt neben dir“, murmelte sie mehr zu sich selbst und dann hastete die von Werwolf zu Werwolf und drückte jedem von ihnen die Handfläche gegen die Stirn. Die Luft flackerte, dehnte sich und aus den vierzig Bewaffneten wurden achtzig. Aatu stieß erschrocken die Luft aus und die Wölfe zuckten zusammen, als sie neben sich exakte Kopien ihrer selbst sahen.

„Du, längere Nase, kleinere Ohren, blonde Haare. Keine Gnade dem Feind. Aatu und Zev geben die Befehle“, Irm verschob das Gesicht des ersten kopierten Wolfes, bis der nicht mehr ein Spiegelbild seines Originals war, sondern ihm nur noch wie ein Verwandter glich. Sie ging zum Nächsten.

„Breiterer Mund, blaue Augen, längeres Kinn. Keine Gnade dem Feind. Aatu und Zev geben die Befehle.“

Sie wiederholte diese Prozedur, bis sie beim letzten Werwolf angelangt war. Irm drehte sich zu Aatu und Zev. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen.

„Jetzt haben wir achtzig Krieger. Wie viele von ihnen kämpfen mit Waffen, wie viele als Wolf?“, hakte sie nach und wischte sich erschöpft über die Stirn. So viel Zauber hatte sie noch nie auf einmal gewirkt und es erschöpfte sie.

„Die Hälfte“, beantwortete Zev, als er bemerkte, dass Aatu nur starren konnte.

Irm wedelte mit der Hand fahrig in der Luft herum.

„Gut. Du musst ihren nicht sagen, wann sie sich verwandeln sollen. Tun es die Originale, tun es die Kopien. Ich brauch was zu Trinken.“

Sie blies die Backen auf und schlurfte zu einem Wasserfass. Kurz war sie versucht, einfach nur ihren Kopf ins Fass zu tauchen und wie ein Hund daraus zu trinken, dann erinnerte sie sich an ihre gute Erziehung und nahm einen Becher. Gierig stürzte sie das Wasser hinunter.

„Besser“, seufzte sie drei Becher später und schloss kurz die Augen. Als sie sich umdrehte, standen die Wölfe und ihre gezauberten Kopien Spalier an der Burgmauer.

Die Werwölfe waren bereit zur Verteidigung ihres Heims.



3. Von dem, der kam, sah und wieder von dannen zog


Irm rollte mit den Schultern.

„Flöckchen, mach dich bereit für einen Blizzard. Derne, kann sein, dass du gleich böse sein musst.“

Sie ging zum geschlossenen Tor und zwinkerte Derne zu. Derne zwinkerte zurück. Aatu drehte sich um und sah fragend zu ihr nach unten.

„Nur damit keine Panik aufkommt, darf ich vorstellen? Flöckchen, Eishundedämonin, Derne, Kriegsdämon, der sich versehentlich in einen Zwergspitz gebeamt hat. Und keine Panik, sie sind auf unserer Seite!“ Irm grinste schief.

„Dämonen?“, japste Aatu entsetzt, als er wieder in der Lage war, zu reden. „Und wann wolltest du uns das mitteilen?“

„In dem Moment, als Úlfur hier um die Ecke gebogen kam“, antwortete Irm ehrlich. Aatu fragte sich, wie falsch der Fuß gewesen sein musste, mit dem er an diesem Morgen aufgestanden war, dass ihm das alles an einem Tag passierte. Eine Hexe, die immun gegen die Hexensäcke war, mit einem verzauberten T3-Vehikel und zwei ausgewachsenen Dämonen in Form von Schoßhündchen im Schlepptau und dann noch Matchit, der es ums Verrecken nicht leid wurde, ihnen auf die Pelle zu rücken und sie als sein Rudel zu beanspruchen. Blöd nur, dass Matchit dank der Hexensäcke nichts unternehmen konnte, außer zu drohen. Und freiwillig seine Soldaten wilden Werwölfen zum Fraß vorwerfen tat keiner, der bei Verstand war. Er blitzte Irm böse an und knurrte ein: „Darüber reden wir später!“

Dann wandte er sich wieder nach vorn.

„Oh, noch was:“

Als Aatu sich erneut zu ihr umdrehte strahlte sie ihn engelsgleich an. Er schnaubte ungeduldig.

„Darf ich mir von einem von euch die Augen ausleihen?“, bat sie beinahe demütig. Aatu glotzte sie verständnislos an. Augen ausleihen? Wollte sie ihnen jetzt auch noch die Augen ausreißen?

„Sie möchte wissen, ob sie einen von uns nehmen kann, um durch dessen Augen mit sehen zu dürfen. So als eine Art Fernrohr“, klärte Zev ihn grinsend auf.

„Nimm mich!“, rief er ihr zu. Aatu zu benutzen würde bei dem wahrscheinlich sämtliche Sicherungen vor Schreck durchbrennen lassen. Irm verneigte sich dankbar. Zev spürte ein leichtes Kitzeln hinter seinen Augen, dann wusste er, dass Irm durch seine Augen mit hindurchsah.

„Es ist besser, wenn ich hier unten bleibe, Matchit und ich …“ Sie verstummte kurz, um leise aufzulachen, „… wir mögen uns nicht so besonders.“

„Will ich wissen, weshalb?“, knurrte Aatu ungehalten. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass es ihn allerdings doch interessierte. Er beschloss, dass es auf das alte Sprichwort „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ zurückzuführen war und nicht an so etwas wie eventuell aufkommender Sympathie für die Hexe.

Flöckchens eisiges Lachen ließ ihn erschaudern, Dernes gab ihm ein warmes Gefühl und Irms hallte in seinem Körper nach und ließ seine Mundwinkel unwillkürlich nach oben rutschen.

Sie hat seinen Bart abgebrannt, als er sich ihr ihrer Meinung nach unsittlich genähert hatte, gluckste eine warme Stimme. Neugierig auf diese unbekannte Stimme, die so sanft und so freundlich klang, drehten sich alle Werwölfe bis auf die Kopien um. Derne stand als kleines Patchwork-Fellknäul mitten im Hof und sah eindeutig amüsiert aus.

Und die Augenbrauen und die Nasenhaare und die Kopfhaare …, schnarrte Flöckchen gehässig. Zev erschauderte bei dem kalten Klang. Wie konnte ein so freundlich aussehendes Wesen eine so furchtbare Stimme haben? Aatu zuckte schmerzgepeinigt zusammen starrte mit entsetztem Blick auf die weiße Hündin. Das war Folter! Diese Stimme konnte einen ja umbringen!

Er war mal ein recht ansehnlicher Mann, dieser Matchit, fuhr Flöckchen fort und die Werwölfe bemerkten, dass man sich recht schnell an diese ohrenverletzende Tonlage gewöhnen konnte. Aatu wackelte mit seinem Zeigefinger in seinem linken Ohr herum. Grausam. Diese Stimme war einfach nur grausam. Sie drehten sich wieder zum Wald.

„Wann war das?“, fragte Velvel neugierig.

„Vor fünf Jahren. Meine Tante hat sich mal wieder an einer Bräutigamsschau für mich versucht und der gute alte Matchit hat sich wohl ausgerechnet, dass er mit mir an der Seite ein bisschen mehr vom großen Kuchen abbekommt. Er war der Meinung, dass allein seine Einladung reicht, dass er mir gleich unter den Rock darf.“

Irm vergrub die Hände in den versteckten Taschen ihres Fetzenrocks und zuckte mit den Schultern. Mittlerweile wurde sie nicht mehr wütend, wenn sie darüber nachdachte, aber damals hatte sie der Zorn übermannt. Als abweisende Worte nicht mehr gereicht hatten, hatte sie ihn in Flammen gesetzt. Seitdem hatte er keine Augenbrauen mehr, seine Haare wuchsen nur noch kümmerlich und sein Gesicht hatte eine gut durchgebratene Farbe.

„Man, das war dann ein ganz schön beschissenes Jahr für ihn, was!“, Seff lachte und stieß seinem Zwillingsbruder in die Rippen. Velvel gluckste.

„Es war bevor er für dich regelrecht in Flammen aufging, als er das letzte Mal versucht hat, uns zu übernehmen. Dass er gescheitert ist, muss ich nicht erwähnen, oder?“

Seff drehte sich zu Irm und zwinkerte ihr gut gelaunt zu. Sie lachte. Seff mochte ihr Lachen. Seff mochte die ganze Irm, wenn er ehrlich war. Allerdings war Seff auch ein Werwolf, der schnell und gerne Freundschaften schloss. Er zwinkerte Irm noch einmal zu, seine hellgrauen Augen funkelten fröhlich, dann sah er wieder nach vorn.

„Rafe hat ihm ordentlich den Hintern versohlt“, fügte er zufrieden hinzu.

„In Flammen aufging …“, kicherte Úlfur albern. Seff schnitt ihm eine Grimasse.

„Wir müssen aufpassen, unsere Irm ist brandgefährlich!“, unkte er. Velvel verkniff sich tapfer, laut zu lachen. Aatu knirschte mit den Zähnen. Seit wann, bitteschön, war das da unten ihre Irm? Sobald Rafe wieder zurück war, würde sie verschwinden und dann hätten sie wieder ihre Ruhe vor Hexen, Dämonen und verzauberten T3-Vehikeln und das war gut so! Er stieß ein warnendes Knurren aus und die Albernheiten verstummten schlagartig.

„Er kommt“, teilte Zev ruhig mit. Die Werwölfe standen aufrecht auf der Mauer und sahen ernst und entschlossen zu dem unerwünschten Besucher.


Matchit kam mit einer einhundert Mann starken Armee auf die Wolfsburg zu. Er ritt auf einem schwarzen Ross, flankiert von den größten Werwölfen seines eigenen Rudels. Aatu musste sich eingestehen, dass Irm ganze Arbeit geleistet hatte. Zwar war Matchits Gesicht nicht entstellt, aber seine Hautfarbe erinnerte ihn unwillkürlich an ein Brathähnchen. Und seine fehlenden Augenbrauen gaben ihm ein seltsam totes Aussehen. Sein langes wallendes Gewand, welches die Farbe von ascheverschmutztem Schnee hatte, unterstrich Aatus Meinung nach diese Wirkung. Würde er über seine unregelmäßig wachsenden Haare auf dem Kopf eine Kapuze tragen und hätte er in der Hand statt seines angeberischen Zepters ohne Wirkung eine Sense, könnte er zum nächsten Maskenball als Sensenmann gehen. Vorausgesetzt, er schaffte es, seine unfreiwillige übergesunde Gesichtsfarbe hell zu pudern.

„Da bekommt man ja richtig Lust auf Grillhähnchen mit Soße“, scherzte Aatu leise. Zev stieß einen lachenden Grunzer aus, bevor er seine Mimik wieder im Griff hatte.

„Lass das, du Idiot!“, raunte er Aatu zu. Das war wahrlich der dümmste Moment, um einen Scherz zu machen. Und wenn das alles vorbei war, musste der Koch ihm ein Hähnchen grillen.

„Sieh an, sieh an. Ist es nicht nett, dass ihr mir so die Aufmachung macht?“ Matchits Stimme klang rauer und heiserer als vor fünf Jahren. Ob Irm ihm auch den Hals verbrannt hatte?

„Wo ist der gute Rafe? Ach, ich vergaß; er zieht ja durch die Lande auf der Suche nach wissen die Toten was!“, spottete Matchit. Seine rötlichen Augen schimmerten boshaft.

„Hat wohl nichts gefunden bis jetzt, oder? - Nein, wohl nicht, sonst wäre er ja hier.“

Mit betont gelangweilter Miene ließ er den Blick über die Werwölfe auf der Mauer schweifen, doch der Ausdruck in seinen Augen verriet die Gier, die in ihm steckte. Aatu betete inständig, dass der Zauberer Irms Betrug nicht bemerkte.

„Nun gut. Ich beanspruche dieses Rudel als das meine. Ihr seid ja wohl offensichtlich immer noch ohne Zauberer oder Hexe. Also: Hopp-hopp. Öffnet mir mein Tor“, verlangte er und er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Verachtung gegenüber den Werwölfen zu verheimlichen. Unter dem Torbogen knirschte Irm laut mit den Zähnen.

„Nein“, sagte Aatu ruhig.

Matchit verdrehte die Augen.

„Oh, bitte, Aatu. Sei wenigstens du cleverer als dein idealistischer Bruder. Ihr seid schutzlos ohne magischen Beistand und ich bin der beste magische Beistand, den ihr in dieser Welt bekommen könnt.“ Matchits Blick wurde gespielt mitleidig. Irm verkniff sich in letzter Sekunde ein abfälliges Lachen. Solche Worte von einem halb gerösteten Zauberer, der mehr Ähnlichkeit mit einem Schwein am Grill hatte, als mit einem Menschen und der diese unfreiwillige Röstung von einer halb garen Hexe erhalten hatte. Sie biss sie fest auf die Unterlippe, um still zu sein.

„Und nun sei ein guter Junge und öffne mir das Tor“, verlangte er erneut, doch dieses Mal klang seine Stimme schärfer, befehlender.

„Nein.“ Aatu lächelte kalt. Matchits Miene verfinsterte sich.

„Du willst nicht, dass ich dich angreife, oder?“, hakte er freundlich nach.

„Komm und hol uns“, reizte Aatu gelassen.

Auf Matchits Wink hin, trat ein Mann aus den Reihen. Aatu erstarrte. Der Hexensackmacher.

„Ich weiß von euren Hexensäcken und ich habe hier den Hexensackmacher, der sie hergestellt hat. - Husch, husch, mach die Dinger unschädlich.“

Matchits Lächeln war siegessicher. Der Hexensackmacher trat vor, leckte sich nervös die Lippen und rieb dann seine Hände aneinander. Aatus Puls schnellte in die Höhe.

Das war das Allerletzte!

Irm spürte, wie Zorn in ihr hochbrodelte. Hexensackmacher hatten sich nicht in politische Belange einzumischen. Hexensackmacher hatten hilflose Wesen vor ungewollten magischen Angriffen zu schützen, indem sie ihnen Hexensäcke zubereiteten und Schutz boten. Hexensackmacher durften aber niemals ihre Kräfte einsetzen, um ihre Hexensäcke zu zerstören, damit jemand gegen seinen Willen verzaubert oder magisch übernommen wurde.

Sie spürte, wie sich der Zorn in Hitze verwandelte. Ihre Atmung ging schnell und flach, ihr Blick verschwamm an den Rändern, bis sie nur noch durch einen kleinen Punkt klar sehen konnte. Im Zentrum dieses kleinen Punktes stand der Hexensackmacher, der, sich immer noch die Hände reibend, leise Worte vor sich hinmurmelte.

Und dann gingen seine Hände in Flammen auf.

Der Hexensackmacher kreischte vor Schreck und Schmerzen.

Aatu zuckte erschrocken zusammen und verkniff sich, sich zu Irm zu drehen.

Matchit hockte auf seinem Pferd, starrte den kreischenden Hexensackmacher an und wirkte, als ob er an seinem Verstand zweifeln würde. Die Frage, wie es sein konnte, dass der Mann neben ihm in Flammen aufging war deutlich in sein Gesicht geschrieben.

Wage es nicht, Matchit vom Grautal!

Die Stimme ging den Werwölfen durch Mark und Bein, doch es war nicht Flöckchen, die mit ihrer knarzenden Eisstimme dieses Gefühl verursachte. Diese Stimme war ihnen fremd. Unter den Werwölfen öffnete sich das Burgtor und eine furchtbare Kreatur trat heraus. Ihr Haar war ein Meer aus schwarzen und grünen Flammen, in ihren Augen brannte ein kaltes blaues Feuer, ihre Haut war weiß wie Schnee. Feuer und Eisstürme umwehten sie, als sie auf Matchit zutrat.

Geh, solange ich dir noch die Chance lasse, würdevoll zu verschwinden, oder bleib und ich werde dich und deine Schaar in alle Himmelrichtungen zersprengen! Dieses Rudel gehört mir!

War das Irm? Aatu beugte sich interessiert vor. Konnten normale Hexen so etwas überhaupt? Und falls nicht, was zum Höllentor war sie dann?

„Seit wann ist das dein Rudel?“, herrschte Matchit mit einem Anflug von Trotz die Kreatur an. Sie lachte schnarrend und das klang ein wenig nach Flöckchen. Aatu kniff die Augen zusammen. War das etwa Flöckchen in ihrer wahren Gestalt? Falls ja, musste er sich daran erinnern, zu beteuern, wie hübsch sie doch war, wenn sie einmal fragen sollte. Dass sie furchtbar grotesk wirkte, konnte einer Dämonin ja schlecht sagen!

Was zum Kuckuck dachte er da überhaupt? Wen interessierte, ob er eine Dämonin hübsch und ansehnlich fand oder nicht? Sie würde nur für kurze Zeit gezwungenermaßen hierbleiben und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden, da konnte ihm doch egal sein, was sie von ihm dachte! Er schüttelte kurz den Kopf, um sich zu fokussieren. Matchit war sein Problem, nicht die beiden Dämonen.

Es hat dich nicht zu interessieren, Matchit. Du hast deine Chance verpasst, also geh! Dieses Rudel gehört mir!

Das Wesen, war es nun Flöckchen, oder nicht?, das Wesen drehte seinen Schädel zu einem der großen Werwölfe an Matchits Seite und vereiste ihn.

Einfach so.

Eben noch stand da ein Wolf mit struppigem rot-braunen Fell und ein Blinzeln später war es eine Eisskulptur. Es geschah völlig unspektakulär. Kein Sturm, kein Donnergrollen, kein Lichtstrahl, der aus der gestreckten Hand schoss, Aatu war beinahe enttäuscht.

Flieh, du Narr!

Ein weiterer Wolf an Matchits Seite gefror zu Eis.

Matchits Blick wurde verkniffen. Er wollte dieses Rudel haben und jetzt stand da diese Kreatur und hatte es schon vor ihm in Anspruch genommen! Trotz der Hexensäcke! Fluchend riss er an den Zügel seines Pferdes, um es zu drehen. Das würde ein Nachspiel haben, darauf konnten diese verfluchten Werwölfe einen lassen!

„Wir sehen uns wieder“, drohte er grimmig, dann schnalzte er mit der Zunge und galoppierte davon, ohne sich darum zu kümmern, ob seine Leute ihm folgten. Den mittlerweile nur noch wimmernden Hexensackmacher und die beiden vereisten Wölfe ließ er achtlos zurück.

Die Kreatur schnaubte, dann drehte sie sich um und verschwand unter dem Torbogen. Die Werwölfe auf der Mauer hörten, wie das Tor wieder zugezogen wurde, und drehen sich neugierig zum Hof. Unter dem Torbogen erschien Flöckchen. Klein, weiß und harmlos wirkend. Danach tippelte Derne heraus. Der bunte Hund schüttelte sich ausgiebig, dann hockte er sich auf seinen kleinen Hintern und kratzte sich inbrünstig hinter dem Ohr. Von Irm fehlte jede Spur.

Unverständlicherweise besorgt sprang Aatu von der Mauer. Vorsichtig trat er in den Torbogen.

„Irm?“, flüsterte er zaghaft und fragte sich gleich darauf, weshalb um alles in der Welt er flüsterte.

„Irm?“, wiederholte er lauter. Aatu trat in das Dämmerlicht und sah sich um. Von Irm fehlte jede Spur. Aatus Mund wurde trocken. Er schluckte hart. War ihr etwas geschehen?

„Irm!“

Verfluchte Hexe! Wo war dieses Miststück? Er hatte keine Lust, sich auch noch um ihre Gesundheit Sorgen zu machen!

„Brüll nicht so, ich bin nicht taub!“

Aatus Kopf schnellte nach oben. Dort hing äußerst undamenhaft Irm an einem der dicken Stützbalken und robbte sich daran entlang. Aatu stellte fest, dass sie unter ihrem Rock Hosen trug. Welche Frau trug Hosen? Keine anständige Frau trug Hosen, Frauen trugen Kleider und Röcke und im Winter Strümpfe darunter, damit sie nicht froren, aber anständige Frauen trugen keine Hosen. Er schloss die Augen.

Es-war-im-egal-ob-sie-Hosen-trug, mahnte er sich leicht gereizt.

Und es war ihm auch egal, ob sie eine schamhafte oder sittsame oder anständige Frau war oder nicht. Irm war ihm egal, denn sie war eine Hexe und sie würde ziemlich bald wieder von hier verschwinden.

„Was treibst du eigentlich da oben?“, fuhr er sie ruppig an.

„Mich verstecken?“, antwortete sie mit einem treuen Strahlen.

„Natürlich, wieso frage ich auch?“, murmelte Aatu leicht resigniert.

„Matchit hätte mich gesehen, als das Tor aufging!“, verteidigte sie sich ernst. Aatu überlegte sich kurz, ob das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre. Vielleicht hätte Matchit sie ja mitgenommen, dann hätte er jetzt seine Ruhe vor ihr. Irm schwang sich elegant zum nächsten Balken und rutschte daran herunter.

„Übrigens“, sagte sie gut gelaunt und klopfte sich den Staub von der Kleidung, „habt ihr jetzt die sichersten Hexensäcke der Welt, denn der Hexensackmacher, der sie gemacht hat, kann weder neue machen, noch eure Hexensäcke deaktivieren. Keiner kann das, außer dem großen Hexensackmacher-Obermufti.“ Sie strahlte ihn zufrieden an. Aatu holte Luft und stieß sie in einem herzhaften Seufzer wieder aus.

„A pro pos, Hexensackmacher“, funkte Zev dazwischen. Aatu und Irm drehten sich fragend zu ihm.

„Der liegt immer noch da draußen und heult. Was machen wir mit ihm?“


Da standen nun sechsundsechzig Werwölfe, eine Hexe, zwei Dämonen in Gestalt von Schoßhündchen und ein verzaubertes T3-Vehikel vor der Burgmauer und starrten auf einen winselnden Hexensackmacher, der auf dem Boden lag und seine verbrannten Hände an den Oberkörper presste, und zwei vereiste Werwölfe.

„Sind die tot?“

Die Küchenmagd nahm einen langen Ast und stupste damit gegen die Flanke eines der vereisten Wölfe. Irm sah fragend zu Flöckchen.

Mittlerweile wohl ja, antwortete die Eishundedämonin beinahe gelangweilt. Die Küchenmagd machte „Iiih“ und kicherte dann albern hinter hervorgehaltener Hand.

„Was war das vorhin eigentlich? Du?“, wollte Zev neugierig wissen. Irm grinste breit und schüttelte verneinend den Kopf.

„Nee, das war eine Flöckchen-Derne-Fusion. Ich nenne sie Flerne“, antwortete sie gut gelaunt. Derne knurrte verhalten.

Bitte! Irm! Ich habe dir schon unzählige Male gesagt, Flerne klingt dämlich!, beschwerte er sich mürrisch. Irm bückte sich und tätschelte ihm liebevoll das Köpfchen. Derne brummte beleidigt.

„Wow, was ihr Dämonen alle könnt.“ Seff stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Flöckchen verneigte sich erhaben vor ihm.

Flerne ist gruslig“, behauptete Velvel und schüttelte sich. Flöckchen und Derne wuchsen vor Stolz um einige Zentimeter. Gruslig zu sein war immerhin eines der Hauptziele von Dämonen.

„Warum hast du uns geholfen?“, wollte Aatu plötzlich wissen. Es war alles mit einem Schlag so selbstverständlich gewesen. Irm hatte seinen Befehl übergangen, einen Alternativplan vorgelegt, seine Krieger durch Zauberei verdoppelt und ihnen einen unerwünschten Zauberer vom Hals geschafft. Einfach so. Als ob sie das schon immer getan hätte. Wollte sie dafür etwa eine Belohnung? War sie darauf aus? War die Sache mit Matchit nur Show und in Wahrheit arbeiteten sie zusammen? Aatu sah sie kritisch an und wünschte sich, sie würde ihm einen guten Grund geben, sie aus der Burg zu jagen.

Irm wackelte mit der Nase.

„Hm“, sagte sie nachdenklich, „weil es sich richtig angefühlt hat?“

Sie zuckte mit den Schultern. Ja, das war es gewesen. Es hatte sich richtig angefühlt, die Kinder und Alten in T-Dreieinhalb zu packen, die Werwölfe zu kopieren und dem Hexensackmacher die Hände zu verbrennen. Zev strahlte aus welchem Grund auch immer wie T-Dreieinhalbs Fernlicht.

„Es tut mir leid“, murmelte sie verlegen. Sie hatte es wohl mal wieder übertrieben. Angefangen damit, dass sie Aatus Befehl mal spontan über den Haufen geschmissen hatte. Sie vergrub ihre Hände in den Rocktaschen und scharrte verlegen mit der Fußspitze im Dreck. Aatu seufzte herzhaft und rieb sich über das Gesicht. Ehrlich gesagt, glaubte er nicht, dass sie gemeinsame Sache mit Matchit machte. Es schockierte ihn ein wenig, dass er an das Gute in einer Hexe glaubte. Ob sie ihn verhext hatte?

„Lass stecken, du hast uns den Arsch gerettet“, wehrte er ab. Ob er sie jetzt mochte oder nicht und ob er jetzt ein Problem mit Hexen hatte oder nicht, Fakt war, ohne Irm wären sie jetzt das Rudel von Matchit. Und über das ihn verhext haben, würde er in Ruhe in seinem Zimmer nachdenken. Später.

„Zurück zu denen da“, erinnerte Zev geduldig. Irm und Aatu legten synchron die Köpfe schief. Irm nach links, Aatu nach rechts und dachten nach. Irm wackelte mit der Nase, Aatu nagte auf seiner Unterlippe herum.

„Tauen die wieder auf?“, fragte Aatu Flöckchen. Die weiße Hündin bleckte mit einem boshaften Fauchen die Zähne.

Nicht, wenn ich es nicht will, antwortete sie kalt.

Seff grinste seinen Velvel an und der grinste zurück. Mit ihrem breiten Grinsen im Gesicht, legten die Zwillinge ihre Speere auf den Boden, gingen zu einem der gefrorenen Wölfe und drehten den Körper so lange hin und her, bis das Gesicht der Eisskulptur den Weg hinunter, weg von der Burg zeigte. Mit dem zweiten Eiswolf verfuhren sie gleich. Danach traten sie ein paar Schritte den Weg hinunter, um ihr Werk zu begutachten. Nun flankierten zwei Eisstatuen den Eingang der Burg. Die Zwillinge nickten sich zustimmend zu, schlugen die Innenflächen ihrer Hände aneinander und sahen dann zu Aatu und Zev, als ob sie auf ein Lob warten würden.

Aatu verdrehte die Augen.

„Meinetwegen“, gestand er ihnen zu. Die Zwillinge strahlten sich an.

„Der Hexensackmacher.“ Zev legte Aatu mit leichtem Druck die Hand auf die Schulter, um seinen jungen Freund daran zu erinnern, dass vor ihnen im Gras immer noch der verletzte Verräter lag. Aatu starrte den Hexensackmacher an und er hatte keine Ahnung, was er mit ihm machen sollte. Er zuckte mit den Schultern.

„Was macht man mit Hexensackmachern, die ihre Gilde verraten?“, fragte er und er hasste sich dafür, dass er so hilflos war. Er führte im Moment das Rudel seines Bruders an und er sollte auf alles eine Antwort wissen. Widerwillig sah er zu Irm, die wieder mit der Nase wackelte. Offensichtlich tat sie das jedes Mal, wenn sie angestrengt überlegte. Oh, bei den tiefsten Höllen aller Höllen, er erkannte jetzt schon Marotten von der Hexe und dabei kannte er sie kaum eine Stunde! Aatu verkniff sich, sich die Haare zu raufen.

„Lass ihn laufen. Er trägt die Hexensackmachertätowierung auf der Stirn. Und jeder, der seine verbrannten Hände sieht, weiß, dass er seine Gelübde gebrochen hat und dafür bestraft wurde. Wenn er Glück hat, dann kann er noch viele Jahre von dem Geld leben, was er von Matchit für den Verrat bekommen hat und wenn nicht …“ Irm ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, doch es war für alle klar, was sie nicht ausgesprochen hatte.

Hexensackmacher legten ein heiliges Gelübde ab. Bedürftigen zu helfen, sich gegen unerwünschte magische Eindringlinge zu wehren und sich niemals in politische Belange einzumischen. Brach man diesen Eid, indem man sich, wie im Falle dieses Hexensackmachers, bestechen ließ, dann erwartete einen der Tod. Und dass Matchit diesen Kerl da bestochen hatte, daran hatte Irm nicht den leisesten Zweifel. Er hatte vor fünf Jahren sogar diesen Idioten Primus Raulf mit einem Beutel Gold bestochen, damit dieser ihn in Irms Zimmer ließ, obwohl er dort überhaupt nichts verloren hatte. Irm war nur froh gewesen, dass sie ihre wichtigen Dinge in T-Dreieinhalb verwahrte. Allerdings hatte sie danach ihre Unterwäsche verbrennen lassen. Die Schublade, in der sie lag, war nicht ganz zugezogen gewesen und Irm war sich hundertprozentig sicher, dass sie sie ganz zugeschoben hatte. Sie schüttelte sich leicht, als sie daran dachte, wie Matchit an ihren Schlüpfern schnupperte. - Oder ganz andere Sachen damit machte.

„Du solltest dich beeilen und zurück nach Hause rennen und deine Habseligkeiten packen“, schlug Aatu dem wimmernden Mann vor.

„Und du solltest dich wirklich beeilen. Heute Nacht gehen wir auf die Jagd, und wenn du dich dann noch in unserem Wald befindest, kann ich nicht dafür garantieren, dass dich nicht einer von uns erwischt.“ Aatus Lächeln war so kalt und grausam wie Flöckchens Stimme. Der Hexensackmacher heulte auf, rappelte sich auf die Beine und rannte los, als ob der Leibhaftige hinter ihm her wäre. Die Werwölfe sahen ihm nach, bis ihn der Wald verschluckt hatte.

Aatu war mit einem Schlag furchtbar müde und erschöpft. Er vermisste seinen Bruder. Er wollte Rafe zurückhaben.

Er wollte Rafe zurückhaben und er wollte, dass die Hexe wieder verschwand. Und er wollte, dass Matchit nicht da gewesen war und dass der Hexensackmacher seinen Schwur nicht gebrochen hatte. Ach, wenn er ehrlich zu sich war, könnte sich nicht einfach die Zeit um zwei Jahre zurückdrehen? Oder noch besser, um fünfzig?

Aatu seufzte leise.

„Ich hab Kopfschmerzen, ich geh ins Bett. Jagt heute ohne mich.“

Er drehte sich um und schleppte sich träge über den Hof.

Zev sah ihm leicht besorgt nach.

„Ich bleibe bei ihm“, beschloss er ernst. Velvel, sein Zwilling Seff und Úlfur nickten zustimmend. Sie würden heute Nacht ebenfalls nicht auf die Jagd gehen.

Irm nagte betroffen auf der Innenseite ihrer Wange herum. Irgendwie beschlich sie das Gefühl, dass sie nicht ganz so unschuldig an Aatus Kopfschmerzen war.



4. Von einem Burghof und wilden Wölfen

 

Ich bin Derne der Schwarze und ich bin ein Kriegsdämon!

Egal, wie oft Derne es in den letzten zwei Wochen auch gesagt hatte, die Werwölfe kicherten immer noch belustigt. Derne reckte das Köpfchen und tippelte erhaben in die Mitte des Hofes. Hoheitsvoll ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Die Kinder hatten erwartungsvoll ihre Augen aufgerissen und warteten angespannt.

Vereinzelt hörte er, wie die Ungeduldigen unter ihnen aufgeregt wisperten:

„Verwandeln! Los, verwandeln!“

Mögen die Damen und Herren Werwölfe bitte etwas nach hinten gehen? Ich möchte niemanden verletzen, bat er feierlich. Alle rutschten oder traten eilig zurück. Obwohl sie wussten, was jetzt geschehen würde, waren sie immer noch so aufgeregt, wie beim ersten Mal.

Gestatten?, stellte er sich vor, und dann begann die Luft sich zu erhitzen. Der Boden verdunkelte sich, ohne dass eine Wolke am Himmel schwebte und wo eben noch ein kaum zwanzig Zentimeter kleiner süßer Zwergspitz mit undefinierbarer Fellfarbe und Murmelaugen gestanden hatte, thronte jetzt ein drei Meter großer, muskelbepackter Dämon, mit grünen Flammenaugen, armlangen Reißzähnen und Klauen und schwarz-grün leuchtendem Fell.

Derne der Schwarze, grollte eine tiefe Stimme und das riesige Monster verneigte sich elegant. Die Kinder jauchzten und applaudierten. Derne war ein wunderschöner Dämon, das empfand nicht nur die verliebte Flöckchen, auch die anderen waren dieser Meinung. Trotz seiner kräftigen Muskeln wirkte Derne nicht plump oder massig, er war schlank und hochgewachsen - bei drei Metern Körperhöhe auch keine große Kunst - und sein schwarz-grünes Fell war lang und glatt und leuchtete beinahe hypnotisch. Dernes hündisches Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Grimasse, als er bemerkte, dass die Werwölfe ihn begeistert ansahen. Ja, er mochte zwar meist Derne der Winzige sein, aber er war auch Derne der Schwarze. Den Zusatz „Große“ würde er ab jetzt weglassen, er maß drei Meter, da war es hinfällig, auch noch zu erwähnen, dass er groß war. Und Körpergröße war kein Maß für wahre Größe, das hatte ihn Flöckchen mittlerweile gelehrt. Er warf der schneeweißen Hündin einen liebevollen Blick zu.

Wenn man allerdings seine Hörner, die ihm im letzten Jahr gewachsen waren, noch mit dazu rechnete, dann maß Derne der Schwarze ganze vier Meter und das war nun wirklich wieder groß. Trotzdem würde er das „Große“ ab sofort weglassen. Er fing Irms freudiges Strahlen auf. Sie hatte sich noch nie vor ihm gefürchtet, wenn er in seiner dämonischen Gestalt vor ihr gestanden hatte und dafür liebte er sie. Vielleicht sollte er sich „der nette Schwarze“ nennen. Er schnaubte belustigt.

Jetzt kommt ein Eisflöckchen, bestimmte Flöckchen schnarrend. Die Kinder jubelten begeistert „Flöckchen!“ und klatschten.

Der Boden gefror, Eiskristalle fielen leise vom Himmel und die Zuschauer konnten ihren Atem in der kalten Luft sehen, als aus Flöckchen eine dünne haarige Gestalt wurde, die einen langen buschigen Schweif hatte und eine blassblaue Mähne. Ihre eisblauen Augen leuchteten kalt.

Ich bin Flöckchen, schnarrte die große Eishundedämonin und mittlerweile hatten sich alle an die furchtbare Stimme von Flöckchen gewöhnt.

Eisrutsche, knurrte sie böse und ließ eine Rutsche aus Eis entstehen. Das Kreischen der Kinder wurde regelrecht ekstatisch.

 

Irm hockte an der offenen Schiebetür von T-Dreieinhalb und sah dem bunten Treiben im Burghof belustigt zu, während sie Hexenbeutel nähte. Seit die Dorfbewohner erfahren hatten, dass sich eine Hexe in der Burg befand und dass diese Hexe von den Werwölfen geduldet wurde, gab es reges Interesse an ihren Hexenbeuteln. Irm war mittlerweile sehr damit beschäftigt, Kräutermischungen gegen Kopfschmerzen, Zerrungen und für erhoffte Schwangerschaften zusammenzustellen. Der Arzt des Dorfes konnte zwar nach eigener Aussage Knochenbrüche schienen und ausgerenkte Gliedmaßen wieder einrenken, aber er konnte keine schmerzlindernden Mittel herstellen und er war froh, dass nun jemand da war, der den Menschen mit diesen Sorgen helfen konnte.

Irm gluckste leise, als sie Derne dabei beobachtete, wie er ein Mädchen aus dem Dorf in der Luft herumwirbelte.

Es war für Irm nicht wirklich verwunderlich, dass ihn seine Familie damals töten wollte. Für Kriegsdämonen waren Kinder da, um sie zu ängstigen, zu töten oder im besten Fall zu fressen, aber nicht, um mit ihnen zu spielen und sie glücklich zu machen. Und für Derne gab es kaum etwas Schöneres, als Kinderlachen. Fröhliches Kinderlachen, wohlgemerkt. So gesehen war Derne ein grauenhaft schlechter Kriegsdämon.

Naturdämonen wie Flöckchen waren dagegen mehr neutral eingestellt. Sie verursachten Wetterlagen - in Flöckchens Fall Schnee- und Eisstürme - aber im Großen und Ganzen ließen sie die Menschen in Ruhe. Natürlich konnten sie auch verheerende Naturkatastrophen verursachen, aber generell bekam die Menschheit von ihnen nicht viel mit. Es sei denn, die Eishundedämonin verliebte sich in das gute Herz eines Kriegsdämons, der in Begleitung einer Hexe durch die Welt tingelte und bei einem Rudel Werwölfe landete, welches sie eigentlich nicht bei sich haben wollte.

„Das sind in der Tat äußerst grausame Exemplare von Dämonen, die mit dir durch die Gegend ziehen. - Darf ich?“, fragte Zev höflich und deutete auf eine Holzkiste, die neben T-Dreieinhalb stand. Irm lächelte den Werwolf an und nickte zustimmend. Zev setzte sich zu ihr.

„Es sind die grusligsten Dämonen auf der ganzen Welt“, stimmte Irm lachend zu.

„Weil sie freundlich sind“, klärte sie ihn verschwörerisch auf. Zev lachte.

„Dernes Familie hat ihn verbrannt, weil er zu nett ist. Er konnte sich in letzter Minute noch von seinem Körper trennen und von einem anderen Körper Besitz ergreifen“, begann Irm zu erzählen. Zev hob die Augenbrauen.

„Und da sucht er sich ausgerechnet einen Schoßhund aus?“, hakte er ungläubig nach. Irm schüttelte verneinend den Kopf.

„Nein. Er wollte eigentlich in den Körper des Wolfes fahren, der die Mutter des Welpen, in dem er jetzt steckt, gerissen hatte, aber sein Zauber ging leicht schief. Und so ist er statt in einem stattlichen Wolf in einem kleinen hilflosen Hundewelpen gelandet. Und ich hab ihn gefunden. Er ist mein bester Freund.“ Sie lächelte und Zev erkannte, dass es ein wehmütiges Lächeln war.

„Wo bist du aufgewachsen, Irm?“, fragte er neugierig.

„Im größten Rudel des Süd-West-Waldes. Bei den Lupin de L‘Ouests. Meine Tante ist dort Rudelhexe in der siebten Generation.“

Zev verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Du Arme“, bedauerte er ehrlich. Irm lachte auf.

„Ja. Ein wenig“, gab sie zu.

Zev rückte näher an sie heran und legte ihr seinen Arm um die Schultern. Er war ein alter Werwolf und er war viel in der Welt herumgereist, bis er wieder nach Hause in dieses Rudel gekommen war. Er kannte dieses Süd-West-Wald-Rudel. Wo sie hier in einer einfachen Burg lebten, deren Fensterscheiben den einen oder anderen Riss hatten, die Türen knarzten und ein wenig verzogen waren, das Moos und Efeu sich ungehindert an den Mauern ausbreiten durfte, lebten die Werwölfe des Süd-West-Wald-Rudels in einem prächtigen Schloss mit Fensterscheiben aus Buntglas mit filigranen Mustern, edlen Vorhängen aus Samt und Seide, kunstvoll bestickten Wandteppichen und Böden aus Marmor, welcher so auf Hochglanz poliert war, dass man sich darin spiegeln konnte.

Die Werwölfe selbst waren elegante Vertreter ihrer Art, schlank, sehr darauf bedacht, nicht zu muskulös zu werden, um ihre graziöse Silhouette nicht zu zerstören, mit perfekt sitzenden Frisuren, immer nach dem neuesten modischen Stand geschnitten und frisiert. Sie trugen Kleider aus den erlesensten Stoffen, schlicht aber doch elegant, eng anliegend, beinahe einschnürend, damit jeder sehen konnte, welch perfekte Proportionen sie doch besaßen und wie distinguiert sie doch im Vergleich zu allen anderen waren. Die Damen dieses Rudels trugen bei Festlichkeiten hautenge schlicht geschnittene Kleider mit extralangem Saum, in denen sie über den Boden zu schweben schienen. Um ihre Hälse trugen sie schwere Colliers aus Gold, reichlich verziert mit allerlei bunten Edelsteinen in allen nur erdenklichen Farben, Formen und Größen. Diese Colliers bedeckten den Hals und die Schultern der Damen und Zev hatte sich schon immer gefragt, wie man es sich freiwillig antun konnte, so etwas Schweres und Unhandliches zu tragen. Er musterte Irm, die an ihm lehnte und ob er wollte oder nicht, ein Lachen stahl sich in seiner Brust hoch.

„Du stellst dich mir gerade in einem dieser Fummel vor, hab ich recht?“, vermutete sie treffsicher. Zev nickte glucksend.

Irm war … Zev stockte in Gedanken. Um ehrlich zu sein, Irm war alles andere als grazil und perfekt proportioniert. Irm war seiner Meinung nach ein Vollweib. Sie hatte wunderschöne Kurven. Eine großen, aber nicht zu großen Busen und ein gebärfreudiges Becken und einen leichten Bauch. Zevs Mutter hatte ihm oft gesagt, dass eine richtige Frau einen Bauch haben musste, denn dort würde ihr Mann seinen Kopf niederlegen und dieser Platz musste weich sein, damit der Mann dort ruhen konnte. Denn, so hatte seine Mutter immer und immer wieder dieses alte Sprichwort tief aus dem Süden zitiert, denn eine Frau ohne Bauch sei wie ein Himmel ohne Sterne.

Irms Füße waren groß und voller Schwielen, da sie die meiste Zeit barfuß lief und drei ihrer Zehen waren etwas krumm, wahrscheinlich hatte sie sich einmal gebrochen und sie waren leicht schief wieder zusammengewachsen. Ihre Fingerspitzen waren oft von den Kräutern der Beutel, die sie herstellte, verfärbt. Ihre Augenbrauen waren nicht gezupft und in Form gebracht, ihre Haare fielen in wilden, dunkelbraunen Locken ungebändigt oder höchstens mit einer Lederschnur fahrlässig zusammengebunden über ihren Rücken. Manchmal wickelte sie auch einfach nur ein schreiend buntes Tuch darum.

„Du darfst ruhig laut lachen. Derne ist fast erstickt, als er mich das erste Mal in diesem Schlauch gesehen hat.“ Irm knuffte Zev freundschaftlich in die Rippen. Sie mochte den rothaarigen Werwolf. Er war nett und freundlich und er hatte eine unglaublich väterliche Ausstrahlung. Zev tat sich und ihr den Gefallen und lachte schallend los.

„Ich wünschte, ich hätte es sehen können“, seufzte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. Irm schnaubte.

„Ja, danke. Stell dir einfach eine Bratwurst in einer viel zu kleinen Pelle vor und wie alles versucht, irgendwo herauszuquellen. Ich habe manchmal keine Luft mehr bekommen!“, klagte sie theatralisch. Zev giggelte leise. Irm richtete sich auf. Sie riss ihre hellbraunen Augen so weit auf, dass er kurz befürchtete, sie würden ihr ausfallen.

„Und dann diese Colliers!“, rief sie aus und klatschte sich ihren Handrücken gegen die Stirn.

„Viel zu groß und viel zu schwer und viel zu unpraktisch!“ Ihre Stimme nahm einen herablassenden Ton an, als sie weitersprach: „Aber wir Damen vom Süd-West-Wald haben einen Ruf und diesen Ruf haben wir zu bewahren, junge Dame und ich möchte darauf hinweisen, dass du in diesem Rudel lebst und es somit ebenso repräsentierst wie ich und ich dulde es nicht!“ Irm hob ihren linken Zeigefinger in einer mahnenden Geste, „Ich dulde es nicht, junge Dame, dass du hier so einen Affentanz aufführst! Das Kleid erwürgt dich nicht, das Collier drückt dich auch nicht mit dem Gewicht von zehn Vehikeln zu Boden und damit basta! - Das war Tante Estelles graues Haar Nummer zwei.“ Irm grinste voller Schalk und sie streckte Zev triumphierend Zeige- und Mittelfinger entgegen.

Zev begann vor lauter Lachen zu heulen.

 

Rein optisch war Irm eine sehr ansprechende Frau.

Sie hatte freundliche hellbraune, fast schon bernsteinfarbene Augen mit dichten dunklen Wimpern. Ihre Nase war aristokratisch schmal und zeigte an, dass sie von einem edlen Zweig Hexen stammte und ihr breiter Mund hatte volle natürlich rote Lippen. Ihr Gesicht war vielleicht ein wenig zu kantig, das Kinn zu eckig und es gab genug Männer, die Irms Figur als zu drall und zu üppig bezeichnen würden, ihre Knöchel als nicht schlank genug, ihre festen Schenkel als zu dick, ihre Hände als zu kräftig und zu rau, aber Aatu mochte es nicht, wenn Frauen wie zerbrechliche Püppchen aussahen.

Ihre langen Locken glänzten in der Sonne und fielen in sanften Wellen über ihre Schultern und den Rücken. Wenn sie lachte, lachte sie von Herzen, laut und ehrlich ohne dieses weibische Kokettieren, welches ihm schon immer auf die Nerven gegangen war.

Aatu stand am Fenster seines Zimmers und sah auf den Burghof hinaus, wo die beiden Dämonen in ihrer dämonischen Gestalt Amme für die Kinder des Rudels und des Dorfes spielten und er fragte sich kurz, welche Mutter mit Verstand ihr Kind einem Dämon anvertraute.

Er hörte Zevs schluchzendes Lachen, Irm musste verdammt witzige Dinge erzählen, wenn Zev Tränen lachte.

Aatu hob den Kopf und starrte über das Dorf hinweg in den Wald. Wo war nur sein Bruder?

Das hier wuchs ihm alles so langsam aber sicher über den Kopf. Die Hexe, Matchit, die Verantwortung, der Druck, Aatu seufzte leise. Er war kein Anführer, wie sein Bruder. Er war zwar kein schlechter Berater, aber er war kein Anführer. Zev hatte recht, wenn er ihm vorwarf, dass sein Sachverstand leicht von persönlichen Dingen überlagert wurde, er war schlecht darin, objektiv zu handeln.

Er wäre nur kurz weg, sie würden seine Abwesenheit gar nicht bemerken.

Aatu schnaubte missbilligend. Von wegen, sein Bruder wäre nur kurz weg! Er war jetzt mittlerweile fast zwei Jahre unterwegs, auf der Suche nach Bayard, dem größten und mächtigsten Zauberer, um ihm ihr Problem mit Matchit und den anderen aufdringlichen Hexen und Zauberern zu schildern und Hilfe von ihm zu bekommen.

Rafe hatte sich in seiner Suche verrannt.

Aatu konnte sich Rafes lange Abwesenheit nicht anders erklären. Sein Bruder war so besessen davon gewesen, Bayard zu finden, er musste irgendwie vom Weg abgekommen sein und vergessen haben, dass zu Hause noch ein Rudel auf ihn wartete. Vor wenigen Stunden waren die vier zurückgekehrt, die ausgezogen waren, um nach Rafe zu suchen. Sie hatten weder von ihm gehört, noch eine Spur von seinem Bruder aufnehmen können.

Und während all dessen hockten da unten eine Hexe, zwei Dämonen und ein verzaubertes Vehikel im Burghof herum. Und die würden so lange bleiben, bis Rafe wieder zurückkam. Aatu schreckte in seinen Gedanken hoch. Was wäre, wenn Rafe nicht wieder zurückkam? Dann würde diese Hexe ewig hierbleiben! Nein! Nein, nein, nein! Daran durfte er auf gar keinen Fall denken! Rafe würde zurückkommen und die Hexe würde wieder dahin verschwinden, von wo sie hergekommen war. Und es spielte auch überhaupt keine Rolle, dass sie rein optisch in sein Beuteschema passte. Oder dass ihr Lachen in seinem Inneren einen Widerhall fand. Oder dass sie mit der Nase wackelte, wenn sie angestrengt nachdachte und sich dann eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen bildete. Oder das mittlerweile alle das Gefühl hatten, Irm wäre schon immer da gewesen, weil sie sich hier einfügte, wie sich ein Fluss in seinen Lauf einfügte. Perfekt, mit einigen für den Fluss notwendigen kleinen Veränderungen. Nein! Daran würde er weder denken, noch irgendwie in Erwägung ziehen!

Sie war eine Hexe und man konnte keinen Hexen und keinen Zauberern trauen!

Nein, das konnte man nicht. Aatu lehnte seine Stirn gegen den Fensterrahmen und schloss die Augen.

Nein, man konnte ihnen nicht vertrauen, denn sie verrieten einen, sobald sie das Gefühl hatten, dass sie dadurch mehr Macht erhalten würden. Und mit Irm wäre es genau das Gleiche. Er wollte sie loshaben, bevor die anderen im Rudel und die Dorfbewohner sich noch mehr an sie gewöhnen würden. Es reichte doch schon, dass die Zwillinge sie schon als ihre hauseigene Hexe ansahen. Bevor sie sie auch verraten würde.

Er wollte die Zeit zurückdrehen.

„Komm zurück, Rafe“, flüsterte Aatu verzweifelt. „Komm zurück, ich brauch dich.“

 

Irm stand zwischen Velvel und Seff oben auf der Mauer, lehnte mit den Unterarmen auf der Brüstung und sah dem Rudel nach, wie sie als Wölfe in den Wald rannten, um zu jagen. Die beiden Zwillinge und noch vier andere waren zurückgeblieben, um die Burg zu bewachen. Zwischen all den großen Wölfen fegten Derne und Flöckchen mit zwischen den Bäumen durch.

„Weißt du“, begann Seff, als der letzte Wolf im Wald verschwunden war, „er ist eigentlich schwer in Ordnung. Nur ist er eben kein Rudelanführer und das weiß er auch.“ Er zuckte nachdenklich mit den Schultern. Irm musste kurz überlegen, bis sie kapierte, dass er von Aatu redete.

„Schon okay. Ich muss ihn ja nicht gleich heiraten“, entgegnete sie und sah der Sonne beim Sinken zu. Velvel gab einen Ton von sich, den sie nicht einordnen konnte. Auf ihren fragenden Blick winkte er nur ab. Seff seufzte leise, ohne von Velvels Blick etwas mitbekommen zu haben, und fuhr fort:

„Ich mein das ernst. Also nicht, dass er je die totale Rampensau gewesen wäre, aber er war mal echt gut drauf. Lustig …“

„Für seine Verhältnisse lustig“, unterbrach sein Bruder uncharmant. Seff grinste schief.

„Was für unsere Verhältnisse furchtbar humorlos wäre“, klärte er auf und zwinkerte seinem Bruder über Irms Kopf hinweg zu. Irm verdrehte die Augen. Das glaubte sie sofort. Allerdings war so ziemlich jeder im Vergleich zu den beiden Zwillingen furchtbar humorlos. Sie hatte noch nie so alberne Kindsköpfe wie die beiden gesehen. Sie mochte sie.

„Jedenfalls“, nahm Velvel den Faden wieder auf, „jedenfalls war er mal echt viel lockerer drauf, als jetzt. Als Rafe noch da war …“

„Bevor diese Schlampe und ihr Fickfreund …“, knurrte Seff wütend. Velvels warnendes Knurren ließ ihn augenblicklich verstummen. Seff stöhnte genervt auf.

„Bevor die holde Üsübül und der edle Recke Öftölbört ... - Findest du das besser?“, fuhr er seinen Bruder an. Velvel nickte erhaben.

„Üsübül und Öftölbört?“, hakte Irm nach.

„Isabell und Æftelbert.“ Velvel seufzte herzhaft und Seff fiel in den Seufzer mit ein.

„Weißt du, Irmchen“, Seff legte kameradschaftlich den Arm um sie und ignorierte ihren bösen Blick. Irmchen? Wollte der Kerl hier ernsthaft sterben, weil sie ihn von der Mauer schubste?

„Wir hatten mal einen Zauberer. Er hieß Æftelbert und war eine lässige Socke. Immer einen lustigen Spruch auf Lager, immer für Scherze gut. Und er war Aatus bester Freund. Man, die beiden waren so eng, da passte nicht mal mehr ein Grashalm durch.“ Seff verstummte und schüttelte wehmütig den Kopf.

„In unserem Rudel, das damals übrigens noch hundertfünfzig Werwolf stark war, war auch Isabell. Isabell war mit Aatu zusammen. Sie wollten sogar heiraten, der Termin stand schon. Und, was das Glück der beiden perfekt machte, sie war schwanger. - Yipp, yipp, lobpreiset den Gott der Fruchtbarkeit!“ Velvels Stimme troff vor Sarkasmus. Irm schwieg und sah ihn ernst an.

„Es war eine schöne Nacht, wirklich, sternenklarer Himmel, der zunehmende Mond spendete silbriges Licht über die Stadt und die Burg … Sie hatten uns verraten. Getrieben von der Gier nach Macht in einem Rudel, das größer und zivilisierter war, als wir“, fuhr Seff bitter fort.

„Æftelbert öffnete ihnen das Tor und sie fielen über uns her. Sie töteten unsere Welpen, unsere Alten … Sie töteten unsere Schwester und unsere Eltern. Sie töteten Aatus und Rafes Vater, der damals noch unser Anführer war und ihren ältesten Bruder Roffe, der sein Nachfolger werden sollte. Sie fraßen sich durch die Menschen unserer Stadt, die auf unseren Schutz vertraut hatten. Æftelbert, dieser schwanzlose Wichser, hatte einen Zauber über sie gewirkt, der sie träge machte. Und wären Aatu, Rafe, Zev, Úlfur, wir zwei und noch ein paar andere nicht einfach so ganz spontan und heimlich in einem anderen Revier Jagen gegangen, dann wären wir jetzt ebenso tot wie sie.“ Er verstummte. Irm legte ihm ihre Hand sanft auf seine fest geballte Faust.

„Als wir zurückkamen herrschte Tod und Verderben. Als Rafe den Leichnam seines Vaters sah, gab es kein Halten mehr. Wir haben gewütet wie die Bestien und hätten trotzdem beinahe verloren.“ Velvel verstummte kurz.

„Und dann sahen wir Isabell und Æftelbert bei dem Anführer des anderen Rudels stehen. Und wir erkannten, dass wir von ihnen verraten worden waren und die Wildheit ging mit uns durch. Wir haben sie zerfetzt. Aatu hat Isabell eigenhändig getötet. Æftelbert konnte fliehen und ist heute noch auf der Flucht, falls er noch lebt. Wir waren nur noch knapp fünfzig an der Zahl und aus unserer schönen Stadt ist ein kleines Dorf geworden. Und kein Zauberer und keine Hexe sollte hier mehr Macht haben.“

„Das Balg in Isabells Bauch war von Æftelbert, der wurmschwänzigen Made“, fügte Seff mit einem bitteren Grollen hinzu.

„Die Schlampe hat es herausgeheult, als sie merkte, dass Aatu sie wirklich töten würde. Sie hat ihren edlen Æftelbert angefleht, ihr zu helfen, sie trüge doch ihr gemeinsames Kind, doch der Schlappschwanz hat sich nur eingepisst und ist gerannt so schnell er konnte.“ Er spuckte verächtlich aus. Irm schwieg betroffen.

„Wann war das?“, fragte sie schließlich doch.

„Letzten Monat war’s vor genau fünfzig Jahren“, antwortete Velvel und starrte auf einen unsichtbaren Punkt weit hinter dem Wald.

Das war ein gigantisches Timing, was sie gehabt hatte. Da waren die Wunden des Verrates noch nicht einmal richtig verheilt, jährten sich zum fünfzigsten Mal und dann schneite sie hier herein und brachte alles durcheinander. Deshalb verhielt sich Aatu so abweisend ihr gegenüber, während er zu Derne und Flöckchen fast schon nett war. Und deshalb machte er sich auch so rar in ihrer Nähe. Um eben nicht in ihrer Nähe zu sein. Ihre Anwesenheit musste unerträglich für den Werwolf sein. Irm konnte ihn irgendwie sehr gut verstehen. Sie würde garantiert nicht sehr viel anders reagieren an seiner Stelle.

„Er hat nicht wirklich etwas gegen dich, er hat nur was gegen dich als Hexe“, beteuerte Seff und gab ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe.

„Es ist nur …“, begann Velvel und verstummte wieder. Ihm fehlten die richtigen Worte, Irm zu erklären, wie es in Aatu aussah, obwohl es doch so einfach war.

„Verrat tut weh. Und wenn der beste Freund dich verrät, tut es noch mehr weh. Und wenn dann auch noch deine Frau dazukommt und du erfährst, dass die Schlampe mit deinem besten Freund, der dich darüber hinaus auch noch verraten hat, gevögelt hat und sich von ihm hat schwängern lassen, wow, ich glaube, ich kann ihn verstehen.“ Irm schnalzte laut mit der Zunge. Die Zwillinge nickten zustimmend. Es war ihnen wichtig, dass Irm verstand, wie es in Aatu aussah, was in ihm vorging, denn sie hatten nicht vor, die Hexe wieder gehen zu lassen. Ebenso wenig wie Zev oder Úlfur oder die Köchin. Genaugenommen wollte keiner mehr, dass sie ging, bis auf Aatu.

Aber da Aatu sie nicht einfach hinausschmeißen konnte, weil er ja nicht der Anführer des Rudels war, sondern sich den Posten des Stellvertreters sozusagen mit Zev teilte und Zev dafür war, dass Irm blieb, musste Aatu sich fügen und Irm würde bleiben und wenn Rafe wieder zurückkam, dann würden Seff und Velvel sich mal ihren Rudelanführer schnappen und ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Über die Notwendigkeit, wieder eine Rudelhexe zu haben, den praktischen Aspekt wenn man wieder eine Hexe hatte, und sie würden in den schillerndsten Worten Irms heldenhafte Tat im Kampf gegen Matchit erzählen. Und falls das alles nichts half, würden sie einfach behaupten, sie hätten Irm geheiratet.

Irm beobachtete die beiden Zwillinge, die ein stummes Gespräch miteinander führten, eine typische Zwillingseigenschaft, wie Irm wusste, und ihr liefen Schauer den Rücken hinunter.

„Was ihr zwei gerade auch ausheckt; lasst es! Nein!“, warnte sie energisch und hob drohend den Zeigefinger. Die Zwillinge grinsten nur ihr sorgloses Grinsen. Irm schaffte das Unmögliche; sie fixierte beide gleichzeitig mit ihrem Blick. Velvel knickte als Erster ein.

„Ja, wir lassen es“, versprach er reumütig, doch Irm sah das Funkeln in den grauen Augen. Sie schüttelte kurz den Kopf.

„Tut ihr eh nicht. So gut kenn ich euch beide mittlerweile“, erwiderte sie und legte den Kopf in den Nacken. Seff kicherte verhalten.

„Sag mal, Irmchen, du bist wirklich im großen Süd-West-Wald-Rudel aufgewachsen?“, wechselte Velvel das Thema und überging Irms warnendes Knurren.

„Noch ein Irmchen von euch und ihr fliegt von der Mauer!“, drohte sie grimmig.

„Ja, bin ich“, beantwortete sie trotzdem die Frage. Seff und Velvel schwangen sich gleichzeitig auf die Brüstung und sahen sie mit unverhohlener Neugier an. Irm sah in ihre beinahe identischen Gesichter. Die Zwillinge hatten lange hagere Gesichtszüge, mit breiten, schmallippigen Mündern, schmalen Stupsnasen und grauen Augen. Ihre je nach Lichteinfall hellbrauen oder dunkelblonden Haare standen wild vom Kopf ab. Ihre Köpfe steckten auf langgliedrigen dünnen Körpern. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen, doch Irm hatte sie trotzdem sofort auseinanderhalten können. Seffs Stimme war eine kleine Nuance heller als die von Velvel und Velvels graue Augen waren dunkler als die von Seff. Sie waren offene und freundliche Charakter, die man einfach gern haben musste.

„Sind die wirklich so elitär-elegant, wie alle behaupten?“, wollte Velvel wissen.

„Ja“, antwortete Irm brav.

„Und sind die wirklich alle so gelackt und tun so, als ob sie Gold scheißen würden?“, fragte Seff neugierig und erntete einen Schlag auf den Hinterkopf von seinem Bruder. Irm kicherte.

„Ja“, sagte sie belustigt.

„Und haben sie wirklich so viele Vehikel, wie man sagt?“

„Ja.“

„Und sie wohnen in einem glänzenden Schloss mit viel Gold und Tand?“

„Ja.“

„Und ihre Weibchen sind alle dürr und wickeln sich in Schläuche, damit das auch jeder sieht?“

„Ja.“ Irm lachte. Sie fühlte sich, als ob sie Primus Arkos und seinen Stellvertreter beim Quash beobachtete. Bei diesem Spiel schleuderte man einen kleinen Ball so schnell wie möglich über ein Spielfeld, in der Hoffnung, der Gegner würde ihn nicht erwischen. Als Zuschauer war man nur damit beschäftigt, den Kopf im Eiltempo von links nach rechts zu drehen. Kopf nach links, Frage von Seff, Kopf nach rechts, Frage von Velvel.

„Wer will denn dürre Weibchen?“, fragte Seff beinahe entrüstet. Sein Bruder gab ihm einen kräftigen Schlag, der ihn beinahe von der Mauer hebelte.

„Na, du ganz bestimmt nicht. Aber vielleicht hast du ja Glück, und die Kerle haben mehr auf den Rippen!“, spottete er gut gelaunt. Seff schnitt ihm eine Grimasse.

„Ich will auch keinen dürren Kerl, sonst würde ich mit Ästen vögeln“, behauptete er herablassend. Irm erwähnte nicht, dass die Männchen von Primus Arkos‘ Rudel Seff nicht einmal mit dem Hintern ansehen würden. Er wäre ihnen zu wild und zu vorlaut. Und zu dreckig und seine Kleider nicht modisch genug. Seff wäre ihnen nicht gut genug.

„Und gelackte Gecken will ich erst recht nicht. Ein Mann, der sich mehr pudert und um seine Frisur sorgt und um die passende und perfekte Kleidung, ist kein Mann, sondern ein Idiot“, behauptete er gut gelaunt.

„Du hast da nicht wirklich reingepasst, oder?“, stellte Seff ernst fest. Irm nickte schulterzuckend.

„Nein. Nicht wirklich“, gab sie zu.

„Ich war ihnen wohl immer zu wild und zu störrisch. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mir dort immer irgendwie fehl am Platz vorgekommen bin. Es war mir nie wichtig, aus welchem Stoff denn nun dieser tolle neue Wandteppich geknüpft wurde oder wie viele Generationen zurück Primus Arkos‘ Linie dieses Rudel schon anführte. Ich wollte wissen, welche Geheimnisse der Wald um das Schloss barg …“

„Derne und dein T-Dreieinhalb“, unterbrach Velvel erfreut. Irm nickte zustimmend.

„Ich wollte wissen, was geschieht, wenn ich verschiedene Kräuter neu zusammenmische. Es war mir egal, dass eine Dame von Welt und dem Süd-West-Wald-Rudel die Untertasse ihrer Teetasse in der flachen linken Hand hält, während sie damenhafte kleine Schlückchen aus ihrer Tasse nippt, die sie mit der rechten Hand an ihrem zierlichen Henkelchen hält!“ Irm stieß einen sehr lauten und sehr herzhaften Seufzer aus.

„Und deshalb bin ich mit sechzehn gegangen. Und bin seitdem die einzige Wanderhexe auf der großen weiten Welt.“ Sie strahlte die beiden Zwillinge fröhlich an.

„Ich trage, was ich will“, zählte sie auf.

„Ganz unschicklich Hosen unter den Röcken zum Beispiel“, half Seff ihr dabei. Irm nickte zustimmend.

„Ich mische Kräuter zusammen, wie ich es für richtig halte.“

„Und hast dabei so nebenher ein äußerst wirksames Mittel zur Abwehr von Werwolfmännchen bei einem läufigen Werwolfweibchen entdeckt“, klärte Velvel seinen Bruder auf, der das allerdings auch schon wusste. Irm nickte wieder.

„Und ich lerne viele unterschiedliche Leute kennen“, endete sie zufrieden.

„Uns!“, riefen Velvel und Seff unisono und lachten.

„Euch auch.“ Irm grinste die beiden breit an.

„Mal was anderes: Warum ist Matchit so versessen darauf, euch zu seinem Rudel zu machen?“, wollte sie neugierig wissen. Die Zwillinge grinsten sich wild an.

„Weil wir Wilde Werwölfe sind“, erklärte Velvel zufrieden.

„Oh“, sagte Irm nur. Seff war über diese Reaktion enttäuscht. Er hätte schon ein bisschen mehr erwartet, als nur ein „Oh“.

Irm hätte gerne mehr getan, als nur „Oh“ gesagt, aber sie war nicht wirklich in der Lage, mehr zu tun. Sie war gerade ziemlich sprachlos. Und erstaunt. Und äußerst überrascht. Und ihr Herz hämmerte so aufgeregt, dass sie nicht fähig war, auch nur irgendetwas zu tun.

„Heilige Scheiße!“, stieß sie nach ein paar Minuten aus und Seff hoffte, dass sie jetzt endlich auf dem Weg in die richtige Richtung war. Ekstase, Euphorie, Jubel, Begeisterung. Er sah sie erwartungsvoll an. Doch Irm enttäuschte ihn schon wieder. Statt hier einen Freudentanz zu veranstalten, kniff Irm nur die Augen zusammen und beugte sich zu den beiden vor, um sie sich genau anzusehen.

„Wow“, sagte sie dabei und dehnte das Wort in die Länge. Seff war kurz davor, zu schmollen.

Wow hat auch noch niemand gesagt“, stellte Velvel nachdenklich fest und quiekte im nächsten Moment erschrocken auf, als Irm ihm in den Oberarm kniff.

„Sag mal, spinnst du?“, jammerte er und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Ja, manchmal, aber nicht im Moment.“ Irm schnupperte interessiert an Velvel. Er fühlte sich wie ein normaler Werwolf an, vielleicht roch er ja anders.

„Was tust du da?“, hakte Seff nach.

„Keine Ahnung, ich dachte, wenn ihr euch schon normal anfühlt, vielleicht riecht ihr anders, aber, nein, tut ihr auch nicht. Naja, schon, aber das liegt daran, dass ihr einen großen Bogen um Wasser und Seife macht. Jetzt ist mir alles klar. Wilde Werwölfe. Das paßt zu Matchit“, murmelte sie nachdenklich. Eigentlich wollten die Zwillinge beleidigt mit ihr sein, immerhin hatte sie gerade behauptet, sie würden stinken, aber irgendwie waren sie dann doch eher neugierig.

Irm lächelte gedankenverloren.

Wilde Werwölfe.

Natürlich.

Sie hatte von ihnen gelesen, noch im Schloss.

„Ich habe gelesen, dass Wilde Werwölfe stärker sind als andere Werwölfe. Sie werden auch viel älter als die anderen. Ihr seid unabhängig, schert euch nicht um das, was die anderen über euch denken, nehmt auch mal das Revier anderer Rudel ein, wenn euch danach ist und wenn ihr Hunger auf Menschenfleisch habt, geht ihr jagen. In anderen Revieren selbstverständlich. Die Menschen, die unter eurem Schutz stehen, fresst ihr nicht, sondern beschützt sie, wie einen wertvollen Schatz. Es heißt, dass Wilde Werwolfrudel meist nicht wirklich reich sind, ihr habt den Ruf, euch nicht viel aus Gold und Edelsteinen zu machen, Statussymbole benötigt ihr nicht und wer sich euch Untertan macht, hat ein Rudel voller mächtiger Krieger, die furchtlos gegen jeden Feind kämpfen. Und die Namen der Rudelmitglieder haben immer dieselbe Bedeutung. - Was bedeuten eure Namen?“, fragte sie aufgeregt.

“Na, endlich! Ich hatte schon mit mehr Begeisterung gerechnet, als mein Bruder dir gesagt hat, was wir sind“, beschwerte sich Seff gut gelaunt. Irm verdrehte nur die Augen. Das tat sie seit sie hier war ziemlich oft, wie ihr in dem Moment auffiel.

„Wolf. Unsere Namen bedeuten alle Wolf“, beantwortete Velvel stolz. Jetzt erhielt Seff endlich seine euphorische Reaktion. Irms Gesicht hellte sich mit einem Schlag auf.

„Ihr seid die letzten Wilden Werwölfe“, wisperte sie ergriffen.

„Ich habe von euch gelesen. Also nicht so direkt von euch, aber über euch. Über das Rudel Wilder Werwölfe, die Wölfe sind! Jetzt gibt das auch einen Sinn! Der Schreiber hatte sich dabei auf die Bedeutung eurer Namen bezogen! Kennt ihr jemanden aus dem Rudel Wilder Werwölfe, die Krieger sind?“, fragte sie hoffnungsvoll. In dem Buch hatte es von zwei Rudeln wilder Werwölfe gehandelt, aber es hatte auch darin gestanden, dass es das zweite Rudel nicht mehr gab. Sie hatte damals geweint, als sie es gelesen hatte. Bis heute wusste sie nicht, warum sie diese Information so traurig gemacht hatte. Seff schüttelte verneinend den Kopf.

„Rafe vielleicht. Wenn sie je bei den Versammlungen dabei gewesen waren. Vor fünfzig Jahren, als Rafes Vater uns noch angeführt hatte, waren wir nicht hochrangig genug, um mitzukommen und zu der letzten Versammlung vor fünfundzwanzig Jahren sind wir nicht hin.“ Er sah sie entschuldigend an.

„Wenn Rafe zurückkommt, kannst du ihn ja nach ihnen fragen. Wir kennen nur ein paar Geschichten“, schlug Velvel vor und fragte sich kurz, ob Rafe überhaupt jemals wieder zurückkam.

„Wilde Werwölfe, die Wölfe sind“, wisperte Irm versonnen und schob sich zwischen Velvel und Seff. Die Zwillinge lehnten sich vertraulich an sie.

„Wilde Werwölfe …“


5. Von dem, der zurückkam, bleiben wird und einer nächtlichen Jagd


Sie würde nie wieder weggehen, dessen war sich Aatu mittlerweile sicher.

Und nein, er wollte sie immer noch nicht in seiner Nähe haben, sie war eine Hexe und er hatte auf sehr schmerzhafte Weise lernen müssen, dass man denen nicht trauen konnte. Er vermied es, wie schon seit fünfzig Jahren, den Turm, in dem Æftelbert gewohnt hatte, anzusehen. Er war seine persönliche Schmach, sein eigenes Mahnmal des Verrates, nicht nur durch seinen vermeintlich besten Freund, sondern auch noch durch seine damalige Partnerin. Sie hätte ihn einen Bastard als sein eigen Fleisch und Blut aufziehen lassen. Naja, eigentlich nicht einmal das. Sie hatte ihn ja vorher verraten und verkauft und hätte zugelassen, dass er versklavt wurde. Er knurrte verhalten, als ihn Zorn und Schmerz überkamen.

Zuviel. Es war alles viel zu viel für ihn. Rafes Verschwinden, Irms Auftauchen … Er war nicht gemacht für solche Belastungen. Aatu hob sein Gesicht und ließ es sich von der Sommersonne wärmen.

Irm lebte nun schon seit drei Monaten hier im Burghof in ihrem T3-Vehikel, das in der hintersten Ecke eines Unterstands parkte, weil ihm das dämmrige Schummerlicht dort gefiel, wie Zev ihn amüsiert aufgeklärt hatte.

Das Vehikel war ein Ding! Und jeder tat, als ob es ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wäre!

Aatu warf T-Dreieinhalb einen grimmigen Blick zu. Das T3-Vehikel hupte fröhlich und winke mit seinen Scheibenwischern. Als Aatu sich dabei ertappte, wie er zurückwinkte, hätte er sich am Liebsten selbst in den Hintern getreten. Er grüßte ein Fahrzeug. Er grüßte ein Ding. Gut, zugegeben, das Ding da hinten war äußerst lebendig, aber es war dennoch nur ein blöder Gegenstand und keine Person. Aatu knurrte sich selbst an und marschierte weiter. Eine warme Brise wehte durch das geöffnete Burgtor herein, brachte das Lachen der Kleinen mit sich, die unten im Burggraben nach Fröschen jagten und Aatu ließ sich von der friedlichen Stimmung anstecken.

Und irgendwie war T-Dreieinhalb ja auch ein bisschen, nun ja, niedlich. So seltsam es für Aatu auch klang, das T3-Vehikel hatte ein sonniges, freundliches Gemüt. Aatu sah wieder zu T-Dreieinhalb und er könnte schwören, er döste. Irgendwie sah es aus, als ob das Vehikel die Augen geschlossen hätte. Mit einem leisen Auflachen schüttelte Aatu den Kopf. Jetzt fing er auch schon wie die anderen an. Ein dösendes Vehikel.

„Bruder?“

Aatu wirbelte alarmiert herum. Am Torbogen stand Rafe.

Aatu stieß einen Schrei aus, dann rannte er los und warf sich seinem vermissten Bruder in die ausgestreckten Arme.

„Rafe …“, wisperte er erleichtert und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge. Rafe lächelte glücklich, schlang die Arme um Aatu und strich ihm über den bebenden Rücken.

Rafe, Rudelanführer des Rudels der Wilden Werwölfe, deren Name Wolf war, war ein großer kräftiger Mann mit breiten Schultern, starken Armen und Beinen. Seine bernsteinfarbenen Augen leuchteten fröhlich und warmherzig und sein voller Mund verzog sich schnell zu einem gewinnenden Lächeln. Seine Haare waren nicht ganz so schwarz wie die von Aatu und auch nicht einmal halb so lang. Wo Aatus Haare ihm wie ein Wasserfall über den Rücken fielen, gingen Rafes nur bis an die Schultern. Er löste die Umarmung, schob seinen kleinen Bruder eine Armeslänge von sich und musterte ihn. Aatu sah verhärmt aus. Der Blick aus seinen Augen, die das genaue Ebenbild von Rafes waren, war sorgenvoll und ernst. Aatus Mund mit den weichen, geschwungenen Lippen war fest zusammengepresst. Das markante Gesicht wirkte hager. Aatu war schon immer drahtiger als Rafe gewesen, aber mittlerweile wirkte sein kleiner Bruder regelrecht dünn. Rafes Blick wurde sorgenvoll. Er hatte Aatu zu viel aufgehalst, als er gegangen war.

Rafe nahm seine Hände von Aatus Oberarmen, seufzte leise und gab ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass Aatu zurücktaumelte.

„Weshalb ist das Burgtor offen?“, fuhr er seinen Bruder herrisch an.

„Und weshalb stehen mitten im Sommer Eisskulpturen von zwei Wölfen davor? Wo sind die Wachen auf der Mauer und warum ist keiner hier?“

Rafes Blick war zornig. Er wusste, dass Aatu kein wirklich guter Rudelanführer war, aber dass er so schlecht war, dass er die Burg völlig schutzlos mit geöffnetem Tor und ohne eine einzige Wache auf der Mauer ließ, das hätte Rafe nicht gedacht. Er öffnete den Mund, um mit seinen Vorwürfen fortzufahren, als zwei Schoßhündchen um die Ecke gefegt kamen. Sie kläfften und knurrten und bauten sich beschützend vor Aatu auf. Rafes Blick wurde erst amüsiert, dann etwas mitleidig.

„Spitze? Und dann auch noch Zwergspitze? Aatu, sag mir jetzt nicht, dass du Schoßhündchen als Wachen einsetzt“, spottete er traurig. Aatu holte zu einer Antwort Luft, als ein eisiger Wind um seine Beine wehte und Rafe bis zum Hals vereist war.

„Was …?“ Rafe starrte seinen Bruder schockiert an, als er mit einem Mal in einem Eisblock steckte.

„Flöckchen! Tau ihn sofort wieder auf, das ist mein Bruder Rafe“, befahl Aatu streng. Das Eis um Rafes Körper wandelte sich in kaltes Wasser und fiel von ihm ab. Rafe sah seinen Bruder misstrauisch an. Seine Sinne schlugen Alarm.

„Aatu, was zum Höllentor ist hier los?“, verlangte er zu wissen, allerdings klang seine Stimme nicht halb so herrisch, wie er wollte.

Zauberei! Hier in seiner Burg herrschte Zauberei! Unwillkürlich machte er einige Schritte nach hinten und stieß mit dem Rücken gegen ein blechernes Hindernis, welches vorhin noch nicht da gewesen war. Ein misstöniges, lautes Hupen ertönte hinter ihm. Rafe schrie erschrocken auf und machte einen hastigen Satz auf die Seite. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Monstrum, gegen welches er gestoßen war. Es war ein altes T3-Vehikel und es blinkte ihn mit seinen Scheinwerfern an!

Rafes Blick glitt panisch zu seinem Bruder.

Und Aatu warf den Kopf in den Nacken und lachte.


Irm warf ihren Korb voller Waldkräuter und Moos weg, als sie T-Dreieinhalbs lautes Hupen hörte und rannte los. Auf halber Strecke holten sie Seff und Velvel ein, die im Wald Holz hackten und als sie, angeführt von Irm, in den Burghof rannten, hatten sich Zev, Úlfur und vier weitere Werwölfe ihnen angeschlossen. Zev registrierte zufrieden, dass die Kinder, die im Burggraben gespielt hatten, sich wie befohlen versteckt hatten, sollte etwas Ungewöhnliches geschehen, dann stockte er. Und wusste nicht, ob er zuerst weinen oder lachen sollte.

Die Szene, die sich ihnen bot, war absurd.

Aatu stand hinter einem knurrenden Derne und einer geifernden Flöckchen und lachte so laut und so herzhaft wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ihnen gegenüber stand T-Dreieinhalb, der wild mit seinen Scheinwerfern auf- und abblendete und in gebührendem Abstand zu ihnen stand ein nasser Werwolf und stieß panische Töne aus.

„Rafe!“

Zev hatte sich wieder gefangen und eilte auf seinen Freund und Rudelanführer zu. Mit einem erfreuten Lachen drückte er den nassen, völlig schockierten Rafe an sich und küsste ihn herzlich auf die Wangen.

„Wir hatten schon Sorge, du würdest nie wieder kehren“, gestand Zev erleichtert. Rafe nickte verdattert.

„Was ist das?“, stammelte er verwirrt. Zev lachte.

„Das ist T-Dreieinhalb, ein T3-Vehikel“, stellte er T-Dreieinhalb seinem Anführer vor. T-Dreieinhalb hupte artig. Das hatte er von Zev gelernt. Wenn man einander vorgestellt wurde, dann grüßte man. Rafe erlag fast einer Herzattacke.

„Und die kleine weiße Lady hier ist Flöckchen, eine Eishundedämonin. Der kleine bunte Fellball daneben ist Derne der Schwarze, ein Kriegsdämon. Und der Kerl dahinter, der sich seinen kleinen dürren Hintern ablacht, ist dein Bruder Aatu.“

Zevs breites Grinsen war ein klitzekleines bisschen boshaft, als er Rafes Verwirrung dazu nutzte, um ihn ein wenig aufzuziehen. Dessen Gesichtszüge entglitten ihm nun völlig und er glotzte Zev dümmlich an. Er erinnerte Zev ein wenig an T-Dreieinhalb, wenn der lebloses Objekt spielte.

Dämonen?

T3-Vehikel, die alleine hupten und ihn mit ihren Lichtern anblinkten?

War er jetzt verrückt geworden oder war es sein Rudel?

Sein Blick glitt hektisch über den Burghof und blieb am Tor hängen, unter dem mittlerweile beinahe sein ganzes noch verbliebenes Rudel stand. Der treue Úlfur, Vukasin, Ruud, die Zwillinge Velvel und Seff und dazwischen eine hübsche barfüßige Frau in seltsamer Kleidung, der starke Ranulf … Moment! Rafe runzelte kritische die Stirn und sein Blick ging zurück zu der Fremden, die zwischen den Zwillingen stand. Sie winkte ihm fröhlich mit der linken Hand zu.

„Wer ist das?“ Er zeigte völlig ungentlemanlike mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Irm.

„Das ist meine persönliche Heimsuchung“, knurrte Aatu, aber irgendwie schaffte er es im Moment nicht, wirklich böse zu klingen. Zev sah ihn tadelnd an und wandte sich an Rafe.

„Das ist Irm“, sagte er und Rafe entging nicht der warme Ton in Zevs Stimme. Hatte der alte Werwolf sich etwa eine Gefährtin gesucht, während er weg war? Darüber würde er aber noch ein ernsthaftes Wörtchen mit Zev reden müssen. Rudelmitglieder holten sich nicht einfach so einen Partner an die Seite, ohne es vorher mit dem Rudelanführer besprochen zu haben. Und nur, weil er fast zwei Jahre weggewesen war, hieß das nicht, dass sich daran etwas geändert hatte. Rafe löste sich entschlossen aus Zevs Umarmung und schritt auf Irm zu.

„Ich bin Rafe, Anführer der Wilden Werwölfe“, stellte er sich erhaben vor. Irm stellte fest, dass die Tatsache, dass dieser Rafe bis auf die Haut durchnässt war und fröhlich vor sich hin tropfte, ihn einiges an Erhabenheit einbüßen ließ. Würde sie wetten, würde sie darauf wetten, dass Flöckchen ihn erst eingeeist und dann wieder aufgetaut hatte.

„Angenehm. Irm. Wanderhexe. Immun gegen eure Hexensäcke und aus diesem Grund Gefangene dieses Rudels“, antwortete Irm und lächelte ihn offen an. Zev schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, Úlfur verdrehte mit einem Aufstöhnen die Augen und die Zwillinge bissen sich fest auf die Unterlippen, um ja keine Miene zu verziehen. Und Aatu brach wieder in schallendes Gelächter aus.

Rafe öffnete den Mund, schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen, drehte auf dem Absatz um und marschierte zurück zu Aatu und Zev. Das war entschieden zu viel!

„Ihr beide kommt sofort mit! Wir reden!“, herrschte er seinen Bruder und seinen Freund an ohne seinen schnellen Schritt zu verlangsamen und ging zielstrebig in die Burg.

Aatu folgte ihm albern kichernd. Zev warf Irm noch einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor er den beiden Brüdern nach drinnen folgte. Irm zuckte nur mit den Schultern.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Hexe?“, schnauzte Ruud Irm an, als Zev die schwere Tür hinter sich geschlossen hatte. Seff und Velvel glucksten amüsiert.

„Manchmal, aber nicht im Moment“, entgegnete sie gelassen. Ruud raufte sich die Haare, bis sie wie blonde Strohhalme abstanden.

„Du kannst dich doch nicht so vorstellen, Irm!“, tadelte er aufgebracht. Ruud war ein ruhiger Werwolf mit einem sanftmütigen Wesen und einem ebenso sanften Gesicht. Gerade allerdings war er kurz vorm Verzweifeln. Er hatte sich gefreut, das Rafe endlich wieder zurück war, nicht nur, weil das Rudel nun endlich wieder seinen Rudelanführer hatte, er konnte nun endlich seine Liebelei zu der Werwölfin Sanda offiziell machen und eine feste Beziehung mit ihr eingehen und jetzt kam Irm daher und vergällte Rafe die Laune.

„Du hast ein ziemliches Problem mit Autoritäten, kann das sein?“, stellte Seff gleichmütig fest. Irm zuckte nur wieder mit den Schultern.

„Ist so ein blöder Reflex von mir. Ist wohl noch vom Süd-West-Wald-Rudel hängen geblieben“, nuschelte sie und sie gestand sich ein, dass die Weise, wie sie sich Rafe vorgestellt hatte, wirklich dämlich gewesen war. Velvel seufzte in gespielter Verzweiflung.

„Gehen wir was trinken, wir können eh nichts anderes tun, als warten, bis Rafe mit Aatu und Zev geredet hat. - Und dabei kann ich mir gleich meine zwei Kupferstücke vom letzten Spiel von dir zurückholen“, schlug er vor. Irm lachte auf. Velvel versuchte nur schon seit vier Tagen, sie beim Rommé zu schlagen. Irm war mittlerweile um zwei Kupferstücke, einen Knochenkamm und fünf geflochtene Lederbänder reicher.

„Na, dann, versuch dein Glück“, stimmte sie zu, setzte sich auf eine Holzkiste vor ein Fass, welches ihnen als Spieltisch diente und wartete, bis Seff die Karten gemischt hatte.


Während Rafe erst ausgiebig badete und danach nicht weniger ausgiebig aß, erzählten Aatu und Zev, was es mit Irm auf sich hatte.

Wäre es nach Aatu gegangen, hätte sich die Erzählung auf die Hexensäcke und Matchit beschränkt, aber da Zev mit anwesend war, bekam Rafe die ganze Geschichte in aller Ausführlichkeit zu hören.

Zev begann seine Erzählung bei ihrem ersten Zusammentreffen auf dem Markt, wo Irm und Flöckchen ein Ablenkungsmanöver für Derne vollführt hatten, damit dieser ein ungehorsames verzaubertes T3-Vehikel zurück in den Wald ziehen konnte und der ersten kleinen Reiberei zwischen ihr und Aatu. Er erzählte Rafe, wie Aatu Derne aufgegriffen und ihn mit in die Burg genommen hatte, damit Irm ihn sich abholen würde und er sie aus ihrem Revier werfen konnte und dass er von Anfang an der Meinung gewesen war, dass an Irm etwas anders sei. Wie Irm ihnen gesagt hatte, dass die Hexensäcke nicht funktionierten und sie feststellen mussten, dass sie nur bei Irm versagten. Wie Matchit aufgefahren war, zusammen mit dem Hexensackmacher, damit dieser die Hexensäcke deaktivierte. Wie Irm mit Zauberei ihre Krieger verdoppelt hatte. Wie sich Flöckchen und Derne zu einem Monster vereint und Flöckchen die beiden Werwölfe draußen vor dem Tor vereist hatte, als Warnung an Matchit und wie sie behauptet hatten, das Rudel würde ihnen gehören. Wie Irm dem Hexensackmacher die Hände verkrüppelt hatte und dass Zev beschlossen hatte, dass sie eine Hexe, die immun gegen die Hexensäcke war, nicht mehr gehen lassen konnten, weil es zu gefährlich für das Rudel war.

Zev war auch ehrlich genug, zu sagen, dass die Werwölfe und die Dorfbewohner Irm mittlerweile richtig in ihre Herzen geschlossen hatten. Er erzählte Rafe, wie Irm Kräuterbeutel herstellte, die Kopfschmerzen oder Entzündungen heilten und dass sie dem Arzt unter die Arme griff, wenn dieser Hilfe brauchte. Er sagte Rafe direkt auf den Kopf zu, dass Irm genau das tat, was eine Rudelhexe machte. Sie half und schütze.

Zev erzählte das alles mit ruhigen Worten und in sanftem Tonfall und er bemerkte, dass es Rafe tatsächlich beschwichtigte. Sein zurückgekehrter Rudelanführer nickte nachdenklich. Da war also eine Hexe und die war immun gegen Hexensäcke. Rafe hatte keine Ahnung, was er mit dieser Information anstellen sollte.

„Allerdings bin ich verdammt enttäuscht von dir, dass du deinem Bruder zutraust, dass er die Burg unbewacht offen stehen lässt.“ Zevs Stimme verlor ihre Sanftheit und wurde hart. Rafe, der gerade an einem Krug Bier nippte, sah ihn überrascht an.

„Du bist zwei Jahre weg und wir wissen nicht, lebst du noch, oder bist du tot. Wir schicken vier von uns in alle Himmelsrichtungen aus, um dich zu suchen und dann kommst du hier her und das Erste, was du tust, ist deinem Bruder vorwerfen, er würde das Rudel nicht schützen? Aatu hat sich für uns aufgerieben und dank Irm ist das Rudel sicherer als je zuvor, den niemand auf dieser Welt kann die Hexensäcke jetzt noch zerstören. Dass dich Derne und Flöckchen in den Burghof haben spazieren lassen, liegt nur daran, dass du wie das Rudel riechst! Vor zwei Wochen hat es ein fremder Werwolf gewagt, nur seine Schnauze über unsere Reviergrenze zu stecken und die beiden haben ihn erst geröstet und dann zu Eisregen pulverisiert.“ Zev konnte nicht umhin, er wurde wütend.

Rafe stellte den Bierkrug ab und sah erst zu Aatu, in dessen Augen unterdrückte Wut und Enttäuschung glommen und dann zu Zev, der ihn sehr offensichtlich wütend anblitzte.

„Es tut mir leid“, sagte er reumütig und er meinte es ernst. Schweigen breitete sich in der Halle aus. Schließlich war es Rafe, der wieder anfing zu reden.

„Ich bin gegangen, weil ich es so leid war, dass wir uns dauernd und dauernd gegen unerwünschte Zauberer und Hexen wehren mussten, die uns nicht als Rudel, sondern als Sklaven haben wollten. Ich war diese ständigen Besuche so leid und dann, als dieser Matchit auch noch aufgekreuzt ist, und so getan hat, als ob wir keine andere Wahl hätten, als ihn als unseren Rudelzauberer zu nehmen und ihm zu Macht zu verhelfen; es war einfach zu viel für mich.“ Er lachte hart auf.

„Ich habe diesen verfluchten Bayard eineinhalb Jahre gesucht und nachdem ich ihn endlich gefunden hatte, hat er mir gesagt, dass ich mir einen Zauberer oder eine Hexe suchen soll, dann hätte ich meine Ruhe.“ Rafe wirkte verzweifelt, als er seine beiden engsten Vertrauen ansah. Aatu schnaubte nur. Was wollte man von diesen Magiern auch groß erwarten? Das waren alles machtgierige verräterische Kreaturen und nichts weiter. Sie hatten es ja am eigenen Leib erlebt.

„Und ich war so wütend und dann komme ich hier an und ich sehe keine Wachen auf der Mauer und das Burgtor steht weit offen und da habe ich meinen Frust einfach an dir ausgelassen, Bruder. Das hätte ich nicht tun dürfen. Verzeih mir“, bat er ernst. Aatu grinste schief und nickte.

„Ist okay, es war ja nicht gerade ein Sonntagsspaziergang, den du hinter dir hast“, wehrte er ab. Er war nicht sonderlich nachtragend, es sei denn, es ging um Verrat, und nachdem er jetzt endlich wieder seinen Bruder an seiner Seite hatte, wäre er nicht so blöd und würde sich diese Freude verderben lassen, indem er Rafe einen einzigen Fehler nachtrug.

„Ich denke, du solltest mit Irm reden, Rafe“, schlug Zev vor und jetzt klang seine Stimme wieder warm und sanft.

„Ja. Ich denke, du hast recht“, stimmte Rafe ihm seufzend zu und erhob sich.

„Ich werde mit ihr reden und dann, dann wird sie wieder gehen.“ Im Vorbeilaufen legte er seinem Bruder die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Aatu presste schweigend die Lippen zusammen. Darüber würde er lieber keine Wetten abschließen.

Rafe ging zur großen Eingangstür um sie zu öffnen, trat hinaus und sah sich suchend nach Irm um. Er entdeckte sie, wie sie mit den beiden Zwillingen in der Nähe des Unterstands Karten spielte. Rafe holte tief Luft, streckte sich und setzte an, entschlossen zu ihr zu marschieren. Mit erhobenem Fuß stockte Rafe erst mitten in der Bewegung, dann machte er den Schritt statt vorwärts zurück und schloss die Tür wieder. Zev und Aatu sahen ihn erstaunt an. Rafes Blick war völlig verwirrt. Er schnappte ein paar Mal nach Luft, bevor er in Worte fassen konnte, was ihn so irritierte.

„Sagt mal; trägt sie etwa Hosen?“


Als sie das Gelächter aus der Burg hallen hörten, wussten sie, dass Rafes Laune wieder besser war und die Werwölfe waren darüber wirklich sehr erleichtert, denn ein zorniger Rafe war kein angenehmer Zeitgenosse. Velvel sah zu Irm und zwinkerte ihr grinsend zu.

„Sie lachen. Gut. Dann ist alles wieder beim Alten“, sagte er zufrieden und sah auf die Karten in seiner Hand. Keine Frage, er verlor. Velvel schnitt eine Fratze, die Irm mittlerweile als sein Verlierer-Gesicht kannte.

„Du willst es wirklich bis zum Ende durchziehen?“, fragte sie in gespieltem Mitleid. Velvel schnaubte.

„Bis zum bitteren Ende“, knurrte er entschlossen. Immerhin hatte er einen Ruf zu verlieren. Und sieben Zitronenbonbons.


Rafe wagte sich schließlich doch wieder aus der Burg. Er trat in die Sonne und betrachtete die kleine kartenspielende Dreier-Gruppe. Velvel verlor, das erkannte er auch noch nach zwei Jahren Abwesenheit. Sein Gesichtsausdruck hatte sich seitdem nicht verändert. Seff war es egal, ob er gewann oder nicht, er spielte, weil es ihm Spaß machte und er so seinen Bruder ärgern konnte. Und diese Irm schien zu gewinnen. Seffs Blick zu seinem Bruder nach zu urteilen nicht das erste Mal. Er würde warten, bis sie die Runde beendet hatten und dann erst zu ihnen gehen, beschloss er und lehnte sich im Schatten an die kühle Mauer.

Sie trug tatsächlich Hosen.

Rafe hörte Aatu und Zev im Inneren der Burg immer noch lachen, als hätte er eben etwas furchtbar Dummes gefragt. Dabei war das keine dumme Frage, Frauen trugen nun mal keine Hosen. Naja, bis auf diese Irm, korrigierte er sich sarkastisch.

Sie trug eine moosgrüne Lederhose, die sie oberhalb der Knie abgeschnitten hatte, und hatte etwas um die Hüften gewickelt, was man mit viel Fantasie und gutem Willen als Rock bezeichnen konnte. Ihr Oberteil war ein weites hellblaues Wams, dem sie die Ärmel abgeschnitten hatte und ihre Haare hatte sie unter einem bunten Tuch verborgen. Ihre Haut war braun gebrannt, es musste wohl ihre Alltagskleidung darstellen.

Und sie war barfuß.

Dass die Zwillinge keine Schuhe trugen, konnte er nachvollziehen, Werwölfe verzichteten gern auf Schuhwerk, wenn sie sich zuhause befanden, aber dass Menschen ohne Schuhe herumrannten, das war ihm neu. Vielleicht besaß das arme Wesen ja auch gar keine Schuhe, grübelte er.

Sie hatten ihr Spiel beendet, ja, Velvel hatte eindeutig verloren, dieses dramatische Händeringen war ein eindeutiges Zeichen. Rafe ignorierte, dass sein Bruder und Zev in der Burg immer noch lachten und stieß sich von der Mauer ab.

„Irm? Können wir bitte reden?“ Es schwang eindeutig ein Befehl in der Frage mit, Irm nickte zustimmend und erhob sich.

„Natürlich.“ Sie trat neben ihn und sah ihm offen in die Augen. Rafe verlor kurz den Faden, sammelte sich und deutete ihr mit einer eleganten Handbewegung an, mit ihr ein wenig spazieren zu gehen. Die Zwillinge sahen den beiden mit leichter Besorgnis nach.

Ich könnte ihnen hinterher schleichen, bot Derne von oben auf der Mauer an. Seff legte den Kopf in den Nacken und schüttelte verneinend den Kopf.

„Nee, erst beim zweiten Date“, versuchte er zu scherzen, aber das ungute Gefühl in seinem Bauch konnte er damit nicht vertreiben. Rafe wollte keine Hexe oder Zauberer mehr in seinem Rudel haben. Die, die nach Æftelbert gekommen waren, wollten sie alle als nur als Rudel haben, um sie gegen ihre Feinde einzusetzen oder um ihre Macht zu vergrößern. Dass er tief in seinem Inneren wusste, dass es bei Irm anders war, würde ihm allerdings nichts nützen. Rafe wollte Fakten und ein Gefühl war nach Rafes Meinung kein Fakt. Nicht bei Hexen.

Seff blies die Backen auf und sah den beiden nach, wie sie durch das Burgtor schlenderten und zum Wald bummelten. Dabei entging ihm der siegessichere Blick seines Zwillingsbruders.


„Das da waren also zwei Werwölfe von Matchit?“, fragte Rafe, als sie die beiden vereisten Wolfsskulpturen passierten, die in der warmen Mittagssonne standen, ohne zu schmelzen. Sie tropften nicht einmal, wie er fasziniert feststellt. Irm hob mit einem Grinsen die Augenbrauen.

„Jap. Flöckchen hat sie vereist und Seff und Velvel fanden, dass sie sich gut als Burgdekoration machen. Außerdem haben Eisskulpturen im Sommer eine verdammt abschreckende Wirkung, wie wir festgestellt haben. Als eine Hexe sich vor einem Monat hier breitmachen wollte, hat sie auf dem Absatz umgedreht, als sie die beiden entdeckt hat.“ Irm lachte und ihr Lachen perlte durch Rafes Körper, wie die Blubberblasen von diesem süßen Getränk, welches die Kinder so gerne tranken. Er lachte unwillkürlich mit, bis ihn T-Dreieinhalbs wildes Hupen unterbrach. Das T3-Vehikel knatterte in einem Affenzahn an ihnen vorbei, bis unter das Dach beladen mit johlenden Kindern. Rafe sah ihm fragend nach.

„Schief gegangener Erweckungszauber. Hätte eigentlich meinen Teddybären treffen sollen, traf aber stattdessen ein vergessenes, vor sich hin rostendes T3-Vehikel“, klärte Irm ihn auf und hob entschuldigend die Schultern.

„Er mag Kinder. Er ist ja selbst noch eins“, fuhr sie fort. Rafes Blick war interessiert. Irm lachte.

„Du musst hier nicht deine Rudelanführer-Psychomasche abziehen, ich erzähl es dir auch ohne diesen sanft-aufmunternden Blick, der mir weismachen soll, dass ich dir alle meine geheimsten Wünsche und Sorgen anvertrauen kann.“

„Durchschaut. Entschuldige“, schwenkte Rafe zu einer anderen Taktik.

„Lass es gut sein. Ich bin bei den Lupin de l'Ouest’s im Süd-West-Wald aufgewachsen und glaub mir, ich kenne jeden Rudelanführertrick, den es gibt. Und sie haben alle keine Chance bei mir“, klärte sie ihn mit unverhohlenem Stolz auf. Rafe war mit einem Schlag fasziniert von ihr. Nicht, weil sie beim Lupin de l'Ouest-Rudel aufgewachsen war, sondern weil sie so … weil sie so … Rafe fehlte eindeutig ein Vergleich für Irm. Weil sie einfach so war, wie sie war.

„Du bist ziemlich von dir eingenommen, kann das sein?“, hakte er nach. Irm lachte wieder.

„Manchmal, aber nicht im Moment“, gab sie als Antwort und plötzlich hatte Rafe den Wunsch, dass sie kokett lachend vor ihm davon rannte, einen neckischen Blick über die Schulter warf und ihn damit aufforderte, ihr nachzurennen. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte verwirrt den Kopf. Irms Blick wurde kurz fragend, dann mit einem Schlag verkniffen. Sie sah sich mit ernster Miene um und griff zielstrebig in einen kleinen Lavendelbusch, worin sie nach ein wenig herumstochern, einen kleinen Beutel zu fassen bekam. Irm zerrte ihn zwischen den Pflanzenstängeln hervor. Ein Liebesbeutel. Das war ja wohl nicht wahr! Sie warf einen Blick über ihre Schulter zu Seff und Velvel. Ersterer sah besorgt aus, aber der andere, der wirkte eindeutig ertappt. Sie schickte ihm eine stumme Drohung des Zwangsbadens zu, dann ließ sie den Beutel in ihrer Hand verpuffen.

„Wo waren wir?“, fragte Rafe leicht verwirrt. Irgendwie war er gerade etwas weggetreten gewesen. Glaubte er. Oder doch nicht?

„Du wolltest wissen, warum T-Dreieinhalb noch ein Kind ist und ich hab dir gesagt, dass ich die Rudelanführertricks kenne“, half Irm ihm aus. Rafe nickte zustimmend, als es ihm wieder einfiel.

„Gut. T-Dreieinhalb ist noch ein Kind, weil ich zehn war, als ich ihn versehentlich erweckt habe und die Magie dieses zehnjährigen Kindes steckt in ihm, bis ich ihn schlafen gehen lasse. Ich bin erwachsen geworden und meine Magie hat sich dadurch verändert, T-Dreieinhalbs bleibt immer die, mit der er erweckt wurde. Und die Rudelanführertricks: War auf den Treppenstufen, die geputzt wurden, zu viel Seife drauf und Primus Raulf - Primus Arkos‘ dämlicher Neffe - ist die Treppe runtergesegelt und hat sich wehgetan, konnte das ja nur meine Schuld sein. Explodierten die Federkiele beim Schreiben, und verschmierten alles mit Tinte, war das bestimmt dieses Irm-Kind. Wenn ein Kronleuchter herunterfiel, weil sein Seil zu alt war, wollte ich irgendjemand - bevorzugt Primus Raulf - umbringen. War der Marmorboden zu glatt poliert und Primus Raulf flog der Länge nach auf die Nase, hatte ich die Politur verhext. Hatte eine Glasscheibe einen Sprung, habe ich einen Ball dagegen geworfen. War ein Loch in der Mauer, konnte mir ja nur ein Feuerballzauber schiefgegangen sein. Primus Arkos hat mit allen Psychotricks versucht, Geständnisse aus mir herauszuquetschen. Glaub mir, wenn ich sage, ich kenne sie alle, dann kenne ich sie alle“, erzählte sie freimütig und grinste ihn breit an.

„Wenn du also etwas über mich wissen möchtest, dann frag mich einfach. Ich habe nichts zu verheimlichen.“

Rafe lachte auf. Diese Irm war faszinierend.

„Und bei wie vielen dieser Dinge hattest du wirklich deine Finger mit im Spiel?“, hakte er nach. Irms Grinsen war so breit, es musste wehtun.

„Für den Kronleuchter konnte ich wirklich nichts. Da war wirklich das Seil einfach nur zu alt gewesen. Und sonst … eigentlich bei fast allem, was Chaos verursacht hat“, gestand sie freimütig ein. Rafe fragte sich, ob er nicht eher das Lupin de l'Ouest-Rudel bemitleiden sollte, statt Irm. Immerhin schien es, als ob sie stellenweise ziemlich unter ihr zu leiden hatten. Nicht jeder mochte es, wenn man ihm Streiche spielte. Und nicht jeder mochte Löcher in den Wänden.

„Bist du seine Partnerin?“, wollte er wissen und zeigte mit dem Daumen blind hinter sich. Irm folgte dem Fingerzeig in dem Moment, als Aatu gefolgt von Zev aus der Burg trat.

„Von Aatu? Gott behüte, nein!“, widersprach sie und klang dabei, als hätte Rafe den besten Witz gerissen, den sie je gehört hatte.

„Aatu? Wieso Aatu? Zev!“, korrigierte er verwirrt.

„Oh! Tschuldige. Nein, von dem auch nicht“, prustete sie immer noch sehr amüsiert.

Aatu und Irm? Rafe runzelte kritisch die Stirn. Wieso hatte sie als Erstes an Aatu gedacht? Er sah zurück und wie sein Bruder und Zev zu den Zwillingen gingen. War das hier jetzt einfach nur Zufall gewesen?

„Rafe, wenn wir beim Reden schon in der Gegend herumlaufen, könnten wir dann in den Wald gehen? Ich hab dort meinen Kräuterkorb liegenlassen, als T-Dreieinhalb dich angehupt hat“, bat sie ernst. Rafe zuckte zustimmend mit den Schultern. Wohin sie gingen war ihm letztendlich egal, Hauptsache er konnte in Ruhe mit ihr reden.


Sie war ihm verfallen, so wie ihm alle Weibsbilder irgendwann zu Füßen lagen, man konnte es genau sehen. Wie sie ihn ansah, wie sie lächelte, wenn er etwas erzählte, Aatu stand auf der Mauer, die Unterarme auf der Brüstung abgelegt und sein Kinn darauf gestützt und beobachtete, wie Irm und Rafe nebeneinander aus dem Wald kamen und sich angeregt unterhielten. Rafe trug ihren Korb, ganz wie es sich für einen wohlerzogenen Gentleman von Welt gehörte. Aatu schnaubte leise.

„Als hätte ich schon von Anfang an gewusst, dass ich dich nicht mehr loswerde“, grollte er frustriert. Er hörte, wie Irm über etwas lachte, laut und herzhaft, und dann hob sie ihren Kopf und sah Aatu direkt an. Aatu kniff böse die Augen zusammen. Irm grinste herausfordernd, dann streckte sie ihm mit einem breiten Grinsen die Zunge raus. Aatu schnappte empört nach Luft und schnitt ihr zur Antwort eine Grimasse.

Rafe sah Irm irritiert an, als sie einfach so in schallendes Gelächter ausbrach und folgte ihrem Blick nach oben. Da war die Mauer. Grau. Aus Felssteinen. Aus grauen Felssteinen, die mit Efeu und Moos bewachsen waren. Er legte den Kopf schief. Weder das Moos noch das Efeu noch beides zusammen ergaben dort eine Figur, die einen in Gelächter ausbrechen ließ. Rafe gestand sich ein, dass er beim besten Willen nicht erkennen konnte, was an einer Burgmauer so lustig war. Er zuckte mit den Schultern, sagte sich, dass das wohl eines der Mysterien wandernder Hexen war, und trat durch das offene Tor. Es war ungewohnt, dass es offen stand, aber außer ihm schien sich keiner daran zu stören. Es hatte hier eindeutig Veränderungen in seinem Rudel stattgefunden, er musste dringend zusehen, dass er wieder auf den neuesten Stand kam.

Aatu hockte auf dem Boden des Wehrgangs, den Rücken fest gegen die Mauer gepresst, als wäre er ein Taschendieb, der sich verstecken müsste. Warum um alles in der Welt war er in Deckung gegangen, als er bemerkt hatte, dass Rafe den Blick hob? Er wohnte schließlich hier, er konnte stehen, wo immer er wollte! Sein Herz hämmerte wild gegen seine Rippen. Sie hatte ihm die Zunge rausgestreckt und er hatte ihr eine Grimasse geschnitten. Aatu hörte, wie Irm und Rafe durch den Torbogen schlenderten und krabbelte auf allen Vieren auf die innere Seite des Wehrgangs. Vorsichtig hob er den Kopf und wagte einen Blick über die niedrigere Brüstung. Als hätte Irm nur darauf gewartet, sah sie zu ihm hoch, grinste breit und zwinkerte ihm zu.

Aatus Gesicht brannte mit einem Mal, als hätte er es in kochendes Wasser getaucht. Er verlor garantiert den Verstand, anders konnte er es sich einfach nicht erklären. Doch, konnte er sich schon, er verbot es sich schlichtweg. Er setzte sich auf den Hintern, zog die Beine an und starrte in den Himmel.

Er verlor nur den Verstand. Er verlor nur den Verstand. Er verlor nur den Verstand. Aatu schloss die Augen.

„Bitte, bitte, lass mich einfach nur den Verstand verlieren“, bat er inbrünstig.


Die Burg und das Dorf machten sich nun schon seit zwei Tagen für ein riesiges Fest zu Ehren von Rafes Rückkehr bereit.

Irm spazierte in der Dämmerung durch die Straßen und beobachtete das rege Treiben. Bänke wurden auf dem Marktplatz aufgestellt, große Feuerstellen aufgeschichtet, auf denen am anderen Tag Schweine, Rinder und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gejagte Menschen braten würden. Sie sah zur Burg und wackelte mit der Nase. Zev hatte auf ihre Anwesenheit bei diesem Fest bestanden. Aatu bockte wussten die Höllenfürsten wo und Rafe warf ihr immer mal wieder einen unergründlichen Blick zu. Dass sie sich nicht sonderlich auf dieses Fest freute, war ja selbstredend. Sie war ja nicht mal wirklich willkommen hier. Zumindest nicht beim Rudelanführer und seinem Bruder.

Es musste ein riesiger Schock für Rafe gewesen sein, als er nach zwei Jahren Suche zurückgekehrt war und eigentlich nichts mehr war, wie an dem Tag, an dem er das Rudel verlassen hatte.

Eine Hexe hauste in seinem Burghof und tat, als ob sie hier hergehörte, was sie nicht tat, das wusste Irm selbst am besten, aber es war verdammt schwer, sich das immer und immer wieder zu sagen, denn es fühlte sich mittlerweile so an, als ob sie wirklich hier hergehören würde. Sie wich vorbeirennenden Kindern aus und machte sich auf den Weg zurück in die Burg. Nach dem Fest würde Rafe hoffentlich eine Entscheidung fällen und sie könnte ihre Siebensachen packen und weiterziehen. Der Gedanke schmerzte sie zugegebenermaßen ein wenig.

Im Burghof hatten sich die Werwölfe für die nächtliche Jagd versammelt.

Irm blieb im Schatten des Burgtors stehen.

Wenn es so war, wie bei den Lupins de l'Ouest, dann würde sich als erstes Rafe verwandeln und dann erst alle anderen. Warum das so war, konnte ihr bisher noch kein Werwolf erklären, es war wohl eine Art Tradition oder so.

Rafe entledigte sich seiner Kleidung, Irm schnurrte im Geiste, als sie den kräftigen muskulösen Körper ausgiebig betrachtete, dann sank er auf alle Viere. Er knurrte, ächzte und stöhnte. Muskeln verschoben sich, Knochen änderten sich mit lautem Knacken, Rafe keuchte. Sein Gesicht dehnte sich zu einer langen Schnauze, ein Schwanz wuchs aus seinem Rückgrat, Fell spross auf seiner Haut. Hände wurden zu Pfoten, Arme zu Vorderläufen und dann stand ein dunkler Wolf im Hof. Mit einem lauten Heulen verkündete Rafe das Ende seiner Verwandlung an.

Irm gestand sich ein, dass sie gerade ausgiebig spannte.

Sie begutachtete Zevs starken Körper, die schlaksigen Gestalten der beiden Zwillinge, die gedrungene Figur von Ranulf und stellte fest, dass die Herren Wilde Werwölfe äußerst ansehnlich waren. Jeder andere Gedanke wäre viel zu unschicklich und den würde sie erst in T-Dreieinhalb denken, wenn sie mit einer Tasse Kaffee auf ihrer Couch saß. Sie grinste mit eindeutig unanständigen Gedanken im Hinterkopf. Aatu zog sich aus und warf seine Kleidung achtlos neben sich auf den Boden. Irms geistiges Schnurren wurde lauter, während sie ihren Blick über die drahtige Figur gleiten ließ und dabei feststellte, dass er äußerst wohlproportioniert war. Überall. Sie grinste breit und anzüglich, während sie ihm beim Verwandeln zusah.

Die Werwölfe warfen ihre Köpfe in die Luft und heulten laut und lang gezogen, dann setzte sich Rafe in Bewegung. Irm brachte hastig ihre Mimik in den Griff, wie würde das denn aussehen, wenn sie immer noch so dämlich vor sich hin grinste?

Als Rafe an ihr vorbeitrabte, nickte sie ihm mit ernstem Gesicht zu.

„Gute Jagd und fette Beute“, wünschte sie ehrlich und verneigte sich leicht vor ihm. Rafe schnaubte zum Dank und ging weiter. Seff stupste mit seiner nassen Schnauze gegen ihre Taille, Irm konnte nicht anders, als kichernd zu quieken, an dieser Stelle war sie verflucht kitzlig und das wusste er. Sie strich ihm über das hellbraune Fell.

„Viel Spaß.“ Sie zog ihn leicht am Nackenfell. Seff kläffte und wurde von seinem Bruder weitergeschoben.

Aatu passierte sie und fixierte sie mit ernsten bernsteinfarbenen Augen. Irm zwinkerte ihm mit einem schiefen Grinsen zu. Der schwarze Wolf kam ein wenig aus dem Tritt, dann fing er sich wieder und hastete eilig vor zu seinem Bruder. Irm verkniff sich ein Lachen. Als der letzte Werwolf sie passiert hatte, folgte sie ihnen bis zu den vereisten Wölfen vor der Mauer und sah dem Rudel nach, wie es Richtung Wald abbog.

Der Nachthimmel war zu klar, man würde sie überall von Weitem sehen, stellte Irm fest. Mit einem Schulterzucken ließ sie Wolken entstehen, die den Himmel verdunkelten. So war es besser. Das Heulen aus dem Wald war ein eindeutiger Dank. Irm lachte, vergrub die Hände in ihren Rocktaschen und schlenderte zu T-Dreieinhalb, der in seiner Ecke stand und ihr den Weg beleuchtete.

„Na, dann“, sagte Irm in die Stille der leeren Burg. Sie hob den Kopf, sah Derne und Flöckchen, wie sie auf der Burgmauer patrouillierten, es war ein Bild für die Götter, bemerkte sie amüsiert, und stieg in ihr Vehikel. Einsamkeit überfiel sie. Irm verließ T-Dreieinhalb wieder, wenn sie jetzt im Bus bleiben würde, würde sie anfangen zu heulen, und das wollte sie nicht. Statt also zu jammern, dass sie so furchtbar einsam und allein war, marschierte sie entschlossen auf die am Boden liegenden Kleidungsstücke zu und hob sie auf.

Sie war nicht allein, sagte sie sich trotzig, während sie aus den unordentlichen Kleiderhaufen, ordentliche Kleiderstapel faltete und sie auf Fässer, Tische oder Bänke legte, die im Hof standen.

Und sie brauchte auch kein Rudel. Basta.


Aatu rannte, um funkelnde Augen zu vergessen.

Er rannte vor dem Gefühl weg, jemanden ohne Schutz allein in der Burg zurückgelassen zu haben. Er rannte vor dem plötzlich aufkommenden Gefühl der Einsamkeit weg, denn wie konnte er einsam sein, er hatte sein Rudel um sich. Er hatte seinen Bruder wieder um sich. Er sah zu Rafes schwarzer Wolfsgestalt, die allen voran durch die dank Irm bewölkte Nacht rannte, auf der Suche nach Fleisch.

Rafe hob den Kopf in die Luft. Seine empfindliche Nase zuckte, während er hoffte, eine Fährte zu wittern. Sie hatten vor knapp einer Stunde ihr Revier verlassen und jagten jetzt in einem Niemandsland, wo Menschen ohne den Schutz eines Rudels lebten. Es waren starke und mutige Menschen, aber trotz allem nicht stark und mutig genug, um gegen ein Rudel wilder Werwölfe anzukommen.

Vor ihnen erstreckte sich eine große Lichtung, auf der ein Bauernhof stand. Durch Ritzen in den geschlossenen Fensterläden konnten sie den Schein von Kerzen sehen.

Rafe schnupperte und machte fünf Erwachsene, vier Kinder und zwei Säuglinge aus. Geifer sammelte sich in seinem Maul. Alle waren gesund und kräftig, ihre Witterung verhieß ein gutes Mahl. Er sah in den Himmel. Irms herbeigezauberte Wolken waren ihnen gefolgt und legten einen schützenden Mantel über sie. Er musste sich daran erinnern, ihr nach ihrer Jagd dafür zu danken.

Rafe begutachtete das Gebäude. Es war aus festem Stein gebaut, das Dach bestand aus Tonschindeln. Das hieß, sie würden nicht durch die Wände oder das Dach eindringen können. Die Fensterläden dagegen schienen beinahe schlampig verarbeitet, Rafe entdeckte an einem ein schiefes Scharnier, ein anderer Laden war nicht sauber vernagelt worden. Beobachtend schlich er in der Deckung des Dickichts um das Haus. Der Stall war aus Holzbrettern und mit dem Wohnhaus verbunden, aber sie könnten dann wahrscheinlich nur durch eine schmale Tür angreifen. Das Risiko, dass zu viele seiner Wölfe verletzt oder gar getötet wurden, war ihm dann doch zu hoch.

Er müsste sie aus ihrem Haus locken.

Rafe legte sich flach auf den Bauch und robbte vorsichtig näher.

Er roch Schafe und Kühe im Stall. Er witterte intensiver. Und Pferde. Pferde waren wertvoll. Seine Wolfsschnauze verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen und er wich rückwärts zurück in den Schatten.


Seff und Velvel schlichen gegen den Wind auf die Seitenwand des Stalles zu. Eines der Schafe blökte, ein Pferd scharrte mit dem Huf. Sie warteten. Im Inneren des Wohnhauses hörten sie die Menschen lachen und reden.

Sie schlichen weiter.

Zu dem ersten Schaf gesellte sich ein zweites, als die beiden Werwölfe die Stallwand erreicht hatten und an ihr entlang schlichen. Velvels Ohren zuckten, doch auch jetzt reagierten die Menschen nicht. Seff legte sich flach auf den Boden, robbte sich bis zur Stallecke vor und linste um die Ecke. Niemand stand vor dem Haus. Er kroch weiter. Velvel folgte ihm lautlos.

Die Zwillinge hatten in ihrer Wolfsform Fähigkeiten, die so manchen Zirkushund erblassen lassen würde und waren in der Lage beinahe jede Tür zu öffnen. Es sei denn, sie war abgeschlossen und der Schlüssel abgezogen. Als sie vor dem großen Tor standen, stellte sich Velvel auf Seffs Rücken und dieser erhob sich langsam. Mit seinem Kopf schob Velvel den hohen Balken aus seinen Halterungen, sprang hastig vom Rücken seines Bruders, als das schwere Holz hinunterrutschte und fing mit einem leisen Ächzen den Balken mit seinem Körper ab, bevor dieser scheppernd auf dem Boden landen konnte. Seff kratzte an der offenen Tür, schob sie einen Spalt weit auf und huschte in das Dunkel des Stalls.

Jetzt mussten sie schnell arbeiten, die Tiere wurden unruhiger. Velvel wartete kurz, dann warf er den Balken von seinem Rücken und raste zu seinem Bruder in den Stall. Nur wenig später rannten drei panisch wiehernde Pferde durch die Tür, verfolgt von Velvel und Seff.

Im Haus kam Unruhe auf. Rafe hörte das Poltern, wie die Stimmen aufgeregter wurden und dann wurde die Haustür aufgerissen und ein Hüne von einem Mann stürmte heraus. In seiner Hand hielt er eine alte Schrotflinte.

„Vater, was ist los?“

„Die Pferde! Aylin, verriegle die Tür! Es sin…“


Rafe spurtete los, das Adrenalin jagte durch seinen Körper, er roch den Schweiß des Mannes, die Furcht hinter dem vorgetäuschten Mut, er warf den Kopf in den Nacken und jaulte laut. Seine Kameraden fielen in sein Heulen mit ein, als sie aus dem Dickicht sprengten, auf das Bauernhaus zu, auf ihr Fressen zu.

Warmes Herz, noch gefüllt mit dem Blut seines letzten Schlages, Leber, so saftig und sättigend, Lunge, Nieren, festes Fleisch, in Rafes Maul sammelte sich der Geifer beim Gedanken an das baldige Festmahl.

Eine junge Frau schrie, als Aatu und Zev vom Dach fielen, auf das sie geklettert waren, und floh ins Haus, die beiden Wölfe folgten ihr.

Rafe sprang, der Mann riss vor Entsetzen die Augen auf, große Wolfspfoten trafen ihn an der Brust, warfen ihn zu Boden, ein riesiges Maul mit langen scharfen Fängen, von denen Speichel tropfte, heißer Atem … Mit einem lauten Knacken verbiss sich Rafe im Gesicht des Mannes, brach Knochen, durchbohrte dünne Haut. Das rechte Auge platzte mit einem leisen Ploppen, als Rafe es zerbiss.

Seine Wölfe rannten an ihm vorbei ins Haus, Schreie ertönten, Möbel wurden umgestoßen. Die Wölfe knurrten, ein Schuss erschallte, ein schmerzerfülltes Jaulen, einer seiner Wölfe war getroffen, Schreie, die in Gurgeln übergingen.

Stille.

Stille und der übermächtige Geruch nach Blut.

Rafes Blut rauschte in seinen Ohren, machte ihn taub für alle Geräusche, Blutgier überkam ihn, er biss sich durch Rippen und Fleisch und grub seine Zähne tief in das Herz des Mannes und fraß es mit zwei großen Bissen. Die anderen traten zu ihm, mit einem wilden Knurren schnappte er nach ihnen, biss sie weg, das hier war seine Beute, nur seine, seine, ganz allein.

Ein Weinen.

Rafe hob erstaunt den Kopf.

Aatu trat aus der Tür, in seinem Maul trug er ein kleines plärrendes Bündel Mensch. Rafe knurrte ihn an. Säuglingsfleisch. Zart, saftig, er wollte es haben. Er ließ von seiner Beute ab und ging mit aufgestellten Ohren und erhobenem Schwanz auf seinen Bruder zu. Aatu knurrte warnend. Rafe erwiderte es herausfordernd. Er wollte dieses Menschlein haben. Er wollte seine Zähne in die weiche Haut bohren, wollte Stückchen um Stückchen dieses zarten Fleisches fressen. Aatus Knurren wurde tiefer. Er legte den Säugling ab und stellte sich beschützend über ihn. Rafes Nackenhaare stellten sich auf. Aatu widersetzte sich ihm. Zev tauchte neben Aatu auf, das zweite Menschenkind im Maul. Es strampelte wild und plärrte in einer entsetzlichen Lautstärke. Er legte das zweite Menschlein zu dem anderen unter Aatus Beine und näherte sich mit tippelnden Schritten seinem Leitwolf. Er brummte beruhigend, stupste Rafe sacht mit der Schnauze gegen die Wange und leckte ihm das Blut von den Lefzen. Rafe zwinkerte kurz.

Zev hatte recht. Sie würden sich nur schnell an dem großen Mann stärken, dann würden sie die Tiere zusammentreiben und die restlichen Menschen mit zurücknehmen. Er schüttelte sich, um wieder klarer Denken zu können. Zwei Jahre hatte er um jedes erjagte Bröckchen Fleisch kämpfen müssen. Er musste erst wieder lernen, zu teilen. Lernen, dass die anderen Wölfe um ihn herum ihn nicht töten wollten, ihm nicht sein Futter streitig machen wollten. Sie waren sein Rudel.

Er hob den Kopf, kläffte und die Wölfe fielen mit Heißhunger über den Leichnam des Mannes her.




6. Von einem Fest, zwei Nachrichtenvögeln und einem einsamen T-Dreieinhalb


Sie kamen kurz vor der Morgendämmerung zurück, im Gepäck hatten sie zehn Schafe, fünf Kühe und drei Pferde sowie drei Frauen, einen Mann, die vier Kinder und die beiden Säuglinge. Es würde ein prächtiges Festmahl werden. Irm betrachtete die Karawane neugierig von der Burgmauer aus.

Der Mann war verletzt. Er hielt sich einen blutigen Stumpf, wo bis zur gestrigen Nacht noch sein Unterarm gewesen war. Die Frauen und Kinder weinten leise. Sie überlegte sich kurz, ob sie sich die Verletzung des Mannes ansehen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Wozu sich die Mühe machen, er würde heute Abend eh gefressen werden. Einer der Werwölfe humpelte stark, sein Fell am Hinterlauf war blutverkrustet. Das würde sie sich allerdings ansehen.

Sie rannte die schmale Treppe von der Mauer hinunter, durch das Tor durch, auf die Werwölfe zu. Hastig zählte sie durch und atmete erleichtert auf. Es waren alle zurückgekehrt. Irm schlängelte sich durch die Werwölfe, ignorierte Rafes ungehaltenes Knurren, als sie ihn achtlos beiseiteschob und ging vor dem verwundeten Wolf in die Hocke.

„Halt still und lass mich sehen“, bat sie sanft. Irm tastete vorsichtig die Verletzung ab. Einschusslöcher von Schrotkugeln. Sie fauchte entrüstet. Der Werwolf fiepte vor Schmerzen.

„Die müssen raus, Otsoa. Ich bring dich zum Arzt.“

Otsoa maunzte zustimmend. Mit Irm als Stütze ließ er sich zum Arzt bringen, der ihnen schon entgegeneilte.

„Was hat er?“ Der sanftmütige Mann mit dem weißen Bart und kahlem Kopf sah Irm besorgt an.

„Schrotkugeln!“, rief Irm ihm zu. Der Arzt fluchte, drehte auf dem Absatz um und hastete so schnell seine alten Beine konnten wieder zurück in sein Haus, um den Behandlungsraum vorzubereiten. Irm und der Werwolf folgten ihm.

„Gut, dass du da bist, Irm! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alleine einen Werwolf in Wolfsgestalt zu verarzten. Und bis die anderen ruhig genug sind, dass sie beruhigend auf ihn einwirken könnten, dauert es nach der Jagd immer zu lange. Das verkompliziert die Operationen immer erheblich. Entzündungen, die Knochen beginnen schon wieder zusammen zuwachsen, ach, es ist ein Elend, mein Kind! Aber dir vertraut er, also wird er ruhig bleiben. Das wirst du doch, Otsoa, oder muss ich dich fixieren?“ Stahlgraue Menschenaugen bohrten sich in goldene Wolfsaugen, dann fiepte Otsoa zustimmend. Der Arzt lächelte zufrieden.

„Guter Junge. Schaffst du ihn allein auf den Tisch oder brauchst du Hilfe?“


Als Irm gemeinsam mit einem humpelnden und in eine Decke gewickelten Otsoa das Haus des Arztes verließ, war es schon später Vormittag. Der junge Werwolf blinzelte ins helle Sonnenlicht. Er war noch etwas blass um die Nase. Nachdem sie ihm die Ladung Schrot aus seinem Hintern entfernt hatten, hatte der Arzt hartnäckig darauf bestanden, dass Otsoa sich wieder zurück in einen Menschen verwandelte. Es hatte ihn unglaublich angestrengt und danach war er vor lauter Erschöpfung eingeschlafen.

„Schaffst du es zu Fuß in die Burg oder soll ich einen Karren besorgen?“, witzelte Irm liebevoll. Ostoa schnitt ihr eine Grimasse.

„Du könntest mich auch Huckepack nehmen“, schlug er vor, während sie gemächlich durch das Dorf spazierten. Irm lachte.

„Davon träumst du wohl!“, wehrte sie entrüstet ab.

„Vielleicht trägt mich ja Rafe“, scherzte er leise, als ihnen auf halber Strecke Rafe und Zev entgegeneilten. Irm verkniff sich tapfer ein Lachen.

„Wohl eher nicht“, raunte sie Otsoa noch zu, dann hatte Rafe ihn schon ein eine Umarmung gezogen. Beinahe hektisch tastete er seinen Rudelbruder ab. Irm tippte ihm auf die Schulter.

„Ich will mich ja nicht einmischen, aber wenn du ihm unbedingt an die Wäsche gehen willst, solltest du das vielleicht nicht gerade mitten im Dorf machen“, schlug sie verschwörerisch vor. Zevs Kiefermuskeln verkrampften sich schlagartig. Rafe sah sie erst verwirrt, dann entrüstet an.

„Ich … also … ich gehe ihm nicht an die Wäsche!“, verteidigte er sich aufgebracht. „Ich will mir nur sicher sein, dass es ihm gut geht!“

Irm hob nur die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ja, klar. Genau danach sah es auch aus“, spottete sie gut gelaunt. Otsoa gab ihr einen kräftigen Schubs, der sie beinahe über einen Zaun fliegen ließ. Irm kämpfte sich wieder auf die Beine und nestelte ihren Rock zu Recht.

„Lass das!“, tadelte er lachend. Rafe hob die Hand, setzte zum Sprechen an und kniff kritisch die Augen zusammen.

„Ich hab’s schon kapiert“, sagte er drohend. Irms Blick war voller Unschuld. Sie verschränkte ihre Hände hinter ihrem Rücken, biss sich auf die Unterlippe und blinzelte Rafe mit großen, treuen Augen an. Zev brach der Schweiß aus. Wenn er nicht gleich loslachen konnte, würden ihm sämtliche Adern im Kopf platzen. Er hastete hektisch zurück in die Burg, von wo man, kaum dass er durch den Torbogen getreten war, lautes Lachen hörte.

Rafe seufzte laut und ließ die Schultern hängen.

„Du machst mich fertig, Weib“, stellte er resigniert fest.

„Jetzt schon? Wow, gas ging schnell.“ Irm lachte, schlang ihren Arm um Otsoas Hüfte und dirigierte ihn weiter zur Burg.

„Das machst du absichtlich mit mir, habe ich recht?“, vermutete Rafe treffsicher. Er schloss zu den beiden auf und stützte Otsoa auf dessen anderer Seite.

„Niemals. Wie kommst du nur auf so eine Idee? Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als den Anführer der Wilden Werwölfe öffentlich bloßzustellen! - Tz! Also, bitte! Schon allein dieser Gedanke ist aber so was von absurd!“, deklarierte Irm dramatisch und ihre hellbraunen Augen blitzen dabei schelmisch. Rafe schüttelte den Kopf.

„Du redest zu viel“, bemerkte er gespielt mürrisch.

„Ich weiß. Das hat meine Tante auch immer gesagt“, erwiderte Irm lapidar.

„Das heißt, dass du deinen Mund halten sollst.“

„Ich weiß, aber das interessiert mich nicht.“ Irm grinste unbekümmert, während sie gemeinsam mit Rafe, Otsoa zur Burg schleifte. Der hing zwischen den beiden, ließ sich bereitwillig schleppen und lauschte begeistert ihrer freundschaftlichen Neckerei. Als er im Burghof Zev erblickte, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Gebt mir mal den armen Kerl hier“, befahl Zev in einem väterlichen Ton und nahm Irm und Rafe Otsoa ab.

„Komm, mein Junge, ich bring dich auf dein Zimmer, dann kannst du ruhen. Du musst heute Abend wieder fit sein.“ Zev nahm Otsoa kurzerhand auf den Arm und trug in die Burg.

Irm beugte sich verschwörerisch zu Rafe.

„Du, der nimmt dir deinen Kerl weg“, behauptete sie mit weit aufgerissenen Augen. Rafe überlegte angestrengt, ob er ihr nicht eine kleine Kopfnuss geben konnte, und entschied, es einfach zu tun. Irm schrie ein erschrockenes „Au!“, als seine Fingerknöchel auf ihrem Hinterkopf landeten und druckte sich hastig weg.

„Na, warte!“, drohte sie grimmig und sah sich hektisch nach was auch immer um. Rafes Blick wurde spöttisch. Wollte sie ihn etwa mit etwas bewerfen?

Kaum hatte er den Gedanken ausgedacht, als eine Ladung Schnee auf ihn niederprasselte. Schnee? Rafe quiekte, als ihm etwas davon in den Kragen fiel und seinen Rücken hinunterrutschte.

„Verdammt noch mal! Schnee?“, japste er, zerrte sein Hemd aus der Hose und schüttelte es hektisch aus. Irm zuckte nur mit den Schultern.

„Du hast mich gehauen!“, warf sie ihm vor.

„Und du hast ein vorlautes Mundwerk!“, gab er zurück.

„Du hast mich trotzdem gehauen!“, jammerte sie trotzig.

„Weil du ein viel zu vorlautes Mundwerk hast!“, wiederholte Rafe und fluchte herzhaft, als er spürte, wie Schnee in seiner Hose schmolz. Irm grinste triumphierend.

„Soll ich mich etwa vor Angst vor dir in einer Ecke verkriechen und zittern?“, schlug sie schnippisch vor. Rafe, der einen zugegebenermaßen recht wilden Tanz mit Schnee in der Hose aufführte, hüpfte um die eigene Achse, um Irm wieder ins Gesicht sehen zu können.

„So lange du dabei die Klappe hältst, gerne!“, gab er zurück. Irm schwieg und biss sich fest auf die Unterlippe. Erst war Rafe der festen Überzeugung, seine Worte hätten ein wahres Wunder bewirkt und die Hexe würde auf ihn hören und endlich still sein, dann war er der festen Überzeugung, er hätte sie jetzt ernsthaft in ihren Gefühlen verletzt. Doch als Irms Gesicht rot anlief, ihre Augen sich mit Tränen füllten und ihr Atem sich wie ein grunzendes Schnauben anhörte, war ihm klar, dass sie sich das Lachen verkniff.

„Was ist denn nun schon wieder?“, fauchte er mürrisch.

„Rafe! Also wirklich!“, tadelte Aatu im Vorbeigehen und die Augen seines Bruders blitzen. Rafe starrte ihn leicht beschränkt an.

„Was denn? Was ist denn nun … schon. Wieder.“ Rafe spürte die kalte Nässe an seinen Oberschenkeln. Nein, er würde jetzt nicht nach unten sehen. Diesen Gefallen würde er keinem der beiden tun. Rafe straffte seine Schultern, räusperte sich und schritt so erhaben er nur konnte zur Burg. Zwischen seinen Beinen prangte ein großer nasser Fleck geschmolzenen Schnees auf seiner Hose.

Hinter sich hörte er Aatus unterdrücktes Gelächter und Irms atemloses Schnauben. Nicht umdrehen, sagte er sich. Nicht umdrehen und nicht nach unten sehen.

Rafe öffnete die Tür, trat ein und ließ sie leise ins Schloss gleiten.


Das Fest war das schönste Rudelfest, an dem Irm je teilgenommen hatte.

An unzähligen Feuerstellen brutzelte Fleisch: Lamm, Schwein, Rind, Huhn, Ente, Gans - und Mensch. Allerdings machte Irm um letztere Feuerstellen einen großen Bogen. Sie hatte zwar keine Probleme damit, dass Menschen gegessen wurden, aber sie musste sie nicht am Spieß hängen sehen. Von selber essen ganz zu schweigen. Es wurde Bier getrunken, Met, Wein, sogar die Kinder bekamen Krüge mit stark verdünntem Alkohol. Zev forderte sie zum Tanzen auf und sie hüpfte zu fröhlicher Fidelmusik im Arm des Werwolfs um die Feuerstellen herum, die Feiernden johlten und grölten, dann wurde sie von Seff am Handgelenk geschnappt und von ihm im Takt der Musik im Kreis gedreht. Velvel verlor Armdrücken gegen Ruud und Ruuds Flamme Sanda sang zu Tränen rührende Lieder über verlorene Liebe.

Irm zeigte ihre Budenzauber, mit denen sie sich bislang über Wasser gehalten hatte. Zur Freude der Kinder verabreichte sie den Bonbons essbare Haare aus Zucker, ließ ein gebratenes Hühnchen über den Tisch laufen und jonglierte mit Feuerbällen. Später, als der Mond hoch am dunklen Himmel stand, erzählte sie einige Geschichten von ihrer Wanderschaft.

Rafe lauschte ihren Erzählungen, während er seinen Blick über das Fest schweifen ließ. Sie war nun seit drei Monaten hier und sie fügte sich hier in die Gemeinschaft ein, als wäre es nie anders gewesen. Er konnte sie nicht mehr gehen lassen. Nicht, nachdem was er die letzten Tage alles gehört hatte. Das Dorf war zufrieden mit ihr. Die Menschen vertrauten ihr, der Arzt vertraute ihr. Sein Rudel vertraute ihr. Er hatte lange mit dem Dorfältesten geredet und der hatte Rafe ziemlich direkt auf den Kopf zu gesagt, was der schon geahnt hatte.

Irm war die Rudelhexe.

Der Satz echote durch seine Gedanken. Er hatte Aatu versprochen, dass sich nie wieder ein Zauberer oder eine Hexe dieses Rudels bemächtigen würde und nun stand er vor dem Problem, dass es da eine Hexe gab, die aus irgendeinem Grund hier her gehörte.

Sandas nachdrückliches Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken.

„Du bist ungebunden, also musst auch du tanzen“, verlangte sie mit einem Lachen. Rafe stöhnte gespielt auf.

„Oh, nein, Sanda, bitte!“, jammerte er theatralisch und erhob sich von der Bank. Sanda lachte nur übermütig, packte sein Handgelenk und zog ihn auf den Marktplatz.

Es war die Zeit für den Perlentanz.

Rafe stellte sich in die Reihe und ließ sich von Sanda eine Perlenkette um das rechte Handgelenk binden.

Der Perlentanz war eine alte Tradition aus längst vergangener Zeit, dem man nachsagte, er kette zusammen, was zusammengehöre. In ihrer Gegend waren viele glückliche Ehen durch diesen Tanz geschlossen worden. Im Laufe der Jahrhunderte hatte er an Gewichtigkeit verloren, aber sie tanzten ihn immer noch an jedem größeren Fest und tatsächlich lagen die Ketten oft genug richtig und verbanden Paare, die zusammengehörten.

Es war die Pflicht jedes ungebundenen Bewohners der Burg und des Dorfes, daran teilzunehmen, in der Hoffnung, dass die Perlenkette, die jeder Tänzer um sein Handgelenk gewickelt hatte - die Männer am rechten, die Frauen am linken -, sich mit der Kette des richtigen Partners verknotete.

Es war ein albernes Herumgehüpfe voll komplizierter Schrittfolgen, mit wildem Herumwirbeln und Drehen und viel Gelächter, denn, so sagte auch die Geschichte dieses Tanzes, eine Beziehung musste immer in Freude beginnen und in Trauer enden.

Und hatten die Perlen ein Paar gefunden, dann musste dieses zusammen den letzten entscheidenden Tanz tanzen, der beweisen sollte, ob sie miteinander harmonierten oder nicht.

Die Musik begann das Perlentanzlied und der große Ring der Tanzenden setzte sich um die Feuerstellen herum in Bewegung. Irm stand etwas verloren und hilflos zwischen Velvel und Seff und versuchte, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern und dabei hatten die beiden ihr versichert, dass sich das Tempo erst noch steigern würde. Sie war für so etwas einfach nicht geschaffen! Dumm nur, dass sie ungebunden war und somit mittanzen musste. Irm quiekte erschrocken, als Seff sie an der Hüfte packte und quer über die Tanzfläche wirbelte, bis sie in Zevs Armen auf der anderen Seite des Ringes landete. Irm Vorbeifliegen hatte sie zu sehen geglaubt, dass es noch mehr Frauen so ergangen war.

„Gewöhn dich schnell daran, das ist erst der Anfang“, raunte Zev ihr zu, drehte ein paar Runden mit ihr und schubste sie dann von sich.

Ihr Protest ging in der Musik und dem Klatschen der Zuschauer unter.

Irgendwann, als die Musiker so schnell spielten, dass die Noten in einen einzigen Klang übergingen, das Klatschen und Johlen der Verheirateten um sie herum so laut wurde und das Gelächter der Tänzer in Irms Ohren dröhnte, war sie sich nicht mehr sicher, wo oben und wo unten war. Sie wurde in alle Richtungen gedreht und geschoben, sie fegte an anderen Frauen vorbei, denen es nicht anders erging und fühlte sich mit einem Schlag wie berauscht.

Das Gelächter, die Musik, die vielen flackernden Feuerstellen, Gesichter, die schemenhaft auftauchten und wieder verschwanden.

Ihre Hände wurden gepackt, Irms Finger schlossen sich automatisch darum und Rafe wirbelte sie mit sich wild im Kreis herum. Irm lachte und Rafe erwiderte ihr Lachen, dann gab er ihr einen Stoß, Irm fegte davon und landete in anderen Armen.

Der erste Jubel ertönte, Irm drehte neugierig den Kopf und sah Ruud und Sanda, deren Ketten sich fest miteinander verknotet hatten. Sie wurde weitergedreht, als sie schallendes Gelächter hörte. Zev und Velvel standen wie zwei Gladiatoren in der Arena und hielten ihre verbundenen Hände in die Höhe. Irm war ehrlich gespannt, auf ihren gemeinsamen Tanz. Sie lachte und flog in die Arme des Sohnes des Dorfältesten. Irm hatte vergessen, wie er hieß, aber sie hoffte, er würde es ihr nachsehen, momentan war in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander. Sie tanzten eng an anderen Tänzern vorbei.

„Die Perlen haben wohl nicht immer recht“, scherzte er gut gelaunt. Timothy? Thomas? Sebastian?

Franklyn!, schoss es ihr durch den Kopf, dann hielt sie schon jemand anders im Arm. Annabeth, die Tochter der Schneiderin Holga, lachte schallend, als sie mit Irm einen wilden Tanz aufführte und Irm hoffte, dass sie nicht an Annabeth gekettet werden würde. Nichts gegen Annabeth, aber Annabeth war nun mal eine Frau und dann hing sie in Seffs Armen. Der wäre genauso unpassend, kicherte ihr Verstand und Irm lachte albern.

„Ich will dich nicht!“, beschwerte sie sich kichernd und vollführte mit ihm einen Hopser eng um ein anderes Paar herum.

„Du gehörst auch nicht zu mir!“, behauptete er unbekümmert. Er packte Irms Hüften und wirbelte sie ungestüm von sich. Irm kam aus dem Tritt, stolperte und wurde von der straffgezogenen Perlenkette an ihrem linken Handgelenk vor dem Fall in ein Feuer gerettet.

Es wurde still um sie. Irm machte hastig einen Satz vom viel zu nahen Feuer weg und prallte gegen eine Brust. Die Stille war beinahe greifbar. Wenn sie jetzt einfach so stehen blieb und sich einfach nicht umdrehte, sondern versuchte, die Perlenkette wegzuhexen, wäre das zwar Betrug, aber irgendwie war ihr nicht wohl im Moment. Wollte sie wirklich wissen, weshalb alle verstummt waren?

„Alberner Aberglaube. - Wir müssen trotzdem tanzen.“

Irm nickte zustimmend, drehte sich zu ihrem mit Perlen verbundenen Partner um und schenkte Aatu ein unbekümmertes Strahlen. Verflucht sollten diese Perlen sein! Und verflucht sollte sie sein, wenn sie sich auch nur irgendetwas anmerken ließ. Hundert ledige Männer auf diesem verdammten Platz und sie hing an Aatu fest. Schicksal, du bist eine boshafte Schlampe, fluchte sie im Stillen.

„Ich hoffe, du kannst tanzen“, forderte sie ihn heraus. Aatu schnaubte nur, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich.

„Ich hoffe, du kannst tanzen“, gab Aatu eisig zurück. Irm grinste herablassend.

„Lass es uns einfach ausprobieren“, schlug sie betont höflich vor. Statt einer Antwort, nahm Aatu ihre linke Hand und machte den ersten Schritt.

Irm hatte noch nie so gerne getanzt, wie in diesem Moment mit Aatu. Der Werwolf führte mit einer lässigen Eleganz, seine Schrittgröße harmonierte perfekt mit ihrer, Aatu schickte Irm in eine Drehung und presste sie danach wieder fest an sich. Seine hellen Augen bohrten sich in ihre, während sie Runde um Runde drehten.

Als das Lied verklang und sich Aatu beinahe augenblicklich von ihr löste, stellte Irm mit leisem Bedauern fest, dass sie gerne noch weitergetanzt hätte. Sie sah sich suchend nach ihrem Krug um, entdeckte ihn auf einem Tisch und machte einen Schritt in seine Richtung, als sie sich fast den Arm auskugelte.

„Aatu!“, rief sie über das neu begonnene Lied hinweg und hob den Arm.

„Wir hängen noch aneinander!“

Aatu murmelte etwas, was ein „Aber hoffentlich nicht mehr lange“ gewesen sein mochte, dann begann er, an den verknoteten Perlen herumzuziehen. Er fluchte verhalten. Wie hatte dieses Weibsbild es geschafft, die Ketten so miteinander zu verknoten? Das war Hexerei!

Seff stellte sich neben ihn.

„Tja, ja“, meinte er gelassen, „Manch verbundene Dinge lassen sich nur durch rohe Gewalt voneinander trennen.“

Er schenkte Aatu einen zweideutigen Blick, dann trennte er mit seinem Messer die Ketten auseinander.

„Welche traurige Melodei“, kommentierte er das leise klimpernde Geräusch der auf dem Boden landenden Perlen. Seff lächelte unergründlich, steckte sein Messer wieder ein und ließ beide stehen. Irm sah ihm mit gerunzelter Stirn nach.

Sie hatte nicht wirklich lange Zeit, um nachzudenken, Vukasin hüpfte an ihr vorbei, schnappte sie an der Taille und zog sie einfach mit sich. Irm machte sich eine geistige Notiz: Wer hier nicht tanzen wollte, sollte sich nicht zu nahe an der Tanzfläche aufhalten. Aatus starrer Blick ging in der Menge unter.


Aatu lag auf dem Rücken ausgestreckt auf dem Dach des Wohngebäudes der Burg und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seinem nackten Oberkörper. Es war ruhig heute, die meisten lagen noch in den Betten und schliefen ihre Räusche aus oder was auch immer sie bis tief in die Nacht hinein getrieben hatten. Er selbst war kurz nach dem Perlentanz zu Bett gegangen, die Jagd der vorigen Nacht steckte noch in seinen Knochen. Aatu schnaubte leise. Er bezweifelte, dass irgendjemand diese Ausrede geglaubt hatte. Es war ihm egal. Er rekelte sich genüsslich und versuchte zu verdrängen, dass unten im Hof Irm irgendwelche Zaubertricks probierte. Manchmal gab es ein leises Puffen, manchmal fiel etwas um, aber keines der Geräusche störte ihn ernsthaft. Er hörte, wie sich Derne und Flöckchen hinter ihm die Mauer entlangschlichen, wahrscheinlich suchten sie einen Platz, an dem sie ungestört waren. Aatu grinste schief.

Er hätte nicht gedacht, dass Irm so gut tanzen konnte, auch wenn er wusste, dass sie im großen Süd-West-Wald-Rudel aufgewachsen war. Es hatte sogar richtig Spaß gemacht, mit ihr zu Tanzen. Sie hatte so gut in seinen Arm gepasst, ihre Hand so gut in die seine. Ihre Schritte waren seinen gefolgt, als hätten sie nie etwas anderes getan. Sie hatten besser harmoniert, als er und … Nein! Nein, nein, nein! NEIN! Daran würde er jetzt nicht denken, er würde jetzt überhaupt nicht an irgendetwas denken, was auch nur ansatzweise in die Richtung gehen könnte!

Sie war seinem Blick kein einziges Mal ausgewichen, als sie getanzt hatten, nicht einmal Isabelle hatte das gekonnt.

Verdammt noch mal! Aatu schnellte in die Höhe. Er hatte keine Lust mehr, an Isabelle zu denken oder an Irm oder an sonst irgendein Weibsbild!

Ihre funkelnden Augen, so voller Trotz und Herausforderung … Aatu legte den Kopf in den Nacken und schnaubte mürrisch. So würde er noch wahnsinnig werden, das wusste er. Ein dunkler, schnell größer werdender Fleck am Himmel lenke seine Aufmerksamkeit weg von unliebsamen Weibern.

Da kam ein Nachrichtenvogel.

Aatu sprang behände auf die Beine und sah dem großen Greifvogel zu, wie der über seinen Kopf hinweg flog. Der Vogel stieß ein lautes Kreischen aus, um sich anzukündigen, und landete auf der großen Stange für Nachrichtenvögel. Perfekt! Das war genau die Ablenkung, die er jetzt brauchte! Hastig kletterte Aatu vom Dach und rannte zu dem Vogel, bei dem schon Rafe stand und ihm die in Leder gehüllte Schriftrolle vom Knöchel band. Sein Bruder sah etwas verkatert aus, wie Aatu belustigt feststellte.

„Was ist das?“, fragte er neugierig. Rafe sah ihn kurz tadelnd an, wickelte das Schutzleder ab und rollte das Papier auseinander. Der Hof begann, sich mit Neugierigen zu füllen.

„Die vierteljahrhundertliche Versammlung der Rudel ist in drei Wochen. Und da wir ja offensichtlich einige entscheidende Veränderungen in unserem Rudel haben, werden wir dringend dazu angehalten, daran teilzunehmen“, klärte Rafe auf, nachdem er das Schriftstück gelesen hatte. Ein gellender Schrei hallte durch die Luft und die Werwölfe hoben ihre Köpfe. Ein weiterer Nachrichtenvogel verlangte, landen zu dürfen, um seine Nachricht abzugeben. Es war ein bunt schimmerndes Tier. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Irm zog eine Flunsch.

„Komm runter und hör auf zu schreien“, motzte sie das Tier an und hob ihren Arm in die Luft. Der bunte Vogel landete elegant auf ihrem Unterarm, ohne ihre Haut mit seinen Krallen zu verletzen. Irm wickelte die Nachrichtenrolle von seinem Fuß.

„Hier. Hock dich aufs Fass.“ Irm gab dem Tier einen unsanften Stups in die gewünschte Richtung und der Vogel flatterte meckernd auf ein Holzfass in der Nähe. Jetzt ruhten alle Augen voll unverhohlener Neugier auf Irm. Die entrollte ihre Nachricht, überflog sie eilig und schnaubte gereizt.

„Meine Tante erwünscht meine körperliche Anwesenheit beim Treffen der Rudel. Ich soll pünktlich und mit angemessener Kleidung dort erscheinen und bitte nicht vergessen, dass ich ein gewisses Rudel dort repräsentieren werde“, verkündete sie lustlos. Mit einem jammernden Klagelaut verdrehte sie die Augen und warf sich auf einen Ballen Heu.

„Ich will da nicht hin!“, quengelte sie und wirkte, als ob sie aufs Schafott gezerrt würde.

„Du blöder Vogel, wie hast du mich gefunden?“, warf sie dem prächtigen Tier vor. Es ignorierte sie.

Soll ich es fressen, dann können wir so tun, als ob du die Nachricht nie bekommen hättest, wie bei der Einladung zu Primus Raulfs Mannesfeier?, schlug Flöckchen hilfsbereit vor und Rafe presste mit einem entsetzten Schrei seine Handflächen gegen seine Ohren.

Was um alles in der Welt war das denn für eine Stimme? Und war er der Einzige hier, der das Gefühl hatte, diese Stimme fräße sich durch seinen Gehörgang bis ins Gehirn und verwandelte dort alles in blutige Schmerzen und Eis? Seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Hör auf zu spinnen, Rafe, man gewöhnt sich mit der Zeit daran“, tadelte Aatu und verdrehte schnaubend die Augen. Nicht einmal er hatte sich so angestellt, als er Flöckchens Stimme das erste Mal gehört hatte. Allerdings hatte er auch auf der Mauer gestanden und nicht direkt neben ihr. Er grinste kurz diabolisch. Rafes Reaktion auf Flöckchens Stimme schenkte ihm leichte Genugtuung.

Rafe nahm zögernd seine Hände vom Kopf.

„Sie spricht?“, fragte er dümmlich.

Natürlich spreche ich. Ich bin ein Dämon, kein banaler Waldgeist. Flöckchens Blick war eindeutig beleidigt. Seff bückte sich eilig, nahm das kleine Wesen hoch und drückte es an sich.

„Sei ihm nicht böse, er kennt sich noch nicht so gut mit Dämonen aus, wie wir“, tröstete er Flöckchen, gab ihr einen Kuss auf den Kopf und wiegte sie in seinen Armen.

„Weißt du, er ist noch ziemlich neu hier“, wisperte er scherzhaft. Rafe musste gestehen, das Gelächter hatte er verdient.

„Es tut mir leid. - Flöckchen?“, hakte er nach. Seff nickte zustimmend.

„Flöckchen. Ein bezaubernder Name. Passt zu dir“, schmeichelte Rafe und Irm tat, was sie hier dauernd tat, und worin sie mittlerweile eine wahre Meisterin geworden war; sie verdrehte die Augen.

„Boah, Rudelanführer!“, meckerte sie auf ihrem Heuhaufen, „Wenn‘s bei der einen mit den Psychotricks nicht klappt, holen sie sich gleich die nächste!“

Sogar Aatu lachte über ihren lahmen Scherz. Nicht, weil er so witzig war, sagte er sich störrisch, sondern weil es Gruppenzwang war. Ja. Genau. Das glaubte nicht mal er selber. Er räusperte sich energisch.

„Und, gehen wir hin?“, fragte er seinen Bruder. Rafe schürzte die Lippen.

„Sollten wir. Das letzte haben wir geschwänzt“, meinte er nachdenklich.

„Ihr Armen“, bemitleidete Irm gehässig. Sie würde den Vogel wieder von Flöckchen fressen lassen. Oder sie würde behaupten, sie hätte die Nachricht nicht früh genug erhalten und sei zu weit weg gewesen, um noch rechtzeitig zu erscheinen. Mit einem Strahlen auf dem Gesicht richtete sie sich wieder auf.

„Genau. Das mach ich. Flöckchen, Beine eineisen“, befahl sie und zeigte auf den Vogel. Ehe auch nur einer reagieren konnte, hatte das arme Tier zwei Eisklötze als Füße. Es krähte panisch und flatterte wild mit den Flügeln.

„So, ihr Lieben. Ich mach mich dann mal auf den Weg. Und zwar ganz schnell ganz weit weg. Drei Wochen. Das heißt, ich muss irgendwo hin, wo es noch eine Woche länger zum Versammlungsort dauert. Derne, wolltest du nicht schon immer mal gern auf die Vulkaninseln? Was hältst du davon, wenn wir da jetzt hinfahren? Flöckchen, du kannst einen Vulkan vereisen lassen, das ist doch prima. T-Dreieinhalb, hopp-hopp, wir fahren los!“, scheuchte sie ihre Reisetruppe zusammen, doch weder Derne noch Flöckchen noch T-Dreieinhalb machten Anstalten, sich zu bewegen. Derne starrte Irm nur schweigend an.

„Das ist die beste Idee, die du je hattest“, stimmte Aatu ihr zu, unterbrach unwissentlich Derne, der Irm gerade etwas sagen wollte und ignorierte die wirklich bösen und fassungslosen Blicke von seinem Rudel. Sie wussten alle, dass Aatu Irm nicht mochte, weil sie eine Hexe war, aber sie so direkt aus der Burg werfen, das war wirklich das Letzte. Er ignorierte das empörte Gemurmel seines Rudels hochmütig. Mit einem abgrundtief gehässigen Grinsen auf dem Gesicht trat er zu Irm, legte ihr den Arm um die Hüften und drückte sie an seine Seite. Irm erstarrte. Es war das erste Mal, dass Aatu sie freiwillig berührte. Der gestrige erzwungene Tanz zählte bei Irm nicht wirklich als freiwillig. Musste er froh sein, dass sie wieder ging, wenn er sich dazu hinreißen ließ.

„Wir fahren alle mit T-Dreieinhalb zur Versammlung! Rafe, er wird dich umhauen! Er bietet Platz für ein halbes Land und Irm muss sowieso in dieselbe Richtung wie wir.“

Irms Blick wurde erst erschüttert, dann verkniffen.

„Du mieser, kleiner …“, zischte sie wütend und versuchte, sich aus Aatus schraubstockartiger Umarmung zu lösen.

„Gern geschehen, Rudelhexe.“ Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange, dann ließ er sie los und schlenderte gelassen zur Burg.

Wenn er sie schon nicht mehr loswerden würde, dann sollte sie schon ganz da bleiben. Dann könnte er sie gleich mit in den Wahnsinn treiben, wenn sie ihn schon in selbigen trieb!

Rafe starrte nicht weniger erschüttert seinem kleinen Bruder hinterher, wie Irm und das gesamte Rudel. Hatte ausgerechnet sein Bruder Aatu, der sich geschworen hatte, nie wieder einen magischen Menschen auch nur eine Zehenspitze hier hereinsetzen zu lassen, hatte eben ausgerechnet Aatu beschlossen, dass Irm ab jetzt ihre neue Rudelhexe war?

Er hatte irgendwann in den letzten zwei Jahren etwas Entscheidendes verpasst, dessen war er sich verdammt sicher.


Irm tobte, Irm bettelte.

Irm argumentierte.

Irm drohte und flehte und schließlich gab sie beleidigt auf.

Neun Tage am Stück hatte dieses Weibsbild ununterbrochen geredet, mal laut, mal leise, mal zornig und dann wieder herzerweichend sanft. Rafe rieb sich die schmerzenden Schläfen und genoss die Stille. Gegen diesen verbalen Frontalangriff war Flöckchens Stimme eine sanfte Sonate an Lieblichkeit. Irm hockte im Schneidersitz in der hintersten Ecke des Burghofes auf einem Strohballen, die Arme vor der Brust verschränkt und blitzte abwechselnd ihn und seinen Bruder böse an.

Sie wollte keine Rudelhexe sein, sie war nicht gemacht, um mit Werwölfen zusammenzuleben. Rudelhexe sein brachte Verantwortung mit sich und sie wollte diese Verantwortung nicht. Sie wusste ja überhaupt nicht, wie sie mit dieser Verantwortung umzugehen hatte. Ihre Tante Estelle hatte ihr von klein auf klar gemacht, dass Irm nie eine Rudelhexe werden würde, weil ihr das zauberische Talent und die Ausstrahlung und einfach alles dazu fehlten. Dementsprechend war Irm auch nie darin geschult worden.

Stumme Verwünschungen fluchend warf sie ihre Arme in die Luft und schmollte noch mehr.

So schlecht war sie gar nicht mehr im Zaubern und bis auf T-Dreieinhalb waren ihr gar nicht so viele Zauber schief gegangen. Das Loch in der Schlosswand hatte ihre Tante mit drei Fingerschnipsen wieder zugehext bekommen und Primus Raulfs Blind- und Taubheit, die ihn urplötzlich befallen hatte, war streng genommen kein Ausrutscher gewesen, sondern volle Absicht, weil er seiner Schwester mal wieder grundlos wehgetan hatte.

Das hatte Aatu nur getan, weil er sie hasste, da war sie sich sicher. Sie hexte eine kleine Eisfläche unter Aatus Fuß, gerade groß genug, dass er darauf ausrutschen konnte und ein leicht boshaftes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als der Werwolf mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte. Sie kicherte verhalten. Der kleine Lederball, mit dem Derne immer Apportieren spielte, klatschte ihr mitten auf die Stirn und landete dann ihn ihrem Schoß. Irm blitzte Aatu an.

„Das hat wehgetan!“, entrüstete sie sich, nahm den Ball in die Hand und pfefferte ihn mit ein bisschen Unterstützung von herbeigezaubertem Wind zurück in Aatus Richtung. Der fing ihn elegant auf und verneigte sich.

„Das sollte es auch“, erwiderte er gönnerhaft und nahm seinen Weg wohin auch immer wieder auf. Irm schickte ihm einen Windstoß in den Rücken, der ihn kurz vom Boden abheben ließ. Die Antwort von Aatu kam umgehend; der Ball schlug ihr fest gegen den rechten Oberarm und hinterließ einen schmerzenden roten Fleck.

„AU!“

Irm sprang vom Strohballen und marschierte entschlossen auf ihn zu. In Flammen aufgehen lassen? - Nein, zu brutal. Ihm Froschbeine anhexen? - Hm, schon besser. Warzen im Gesicht wachsen lassen, wie Schimmelpilze? - Oh, ja, das war das Richtige, denn dieser blöde Werwolf war aber mal so was von eitel!

„Das hast du nicht um…“ Weiter kam Irm nicht; Rafe stieß einen schrillen Pfiff aus, der sie sofort verstummen ließ. Sie verdrehte entnervt die Augen.

„Ich bin nicht dein Hund, Rafe!“, brüllte sie gereizt. Diese neue Marotte von Rafe, das er Irm herbeipfiff wie einen Hausköter, ging ihr mächtig auf die Nerven.

„Denk dran, auch ja schön brav Sitz zu machen, wenn du vor ihm stehst“, frotzelte Aatu und tätschelte ihr den Kopf. Irms Faust landete zielgenau in seinem Magen und ließ ihn ächzend zusammenklappen.

„Volldepp!“, knurrte sie ihn an, drehte auf dem Absatz um und stolzierte erhobenen Hauptes zu Rafe.

Seff hüpfte auf Aatu zu, auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen.

„Euer Balztanz hat was, ehrlich. Also wenn man es brutal mag“, witzelte er und wich Aatus fliegender Faust behände aus. Er giggelte albern.

„Ernsthaft jetzt, ich glaube nicht, dass das die richtigen Signale aussendet.“ Seffs Blick wurde mit einem Schlag sehr ernst. Aatu knirschte laut mit den Zähnen.

„Noch ernsthafter; der Schneider ist da und braucht dich zum Anpassen. Na los, komm mit. Wir wollen doch alle gut aussehen, wenn wir da aufschlagen.“ Seff knuffte Aatu sanft in die Rippen, legte einen Arm um ihn und zog ihn mit sich.

„Selbst ich, der nicht wirklich viel Ahnung von Frauen hat, weiß, dass sie mehr auf Rosen und Schokolade stehen, als auf blaue Fleck-uff!“, keuchte er, als ihm Aatus Faust, die in seinem Solarplexus landete, die Luft aus den Lungen trieb. Aatu ließ seinen vor Schmerzen ächzenden Rudelbruder auf dem Boden liegen und ging weiter.

Schokolade und Rosen! Soweit kam‘s noch!


„Neue Kleider? Ernsthaft jetzt? Ich hab doch eigene Kleider!“

Hörte Aatu Irm jammern, als er in die große Halle der Burg trat. Er grinste leicht boshaft, als er an ihr vorbei zum wartenden Schneider ging. Rafe seufzte verhalten.

„Irm. Du wirst nicht in diesen Fetzen dort hingehen, keine Widerrede!“, befahl er harsch. Er wusste nicht, wen er im Moment mehr verfluchte, seinen dämlichen Bruder, der in einem bisher noch ungeklärten Anfall beschlossen hatte, dass Irm die Rudelhexe sein sollte, oder diese Hexe hier vor ihm, die sich in den letzten neun Tagen wie ein Kleinkind verhalten hatte. Irm holte zu einem weiteren Protest Luft.

„Irm! Es ist genug! Die Schneiderin wird jetzt deine Maße nehmen und der Schuster deine Füße messen! Keine Widerrede mehr! Nein! Schluss!“, schnauzte Rafe wütend. Irm schloss ihren Mund wieder. Sie fing Aatus selbstgefälligen Blick auf. Dieser miese, kleine … Auf Irms Gesicht erschien ein breites Grinsen, und ihre Augen begannen zu funkeln. In Aatu stieg eine böse Vorahnung auf.

„Rafe! Egal, was es ist, sag nein!“, rief er regelrecht panisch. Rafe schloss die Augen und holte tief Luft. Er hatte jetzt gestrichen die Nase voll von diesen kindischen Spielchen der beiden. Er war doch hier nicht im Irrenhaus!

„Schluss jetzt! Alle beide! Du wirst dir Kleider schneidern lassen und du wirst sie anziehen und dich darin wohlfühlen, egal, wie sie aussehen!“, knurrte er Irm warnend an.

„Fein“, schnappte sie zickig, „Dann schneide ich euch aber auch eure Haare, denn ihr seht alle aus wie Bergschrate!“

„Nein!“, kreischte Aatu entsetzt auf und schlug schützend seine Arme über seinem Kopf zusammen. Rafe wirbelte zu ihm herum.

„Sie wird dich frisieren! Basta!“, stellte er klar. Aatus Miene verfinsterte sich.

„So. Und als Letztes: Aatu, du wirst bei der Versammlung Irms Begleiter sein. Du wirst ihr nicht von der Seite weichen, du wirst charmant und nett und höflich und freundlich zu ihr sein“, fauchte Rafe seinen Bruder an. Aatus Blick wurde entsetzt.

„Rafe, das …“, setzte er zu einem Protest an, doch Rafe drehte sich schon zu Irm, die ihn nicht weniger entsetzt anstarrte.

„Und du wirst an seiner Seite entlang schweben, wie das eleganteste und ätherischste Wesen, welches je unter dieser Sonne gewandelt ist. Und keine Widerrede. Nicht jetzt und nicht später und niemals!“, stellte Rafe klar. Irm schwieg. Sie kannte Rafe zwar erst seit zwei Wochen, aber sogar sie wusste mittlerweile, wenn er einen Befehl gab, dann gab es daran nichts zu rütteln. Und seltsamerweise riefen Rafes Befehle bei ihre keine wirklichen Trotzreaktionen hervor. Wahrscheinlich weil er einfach ein netter Kerl war und befahl, weil er eben der Anführer war und nicht, weil er eine persönliche Abneigung gegen sie hatte oder sie bevormunden wollte.

„Ja, Rafe“, stimmte sie ihm zu und senkte den Blick. Rafe nickte nachdrücklich.

„Sehr schön. Dann hätten wir das also geklärt.“ Er lächelte betont fröhlich, dann winkte er die Schneiderin herbei.

„Nimm ihre Maße, Holga. Wenn du mich brauchst, ich bin draußen“, bat er freundlich. Die Schneiderin nickte mit einem Schmunzeln und zückte ihr Maßband.

Rafe ließ die beiden Kindsköpfe allein, schlenderte zu Tür hinaus und trat in die warme Sonne.

„Das war gemein, das weißt du“, sagte Zev hinter ihm, aber Rafe hörte das Schmunzeln in seiner Stimme. Er drehte sein Gesicht zu seinem Freund.

„Ich weiß“, gab er zu. „Aber ich bin der Anführer und ich darf gemein sein.“

Zev lachte leise.

„Zev, alter Freund“, begann Rafe und auf seinem Gesicht erschien ein leicht wehmütiges Lächeln. Zev legte fragend den Kopf schief.

„Ich denke, es wird an der Zeit, weiter zumachen. Ich will sie behalten, auch wenn ich sie noch nicht so lange kenne, wie ihr, aber du vertraust ihr und du magst sie. Sogar Aatu mag sie, auch wenn er das niemals laut zugeben würde“, begann Rafe nachdenklich. Zev schnaubte nur. Natürlich mochte Aatu Irm, wahrscheinlich schon vom ersten Moment an. Er schwieg und brummte nur, um Rafe zum Weitersprechen aufzufordern.

„Ich sollte mir eine Partnerin suchen, ach, was sag ich da, ich muss mir eine Partnerin suchen. Das Rudel braucht mehr Junge. Ich habe auf dem Rückweg oft nachgedacht. Wie wir unser Rudel vergrößern könnten, wie wir wieder Menschen in das Dorf locken können, wieder eine Stadt daraus machen …“ Er seufzte herzhaft.

„Wir sind keine Trophäen, mit denen man sich schmücken kann, oder Spielzeuge, die man für seine eigene Zwecke benutzen kann.“ Rafe verstummte.

„Glaub mir, Irm hat alles andere im Sinn, aber nicht, uns zu einem Ableger vom Süd-West-Wald-Rudel zu machen oder um uns zu versklaven, damit sie sich durch uns an wissen die Götter wem rächen kann“, beteuerte Zev und er lächelte. Er hatte die Panik in Irms Augen gesehen, als Rafe mit fester Stimme verkündet hatte, dass er den Vorschlag von Aatu annehmen würde und Irm mit sofortiger Wirkung als Rudelhexe der Wilden Werwölfe fungierte. Wenn er ehrlich war, war er der festen Überzeugung gewesen, dass sie sich mitten in der Nacht aus dem Staub machen würde. Sie wollte gar keine Rudelhexe sein, Irm war zufrieden mit ihrem Trabantenleben, frei von jeglicher Verantwortung und festen Regeln. Bis jetzt hatte sie weder zugesagt, noch abgelehnt, doch Zev war sich mittlerweile ziemlich sicher, sie würde bleiben. Immerhin war sie bis jetzt noch nicht getürmt.

„Ich weiß. Und ich weiß auch, dass sie gar nicht wirklich bleiben will“, sprach Rafe Zevs Gedanken aus und wirkte sehr bedrückt dabei. Zev seufzte leise, allerdings nicht, weil er Rafes Annahme teilte, sondern weil er das Gefühl hatte, dass es zu Problemen kommen könnte. Er wusste, dass Aatu Gefühle für Irm hegte, auch wenn der sie bisher erfolgreich verdrängt hatte, und so langsam befürchtete er, dass sich auch Rafe mehr für die Hexe interessierte, als nur auf freundschaftlicher Ebene. Das konnte nicht gut gehen. Vielleicht wäre es doch besser, wenn Irm gehen würde.

„Du magst sie?“, tastete Zev sich vorsichtig vor, während er neben Rafe über den Burghof schlenderte. Es herrschte in den letzten Tagen reges Treiben hier. Sie hatten Menschen gejagt und die Köche und ihre Hilfen pökelten das Fleisch, um es für die einwöchige Fahrt haltbar zu machen, die Bauern aus dem Dorf gaben sich die Klinke in die Hand und brachten frisches Obst und Gemüse. Gestern war Zev der Glaser entgegengekommen, wie er nachdenklich Maße auf einen Block kritzelte und leise irgendwelche Berechnungen anstellte. Wer den bestellt hatte, wussten allein die Höllenteufel. Wahrscheinlich niemand und er war, wie alle anderen auch, aus eigenem Antrieb gekommen.

Rafes Zusage auf diese Einladung hatte den Schleier der Lethargie, der über ihnen alle gelegen hatte, irgendwie weggefegt. Sie versteckten sich nicht mehr länger. Sie erhoben sich wieder aus ihren Löchern, in die sie sich nach dem Überfall und Verrat verkrochen hatten.

Rafe ließ sich lange Zeit mit einer Antwort.

„Ja. Sie hat was“, antwortete er nachdenklich. Zev hatte es befürchtet. Bei Frauen hatten die beiden Brüder schon immer einen ähnlichen Geschmack gehabt. Er unterdrückte ein Seufzen.

„Sie sieht bestimmt umwerfend aus, wenn sie sich in etwas anderes hüllt, als diese seltsamen Sachen, die sie immer trägt. In einem schönen, ordentlichen Kleid mit einer ordentlichen Frisur ist sie bestimmt eine Augenweide.“ Rafe lachte auf.

„Aber die Höllenfeuer mögen den behüten, der es wagen sollte, einmal das Bett mit ihr zu teilen! Ich würde sie irgendwann im Schlaf erdrosseln!“

Rafe ahnte gar nicht, wie sehr Zev diese Antwort erleichterte.

„Aatu mag sie“, meinte er betont gleichgültig. Rafe brach in lautes Gelächter aus.

„Oh, nein, Zev. Aatu mag sie nicht, Aatu ist bis über beide Ohren in sie verschossen! Das habe ich mittlerweile erkannt! Vielleicht ist es ja gar keine so schlechte Idee gewesen, dass ich ihn im Zorn zu ihrer Begleitung verdonnert habe. Außerdem, mein lieber Zev, haben die Perlen schon gesprochen. Sie hing nicht an mir fest und ich hatte sie wirklich oft genug im Arm beim Tanzen, während sie sich mit meinem Bruder verknotet hat, nur weil sie ein paar Mal eng an ihm vorbeitanzte“, gluckste er amüsiert. Zev lachte.

„Erzähl mir jetzt nicht, du glaubst fest an den Perlentanz?“, hakte er nach. Rafe zuckte mit den Schultern.

„Meine Eltern haben sich so gefunden. Und die der Zwillinge“, zählte er nachdenklich auf.

„Ja. So wie sie auch dich und die alte Hedda zusammengebracht haben oder mich und Velvel“, erwiderte Zev nur halb im Scherz. Rafe schnitt ihm eine Grimasse.

„Ich habe nie behauptet, dass die Perlen immer recht haben, nur manchmal“, verteidigte er sich.

„Im ernst jetzt, Zev. Matchit wird da sein und da Irm ihn verbrannt hat, möchte ich sie bei der Versammlung nicht allein herumlaufen lassen. Derne und Flöckchen können sie nicht beschützen, sie wollen beide hierbleiben und auf die Burg und das Dorf achtgeben und ich werde garantiert ziemlich eingespannt sein, mit Reden und Schöntun. Du wirst an meiner Seite sein, damit ich nicht den Verstand verliere und ruhig bleibe. Also werde ich auf Aatu als zweite Begleitung verzichten und er wird sich um Irm kümmern und dafür sorgen, dass Irm und Matchit sich aus dem Weg gehen und sich nie allein begegnen. Und damit Irm kein Unheil anrichtet“, klärte er auf. Zev nickte.

„Und die Zwillinge?“, hakte er nach.

„Seff und Velvel dürfen nicht mit in den inneren Zirkel. Sie, Úlfur und Vukasin kommen nur als eine Art Leibgarde mit. Ich hätte zwar auch gerne Ruud mitgenommen, aber der soll zusehen, dass er in der Lage ist, ein ordentliches Heim für Sanda zu bauen und einen Werwolf mitten in der Balz will ich da ehrlich gesagt auch nicht um mich herum haben, die sind dann zu anstrengend. Ranulf wird hier solange das Sagen haben, aber ich denke, mit unseren beiden Dämonen als Schutz sind hier alle sicher“, erklärte Rafe. Zev nickte zustimmend.

„Rafe, ich weiß, du wirst es mir nicht glauben, aber sogar Aatu stimmt mir da zu: Du bist ein besserer Anführer als dein Vater es jemals war.“ Er legte Rafe die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Rafe wollte schon abwinken und verneinen, dann lächelte er traurig.

„Ich bin nicht einmal als Rudelanführer eingeplant gewesen. Das war Roffes Bestimmung.“

„Und er wäre kein guter Anführer gewesen und das wissen wir alle. Selbst Roffe hat das gewusst. Er hätte sein Erbe angenommen, nur um es bei der erstbesten Gelegenheit an dich zu übergeben.“

Roffe war ein netter Kerl gewesen, aber nette Kerle führten nun mal keine Rudel an. Das Schlimmste für den ältesten Bruder von Rafe und Aatu war der Gedanke gewesen, man könnte ihn nicht mögen. Und darauf durfte man als Rudelanführer nicht hoffen. Rudelanführer wurden auch mal nicht gemocht, sondern regelrecht verdammt, wenn sie eine Entscheidung fällten, mit der man nicht einverstanden war. Rafe konnte damit umgehen, sein Bruder Roffe hatte das nicht gekonnt.

„Sie sollte dann in den Turm ziehen, oder?“, fiel Zev ein, als sie sich dem Magierturm näherten. Rafe verdrehte die Augen.

„Bis dahin ist das Ding an Altersschwäche zusammengebrochen. Sie hat hier drei Monate bei euch gelebt, bevor ich zurückgekommen bin, und hat in den ganzen drei Monaten keinen Fuß in die Burg gesetzt. Sie ist jetzt das zweite Mal in der Halle. Wenn sie schon so lange braucht, um einen Gemeinschaftsraum zu betreten, wie lange wird sie wohl brauchen, bis sie da hochzieht?“, unkte er und deutete mit der Hand zum Turm, um seinen spöttischen Worten Nachdruck zu verleihen.

„Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber ich werde nicht da hoch ziehen!“, stellte Irm klar, als sie mit ausladenden Schritten an den beiden Werwölfen zu T-Dreieinhalb marschierte. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass sie immer noch beleidigt war. Zev grinste breit.

„Und wieso nicht?“, fragte Rafe und fragte sich, ob er es eigentlich wirklich wissen wollte. Irm blieb stehen und wich seinem fragenden Blick aus.

„Weil … weil … weil ich es doof finde“, nuschelte sie verlegen. Rafe war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Weil sie es doof fand? Wie alt war sie denn, verdammt noch mal?

„Weil du es doof findest?“, hakte er ungläubig nach. Irm stöhnte leise auf. Sie wusste selbst, dass das dämlich klang, aber den wirklichen Grund zu nennen, fand sie etwas peinlich. Der klang in ihren Ohren so furchtbar nach Einhörnern und Feenstaub und Kitsch und Kleinmädchenträume.

„Ja, wie alt bist du eigentlich?“, brauste Rafe auf.

„Zweiunddreißig!“, schnappte Irm, obwohl sie wusste, dass es eigentlich eine rhetorische Frage gewesen war und Rafe nicht wirklich eine Antwort darauf wollte.

„Echt? So richtig?“ Rafe war erstaunt.

„Ja, so richtig!“, schnappte Irm zurück.

„Na, dann ist mir alles klar. Du bist ja noch ein Kind!“

Irm fragte sich, ob sie ihm eine Ohrfeige verpassen durfte oder nicht und entschied sich für einen kräftigen Tritt gegen sein Schienbein. Rafe jaulte schmerzgepeinigt auf.

„Ich bin kein Werwolf! Und ich bin erwachsen! Hexen sind mit zweiunddreißig schon erwachsen, wir brauchen keine hundert Jahre, bis wir richtig groß sind!“, belehrte sie beleidigt.

„Und wir Hexen können auch schon mit zweiunddreißig große Hexen sein, es bedarf keine hunderte von Jahren, nur Fleiß, Disziplin und eine Spur Talent!“, brauste sie auf und ihre Stimme schwoll von Wort zu Wort an, bis sie wie ein Donnergrollen klang. Rafe vergaß sein schmerzendes Bein und glotzte sie ungläubig an.

„Irm. Irm!“, fuhr Zev dazwischen und packte sie am Oberarm.

Was?“, fauchte sie mit ihrer grollenden Stimme.

„Beruhige dich, du speist ja gleich Feuer“, klärte er sie ruhig auf. Rafe bewunderte seinen Freund für diese Gelassenheit. Er selbst war ziemlich perplex. War Irm etwa auch von Dämonen besessen? Zumindest klang sie gerade so. Ach, du grüne Neune, was hatten sie sich da nur angelacht? Ging das? Dass Hexen von Dämonen besessen waren? Er sollte Derne fragen.

„Was?“, stammelte Irm verwirrt.

„Ich sagte, beruhige dich, du speist gleich Feuer“, wiederholte Zev geduldig. Irm blinzelte.

„Ich … oh … also … Echt?“ Sie schenkte Zev ein verlegenes Grinsen.

„`Tschuldige, ich bin wohl etwas … ähm … ich habe mich wohl etwas mitreißen lassen“, entschuldigte sie sich verlegen. Rafe brummte nur. Etwas mitreißen lassen, war wohl etwas untertrieben! Sie hatte geklungen wie ein Höllendämon. - Zumindest hatte Rafe sich immer vorgestellt, dass die so ungefähr klangen, gesehen hatte er noch keinen. Ging auch nicht, dann wäre er ja tot und in der Hölle!

„Ja, das hast du wohl“, stimmte Zev belustigt zu und drückte Irm an sich. Sie schnitt eine frustrierte Grimasse.

„`Tschuldigung“, nuschelte sie verlegen, „es geht manchmal ein wenig mit mir durch. Ich mag es nicht, wenn man mich nicht für voll nimmt und mich wie ein dummes Kind behandelt.“ Ihr reumütiger Blick ließ Rafes Herz schmelzen. Besessen hin oder her, sie war ihre Rudelhexe und das war gut so. - Hatte er das gerade tatsächlich gedacht? Vielleicht war ja auch er besessen, grübelte Rafe und dann grübelte er darüber nach, weshalb er Irm ums Verrecken nicht lange böse sein konnte. Naja, es war ja eigentlich ganz logisch, man musste ja nur an diesen treuen Blick denken und diese Hilflosigkeit von ihr. Ihr scheues Lächeln.

„Außerdem, außerdem bin ich keine gute Rudelhexe, ich kann nicht mal richtig gut zaubern. Ich durfte nur blöde Kräutermischungen lernen und albernen Budenzauber. Eine kleine harmlose Windhose hier, eine niedliche Schönwetterwolke da, vielleicht sollte ich wirklich gehen“, jammerte sie mitleidig. Rafe riss sich aus seiner Geschmolzenes-Herz-Lethargie.

„Vergiss es!“, fuhr er energisch dazwischen. Irm brummte nur.

„Ruud hat mir erzählt, dass du ihn aufgefangen hättest, als er von der Mauer gerutscht ist, indem du da irgendwas gezaubert hättest. Dann hast du einen unserer Jungen gerettet, als er auf dem Bergvorsprung herumgeklettert ist und sich der Untergrund gelöst hat. Und zwar indem du den Untergrund festgehext hast. Und nicht zu vergessen, du hast vierzig Krieger kopiert, dem Hexensackmacher die Hände verbrannt und einem Bonbon Haare wachsen lassen!“, zählte er entschlossen auf. Irm hob den Kopf und sah ihn trotzig an.

„Bonbons Haare wachsen lassen ist alberner Budenzauber“, informierte sie ihn schnippisch. Rafe stemmte die Hände in die Hüften. Sein Blick ließ keinen Widerspruch zu.

„Du zauberst meinem Bruder zielgenau eine Eisfläche unter den Fuß. Du lässt Windböen erscheinen, um die Geschwindigkeit eines geworfenen Balls zu erhöhen oder meinen Bruder kontrolliert abheben zu lassen. Nein, Irm. Du bist mehr, als nur eine schlechte Hexe mit billigen Jahrmarkttricks. In dir steckt viel mehr und wenn du hoch in den Magierturm ziehst, dann kannst du in den Büchern dort lesen und daraus lernen“, bestätigte er mit sanfter Stimme. Zev stellte fest, dass Rafe einen äußerst eleganten Bogen gemacht hatte und dabei nicht nur Irm bestätigt und beruhigt, sondern auch gleich noch die Vorzüge eines neuen Heims angepriesen hatte.

„Ich mag trotzdem nicht in den Turm“, beharrte Irm trotzig. Rafes Schultern sackten nach unten.

„Und wieso nicht, außer weil du es doof findest?“, äffte er genervt.

„Weil ich finde, dass eine richtige Rudelhexe nicht irgendwo in einem blöden scheiß hohen Turm sitzen sollte, sondern bei ihrem Rudel. In der Gemeinschaft. Ich bin nichts Besseres als ihr, aber wenn ich da hoch ziehe, dann seh ich ständig auf euch herab und das will ich nicht, denn ich bin aller allerhöchstens auf gleicher Augenhöhe wie ihr“, erklärte sie und ihre Stimme wurde von Wort zu Wort entschlossener und selbstbewusster. Rafe stieß ein kurzes Lachen aus.

„So, findest du, ja?“, meinte er mit seinem seltsamen Lachen. Irm nickte.

„Du wirst in diesen Turm gehen“, begann Rafe kalt und zeigte nachdrücklich auf den Magierturm. Irm senkte niedergeschlagen den Blick. Offensichtlich waren nicht nur die Hexen und Zauberer so versessen auf diese blöden Türme. So wie es aussah, wollten die Werwölfe ihre magischen Mitglieder wohl auch nicht so nah bei sich haben. Sie konzentrierte sich wieder auf Rafes Ansprache.

„Und du wirst in diesem Turm durch alle Zimmer gehen und alles mitnehmen, wovon du der Meinung bist, dass du es als unsere Rudelhexe benötigen könntest. Und wenn du damit fertig bist, dann räumen wir den Rest davon aus, alles Magische kommt in das Gewölbe und alles nicht-magische wird verbrannt und dann wird dieser scheiß Turm abgerissen und ein Kräuterbeet für dich daraus gemacht! Und du kommst jetzt sofort mit mir mit und wir suchen dir ein Zimmer in meiner Burg und dann ziehst du augenblicklich aus T-Dreieinhalb aus!“ Rafe packte Irm grob am Handgelenk und zerrte sie hinter sich her in die Burg. Irm quiekte erschrocken und versuchte krampfhaft, nicht über ihre eigenen Füße zu fallen, als sie hinter Rafe her stolperte.

„Ich würde das Zimmer auf der rechten Seite mit dem Erker nehmen, das ist schön groß und lichtdurchflutet!“, rief Zev ihnen nach. Irm drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um und fiel prompt hin, als sie eine Treppenstufe übersah. Trotz ihres Protestes zog Rafe sie unbeirrt weiter und Irm hatte alle Mühe, sich wieder hochzurappeln.

Zev befürchtete kurz, sein Rudelanführer könnte es in seinem entschlossenen Enthusiasmus ein wenig übertreiben. Das Letzte, was er hörte, bevor die große Tür zur Burg ins Schloss knallte, war Irms Protest:

„Aber T-Dreieinhalb wird einsam sein, wenn ich nicht mehr in ihm wohne! Und ich hab mir das Knie aufgeschlagen!“





7. Von Dreitage-Bärten, nervösen Kerlen und Trampelwölfen


Zev hatte sie gelinkt.

Naja, nicht wirklich, das Zimmer mit dem kleinen Erker auf der rechten Seite der Burg war wirklich groß und lichtdurchflutet, aber es war auch das Zimmer direkt gegenüber dem von Aatu. Irm fühlte sich von dem alten Wolf verraten. Jetzt würde Aatu jeden Tag damit konfrontiert werden, dass eine Hexe in seinem Rudel lebte und Irm wusste, dass er Hexen und Zauberern aus sehr gutem Grund misstraute. Und sie würde jeden Tag mit einem schlecht gelaunten Aatu konfrontiert werden. Das waren ja bombige Aussichten!

Sie sah sich in ihrem neuen Reich um. So stellte sie sich Kriegsgebiete vor, nachdem Feuerbomben eingeschlagen hatten. Es fehlten nur noch der Rauch und schwach glimmende Glutreste. Irm zauberte Rauch her, ließ ihn dramatisch durch das Zimmer wehen und garnierte Bücher und Möbel mit schwarzer Asche und roter Glut.

Besser. Zufrieden mit ihrem Werk schlenderte sie durch das heillose Chaos und schubste hier einen Stuhl um, verschob Bücherstapel zu einem unordentlichen Haufen und stellte sich vor, sie wäre die einzige Überlebende einer furchtbaren Katastrophe. Hilflos. Heimatlos. Allein.

Mit einem dramatischen Seufzer legte sie sich ihren Handrücken an die Stirn und fiel in einer nicht weniger dramatischen Drehung in einen Kleiderhaufen.

„Vater … Mutter …“, ächzte sie schwach. Ihr trüber Blick glitt an die Decke. Sie zauberte verschwommene Silhouetten von einem Mann und einer Frau dorthin. Nein, die waren nicht gut, beschloss sie, sie gab ihnen eine durchscheinendere Konsistenz. Genau. So mussten Geister aussehen.

„Vater … Mutter …“, begann sie vor vorn, „Ich … hust … ich komme … hust-hust …“

Irm verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiße darin sah und starb den einsamen Heldentod. Zwischen den durchscheinenden Geistern erschien ihre Gestalt. Die drei Geister umarmten sich und verschwanden. Zurück blieb Irm.

„Bei allen Höllentoren, was veranstaltest du hier drin?“ Aatu riss die Tür auf und taumelte erst einmal drei Schritte zurück. Irm erhob sich auf ihrem Sterbelager in eine sitzende Haltung.

„Was machst du da? Brennst du das Haus ab?“ Aatu hustete verhalten, wedelte den Rauch weg und trat kritisch näher. Irm zog die Beine an, schlang die Arme darum und stützte ihr Kinn auf den Knien ab.

„Sterben im Kriegsgebiet?“, schlug sie unschuldig vor. Aatu ließ seinen Blick schweifen. Er mochte davon halten, was er wollte, und zwar, dass Irm ein gewaltiges Rad abhatte, aber er musste zugeben, sie hatte ganze Arbeit geleistet. Zaghaft tippte er die angekokelte Ecke eines Buches an. Sie war kühl und fühlte sich an, wie ein stinknormaler Bucheinband. Was für eine perfekte Illusion. Aatu griff nach einem Buch, in dessen Mitte noch ein kleiner Brand schwelte.

„So schlecht ist es gar nicht, dass du es abbrennen musst“, witzelte er und hielt es ihr entgegen. Irm kicherte leise.

„Ich will dich ja nicht hetzen, aber in zwei Tagen fahren wir und es sieht nicht wirklich danach aus, als ob du schon wirklich weit mit Einräumen gekommen wärst“, bemerkte er und ließ sich vorsichtig auf einen verbrannten Stuhl sinken. Er war stabil. Irm schnaubte, schnippte mit den Fingern und Rauch und Asche waren verschwunden. Geblieben war nur das Durcheinander. Aatu legte das Buch weg.

„Oh, das täuscht, mein Lieber!“, wiedersprach sie energisch und stand auf.

„Die ersten vier Bücherregale sind schon voll! Und mein Kleiderschrank auch! Und meine kleine Zauberecke ist auch fertig. Es ist nur so verdammt viel!“, jammerte sie und warf sich rücklings zurück in den Kleiderhaufen. Kleidung flog in die Höhe und segelte sacht auf Irm herab. Aatu schüttelte belustigt den Kopf.

„Dann wirf was weg?“, schlug er vor.

„Ich liege in wegwerfen und du sitzt darauf und daneben“, erwiderte sie mit einem herzhaften Seufzer und puhlte sich eine Socke von der Stirn. Mit einem leicht angeekelten Gesichtsausdruck warf sie sie weit von sich.

„Weißt du, ich habe festgestellt, dass es ein verdammter Unterschied ist, ob man in einem T3-Vehikel lebt, das irgendwie nie zu Ende geht oder in einem Zimmer, das sehr wohl ein Ende hat.“ Sie lachte leise auf.

„Aber keine Panik, meine sehr verehrten Herrschaften, ich habe ja nur noch fünf Bücherregale und einen Kleiderschrank vor mir! Das schaffen wir mit links und wenn nicht mit links, dann schaffen wir’s mit rechts!“, deklarierte sie in bester Jahrmarktrufermanier. Aatu stieß ein belustigtes Schnauben aus. Irm rappelte sich wieder auf und stellte sich mit einem breiten Grinsen vor ihn.

„Und nur, dass du es weißt, mein lieber Herr Werwolf: Morgen ist Haare schneiden dran“, verkündete sie gut gelaunt. Aatus Miene verdüsterte sich schlag artig. Es hatte in seinem Leben zwei Personen gegeben, die er an seine Haare gelassen hatte; seine Mutter und Isabelle und er hatte eigentlich nicht vorgehabt, das je zu ändern.

„Keine Angst, ich weiß, was ich tu. Das kann ich wirklich“, munterte sie ihn auf und tätschelte seine Schulter. Aatus Antwort war ein weiteres Schnauben.


Zev war ehrlich begeistert. Es mochte wahrscheinlich nicht der neuesten Mode entsprechen und konnte garantiert auch nicht mit den Frisuren des Süd-West-Wald-Rudels mithalten, aber ihm gefiel, was er sah. Irm hatte seinen Bart gestutzt und geschoren und übrig geblieben war ein Oberlippen-Kinnbart, der nun seine untere Gesichtshälfte zierte. Seine roten Haare waren so kurz geschnitten, dass sie sich in ordentlichen Locken um seinen Kopf legten und nicht mehr als eine wilde ungebändigte Mähne. Er sah verdammt gut damit aus. Zev drehte begeistert den Handspiegel in alle Richtungen, um sich zu begutachten.

Seff und Velvel waren von Irm eigenhändig mit der Wurzelbürste geschrubbt worden und jetzt hockten sie so sauber wie noch nie in ihrem Leben neben Zev auf einer Bank in der Sonne und kicherten albern über dessen Verhalten. Irm war durch ihre Haare gefegt, wie ein Orkan. Jetzt trugen sie ihre Haare im Nacken kurz, während sie auf dem Kopf gewollt zerzaust abstanden. Es gab ihnen ein keckes Aussehen. An Úlfur und Vukasin hatte sie weder etwas zu bemängeln, noch etwas zu frisieren gehabt, Úlfur trug sein Haar schon immer kurz und akkurat geschoren und achtete darauf, dass es auch so blieb und Vukasin hatte eh einen kahl rasierten Schädel. Sein langer Schnauzbart, den er zu Zöpfen geflochten hatte, wurde jeden zweiten Tag gewaschen und neu geflochten.

Die Burgtür öffnete sich und Rafe trat heraus. Zev nickte anerkennend und die Zwillinge applaudierten höflich. Seine Haare waren immer noch schulterlang, hatten allerdings irgendwie mehr Form erhalten, Zev legte den Kopf leicht schief. Sie fielen irgendwie lockerer, fand er und umrahmten sein männliches Gesicht äußerst vorteilhaft.

„Sie sagt, ich soll mit einen Dreitage-Bart wachsen lassen“, sagte Rafe und setzte sich neben Zev.

„Na, wenn sie das sagt, dann solltest du das auch machen“, meinte Velvel schulterzuckend. Seff zupfte nickend an einigen Haarsträhnen herum. Rafe lehnte sich an die Mauer.

„Dann lass ich mir einen Dreitagebart wachsen“, entschied er gelassen. Zev grinste breit. Er mochte diese ganzen Veränderungen. Sie waren aufregend und spannend und niemand wusste, was als Nächstes geschehen würde.

„Wann wohl Aatu fertig ist?“, fragte Seff nach einiger Zeit nachdenklich. Rafe, der mit verschränkten Armen gedöst hatte, schnaubte.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich muss sie ihn erst einmal einfangen und dann an den Stuhl fesseln. Er lässt doch keinen an seinen Kopf“, spottete er. Die Zwillinge kicherten albern bei der Vorstellung, wie Irm den armen Aatu erst quer durch die Burg jagte, ihn mit einem Seil wie eine Kuh einfing und dann auf einen Stuhl fesselte. Weder Zev noch Rafe mussten nachfragen, was in ihren Köpfen vorging. Sie kicherten mit.

„Hey“, nuschelte eine leise Stimme von der Tür. Rafe drehte den Kopf und öffnete ein Auge. Und riss dann das andere auf. Was auch immer Irm gemacht hatte, er fand es wundervoll. Aatus schwarzes Haar glänzte in der untergehenden Sonne wie Pech und es reichte ihm nur noch bis an die Brust. Rafe verwettete spontan seinen Hintern darauf, dass es sich wie Seide anfühlen würde, wenn er mit den Fingern durchstrich.

„Ich soll einen Zopf tragen“, fuhr Aatu fort und er klang wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Bockig und etwas unsicher.

„Geflochten oder nur so?“, hakte Velvel neugierig nach.

„Geflochten.“ Aatu zog eine kurze Flunsch.

„Ich soll mir einen Dreitage-Bart wachsen lassen“, entgegnete Rafe.

„Wir sollen jetzt jeden Tag baden!“, warf Seff entrüstet ein.

„Ich bin perfekt, so wie ich bin“, tat Zev zufrieden kund und lächelte leicht gönnerhaft. Aatu grinste.

„Sie macht das gar nicht mal so schlecht“, gestand er. Rafe erwiderte das Grinsen seines Bruders.

„Du siehst wirklich gut aus so“, beteuerte er ehrlich. Aatu schenkte ihm ein scheues Lächeln, dann zwängte er sich neben ihn auf die Bank.

„Sanda ist jetzt bei ihr und schneidet ihr die Haare.“ Rafe hörte sehr wohl den leisen Triumph in Aatus Stimme.

„Da möchte ich nicht mit ihr tauschen“, behauptete Seff, schnappte sich den Handspiegel und ordnete seine Frisur neu.

„Wieso?“, hakte Rafe nach. Velvel lachte.

„Da sind so viele Haare mit so vielen Locken und so viel Chaos, nein, ich würde die Schurschere holen und alles abrasieren!“, klärte er entschieden auf. Sie kicherten belustigt und stellten sich die kleine zierliche Sanda mit einer riesigen Schafschurschere vor, wie sie sich damit durch Irms wilde Locken kämpfte.


Sanda musste nicht mit der Schafschurschere durch Irms Haare fahren. Es reichte völlig aus, sie ausgiebig zu kämmen, um das wirre Chaos zu entwirren. Sanda stutze hier ein wenig und dann da, trat ein paar Schritte zurück, machte „Hmmm“ und „Hm!“ und Irm nähte unterdessen geduldig Kräuterbeutel. Sie sah ja an Úlfur, Ruud und Vukasin, was Sanda konnte.

Und Irm hatte auch nicht wirklich vor, Sanda die Aufgabe der Rudelfrisörin wegzunehmen, sie hatte nur eine kleine Rache und persönliche Genugtuung haben wollen, als sie sagte, die würde den Jungs draußen die Haare schneiden. Und - was auch keiner der vier wusste - sie hatte zuvor mit Sanda darüber geredet, welche Haarschnitte und Frisuren den Kerlen am Besten standen. So waren weder die Frisuren der Zwillinge noch der Dreitage-Bart von Rafe Irms Idee gewesen, sondern Sandas. Allerdings mussten sie das spätestens vor ihrem nächsten Frisörtermin aufklären, Irm hatte nicht vor, ihnen auch weiterhin die Haare zu schneiden. Sie konnte es zwar, aber es gehörte nicht wirklich zu den Aufgaben, die sie gerne machte.

Die Kräuterbeutel, die sie nähte, waren für Sanda. Die beiden Frauen hatten beschlossen, dass, wenn Irm von der Versammlung wieder zurück war, sie gemeinsam Kräutermischungen für schöne und glänzende Haare herstellen und versuchen würden, die in den Nachbarortschaften zu verkaufen. Das Rudel brauchte dringend Geld. Es brauchte zwar auch noch ganz andere Dinge, aber als allererstes musste die Rudelkasse etwas aufgefüllt werden, denn ohne Geld funktionierte in dieser Welt so gar nichts.

„So. Du bist fertig“, sagte die Werwölfin schließlich und Irm hob den Kopf, um in den Spiegel vor sich zu sehen. Sie strahlte Sanda begeistert an.

„Es ist wunderschön“, freute sie sich und drehte sich auf dem Stuhl zu Sanda um. Mit leuchtenden Augen griff sie nach deren zierlichen Händen.

„Danke, Sanda. Wirklich.“

Sanda bekam rosa Wangen und senkte den Blick.

„Ich mag deine Haare“, gestand sie seufzend. Irm erhob sich und nahm sie fest in den Arm.

„Verglichen mit dir bin ich ein Troll“, behauptete sie ohne Neid. Sanda war eine zarte Person mit Haut wie Porzellan und goldenen Haaren. Ihre klaren blauen Augen wurden von langen Wimpern umrahmt und ihr herzförmiges Gesicht war offen und freundlich. Irm fand es überhaupt nicht verwunderlich, dass Ruud hin und weg von ihr war.

„Und jetzt packen wir das Prachtstück schön sorgfältig ein“, beschloss Irm und nahm wieder Platz. Sanda nickte, band Irms Haare zu einem Zopf und wickelte ein Tuch darum.

„Auf das Ergebnis müssen die Herren Werwölfe leider noch warten“, stimmte sie gut gelaunt zu.


T-Dreieinhalb fuhr Tag und Nacht und sie rasteten nur, um sich ein wenig die Füße zu vertreten oder wenn sie Wasser für die Wanne auffüllen mussten. Irm behielt ständig ein Tuch auf, welches ihre Haare verdeckte, Rafe hatte sich brav einen Dreitage-Bart wachsen lassen, Zev bemühte sich, seinen Bart im Zaum zu halten und die Zwillingen gingen jeden Abend artig in die Wanne und badeten sich. Úlfur und Vukasin lernten mit kindlicher Begeisterung, wie man ein T3-Vehikel lenkte, und wechselten sich am Lenkrad ab. T-Dreieinhalb hatte seinen Innenraum mit seiner kindlichen Begeisterung ausgedehnt und jeder bekam ein eigenes Schlafzimmer, so eingerichtet, wie T-Dreieinhalb glaubte, dass es am besten zu ihm passte. So schlief Zev in einer bequemen Hängematte hoch in erzauberten Bäumen, Rafe in einem königlichen Schlafgemach mit Intarsien aus falschem Gold und Brokat und Aatu in einer dunklen, aber gemütlichen Höhle in einem Lager aus unzähligen Fellen. Keiner von ihnen hätte sich auch nur im Entferntesten diese Art der Betten ausgesucht, aber sie wussten, T-Dreieinhalb hatte das Wesen eines zehnjährigen Kindes und er hatte diese Zimmer voller Begeisterung entstehen lassen und so beschwerte sich keiner über dessen interessante Bettenauswahl.


Der festliche Empfang fand am Abend vor den eigentlichen Versammlungen statt, pünktlich zum Sonnenuntergang und T-Dreieinhalb knatterte exakt zur Mittagsstunde auf den großen Hof des Schlosses, in dem er stattfand. Das Schloss wurde von Bayard bewohnt, dem größten und mächtigsten aller Zauberer. Er lebte dort mit seinen unzähligen Angestellten ohne ein Rudel oder einen Vampirclan, er war die neutrale Quelle alles Wissens und für alle Fragen. Wenn er denn dann mal da war und nicht irgendwo in der Weltgeschichte herumreiste und keine Seele wusste, wo er sich aufhielt.

Aatu saß auf dem äußerst bequemen Beifahrersitz und sah durch die große Windschutzscheibe hinaus zu Rafe und Irm, die eine Wache fragten, wo sie sich hinstellen konnten, um ihre Ruhe zu haben.

„Rechts, links, nach hinten, weiter vor, wieder nach rechts, zurück, zur linken Seite des Schlosses. - Wohin zum unverzauberten Vehikel will der uns hinstecken?“, fragte sich Vukasin und er klang leicht gereizt. Aatu hob eine Augenbraue.

„Zum unverzauberten Vehikel?“, hakte er nach. Was war denn das für ein Fluch? Vukasin grinste so breit, dass sich sein langer Schnurrbart hob.

„Verglichen mit T-Dreieinhalb sind unverzauberte Vehikel dilettantische, niedere Gefährte und unserer nicht wert, nicht wahr, Großer?“ Er tätschelte liebevoll T-Dreieinhalbs Armaturenbrett. T-Dreieinhalb hupte zustimmend und der Wachmann machte einen erschrockenen Satz nach links. Irm schenkte ihnen einen strafenden Blick, den Aatu zerknirscht erwiderte. Vukasin hingegen grinste sie unbekümmert an.

„Ich hoffe, ihr habt es alle gehört: Die letzten Wilden Werwölfe mit ihrem verzauberten T3-Vehikel sind angekommen“, nuschelte Aatu beschämt und versank tief im Sitz. Hinten hörte er die Zwillinge und Úlfur laut lachen.

„Ihr seid peinlich!“, warf Irm ihnen vor, als sie die seitliche Schiebetür aufriss und neben Rafe einstieg. Aatu stieß nur einen zustimmenden Laut aus.

„Wohin?“, fragte Vukasin nur.

„Du fährst jetzt nach links, in einen Park und dort können wir unter der kleinen Gruppe Birken stehen bleiben, meint er. Da hätten wir unsere Ruhe, wären aber in nur zwei Minuten im Schloss“, wies Rafe ihn an und nahm auf einer weichen Bank Platz.

Vukasin nickte, tätschelte die Stelle, an der man bei einem nicht verzauberten Vehikel einen Schlüssel zum Starten hineinsteckte und T-Dreieinhalbs Motor erwachte mit einem lauten und völlig übertriebenen Brüllen zum Leben. Er stieß zwei genauso unnötige Fehlzündungen aus, nebelte alles hinter sich in eine dichte, schwarze Wolke und fuhr dann, gelenkt von Vukasin, in die angewiesene Richtung. Als sie die kritisch blickende Wache passierten, war Aatu beinahe von Sitz in den Fußraum gekrochen. Vukasin dagegen hob höflich und völlig ungeniert die Hand zum Gruß.


Vukasin und T-Dreieinhalb schienen eine Doktorarbeit daraus zu machen, einzuparken.

Erst standen sie zu weit links, dann zu weit rechts. Dann zu weit hinten, zu schräg, nicht genau in der Waage und endlich, nach gefühlten Stunden parkte T-Dreieinhalb seiner und Vukasins Meinung nach perfekt zwischen den Birken im Halbschatten.

Dass außer den beiden keiner irgendeinen Unterschied zu den letzten Parkplätzen sah, störte weder T-Dreieinhalb noch Vukasin. Rafe erhob sich von seinem Sitz und sah in seine kleine Runde.

„Wir haben noch genau vier Stunden. Seff und Velvel, ihr holt frisches Wasser für die Wanne, Aatu und Zev, ihr sucht nach Feuerholz, Vukasin, Úlfur, ihr seid heute mit Kochen dran. Irm, wie lange brauchst du, um dich aufzuhübschen?“ Nachdem Rafe die Aufgaben verteilt hatte, sah er Irm fragend an. Die stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.

„Keine vier Stunden!“, empörte sie sich.

„Mit Bad höchsten eineinhalb!“, klärte sie Rafe schnippisch auf. Der nickte zustimmend.

„Als Erstes badet Irm, dann ich, Aatu, Zev, Úlfur und Vukasin. Die Zwillinge baden zum Schluss, damit sie nicht mehr so viel Zeit für Blödsinn dabei haben.“

Irm schnitt Seff und Velvel eine Grimasse, die diese gut gelaunt erwiderten, bevor sie mit großen Eimern bewaffnet das Vehikel verließen. Irm hüpfte gut gelaunt hinterher.

„Picknick im Freien oder drin?“, wollte sie wissen und sah sich neugierig um.

„Picknick“, beschloss Zev, als er an ihr vorbeiging. Irm nickte, schlenderte zu T-Dreieinhalbs Heck und öffnete die Heckklappe.

„Genießen wir das Wetter und die frische Luft“, behauptete sie, während sie einen zusammengeklappten Holztisch aus ihrem Vehikel zog.

„Wir hocken alle noch lange genug in muffigen Räumen mit muffigen Tischnachbarn.“

Mit einem Schnippen klappte sich der Tisch auseinander. Irm stellte Klappstühle dazu.

„Vielleicht haben wir ja auch nette Tischnachbarn?“; schlug Rafe vor und verteilte das Geschirr auf dem Tisch.

„Vielleicht haben wir ja auch einen Tisch ganz für uns allein. Irgendwo ganz weit hinten, wo wir ungehobeltes Volk auch ja keinen stören?“, frotzelte Irm mit funkelnden Augen. Rafe riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf.

„Das heißt, wir müssen Aatu noch mal ganz genau einschärfen, dass er mit Besteck essen muss und nicht mit den Händen!“, unkte Vukasin. Aatu wirbelte auf dem Absatz herum und blitzte ihn böse an.

„Hey! Das hab ich gehört!“, tat er empört. Zev packte ihn am Oberarm und zog ihn mit sich. Irm grinste breit. Das Herumalbern tat gut, stellte Rafe fest, denn, wenn er ehrlich zu sich war, dann war er nervös. Dass ihre Teilnahme an der Versammlung dringend erwünscht wurde, lag garantiert daran, dass Irm jetzt bei ihnen war, darauf würde er seinen Hintern verwetten. Ob das alles eine so gute Idee gewesen war?

„Keine Panik, ich blamier euch schon nicht. Ich weiß, wie man sich zu benehmen hat, ehrlich“, beteuerte Irm ernst und tätschelte Rafes Oberarm. Konnte sie Gedanken lesen? Rafe sah sie erstaunt an.

„Darum geht’s doch gar nicht, Irm. Ich …“ Rafe unterbrach sich, nahm Irm an die Hand und zog sie weg von Vukasin und Úlfur.

„Ich bin einfach nur nervös“, gestand er und hoffte, dass er keinen Fehler machte. Aber waren die Rudelhexen nicht auch dafür da, dass sie den Rudelanführer unterstützen, wenn der Hilfe brauchte?

„Als ich das letzte Mal hier war, war ich einfach nur als der zweite Sohn meines Vaters mit dabei. Ich war unwichtig. Jetzt repräsentiere ich ein Rudel. Mein Rudel. Ich weiß nicht, ob ich das kann oder ob ich mich dabei blamiere. Und ich weiß nicht, wie die anderen darauf reagieren, dass du jetzt dabei bist, obwohl sie alle wissen, dass wir nie wieder eine Rudelhexe haben wollten.“ Er seufzte leise. Irm zog ihn an sich und nahm ihn fest in den Arm.

„Ich mach mir vor lauter Angst beinahe in die Hose“, wisperte sie ihm ins Ohr. „Aber soll ich dir mal was sagen, Rafe von den Wilden Werwölfen, die Wölfe sind? - Du bist ein guter Rudelanführer. Alle sagen das. Du bist besser als dein Vater, sagen sie und ich weiß, du bist besser als Primus Arkos, du bist besser, als jeder Rudelanführer, der mir auf meinen Wanderungen begegnet ist.“ Irm gab ihm einen aufmunternden Kuss auf den Mund und schob ihn von sich.

„Wir werden da nachher reingehen. Du wirst stolz und erhaben vorangehen, neben dir Zev, hinter dir Aatu und ich, flankiert von Seff, Velvel, Úlfur und Vukasin. Die werden verstummen, wenn sie dich sehen und ich werde neben deinem Bruder so elegant und ätherisch herschweben, wie ich noch nie in meinem Leben geschwebt bin. Wir werden ihnen allen zeigen, dass wir, das letzte Rudel der Wilden Werwölfe, große, starke Werwölfe sind, die sich vor nichts fürchten und dass wir uns nie unterkriegen lassen, egal, was die anderen versuchen. Wir sind stolz! Wir sind stark! Und wir überrennen sie!“, munterte sie ihn auf. Auf Rafes Gesicht erschien ein leichtes Lächeln.

„Du weißt schon, dass du drei Tage am Stück Schuhe tragen musst?“, versuchte er zu scherzen. Irms Blick war freundlich-tadelnd.

„Keine Sorge, ich werde nicht jammern oder weinen oder humpeln oder mich darüber beklagen, dass die Schuhe meine Füße abdrücken und abschnüren und alles wehtut. Ich werde den Schmerz stoisch ertragen und freundlich darüber hinweg lächeln. - Du trägst ein enges Halstuch. Kannst du das ertragen?“, witzelte sie zurück. Rafe lachte.

„Ich geb mir Mühe“; versprach er gespielt tapfer. Irm tätschelte ihm die Wange und legte dabei einen Blick auf, wie es eine gütige Großmutter bei ihrem artigen Enkel tat.

„Feines Hundchen. Das wollte ich hören. Wir hauen sie von den Socken, versprochen. Und zwar auf die gute Weise, nicht auf die Irm-weise.“ Sie zwinkerte ihm schelmisch zu und Rafe wischte sich in gespielter Erleichterung über die Stirn.

„Geht’s dir jetzt ein bisschen besser?“, hakte Irm nach.

„Ein wenig“, gestand Rafe ehrlich.

„Wir schaffen das, versprochen“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Na, komm, lass uns weiter den Tisch decken.“


Sie trugen enge schwarze Hosen mit kniehohen Stiefeln, weiße Hemden mit weiten Ärmel und einem schwarzen Halstuch, welches Irm zu einem schlichten, aber dennoch sehr eleganten Knoten gebunden hatte und einer grünen, beinahe knielangen Weste mit silbernen Knöpfen. Rafe wollte nicht darin hervorstechen, indem er andere Sachen als seine Rudelbrüder trug, trotzdem hatten seine Knöpfe auffälligere Verzierungen, als die der anderen. Wenn er es hätte erraten müssen, würde er darauf tippen, dass die Schnörkel Irms Idee gewesen waren. Rafe glaubte mindestens ein Zeichen, dass Führung oder Anführer bedeutete, auf seinen Knöpfen zu erkennen. Sie sahen wirklich äußerst adrett aus, stelle er zufrieden fest, sogar die Zwillinge ließen ihre Albernheiten sein und standen ernst neben Zev ohne wie sonst üblich in ihre Kindereien zu verfallen.

„Irm!“, drängelte Aatu ungeduldig und verkniff sich, sich an seinen Zopf zu fassen. Irgendwie fühlte es sich seltsam an, seine Haare zusammengebunden zu tragen.

„Keine Hektik, Leute, keine Hektik, wir haben noch genug Zeit“, vertröstete Irm ihn aus T-Dreieinhalbs Innerem. Velvel und Seff sahen sich vielsagend an und wackelten mit den Augenbrauen. So war das nun mal, wenn man mit Frauen durch die Lande zog. Sie brauchten ewig.

„T-Dreieinhalb, Licht aus, abschließen und keinen reinlassen, der nicht zu uns gehört.“

Die Schiebetür öffnete sich und Irm trat nach draußen.

„Gut. Gehen wir. - Was ist?“ Irm hob verwirrt den Kopf, als sie die Anspannung in der Luft spürte. Zu ihrem Leidwesen hatte sie bemerkt, dass, seit Rafe sie als Rudelhexe ausgerufen hatte, sie begann, die Stimmungen der Werwölfe zu fühlen.

Rafe hatte recht gehabt.

Irm sah umwerfend aus.

Holga hatte ihr ein Kleid im selben Grün wie ihre Westen geschneidert. Das Oberteil ließ ihre Schultern frei und begann in einem herzförmigen Ausschnitt am Ansatz ihrer Brüste. Der Saum des Oberteils ging in schneeweißer Spitze über, die sich an Irms Haut schmiegte, das Dekolleté verdeckte und in die Holga kleine hellblaue Glasperlen genäht hatte. Die langen schmalen Ärmel endeten in derselben langen weißen Spitze und verdeckten Irms Handrücken.

Ein als Gürtel getragenes schwarzes Korsett formte Irms Taille und lief unten in derselben Spitze aus, wie sie schon Ärmel und Dekolleté säumte, und fand sich am Saum des bodenlangen Rockes wieder.

Ihre Haare waren zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, einige wohldrapierte Strähnen lockten sich an ihrem Nacken, ihre Augenbrauen waren perfekt gezupft und vollführten einen schwungvollen Bogen und ihre Augen waren schwarz ummalt.

Irm stemmte die Hände in die Hüften, als sie von den Werwölfen nur angestarrt wurde.

„Was?“, fauchte sie gereizt.

„Du siehst ja richtig gut aus“, stammelte Rafe völlig gefangen von Irms Anblick. Zev drehte langsam den Kopf zu seinem Rudelanführer und starrte ihn entgeistert an. Hatte der eigentlich noch alle beisammen?

„Na, danke aber auch“; schnappte Irm pikiert ein. Zev gab Rafe einen Tritt gegen die Wade, der es schaffte, dass Rafes Gehirn wieder ansprang.

„Oh! Du … ach du Scheiße! Nein! Nein, ich hab das nicht so … ich meinte das … Ich … Zev, hilf mir!“, stotterte er panisch, als ihm klar wurde, was er da eigentlich gerade zu Irm gesagt hatte. Zev haderte kurz mit sich selbst, denn diese Dummheit müsste Rafe eigentlich allein ausbaden, welcher normale Werwolf mit ein bisschen Verstand sagte denn so etwas zu einer Frau, verflucht noch mal!? Das hätte er von den Zwillingen erwartet, oder aus Trotz von Aatu, aber doch nicht von Rafe!

„Der Idiot hier neben mir will damit sagen, dass er recht hatte, mit seiner Aussage von vor zwei Wochen, dass du mit normaler Kleidung sehr schön sein würdest“, half er seinem Rudelanführer dann doch aus. Irm verdrehte die Augen.

„So langsam glaub ich echt, ihr heißt wilde Werwölfe, weil ihr alle Trampel seid“, schnaubte sie mürrisch.

„Bist du mir böse?“, hakte Rafe vorsichtig nach. Falls ja, musste er sich schleunigst was einfallen lassen, um sie zu besänftigen. Und er bezweifelte, dass eine Hexe ein gejagtes Baby als Geschenk gut finden würde. Eine Werwölfin würde sofort verstehen, dass es sich dabei um ein sehr großzügiges und besonderes Geschenk handelte, aber eine Hexe wohl eher nicht.

„Nein. Nicht sehr. Nur ein bisschen. Hast Glück, dass ich so gute Laune habe“, erwiderte sie streng. Rafe schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und wandte sich von Irm ab, damit die seinen gequälten Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. So entging ihm allerdings auch Irms belustigt funkelnden Augen.

Zev gab Aatu einen groben Stoß zwischen die Schulterblätter.

„Los, nimm deine Begleitung an den Arm, sonst kommen wir zu spät!“, herrschte er ihn an. Es war ja nicht auszuhalten, wie die beiden Brüder sich hier verhielten! Man könnte meinen, die beiden hätten keine Erziehung genossen! Aatu blitzte Zev wütend an, ging dann aber auf Irm zu und hielt ihr seinen linken Arm hin.

„Mylady?“, fragte er höflich. Irm schenkte ihm ein dümmliches Grinsen und klimperte ihn übertrieben demütig an.

„Aber gerne doch, Mylord“, flötete sie in schlechtem Falsett, hielt sich in einer perfekten Imitation einer wohlerzogenen Dame die Fingerspitzen vor den Mund und hakte sich bei ihm ein.

„Rafe, ich weiß, dass du ein Idiot bist und ich weiß, dass es dir leidtut. Und bevor du auf Brautschau gehst, üben wir beide dieses mit Frauen reden noch mal, verstanden?“, zog sie Rafe noch ein wenig auf. Der drehte sich zu ihr und schenkte ihr ein zynisches Grinsen.

„Du siehst wirklich bezaubernd aus, Irm“, beteuerte er ehrlich.

„Ich weiß, das hast du schon gesagt“, wehrte sie ab und machte eine scheuchende Handbewegung.

„Und jetzt beweg dich, Unpünktlichkeit ist keine Tugend!“ Sie wollte zwar genauso ernst und herrisch dabei klingen, wie ihre Tante, doch das Grinsen, welches sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

„Oh, und Rafe: Danke.“ Das Lächeln, welches sie Rafe schenkte war warm und tatsächlich ein wenig schüchtern. Rafe erwiderte es erleichtert.

„Ich mag eure Rudelfarben“, sagte sie leise zu Aatu, als sie von T-Dreieinhalb weg zum Schloss schritten. Aatu sah sie fragend an. Er war zu überwältigt von ihr, als dass er sich ablehnend verhalten konnte. Außerdem musste er die nächsten drei Tage mit ihr verbringen und es ging keinen etwas an, dass er ein Problem mit Hexen hatte. Er würde hier nur eine Show abziehen, um das Gesicht des Rudels zu wahren. Was war er doch für ein erbärmlicher Lügner.

„Jetzt weiß ich auch, weshalb Holga gelacht hat, als sie mich fragte, welche Farben meine Kleider haben sollen.“

„Wieso? Was hast du gesagt?“, wollte Aatu ehrlich neugierig wissen und beugte sich näher an Irm heran, um sie zu verstehen.

„Schwarz und grün wie Derne und weiß wie Flöckchen.“

„Schwarz wie die Nacht, in der wir jagen, grün wie der Wald, der uns umgibt und weiß, wie der Mond, der uns den Weg zeigt“, klärte Aatu sie flüsternd auf.

„Danke, das sollte ich wissen, wenn mich jemand fragt. Ich wünschte, das hier wäre schon vorbei“, gestand sie mit einem verhaltenen Seufzen. Aatu schnaubte zustimmend.



8. Von einer Tante, einem Geständnis und den Rudelhexen


Das Schloss war in das Licht der untergehenden Sonne und abertausenden Fackeln getaucht und ließ seine Fassade wie Gold glänzen. Am prächtigen Vordereingang, der von perfekt gestutzten Büschen und Rosensträuchern flankiert wurde, standen unzählige Vehikel mit ihren Chauffeuren und eben betrat irgendein Rudel das Gebäude.

Irm schloss kurz die Augen, als die Nervosität sie zu übermannen drohte. Dass es sich dabei nicht nur um ihre eigene, sondern auch um die ihrer werwölfischen Begleiter handelte, machte die Sache nicht gerade besser.

„Wir sind die letzten Wilden Werwölfe des Landes“, flüsterte sie kaum hörbar. Rafe vor ihr legte leicht den Kopf schief und lauschte. Irm legte ihre rechte Hand auf Aatus linken Unterarm, an dem sie sich eingehakt hatte und drückte ihn kurz.

„Wir sind die letzten Wilden Werwölfe des Landes und unser Name ist Wolf und wir haben keine Angst.“

Irm richtete sich ein wenig auf, reckte das Kinn und trug eine gelassene Miene zur Schau.

„Merkt euch das. Und keiner lässt sich von niemandem reizen!“, fügte sie ruppig hinzu. Seff und Velvel verzogen ihre Münder, schwiegen aber.

Rafe und Zev traten an die breite Eingangstreppe und wandten sich an den hochgewachsenen Mann im Frack.

„Rafe von den Wilden Werwölfen“, stellte er sich vor und seine Stimme klang herrisch und selbstbewusst. Der Mann nickte, verneigte sich vor Rafe und deutete ihm stumm an, ihm zu folgen.

Der Steinboden war alt und stand im völligen Widerspruch zur glänzenden Fassade des Schlosses. Irm kramte in ihrem Gedächtnis nach Informationen über diesen Versammlungsort.

Sie wusste, er war alt und dass manche behaupteten, er sei so alt wie die Welt, und war von einer einfachen Halle im Laufe der Zeit von den jeweiligen Hütern des Versammlungsortes zu diesem Schloss gebaut worden. Die Steine des Bodens in der großen Empfangshalle waren die einzigen noch verbliebenen Zeugen dieser Zeit. Zumindest hieß es so.

Die große Halle war gut gefüllt, was bedeutete, dass die meisten Rudel schon anwesend waren. Riesige Kronleuchter spendeten helles Licht, an den hohen Wänden hingen große Vorhänge, auf denen wichtige Ereignisse der Rudel aufgestickt worden waren und an den Tischen davor konnte man sich verschiedene Häppchen und Trinken holen. Irm bezweifelte, dass sie auch nur einen Bissen davon essen konnte. Ihr Magen war ein ängstlicher kleiner Klumpen. Rafe und seine Werwölfe mussten sich nur den neugierigen Augen der anderen stellen, aber sie musste ihrer Tante noch die grandiose Neuigkeit erklären, dass sie jetzt eine Rudelhexe war. Irm ließ unauffällig ihren Blick schweifen und suchte nach dem Lupin de l'Ouest-Rudel, während sie sich beinahe panisch an Aatus Arm klammerte. Falls sie ihm mit ihrem Klammergriff wehtat, und das tat sie bestimmt, immerhin bohrte sie ihm ziemlich kräftig die Fingernägel ins Fleisch, dann ließ er sich netterweise nichts davon anmerken. Aatus Blick war unergründlich und seine Miene wie in Stein gemeißelt.

„Das Rudel der Wilden Werwölfe aus dem Norden mit ihrem Anführer Rafe!“, dröhnte die Stimme des Frackträgers vor Rafe plötzlich durch die Halle. Irm zuckte leicht zusammen und jetzt legte ihr Aatu beruhigend die Hand auf ihre. Die Geste wäre vielleicht beruhigend gewesen, wenn seine Hand nicht so kalt wie Eis gewesen wäre. Der Werwolf war nicht weniger nervös als sie.

Die Köpfe aller Anwesenden wandten sich zu Rafe und seiner kleinen Gruppe.

Erst herrschte erstauntes Schweigen, dann ging eifriges Raunen durch den Saal. Und dann tauchte zu allem Übel Irms Tante Estelle mit Primus Arkos und seinem Gefolge in Irms Blickfeld auf. Irm atmete tief durch und hoffte, dass sie zumindest selbstbewusst aussah, wenn sie sich schon nicht so fühlte.

Estelle vom Lupin de l'Ouest-Rudel, Rudelhexe in siebter Generation, schwebte in einem hautengen burgunderroten Kleid und einem hals- und schulterbedeckenden Collier mit unzähligen Rubinen auf Rafe zu. Sie war groß, sogar noch größer als Irm und schlank wie eine Haselnussgerte. Ihre rotbraunen Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, der ihr weit über den Rücken fiel. Ihre Augen hatten dasselbe helle Braun, wie das von Irm, ihr schmales Gesicht zierte dieselbe aristokratische Nase, nur Estelles Mund war schmaler und von einem nicht ganz so natürlichen Rot wie Irms.

„Rafe.“ Sie verneigte sich vor ihm und hielt ihm ihre schmalen, eleganten Hände hin. Rafe ergriff sie sanft und erwiderte die Verneigung.

„Estelle“, grüßte er zurück.

„Rafe, Worte können nicht vermitteln, was ich fühle …“ Sie verstummte. Rafe nickte. Er wusste, sie sprach von Æftelberts Verrat und dem Tod seines Vaters. Und er wusste, Estelle meinte es ernst.

„Danke, Estelle. Es wird vergehen“, beteuerte er zuversichtlich, dann zuckten Estelles Finger kurz in seinen Händen. Rafe tippte mal darauf, dass sie ihre Nichte am Arm seines Bruders entdeckt hatte. Rafe verkniff sich ein Grinsen. Stattdessen drehte er sich mit einem gewinnenden Lächeln um und zog Estelle mit sich.

„Estelle, darf ich dir unsere Rudelhexe vorstellen?“

Irm hätte ihn am Liebsten erschlagen, erwürgt und ertränkt und das alles gleichzeitig. Sie blitzte ihn kurz an, dann verneigte sie sich vor ihrer Tante.

„Tante Estelle“, grüßte sie artig.


So viele Gefühle und Empfindungen tobten durch Estelle, dass sie gar nicht in der Lage war, irgendeines davon zu zeigen. Sie neigte erhaben den Kopf vor ihrer Nichte.

„Meine liebe Irm“, grüßte sie zurück. „Es freut mich zu sehen, wie gut es dir geht.“

Estelle breitete in einer liebevollen Geste die Arme aus. Aatu musste Irms Finger regelrecht von seinem Unterarm reißen, dass sie ihn losließ. Schüchtern trat Irm in die Umarmung ihrer Tante.

„Wir müssen reden. Allein. Sofort!“, zischte Estelle ihr ins Ohr und hauchte ihr einen Willkommenskuss auf die Wange.

„Du siehst wunderschön aus. Komm, lassen wir unsere Herren Politik machen und wir plaudern ein wenig miteinander.“ Estelles Stimme war perlend wie ein Wasserfall, doch Irm wusste, dass diese Perlen verflucht wehtun konnten. Mit einem höflichen Nicken entschuldigte sie sich bei Aatu und Rafe und folgte ihrer Tante zu einem der reichlich bestückten Buffettische. Gehorsam griff sie sich ein Glas Champagner. Rafe bemerkte voller Verzücken, dass Irm tatsächlich ihr Versprechen einhielt; sie schwebte regelrecht über den Boden hinter ihrer Tante her, die zielstrebig eine Tür öffnete und in das dahinterliegende Zimmer trat.

Irm hätte sich bestimmt gerne darin umgesehen und die alten Bücher in den deckenhohen Regalen bewundert oder den teuren Samt aus dem die Vorhänge waren, doch kaum, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wirbelte Estelle herum und blitzte sie wütend an.

„Weißt du denn überhaupt, was du da tust?“, herrschte sie Irm an und knallte das Champagnerglas so fest auf ein Beistelltischchen, das der grazile Fuß davon abbrach. Irm schnippte hastig mit den Fingern und der Fuß setzte sich wieder zusammen, bevor auch nur ein Tropfen verschüttet werden konnte.

„Das ist kein Spiel, junge Dame!“, unterbrach Estelle sie, als Irm den Mund öffnete, um zu antworten.

„Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was da für Verantwortung auf dich zukommt!“, tobte sie weiter und Irm beschloss, einfach zu warten, bis ihrer Tante die Luft ausging. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und nippte an ihrem Glas. Angewidert verzog sie das Gesicht. Das Zeug schmeckte ja ekelhaft! Irm schüttelte sich und kippte den Champagner in eine Tischblume.

„Tante Estelle? Bist du jetzt fertig?“, fragte sie und sah Estelle, die völlig aufgewühlt durch das Zimmer tigerte und herumwetterte, gelassen an. Estelle bremste abrupt.

„Bitte was?“, hakte sie bissig nach. Hatte Irm sie gerade etwa unterbrochen?

„Tante Estelle, bitte. Hör mir zu.“ Irm stellte ihr leeres Glas ab und kam beschwichtigend auf ihre Tante zu. Woher nahm sie auf einmal diese Ruhe und Zuversicht? Kam sie von ihrem Rudel? Kam sie davon, dass Rafe ihr vertraute? Irm wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie keine Angst mehr vor dem Zorn ihrer Tante hatte. Sie griff nach Estelles Händen und drückte sie sanft.

„Tante Estelle, darf ich es dir erzählen? Bitte.“ Irms Blick war eindringlich. Estelle seufzte herzhaft und deutete auf die Couch.

„Ich denke, dazu muss ich mich setzen“, meinte sie, griff im Vorbeigehen nach ihrem Champagnerglas und stutzte, als sie Irms leeres Glas sah.

„Sag mir jetzt bitte nicht, du hast deinen Champagner schon ausgetrunken“, bat sie tadelnd. Irm grinste ihr unbekümmertes Grinsen.

„Nö. In die Blumen gekippt, das Zeug ist ekelhaft“, antwortete sie gleichmütig, wartete, bis Estelle sich mit einem missbilligenden Schnauben gesetzt hatte und nahm dann neben ihrer Tante Platz.

Und dann begann sie Estelle zu erzählen, wie sie es geschafft hatte, die Rudelhexe vom letzten Rudel der Wilden Werwölfe des Landes zu werden.


Estelle musste sich drei Mal das Glas neu vollhexen.

Es war sogar noch viel Schlimmer, als sie befürchtet hatte.

„Kind“, begann sie sorgenvoll, „ich bitte dich. Lehn es ab!“ Estelle griff nach Irms Hand und drückte sie fest.

„Wieso, Tante? Wieso ist es so furchtbar für dich, dass ich ihre Rudelhexe bin? Ich bin nicht so untalentiert, wie du immer dachtest. Verdammt noch mal, Tante Estelle! Ich habe Matchit vor fünf Jahren geröstet, ohne ihn zu töten, und das war kein Zufall, sondern genau kalkuliert! Ich habe die Krieger meiner Werwölfe verdoppelt, und zwar so verdammt gut, dass Matchit nicht bemerkt hat, dass da vierzig hirnlose Kopien stehen! Ich bin für mein Rudel da! Ich helfe ihm, ich unterstütze es! Ich beschütze es! Und ich kann es!“, brauste sie auf und entriss ihre Hand.

„Weil du nicht alles weißt, Irm.“ Estelles Blick war voll Trauer.

„Dann sag es mir!“, verlangte Irm hart. Dann stockte sie. Täuschte sie sich oder schimmerten da tatsächlich Tränen in den Augen ihrer Tante?

„Tante Estelle?“, fragte sie zaghaft. „Alles in Ordnung?“

Estelle räusperte sich energisch, richtete sich auf und schenkte ihrer Nichte ein falsches fröhliches Lächeln.

„Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, dass du dich bei uns wohlfühlst“, begann sie völlig zusammenhanglos. Irm runzelte verwirrt die Stirn.

„Ich wusste von Anfang an, dass du nicht zu uns passen würdest. Das ist nichts gegen dich, mein Kind, du bist nun mal schlicht keine Süd-West-Wald-Frau. Du bist ein Süd-Wolf, mein kleines Häschen und du wirst es auch immer bleiben.“

Noch nie hatte Irm so viel zärtliche Liebe in den Augen ihrer Tante gesehen und gleichzeitig auch so viel Wehmut.

„Deine Mutter war wie du. Sie hat Arkos in den Wahnsinn getrieben.“ Estelle lachte traurig auf und Irm stellte fest, dass es das erste Mal war, dass ihre Tante den Rudelanführer nicht mit seinem offiziellen Namen Primus Arkos betitelte. Sie wartete schweigend.

„Trotzdem hat er sie wie sein eigen Fleisch und Blut geliebt. Wirklich, Irm. Vater war viel zu sehr mit seinen Zaubersprüchen und Zauberbüchern beschäftigt gewesen und Mutter hatte viel zu viel damit zu tun, um aus mir eine vorbildliche Rudelhexe zu machen, und so hat sich Arkos Danicas angenommen. Sie sah aus wie du. Wie oft hat er sie getadelt, weil sie aussah wie ein Waldtroll, wenn sie nach Hause kam. Die Haare voller kleiner Äste und Blätter, das Gesicht schmutzig, die Kleider zerrissen. Sie war bockig, weil sie nicht mit den Werwölfen mit auf die Jagd durfte und sie hat ihnen ständig irgendwelche Streiche gespielt. Primus Ilker, Arkos‘ Vater, der damals das Rudel anführte, fand sie zu putzig und hat immer mitgemacht, wenn sie Blödsinn ausgeheckt hat. Und ich musste auch jedes Mal mitmachen, ob ich wollte oder nicht. Sie hat einmal sogar Mutter in den Turm eingesperrt, damit wir beide durch die Stadt bummeln können. Hätte Primus Ilker nicht eingegriffen, hätte sie uns windelweich geprügelt, so zornig war sie.“ Estelle unterbrach ihre Erzählung um herzhaft zu lachen. Irms Herz klopfte wild. Sie hörte endlich Geschichten über ihre Mutter. Sie schluckte hart.

„Jedenfalls, für Arkos war deine Mutter also etwas sehr Besonderes und dementsprechend war er auch äußerst kritisch, was zukünftige Ehemänner für sie anbelangte. Als er allerdings deinen Vater, Andrian, das erste Mal sah, war für ihn klar, dass nur so jemand wie er deiner Mutter würdig war.“ Estelle schüttelte den Kopf und hexte ihr Glas das vierte Mal voll. Sie nahm einen geziemten Schluck daraus und fuhr fort: „Lange Rede, kurzer Sinn, die beiden haben geheiratet und Danica ist zu ihrem Andrian zu dessen Rudel in den Süden gezogen. Arkos hat sie vermisst und ihr hinterhergeheult und Primus Ilker war stolz und zufrieden, da dieses Rudel nun ein wunderbarer Verbündeter von uns war und Danica glücklich. Es war eine wirklich gute Zeit damals. Als unser Rudel in Bedrängnis geriet, schickten wir einen Vogel zu ihnen, mit der Bitte um Hilfe und sie kamen umgehend. Nun, wirklich gut war das eigentlich nicht, wir verloren wertvolle Mitglieder- meine Eltern zum Beispiel - und das Rudel aus dem Süden ihren Anführer, aber wir waren Verbündete und Freunde. Hundertfünfzig Jahre lang waren wir für einander da und selbst die große Entfernung von zwei Tagen konnte nichts an unserer engen Verbindung ändern. Dann kam der Vogel mit der Nachricht, dass du geboren seist. Wir sind mit Sack und Pack augenblicklich aufgebrochen und haben vier Tage lang deine Geburt gefeiert. Es grenzte an ein Wunder, dass Arkos dich nicht in den Kofferraum seines Vehikels gesteckt und mitgenommen hatte.“ Estelle lachte auf und Irm fragte sich, ob sie vom selben Primus Arkos sprach, wie der Primus Arkos, der immer an ihr herumgemeckert hatte. Sie zog kritisch die Nase kraus.

„Es war kurz vor deinem zweiten Geburtstag, Primus Ilker hatte beschlossen, schon ein paar Tage früher zu euch zu reisen, um geschäftliche Dinge mit dem dortigen Rudelanführer zu besprechen, als der Vogel kam.“ Estelle senkte den Blick und schluckte hart.

„Wir kamen so schnell wir konnten. Die Burg stand in Flammen. Überall waren Tote. Sie waren überrannt worden. Sie waren so gierig darauf gewesen, sich dieses Rudel unter die Finger zu reißen, sie sich zu Eigen zu machen, dass es ihnen völlig egal war, dass sie sie alle töteten. Meine Schwester! Meinen Schwager! Meinen Rudelanführer!“ Der Zorn ließ Estelles Stimme zittern. In Irm kroch eine leise Ahnung hoch.

„Ich konnte dich nirgends finden. Ich rannte durch die Flammen und du warst nicht aufzufinden und überall lagen unsere toten Freunde und ich war mir so sicher, dass sie dich getötet hätten und ich habe Asche, Tod und Verderben über sie hereinbrechen lassen.“

Oh, Irm wusste, was das hieß. Der mütterliche Zweig ihrer Familie neigte dazu, zerstörerischer als eine ganze Horde rasender Naturdämonen wüten zu können. Es gab in der Bibliothek des Süd-West-Wald-Rudels allein fünf Bücher nur über die entsetzlichen Katastrophen, die dieser Zweig Hexen und Zauberer in Rage verursacht hatten.

Memo an die Welt: Legt euch nicht mit Estelle an!

„Danach war nichts mehr übrig. Keine Toten, keine Burg. Und das Rudel der Wilden Werwölfe aus dem Süden, die Krieger waren, waren von der Erde verschwunden.“

Irm zauberte ein Taschentuch aus einer Rockfalte hervor und hielt es ihrer Tante unter die Nase.

„Deshalb hab ich also damals in der Bibliothek geheult, als ich gelesen habe, dass dieses Rudel verschwunden ist. Ich gehörte zu ihnen“, stellte sie fest und fühlte sich seltsamerweise glücklich. Hätte sie jetzt nicht eigentlich völlig schockiert sein sollen? Immerhin hatte sie eben erfahren, dass ihr Vater der Rudelzauberer von Wilden Werwölfen gewesen war. Irm nagte nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum.

„Eine Woche später kam ein Wolf zu mir. Er hatte dich auf dem Arm. Als er sah, dass deine Eltern tot und die Wilden Werwölfe am Sterben waren, hat er dich aus deiner Wiege gerissen und ist mit dir gerannt wie der Teufel. So weit weg wie er nur konnte. Und er hat sich mit dir versteckt, bis er sicher war, dass keinen von denen nach dir suchen würde. Er konnte ja nicht wissen, dass ich das Rudel samt Zauberer vom Süd-Ost-Tor in meiner Rage pulverisiert hatte.

Und dann wurdest du wild. Wie deine Mutter hast du dich in den Wald geschlichen und bist mit Ästen und Zweigen im Haar und Dreck im Gesicht zurückgekommen und es war zu viel für Arkos. Wann immer er dich so gesehen hat, wurde er an sein Versagen erinnert. Er fühlt sich dafür verantwortlich, dass alle starben. Er ist immer noch der Meinung, dass wir hätten schneller sein müssen, dass er hätte schneller reagieren müssen. Er glaubt, er hätte versagt. Es tut mir leid, meine kleine Wildblume.“

Irm stürzte vor und nahm ihre Tante fest in den Arm. Sie war streng und unnachgiebig mit ihr gewesen und sie hatte Dinge getan, die Irm mächtig gegen den Strich gegangen waren, aber sie hatte Irm immer geliebt.

„Du warst und bist und bleibst immer eine Wilde Werwölfin aus dem Süden. Und das war so furchtbar für mich, denn ich wusste, was Rafes Rudel passiert ist und ich wusste, dass es dich zu ihnen ziehen wird und dass du dich ihnen anschließen wirst und ich hatte solche Angst, dass dann dasselbe geschehen würde, wie deiner Mutter. Und Irm, meine kleine Wildblume, versteh doch, das musste ich verhindern. Ich könnte es nicht ertragen, auch noch dich auf diese Weise zu verlieren, nur weil sie alle Herren über die Wilden Werwölfe sein wollen!“ Jetzt brach Estelle in Tränen aus. Irm war kurz etwas überfordert. Sie hatte ihre Tante noch nie weinen sehen. Unbeholfen tätschelte sie Estelles Rücken.

„Ist ja gut, ist ja gut“, tröstete sie linkisch und wünschte sich ziemlich verzweifelt Primus Arkos her. Neben ihr zog ihre Tante verdammt undamenhaft laut die Nase hoch und schnäuzte nicht weniger laut in Irms Taschentuch.

„Arkos flippt aus, wenn er das richtig realisiert“, nuschelte sie verschnupft.

„Kohlestift?“, bot Irm ihr ihren hergezauberten Kohlestift an, damit Estelle ihre Augen nachschminken konnte. Estelle lachte weinend.

„Sag doch was dazu, Kind!“, verlangte sie. Irm wackelte mit der Nase. Vielleicht würde ihr morgen erst wirklich klar werden, was ihre Tante ihr gerade eben gesagt hatte. Im Moment konnte sie sich nur auf einen Satz konzentrieren. Ich wusste, dass du dich ihnen anschließen wirst. Es gab nur einen Weg für eine Hexe, sich einem Rudel anzuschließen, nämlich als ihre Rudelhexe. Irm rückte von ihrer Tante ab.

„Du wusstest, dass ich mich ihnen anschließen würde?“, hakte sie kritisch nach.

„Schätzchen“, begann Estelle, schnäuzte sich noch mal lautstark und räusperte sich, „Du kommst mütterlicherseits aus derselben Linie wie Bayard der Große und man muss schon mehr sein, als ein Wald-und Wiesen-Zauberer um Rudelzauberer bei einem Rudel Wilden Werwölfe zu werden“, begann sie und ihre Stimme war fest und erhaben wie eh und je. Bis auf die roten Augen und dem verschmierten Kohlestrich wies nichts darauf hin, dass ihre Tante eben noch völlig aufgelöst neben ihr gesessen hatte.

„Aber du hast mir immer gesagt, dass es mir an Talent und überhaupt an allem fehlt, was eine Rudelhexe ausmacht!“, protestierte Irm und bemerkte, dass sie wütend wurde. Estelle legte ihre Zeigefinger unter ihre verquollenen Augen und als sie sie wieder wegnahm, war von ihrem Weinkrampf nichts mehr zu sehen. Ihre Haut war adlig blass und glatt wie eh und je.

„Damit du eben nicht zu diesen Wölfen gehst und falls du ihnen doch über den Weg laufen solltest, du dann erst gar nicht auf die Idee kommst, dich bei ihnen einzunisten!“, erwiderte sie, ließ einen Handspiegel erscheinen und bemalte ihre Augen neu.

„Danke, mein Herz.“ Sie gab Irm ihren Kohlestift zurück und die ließ ihn unwirsch verschwinden.

„Na, das hat zumindest geklappt! Ich wollte ja gehen, aber dieser verfluchte Zev wollte das nicht! Und das nur, weil diese verdammen Hexensäcke nicht funktioniert haben!“, knurrte sie und warf sich mit verschränkten Armen in das Polster der Couch.

„Natürlich haben die nicht funktioniert. Und hättest du in deinem Unterricht mehr aufgepasst, dann wüsstest du auch warum!“, brauste Estelle auf. Irm verdrehte die Augen, warf ihre Hände in die Höhe und stöhnte genervt. Jetzt ging das wieder los!

„Hexensäcke verteidigen von ungewollten magischen An- und Übergriffen! Bist du aber dazu bestimmt, die Rudelhexe oder Rudelzauberer zu sein, dann ist deine Magie ja wohl kaum ungewollt, junge Dame!“ Estelle erhob sich und stemmte die Hände in die Hüften.

„Und offensichtlich ist Zev der Einzige in deinem Rudel, der sich mit einem bisschen mehr beschäftigt, als nur jagen, fressen und Dummheiten machen!“, warf sie Irm vor. Irm sprang mit einem Satz auf die Beine.

„Ich wohne seit gerade mal zwei Tagen in der Burg! Ich bin leider noch nicht dazugekommen, mir alle siebenhundertdreiundachtzig Bücher durchzulesen, die ich von Æftelbert übernommen habe!“, schnappte sie zickig.

„Hättest du deinem Unterricht besser gefolgt, dann müsstest du so etwas nicht aus den Büchern eines verdammten Verräters lernen!“

„Boah! Ich habe aufge… meistens aufgepasst!“

Estelle schnaubte.

„Ja, das merke ich. Wie lange bist du jetzt schon bei ihnen?“, fragte sie streng.

„Seit drei Monaten, das hab ich dir doch erzählt! Aber Rafe hat erst vor zwei Wochen beschlossen, dass ich ihre Rudelhexe sein soll.“ Irm raufte sich die Haare. Als sie ihre Finger wieder aus ihren Locken nahm, sah ihre Frisur aus, als ob ein Tornado durch sie hindurch gefegt wäre. Estelle stieß einen tadelnden Ton aus, schnippte mit den Fingern und Irms Frisur saß wieder perfekt. Als sie Irm ansah, hatte ihr Blick etwas Lauerndes.

„Du hast zugesagt?“, hakte sie nach. Irm kniff die Lippen zusammen.

„Ja“, behauptete sie schnippisch. Estelle sah ihre Nichte ungläubig an. Irm schnaubte, drehte sich auf dem Absatz um und hetzte zur Tür. Sie riss sie auf, streckte den Kopf nach draußen und suchte nach Rafe, der ganz in der Nähe stand und an einem Hähnchenschenkel knabberte.

„Rafe!“, raunzte sie ihn herrisch an. Rafe zuckte erschrocken zusammen.

„Ja, ich bin eure Rudelhexe“, fauchte sie und knallte die Tür wieder ins Schloss. Mit unverhohlenem Triumph drehte sie sich zu ihrer Tante um.

Jetzt habe ich es.“ Irm schnappte sich Estelles volles Glas und kippte es in einem Zug hinunter.

„Wie kannst du so was nur trinken?“, beschwerte sie sich angewidert und schüttelte sich ausgiebig.

„Man wird nicht zu einer Rudelhexe erzogen, junges Fräulein, man wird als Rudelhexe geboren!“, begann Estelle schulmeisterlich und schlenderte um Irm herum.

„Tante, bitte, das hatten wir doch schon“, jammerte sie unleidig. Sie hatte genug von dem ganzen Thema, eigentlich hatte sie genug von dem ganzen Zusammentreffen. Sie wollte in ihren T-Dreieinhalb und nachdenken und sich selbst bemitleiden, weil sie ihr ganzen Leben lang belogen worden war.

„Und egal, was auch geschieht: Mit Fleiß, Disziplin und einer Spur Talent wird jede Hexe auf den Stand kommen, auf den sie bestimmt ist, zu kommen.“ Estelle bohrte ihren langen Zeigefinger in Irms Brustbein. Irm verzog vor Schmerzen das Gesicht.

„Hast du mich verstanden, Irm aus dem Süden? Mit Fleiß …?“ Sie ließ den Rest des Satzes erwartungsvoll in der Luft hängen. Irm verdreht die Augen.

„Mit Fleiß, Disziplin und einer Spur Talent kann man alles zu seiner Zeit erreichen“, leierte sie herunter. Estelle nahm ihren Finger vom Brustbein ihrer Nichte.

„Gut. Dann weißt du ja alles, was du wissen musst“, behauptete sie zufrieden. Irm hatte keine Ahnung, wovon diese Frau da gerade redete.

„Wenn du das sagst“, sagte sie, weil sie wusste, dass ihre Tante auf eine Antwort wartete.

„Weil es so ist!“, korrigierte Estelle erhaben. „Weshalb glaubst du, dass du Irm heißt?“

Irm hob genervt die Hände.

„Keine Ahnung? Weil meine Eltern den Namen so toll fanden?“, vermutete sie mürrisch. Estelle gab ihr eine leichte Ohrfeige.

„Aua!“ Irm hielt sich die schmerzende Wange und blitzte ihre Tante böse an.

„Weil Irm groß und gewaltig gedeutet, du dummes Huhn!“, fuhr sie ihre Nichte an. Oh, bei allen Höllen und Himmeln, bei diesem Kind war Hopfen und Malz verloren. Irm nuschelte etwas undeutliches, wahrscheinlich einen Fluch.

„Und jetzt steh gerade und hör auf zu nuscheln, Irm aus dem Süden, Rudelhexe der letzten Wilden Werwölfe. Deine Aufgabe ist schwer und anstrengend. Du hast mehr Feinde, als Verbündete auf dieser Welt.“ Estelle rückte noch ein wenig an Irms Haltung herum, bis sie zufrieden war.

„Aber du hast auch Verbündete. Und wenn du gefragt wirst, Wildblume, dann bist du schon seit zwei Jahren ihre Hexe, und zwar bevor Rafe auf die Suche nach Bayard ging, hast du mich verstanden? Du hast dich schlicht bedeckt gehalten, weil ihr ja die Hexensäcke hattet, die euch genug Schutz gegeben haben.“ Estelle sah ihr ernst in die Augen. Irm verstand.

„Es geht bei der Veränderung nicht um mich als Rudelhexe. Sie wollen Rafe eins auswischen, weil er weg war. Sie haben gar nicht damit gerechnet, dass er dabei ist, hab ich recht?“, wisperte sie erschüttert. Estelle nickte.

„Sag es ihm schnell und ruf mich, wenn ihr Hilfe braucht. Das Rudel der Lupin de l'Ouest wird euch jederzeit beistehen“, beteuerte sie ernst. Irm nickte hastig und eilte zur Tür. Sie musste dringend mit Rafe und den anderen reden.

Und, oh, mein Gott! Sie war eine richtige Rudelhexe!




9. Von einem Abendessen, einer Entscheidung und zu vielen Eröffnungen


Rafe wusste nicht, ob er wütend war oder enttäuscht oder was auch immer.

Irm stand bei ihm, lächelte charmant und plapperte irgendwelche Nichtigkeiten vor sich hin, während sie sich bei ihm eingehakt hatte und ihm beruhigend über den Unterarm strich. Er wusste, dass keiner von ihnen es gutgeheißen hatte, dass er sein Rudel zwei Jahre allein gelassen hatte, um den Zauberer zu suchen, aber ihm waren die Ideen ausgegangen, was er sonst noch hätte alles tun können, um sein Rudel vor diesen ständigen und lästigen Belagerungen anderer Zauberer und Hexen zu schützen. Nicht, dass es wirklich viel gebracht hatte und sich im Nachhinein als völlig sinnlos herausgestellte hatte, aber er hatte es versuchen müssen. Dass sie das nun als Grund nehmen wollten, sein Rudel von einem andern übernehmen zu lassen, ließ Rafes Puls in die Höhe schnellen. Wäre es ein anderes Rudel, hätten es alle akzeptiert, aber sie konnten sich alle die große Chance, sich Wilde Werwölfe zu holen, einfach nicht entgehen lassen. Irm drückte sanft seine Hand und Rafe fühlte, dass sein Zorn verging. Nun, dieses Thema war ja hiermit auch vom Tisch. Sie würden sich von niemandem in die Lehnsherrschaft zwingen lassen müssen, da er ja wieder da war und darüber hinaus hatten sie jetzt ja auch wieder eine Rudelhexe. Eine, die zu ihnen gehörte. Eine, deren Puls im selben Takt wie seiner schlug. Die ihre Stimmungen aufsog wie ein Schwamm und ihnen helfend und unterstützend beiseite stand. Rafe lächelte leicht.

Nein, so ein Rudelzauberer war Æftelbert nicht gewesen.

Er war gut gewesen, aber war nicht so ein Teil von ihnen gewesen, wie es Irm schon nach nur drei Monaten war. Er war eben keine Irm gewesen. Rafes Lächeln wurde breiter, als er bewusst wahrnahm, welches Schauspiel sie und Aatu vollführten, damit niemandem sein unterdrückter Zorn auffiel. Sie kokettierte gerade laut genug mit ihm, um eventuelle Aufmerksamkeit von Rafe abzulenken, sie neckten sich oder unterhielten wie im Moment über die kleinen Kanapees, die auf dem Buffettisch vor ihnen standen.

„Oh, wenn du das schon magst, dann musst du die Kaviarhäppchen probieren, Aatu. Es wird gesagt, dass es nirgendwo auf dieser Welt so schmackhafte Kaviarhäppchen gibt, wie hier“, plauderte sie fröhlich, während sie unablässig Rafes Arm streichelte. Aatu machte artig „Oh, tatsächlich?“ und kostete brav von den zu kunstvollen Türmchen geschichteten Leckereien aus Fischrogen. Irm hätte ihn dafür küssen können. Er kaute zwei Mal, dann versteifte er sich und spülte hastig mit Champagner nach. Irm biss sich auf die Unterlippe. Dafür war nachher eine Entschuldigung von ihr fällig.

„Danke. Es geht wieder“, beteuerte Rafe und er klang wirklich ruhiger als noch vor zwei Minuten.

„Wir sind die Wilden Werwölfe vom Norden“, murmelte er konzentriert und Irm fiel ein, dass es da noch etwas gab, was sie ihnen sagen musste. Das musste dann aber bis nach dem Essen warten.

Sie ließ Rafes Arm los und nahm sich ein mit Truthahn belegtes Stückchen Brot.

„Es sind mittlerweile alle da“, teilte Zev ihnen mit. Irm bewunderte ihn von Tag zu Tag mehr. Er war so wunderbar gelassen und ruhig, selbst wenn alles um ihn herum kopfstand. Sie knabberte nachdenklich an ihrem Häppchen herum.

Ihre Eltern waren die Rudelzauberer vom Rudel der Wilden Werwölfe vom Süden gewesen, deren Name Krieger war. Sie konnte nicht einmal triumphierend sagen, dass sie das ja schon immer geahnt hatte, denn das hatte sie nicht. Woher auch? Die Wilden Werwölfe waren immer totgeschwiegen worden, jetzt wusste sie auch warum.

Was sie allerdings viel mehr beschäftigte, war die Aussage ihrer Tante, dass Primus Arkos sie eigentlich gern hatte. Das kam ihr dann allerdings viel fantastischer vor, als die Eröffnung ihrer Herkunft. Und dass sie doch zu einer Rudelhexe taugte. Sogar das trat in den Hintergrund. Sie wollte so gerne mit Primus Arkos reden, sie wollte von ihm alles über ihre Mutter wissen und von Primus Ilker, der, wie es schien, so ganz anderes gewesen war, als die Bücher es weißmachten.

Sie beobachtete Primus Arkos, wie er neben ihrer Tante stand, den Arm um ihre Hüfte gelegt und wie sein Daumen sie sanft streichelte.

Und dann geriet alles andere in den Hintergrund, denn jetzt wollte Irm eigentlich nur noch wissen, ob die beiden was miteinander am Laufen hatten.

„Woran denkst du denn gerade?“, tadelte Aatu so leise, dass es niemand hören konnte.

„Du bröselst dir dein ganzes Kleid voll!“

Irm schreckte aus ihren Gedanken auf.

„Hm? Ich frag mich, ob Arkos meine Tante vögelt“, antwortete sie immer noch ein wenig abwesend und strich sich die Krümel vom Kleid. Aatu schloss kurz die Augen. Warum eigentlich immer er?

„Danke. Das wollte ich unbedingt wissen“, knurrte er ungehalten. Irm schubste den Rest ihres Snacks unter die bodenlange Tischdecke und wischte sich die Hände an einer Serviette sauber.

„Nein, das ist keine Tatsache, das frage ich mich nur gerade“, klärte sie ihn auf.

„Lass gut sein“, wehrte Aatu ab und bevor sie ihn weiter über ihre Gedanken aufklären konnte, ertönte die Glocke, die zum Essen rief.

„Gerettet von einer Klingel“, seufzte er erleichtert, nahm Irm in den Arm und bugsierte sie hinter Rafe und Zev her in den großen Speisesaal.


Butler in Fräcken mit steif gebügelten Schößen geleiteten die Vertreter der Rudel zu ihren vorgesehenen Plätzen. Irm stellte verwundert fest, dass man sie nicht, wie vermutet, in die hinterste Ecke des Saales gesteckt hatte, sondern dass sie mit im vorderen Drittel platziert waren, genauer gesagt, gegenüber dem Rudel von Primus Arkos.

Irm wusste nicht wirklich, ob sie das freuen sollte. Sie ließ sich von Aatu den Stuhl an den Tisch rücken, bedankte sich mit einem höflichen Nicken und wartete, bis sich Rafe an ihre linke Seite setzte und Aatu an ihre Rechte, bevor sie sich an Primus Arkos wandte.

„Es freut mich, dich wieder zu sehen, Primus Arkos und es freut mich noch viel mehr, dass wir bei diesem Essen Tischpartner sind“, sagte sie demütig und neigte leicht ihr Haupt. Primus Arkos erwiderte die Geste. Der Rudelanführer des Lupin de l'Ouest-Rudels vom Süd-West-Wald war ein großer Mann mit athletischem Körperbau und modisch-elegant kurz geschnittenen dunkelblonden Haaren. Sein Gesicht war schmal und strahlte beinahe etwas Androgynes aus, seine dunkelblauen Augen blickten ernst. Er trug ein eng anliegendes Wams aus dunkelblauer Seide zu einer nicht weniger eng anliegenden Hose in derselben Farbe. Die Zwillinge waren garantiert entzückt darüber, was dieser Kleiderschnitt alles nicht verbarg. Irm hoffte, dass sie die Leibwächter von Primus Arkos nicht aus Velvels und Seffs Fängen befreien mussten.

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, teure Irm. Sie behandeln dich gut?“ In dieser Frage schwang eine eindeutig unterschwellige Drohung in Rafes Richtung mit. Irms Lächeln wurde breiter.

„Sie tragen mich auf Händen“, behauptete sie fröhlich. Aatu bestellte sich beinahe verzweifelt einen Krug Wein beim Personal. Arkos lächelte zufrieden und wandte sich an Rafe.

„Rafe von den Wilden Werwölfen, ich hätte dich gern unter anderen Umständen wieder als Tischpartner gehabt“, grüßte er Rafe.

„Ich dich auch, Primus Arkos“, gab er ehrlich zurück.

Schräg gegenüber von Irm, begrüßte Primus Raulf Aatu über ihren Kopf hinweg, dann wandte sich Primus Arkos‘ Neffe ihr zu.

„Irm.“ Seine Stimme klang distanziert. Irm nickte ihm knapp zu. Er hätte nach Rafes Begrüßung erst sie und dann Aatu begrüßen müssten, denn in ihrer Funktion als Rudelhexe stand sie bei öffentlichen Anlässen über allen Werwölfen und direkt nach dem Rudelanführer. Primus Raulf wusste das ganz genau. Und Irm wusste ganz genau, dass er sie mit Absicht erst nach Aatu grüßte. Sie lächelte höflich.

„Raulf“, sagte sie und ließ absichtlich seinen offiziellen Titel weg. Der, der den Rang des Rudelanführers innehaben würde, erhielt bei seiner Geburt den Namenszusatz „Primus“. Da Arkos ohne leibliche Nachfahren war, war Primus Raulf, der Erstgeborene von Primus Arkos‘ Bruder der zukünftige Rudelanführer. In Primus Raulfs Gesicht zuckte kurz ein Muskel. Irm ignorierte ihn und wandte ihre Aufmerksamkeit seiner Schwester Ylva zu. Ihr schenkte sie - im Gegensatz zu Primus Raulf - ein ehrliches Lächeln. Sie mochte die ruhige Ylva, sie waren Freundinnen gewesen, solange Irm noch im Rudel gelebt hatte. Allerdings war Ylva das totale Gegenteil von Irm, optisch, wie in ihrem Wesen her. Wo Irm vorlaut und wild war, war Ylva bescheiden und sanft. Dennoch hatten sie Raulfs gemeine Streiche zusammengeschweißt und Ylva hatte jedes Mal, trotz Bedenken und Angst vor seiner brutaler Rache, Irm dabei geholfen, es ihrem Bruder heimzuzahlen. Irm machte ihr ein Zeichen, dass sie sich noch allein unterhalten würden und Ylva nickte leicht.

„Und, sei ehrlich, wie oft wolltest du sie schon in deinem Brunnen ertränken?“, fragte Primus Arkos trocken und nippte an seinem Champagnerglas. Irm wandte sich zu ihm und schnappte entrüstet nach Luft, während Aatu in sein Weinglas kicherte. Das schien amüsant zu werden, vielleicht brauchte er doch nicht so viel Alkohol, um diesen Abend zu überstehen. Primus Arkos konnte von Glück reden, dass sie ihn nicht treten durfte! Sie blitzte ihn böse an und bohrte, statt Primus Arkos zu treten, ihren Absatz kräftig in Aatus Stiefel. Voller Genugtuung sah sie, wie Aatus Gesicht sich rot färbte und er unterdrückt keuchte. Irm nahm ihren Fuß wieder weg und lächelte engelsgleich. Rafe grinste schief und schüttelte leicht den Kopf.

„Da musst du weniger mich als meinen Bruder fragen“, gab er belustigt zurück.

„Stündlich“, knurrte Aatu gepresst und nahm einen großen Schluck Wein. Primus Arkos lachte leise auf.

„Ja, sie kann sehr wild sein“, meinte er sinnierend. Irm schnaubte nur. Estelle, die gegenüber von Aatu saß, holte zu einem leisen Tadel Luft.

„Ich weiß, ich weiß, Damen schnauben nicht. Rösser schnauben, Ochsen schnauben, Esel schnauben, aber Damen schnauben nicht. Es sei denn, ich zähle mich zu den Eseln“, gab Irm zum Besten, was ihre Tante ihr vierzehn Jahre lang versucht hatte, einzuhämmern.

„Beleidige nicht den Esel“, wandte Aatu rachsüchtig ein. Irm schenkte ihm ein zynisches Lächeln.

„Hatte ich schon erzählt, dass ich auf meinen Wanderungen einen Mann getroffen hatte, der vier Ochsen hatte und dem dümmsten von ihnen hatte er den Namen Aatu gegeben?“, bemerkte sie bissig. Aatus Augen funkelten.

„Sind sie nicht ein schönes Paar?“, meinte Zev grinsend. Primus Arkos sah den alten Werwolf an und nickte lachend.

„Ein Albtraum“, knurrte Rafe resigniert.

„Ach, was. Sie haben sich gegenseitig verdient“, behauptete Primus Arkos unbekümmert.

Estelle beschloss, die beiden zu ignorieren, und begann ein Gespräch mit Vukasin, der neben Aatu saß, über T-Dreieinhalb. Sonst würde sie den beiden noch etwas anhexen.

Irms erschrockenes Lachen ließ sie verstummen und als Estelle sich zu ihrer Nichte wandte, hatte Aatu einen Arm um sie geschlungen, sie an sich gepresst und küsste sie auf den Kopf. Ach, du großer Wolfsgott, dachte sie beinahe verzweifelt. Die beiden mochten ja Vorspiele der ganz besonderen Art! Sie wandte sich wieder Vukasin zu. Wenigstens waren sie ein schönes Paar, auch wenn sie eher gedacht hatte, dass ihre Nichte sich zu Rafe, dem charmanteren der beiden Brüder, hingezogen fühlen würde.

Bevor es mit Irm ausarten konnte, schnappte Aatu sie sich, zog sie an sich und legte ihr seine Lippen auf die Haare.

„Waffenstillstand“, schlug er so leise vor, dass nur Irm ihn hören konnte. Sie kicherte erschrocken, nickte aber artig.

„Wir können hier nicht so weitermachen, wie zu Hause.“ Er hob den Kopf und sah ihn Rafes Gesicht, auf dem ein schelmisches Grinsen lag. Irm räusperte sich verlegen, löste sich aus Aatus Umarmung und setzte sich anständig hin. Tapfer die Blicke, die auf ihr ruhten, ignorierend, richtete sie ihre Haare und nippte an ihrem Glas Wein.

„Hört auf, so zu grinsen“, zischte sie schließlich doch, doch weder Rafe noch Primus Arkos scherten sich darum. Irm schüttelte ihre kunstvoll zusammengefaltete Serviette aus und drapierte sie elegant auf ihrem Schoß.

„Benehmt euch, die Vorspeise kommt“, erklärte sie hoheitsvoll pauschal in die Runde. Zev schmunzelte schweigend.

Die Kellner brachten ihnen Teller mit einer klaren Brühe, in der Irms Meinung nach nur drei Nudeln, ein Schnitz Karotte und ein einsamer Kloß vor sich herumdümpelten. Das Schweigen an ihrem Tisch wurde kurz, Irm behauptete, es war entsetzt, Estelle nannte es überrumpelt und Seff sagte klipp und klar, er habe sich so verarscht gefühlt, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte.

„Da kommt aber hoffentlich noch mehr?“, raunte er Velvel ins Ohr. Irm beugte sich ein wenig nach hinten, um Seffs Rücken sehen zu können, und räusperte sich mahnend. Sie hörte Primus Raulf hämisch kichern, dann leise Aufkeuchen; Ylva hatte ihn garantiert getreten, um ihn zu Tadeln. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich in Ylvas Augen Tränen sammelten. Primus Raulf musste seiner Schwester wehgetan haben, weil sie sich erdreistet hatte, ihn zu rügen. Irm knirschte leise mit den Zähnen. Vielleicht würde er morgen mit einer großen Warze auf der Nase aufwachen, vielleicht würde sie sich aber auch an einer anderen Stelle befinden. An einer delikateren. An einer sehr delikaten Stelle. Mit einem Lächeln, das Aatu leichte Schauer über den Rücken rieseln ließen, löffelte Irm elegant ihre Suppe.

Zu Rafes unendlicher Erleichterung verlief das Essen ohne weitere Zwischenfälle ab.

Es musste niemand verhungern - auch Seff nicht -, Irm und Aatu scherzten und lachten miteinander, als gäbe es keinerlei Anspannungen zwischen ihnen, sie unterhielt sich höflich und respektvoll mit Primus Arkos über belanglose Dinge und selbst dieser Idiot von Neffe Primus Raulf war erträglich. Er war zwar dumm wie ein Stück Butter und genauso schmierig, aber Rafe ertrug seine Gesprächsversuche tapfer und mit einem eingefrorenen Lächeln. Das Primus Raulfs Schwester Ylva ein so charmantes und geistreiches Wesen war, entbehrte seiner Meinung nach jeglicher Logik. Er amüsierte sich köstlich mit ihr und bei ernsteren Themen war sie eine kluge und scharfsinnige Gesprächspartnerin.

Als sie alle ihren Nachtisch aßen, bestehend aus einem Stück Sahnetorte, Sahneeiscreme und Schokoladensoße, trat einer der Butler in die Mitte des Saales. Er entrollte eine breite Schriftrolle, räusperte sich und wartete, bis Stille eingekehrt war.

„Mit Verlaub wehrte Gäste, möchte ich Ihnen kurz den Verlauf dieser Versammlung verkünden!“, rief er mit lauter Stimme.

„Die heutige Nacht wird einer ungezwungenen Festlichkeit mit Spiel und Tanz weitergeführt. Der morgige Tag steht den wehrten Herrschaften bis zur Mittagsstunde zur freien Verfügung, danach werden die Rudelanführer, ihre Rudelhexen oder Rudelzauberer sowie ihre befugten Stellvertreter gebeten, sich im Versammlungssaal einzufinden.“

Mit einem surrenden Geräusch ließ der Butler die Schriftrolle zusammenfahren. Er verneigte sich zackig, dann drehte er um und marschierte davon.

Rafe beugte sich zu Estelle und lächelte sie charmant an.

„Ich hoffe, du schenkst mir nachher einen Tanz“, flirtete er liebenswürdig. Irm hob die Augenbrauen und grinste breit.

„Na, aber nicht, dass die alte Hedda dann eifersüchtig wird, wenn sie erfährt, dass du mit einer jüngeren getanzt hast“, neckte sie ihn. Die Zwillinge lachten laut los und Aatu prustete verhalten. Primus Arkos‘ und Estelles Blicke waren eindeutig neugierig. Rafe gab Irm einen sanften Schubs.

„Ihr müsst wissen“, begann Irm feierlich, tupfte sich die Mundwinkel mit ihrer Serviette ab und legte sie säuberlich auf den Tisch, „Ihr müsst wissen, dass Rafe einen Perlentanz-Bund mit der Dorfältesten eingegangen ist. Hedda ist gefühlte siebenhundertzwölf, hat mehr Runzeln im Gesicht als Haare auf dem Kopf und noch sage und schreibe vier Zähne. Wenn die beiden Hand in Hand durch das Dorf flanieren sind sich alle einige, dass der Perlentanz nicht lügen kann.“ Irm legte in gespielter Rührung die Hand auf ihre Brust und lächelte verklärt. Das Lachen an ihrem Tisch wurde so laut, dass die anderen Tische schon zu ihnen rüber sahen, was sie alle ignorierten.

„Wir sind noch am überlegen, wann genau wir die Hochzeit stattfinden lassen sollen. Am Wolfsmond im Herbst oder doch lieber im Frühjahr, wenn der Fruchtbarkeitsmond steigt. Das eine Datum gibt der Ehe Stärke, das andere sorgt für viele Nachkommen“, behauptete Aatu ernst.

Rafe schüttelte lachend den Kopf.

Als er beim Perlentanz vor zwei Wochen festgestellt hatte, dass sich seine Kette mit der der alten Hedda verknotet hatte, war das ganze Dorf in schallendes Gelächter ausgebrochen. Am Lautesten hatte die alte Hedda gelacht. Zev waren die Tränen über die Wangen gelaufen und die Zwillinge zogen ihn immer noch damit auf. Er hätte damit rechnen müssen, dass sie heute Abend keine Ausnahme machen würden und ihn nicht damit aufzogen. Es könnte für leichte Verkomplizierung sorgen, sich mit diesen Kameraden eine Braut zu suchen. Über Estelles Gesicht huschte ein kurzes Lachen.

„Ihr tanzt ihn also immer noch? - Das ist schön. Ich mag diesen Tanz. Er ist so herrlich chaotisch und ungestüm und er sorgt immer wieder für Überraschungen“, sagte sie erfreut. Primus Arkos‘ Gesichtsausdruck sprach dagegen Bände. Er verlor bei diesem Tanz spätestens nach der ersten wilden Drehung die Orientierung und fühlte sich den Rest des Tanzes nur noch wie ein hilfloses Blatt in einem Wirbelsturm.

„Ihr seid gerne eingeladen, wenn wir unser Herbstfest feiern. - Er wird dort garantiert wieder getanzt“, lud Rafe sie ein.

„Oh, ich wollte uns jetzt nicht selbst einladen, bitte versteh mich nicht falsch, ich hatte nicht vor, uns euch aufzudrängen!“, wehrte Estelle erschrocken ab. Rafe lachte.

„Deine Nichte ist unsere Rudelhexe, Estelle. Damit haben wir einen Bund und wer bin ich, dass ich die Familie meiner Hexe nicht als meine eigene ansehe?“, klärte Rafe sie auf und er wurde ernst.

„Wir werden nicht eure Diener sein, so wenig wie ihr unsere, aber wir können Freunde sein, die sich besuchen und gemeinsam feiern“, schlug er vor. Primus Arkos nickte ruppig.

„Darüber reden wir beide allein miteinander. In Ruhe. Wenn dieses große Fressen hier vorbei ist“, gab er als Antwort. Rafe nickte zustimmend und Irm fiel wieder ein, dass sie Rafe noch eine eventuell wichtige Tatsache erzählen musste. Jetzt fragte sich nur, wie. Sie könnte ihn zum Tanzen auffordern, aber Rafe neigte dazu, bei einschlagenden Neuigkeiten mit einer einschlagenden Mimik aufzufahren, und das wäre inmitten der ganzen Rudel, von denen die meisten gegen sie arbeiteten nicht wirklich förderlich. Sie könnte ein leichtes Völlegefühl vortäuschen und ihn bitten, mit ihr einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen. Dann müsste sie allerdings vehement darauf bestehen, dass er und nicht Aatu sie begleitete. Sie löffelte nachdenklich ihr Eis ohne zu bemerken, wie köstlich es doch schmeckte.

Das Schicksal war ihr hold, denn nachdem die Kellner die Teller weggeräumt hatten, prustete Rafe leise und hielt sich den Bauch.

„Wir müssen Tanz und Gespräch ein wenig nach hinten verschieben, ich glaube, ich muss mir nach dem ganzen üppigen Mahl ein wenig die Beine vertreten“, ächzte er. Er hatte viel zu viel gegessen. Irm sah ihn erfreut an.

„Dann nimm mich mit. Ich fühle mich wie ein Fass auf zwei Beinen“, behauptete sie erfreut. Rafe zuckte nickend mit den Schultern.

„Ich leih mir mal kurz deine Begleitung aus, Aatu. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?“ Rafe erhob sich und half Irm beim Aufstehen. Aatu machte eine abwehrende Handbewegung.

„Nein, schon in Ordnung. Lasst euch ruhig Zeit“, meinte er gönnerhaft. Irm verkniff sich, ihm eine Grimasse zu schneiden, doch Rafe beugte sich verschwörerisch zu seinem Bruder und flüsterte ihm, für alle deutlich hörbar, ins Ohr:

„Ich bring dir deine edle Perle auch ganz und am Stück und gänzlich unversehrt wieder, versprochen, kleiner Bruder.“

Es hätte Irm nicht gewundert, wenn Aatus Augen Blitze auf Rafe geschossen hätten. Er bekam rote Wangen, prustete betont abfällig und griff nach seinem Trinken.

„Spinn nicht und geh!“, nuschelte er in sein Glas. Mit einem Lachen bot Rafe Irm seinen linken Arm an und führte sie galant aus dem Saal.

„Rafe, ich muss dir draußen etwas Wichtiges sagen“, flüsterte Irm, als sie an Rafes Arm die Eingangshalle durchquerte. Rafe nickte nur beiläufig, während er bekannte Gesichter grüßte.

„Warum kann das nicht einfach ganz normal ablaufen hier, ohne ständige wichtige Dinge, die auf mich hereinprasseln?“, seufzte er, als sie in die warme Nacht traten. Irm schwieg nachdenklich. Sie bogen in den Park ein, in dem T-Dreieinhalb weiter hinten stand und lauschten dem vereinzelten Zirpen der Grillen.

„Ich habe mit meiner Tante geredet“, fing Irm leise an. Rafe hob nur die Augenbrauen. Das hatte er schon mitbekommen.

„Ich bin die Tochter der Rudelhexe und des Rudelzauberers vom Rudel der Wilden Werwölfe aus dem Süden“, ratterte sie hektisch herunter. Und wie Irm es sich gedacht hatte, war Rafe nicht in der Lage, einfach weiterzugehen. Er bremste abrupt ab.

„Was bist du?“, hakte er ungläubig nach. Irm ließ seinen Arm los, trat ein paar Schritte von ihm weg und sah ihm ernst in die Augen.

„Tante Estelle hat er mir vorhin gesagt. Ich wusste es bisher auch nicht. Sie sagt, ihre Schwester hat den Rudelzauberer vom Rudel der Wilden Werwölfe vom Süden geheiratet und nach hundertfünfzig Jahren mich gekriegt. Und dass ein Rudel aus dem Süd-Osten dieses Rudel überfallen hat, weil sie es sich untertan machen wollten und einer der Wilden Werwölfe mit mir geflohen ist, damit ich nicht auch noch sterbe und der hat mich dann zu Estelle gebracht wo ich aufgewachsen bin! Und sie hat mir nichts davon erzählt, weil sie nicht wollte, dass ich eure Rudelhexe werde, weil sie wusste, dass das passieren wird, weiß der Geier, woher, und weil sie Angst davor hat, dass das noch mal passiert, weil die anderen ja alle nichts Besseres zu tun haben, als sich ein Rudel Wilder Werwölfe zum Haustier zu machen und dass Primus Arkos mich eigentlich gar nicht hasst, sondern ich ihn einfach nur an meine Mutter erinnere, die er sehr geliebt hat …“

Irm brach in Tränen aus. Rafe löste sich aus seiner Schreckstarre, überbrückte eilig den Abstand zwischen ihnen und nahm Irm fest in den Arm.

„Beim Höllentor, Mädchen. Hast du eigentlich eine Ahnung, was das alles bedeutet?“, hakte er nach und küsste sie tröstend auf den Kopf.

„Woher denn? Mir sagt ja keiner was!“, beschwerte sie sich und schniefte.

„Deine Mutter kannte ich nicht so gut, aber jetzt, wo ich weiß, wer sie ist, frage ich mich, wie ich das je übersehen konnte. Du siehst ihr wirklich unglaublich ähnlich, kleine Irm“, flüsterte er sanft.

„Deinen Vater kannte ich gut und den Rudelanführer von ihnen, Enre. Ich könnte dir so viele Geschichten über sie erzählen und mein Vater erst.“ Rafe lachte leise auf und streichelte beruhigend Irms Rücken.

„Dann bist du also Andrians Tochter. Mann, das haut mich jetzt echt um“, gestand er. Irm schnaubte laut.

„Frag mal mich!“ Sie zauberte ein Taschentuch für sich her und schnäuzte herzhaft hinein. In Rafe glomm kurz der Gedanke auf, dass es gut war, dass sie sich hier draußen die Nase putzte, wo sie keiner hören konnte, denn dieses trötende Geräusch hätte ihre ätherisch-elegante Show völlig ruiniert.

„Ich hwab Zweit mweinews Lwebenws gegwlaubt, ich bwin eiwne schwlechte Hwexe …“ nuschelte sie undeutlich in ihr Taschentuch. Rafe nickte mitfühlend.

„Uwnd jwetzt stwellt swich hweraus, dwass…“

Rafe hielt ihr Handgelenk fest.

„Irm. Putz dir bitte erst mal die Nase fertig, dann versteh ich dich besser“, bat er belustigt. Irm nickte artig, schnäuzte noch einmal laut und kräftig und ließ dann mit einem letzten Nasehochziehen das Tuch auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

„Da denkt man Zeit seines Lebens, man ist gerade mal so gut im Hexen, um Bonbons Haare wachsen zu lassen - trotz der Tatsache, dass man mütterlicherseits aus derselben Linie wie Bayard entspringt - und dann erfährt man nach dreißig Jahren, dass man eigentlich doch richtig gut darin ist, weil man dazu bestimmt ist, doch eine Rudelhexe zu sein, obwohl man ja seit dreißig Jahren das Gegenteil eingebläut bekommen hat.“ Irm schnaubte noch mal nachdrücklich.

„So, Rafe vom letzten Rudel Wilder Werwölfe, wenn du mich immer noch als deine Rudelhexe haben willst, dann verspreche ich dir hiermit, dass ich weder zulassen werde, dass ihr von einem anderen Rudel versklavt noch von irgendjemandem Untertan gemacht werdet. Vorher müssen sie mich töten.“ Irm hob tadelnd die Hand, als Rafe einen Einwand vorbringen wollte.

„Ruhe, ich rede jetzt!“, klärte sie ihn schulmeisterlich auf. Rafe schwieg. Ob sie es wusste, dass sie gerade wie ihre Tante klang und dieselbe Ausstrahlung wie Estelle hatte? Stolz, mutig, stark und über allem erhaben.

„Ich weiß, dass eine große Verantwortung auf mir lastet und ich weiß, dass wir mehr Feinde als Verbündete haben, aber ich weiß auch, dass wir es schaffen können. Aber du musst mir nur eins glauben, Rafe: Ich bin kein Æftelbert und ich bin keine Isabelle. Wenn ich eure Rudelhexe bin, dann bin ich eure Rudelhexe und ich verrate die Welt, aber nicht euch. Egal, wie fehl am Platz ich mich bei Primus Arkos‘ Rudel gefühlt habe, sie haben mir immer und jederzeit vermittelt und gezeigt, dass man jeden auf der Welt belügen und betrügen kann, aber niemals sein eigenes Rudel.“ Irm sah ihn ernst an. Rafe nickte.

„Ich weiß, Irm. Nachdem ich zurückgekommen war, habe ich mit jedem einzelnen Dorfbewohner und jedem aus dem Rudel geredet und jeder von ihnen hat mir dasselbe erzählt. Dass du zu uns gehörst. Dass du uns treu bist. Selbst Aatu hat es eingesehen und es ist ihm verdammt schwergefallen, du weißt weshalb. Seff hat mir gesagt, dass sie dir davon erzählt haben. Es war so seltsam, als ich zurückkam und du auf einmal da warst und dann hast du besser in meine Burg, in mein Dorf gepasst, als ich. Nach zwei Tagen fühlte es sich an, als ob du schon immer da gewesen wärst. Und als Aatu beschlossen hat, dass du unsere Rudelhexe bist …“ Rafe verstummte und strahlte Irm glücklich an.

„Du weißt aber schon, dass er das gemacht hat, um mir eins reinzuwürgen?“, hakte sie nach. Rafe lachte los.

„Auch, kleine Irm, auch. Und jetzt lass uns zurückgehen, sonst sorgt er sich noch zu Tode um dich. - Es sei denn, es gibt noch etwas, was ich wissen müsste?“, fragte er lauernd.

„Primus Arkos gibt sich die Schuld am Untergang des Rudels. Er glaubt, zu langsam gewesen zu sein. Er ist der Meinung, er hätte als Verbündeter versagt. Das solltest du noch wissen“, klärte Irm ihn auf und stellte fest, dass es schmerzte. Es tat ihr weh, dass Primus Arkos eine Schuld mit sich herumtrug, die er nicht zu tragen hatte, denn gegen das Schicksal war niemand gefeit.

„Ja, ich denke, das war’s dann auch mal fürs erste“, stimmte sie zu, hakte sich bei Rafe unter und sie schlenderten gemächlich zurück zum Schloss.

„Oh, nein! Doch nicht!“, widersprach sie sich nach nur wenigen Schritten. Rafe fragte sich, was jetzt noch Großartiges kommen konnte.

„Da Primus Raulf mich beleidigt hat, indem er mich nicht standesgemäß nach dir begrüßt hat, sondern erst nachdem er Aatu „Guten Tag“ gesagt hat und nachdem der Scheißkerl seiner Schwester wehgetan hat, könnte es gut möglich sein, dass er morgen eventuell verhindert sein könnte. Je nachdem, wie der Abend sich noch auf meine Laune auswirken wird“, teilte sie ihm gut gelaunt mit.

„Muss ich dich dazu ermahnen, nichts zu tun?“, hakte Rafe nach, aber eigentlich, eigentlich würde es ihm gefallen, wenn Irm sich einfach wie Irm benahm und etwas ausheckte.

„Aber nicht doch, Rafe. Es könnte nur sein, dass er morgen eventuell mit einer großen Warze an einer sehr delikaten Stelle aufwachen könnte.“

„Und wo soll das genau sein?“ Rafe konnte nicht anders, er begann zu kichern. Irm drehte sich zu ihm um und legte den Kopf schief.

„Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich vorne oder doch lieber hinten nehmen soll“, sagte sie keck und zeigte kurz mit ihrem Finger auf ihren Schritt, um Rafe zu verdeutlichen, was genau sie mit vorne meinte. Wo dann hinten war, konnte Rafe sich denken. Er lachte laut los, schnappte sich Irm und gab ihr einen lauten Schmatzer auf den Mund.

„Ich weiß von nichts“, beteuerte er.

„Aber du solltest deine Kriegsbemalung wieder schön machen“, schlug er schelmisch vor. Irm grinste, strich sich mit ihrer Hand über das Gesicht und sah aus, wie frisch vom Frisiertisch aufgestanden. Es war manchmal unglaublich praktisch, eine Hexe zu sein.

„Ich glaube, es wird auch allerhöchste Zeit, dass wir wieder zurückkommen, da wartet schon jemand sehnsüchtig auf seine Begleiterin“, neckte Rafe, als sie wieder in das Schloss traten und Aatu zugegebenermaßen etwas verloren in der Halle stand. Er schob Irm regelrecht in die Arme seines Bruders und zwinkerte ihm zu. Irms aufkommenden Protest wischte er mit einer energischen Handbewegung beiseite.

„Scht! Du hast genug geredet. Es sei denn du tust es mit deinem Begleiter hier. Ich schnappe mir jetzt eine wunderschöne, elegante und grazile junge Rudelhexe und bitte sie zum Tanz.“ Rafe winkte den beiden noch zu, dann verschwand er im Speisesaal, wo er sich auf die Suche nach Estelle machte, um den versprochenen Tanz einzulösen.

10. Von einem Tanz, wildem Kopfkino und einem einsamen Zugeständnis


Wollte Irm wissen, was Seff und Velvel vorhatten, als sie mit Ylvas Leibwächter Dallin, dem sie die Arme um die Schultern gelegt hatten, lachend und tuschelnd an ihr und Aatu vorbeischlenderten? - Nein, sie wollte es nicht. Trotzdem drehte sie sich noch mal nach den Dreien um. Und wünschte sich gleich darauf, sie hätte es nicht getan, denn in diesem Moment kniff Seff Dallin in den Hintern, während Velvel ihm seine Zunge in den Mund schob.

„Fein“, murmelte sie zynisch, „das hab ich jetzt den ganzen Abend im Kopf und T-Dreieinhalb in ein paar Stunden wohl ein lebenslanges Trauma.“

„Wieso?“ Aatu, der, wie es ein zuvorkommender Gentleman nun einmal tat, ihr und sich ein Glas Champagner mit Beeren darin geholt hatte, sah sich verwirrt um.

Irm deutete ihm an, näher zu kommen, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm ins Ohr flüstern zu können. Widerwillig neugierig beugte er sich zu ihr.

„Seff und Velvel haben sich tatsächlich Ylvas Leibwächter gekrallt und sind mit ihm eng umschlungen nach draußen, wahrscheinlich in meinen armen T-Dreieinhalb“, wisperte sie verschwörerisch. Aatu riss die Augen auf.

„Das ist nicht dein ernst!“, raunte er ungläubig. Irm nickte nachdrücklich.

„Doch. Und dabei hätte ich schwören können, dass sich diese Herren vom Süd-West-Wald ja viel zu fein für unsereins halten. Hm, obwohl, Dallin ist ja eigentlich Ylvas Leibwächter, von dem her könnte ich mir vorstellen, dass er anders ist, als die anderen.“ Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

„Dass die sich nicht einmal zusammenreißen können!“, fluchte Aatu unterdrückt. Morgen früh würde er sich die beiden schnappen und ein verdammt ernstes Wörtchen mit ihnen reden. Er hatte keine Probleme damit, wie sie ihr Sexleben gestalteten, aber sie sollten zumindest so viel Verstand haben, um es hier etwas diskreter auszuleben. Genaugenommen konnten sie sich auch mal für vier Tage zusammenreißen und gar kein Sexleben haben! Irm verdreht die Augen.

„Als ob das hier einen interessieren würde“, wehrte sie ab.

„Dafür sind die drei viel zu unwichtig für politische Ränkespiele. Würden wir beide und Rafe das tun, was glaubst du, was dann los wäre!“, behauptete sie und nickte nachdrücklich. Aatu konnte sich wussten die Götter besseres vorstellen, als sich eine Frau mit seinem Bruder zu teilen. Zum einen war er dafür viel zu egoistisch und zum anderen, war das sein Bruder! Er schüttelte sich leicht angewidert.

„Nein, danke, verzichte. Ich habe kein Bedürfnis, mit meinem Bruder in die Kiste zu steigen“, wehrte er ab. In Irm sprang das zweite Mal innerhalb weniger Minuten ein verdammt unsittliches Kopfkino an, dieses Mal kamen allerdings nicht Seff und Velvel darin vor, sondern Aatu und Rafe. Sie stürzte ihren Champagner hinunter, zerkaute hastig die süßen, alkoholgeschwängerten Beeren und holte sich gleich ein neues Glas.

Memo an sie selbst: Sie brauchte dringend wieder Sex! Schnell. Bald. Und viel.

Sie leerte ihr Glas in einem Zug.

„Wir sollten tanzen“, schlug sie vor, packte Aatu am Handgelenk und zog ihn mit sich in den Festsaal.

Wollte Aatu wissen, was in Irms Kopf vorging, dass sie rosa Wangen bekam? - Nein, er wollte es nicht. Doch, verflucht noch eins, das wollte er! Er war ein Werwolf und Werwölfe waren von Natur aus neugierig. Als sie auf der Tanzfläche waren, legte er seinen Arm um sie und sie begannen, sich zur Musik zu bewegen.

„Will ich wissen, was in deinem verrückten Kopf vorgeht?“, fragte er nach drei Umdrehungen neugierig.

„Nein, willst du nicht“, antwortete Irm grinsend, dann runzelte sie nachdenklich die Stirn. Moment, die waren ja zu dritt gewesen! Und zwar drei Männer … Irm kicherte albern. Sie hatte schon viel von solchen Konstellationen gehört, und zwar in den blumigsten Schilderungen; ihre blühende Fantasie tat ihr den Gefallen und schenkte ihr die schönsten Bilder.

Jetzt stieß sie ein verflucht unschickliches grunzendes Schnauben aus. Aatu glaubte ihr aufs Wort.

Nein. Nein, er wollte es wirklich nicht wissen.

„Doch, will ich!“, widersprach er, obwohl er es eigentlich besser wissen müsste, aber er musste jetzt wissen, weshalb sie gerade einen so roten Kopf wie ein Puter bekam und fast daran erstickte, sich das Lachen zu verkneifen. Er presste sie eng an sich und neigte ihr den Kopf zu.

„Und zwar sofort“, setzte er mit Nachdruck nach. Irm biss sich auf die Lippen.

„Heul mir aber nachher nicht die Ohren voll“, warnte sie ihn, dann legte sie ihre Lippen an sein Ohr und begann zu erzählen, wobei sie allerdings den Gedanken von ihm und Rafe außen vor ließ. Aatu spürte, dass ihm das Blut nicht nur ins Gesicht schoss, während Irm ihm äußerst detailliert ihre äußerst ordinären Gedanken mitteilte und schluckte. Verfluchte Neugier!

Nein, er würde ihr garantiert nicht die Ohren vollheulen, vollhecheln würde es eher treffen, stellte er fest. Aatu räusperte sich leise. Irm war mit ihrer kleinen perversen Ansprache fertig und nahm ihren Mund von seinem Ohr. Ihr Atem roch nach Champagner und Beeren. Gelassen tanzte sie weiter, als ob sie nie etwas gesagt hätte, während Aatu sich bemühte, nicht aus dem Takt zu kommen. Er war nur froh, dass die Kapelle im Moment kein sonderlich schnelles Stück spielte.

„Lebst du noch?“, fragte sie, nachdem er in keinster Weise auf ihre Erzählung reagierte.

„Gerade noch“, gab er zurück. Irm hob belustigt die Augenbrauen.

„Ich bin kein pubertierender Idiot mehr!“, verteidigte sich Aatu, klang aber nicht halb so empört, wie er gerne wollte. Dafür war er etwas zu erregt, Irm sei Dank.

„Ich hab in meinem Leben mehr gesehen, als nur den Burghof. Ob du’s glaubst oder nicht, ich war auch schon in den großen Städten und ich war auch schon in genügend Bordellen, um zu wissen, was drei Männer miteinander treiben können, wenn sie es miteinander treiben“, klärte er sie erhaben auf. Auf Irms Gesicht erschien ein spöttisches Lächeln.

„So, so“, meinte sie mit diesem Lächeln im Gesicht, „Wir waren also in so einigen Bordellen, aha. Es tun sich hier gerade Abgründe auf, mein lieber Aatu“, neckte sie ihn fröhlich. Aatu stellte fest, dass er eben etwas Saublödes gesagt hatte. Das war die absolute Sternstunde dessen gewesen, was er jemals an Dämlichkeiten von sich gegeben hatte. Genau, man sagte natürlich einer Frau, dass man sich in Bordellen herumgetrieben hatte. Cleverer Werwolf, ganz ganz cleverer. Und dann war die Frau auch noch ausgerechnet Irm. Darauf würde sie nun auf Ewigkeiten herumreiten.

„Ja. Mit eben diesen beiden in deinem Vehikel verschwundenen Herren, die dort gerade dabei sind, einem von Primus Arkos‘ Leibwächtern den Verstand rauszuvögeln. Und garantiert in mindestens einer von dir gerade beschriebenen Art und Weise“, raunzte er ihr triumphierend ins Ohr und bat sich im selben Moment inbrünstig, doch einfach den Mund zu halten.

„Der Kerl heißt Dallin und er ist Ylvas Leibwächter, nicht Primus Arkos‘. - Hast du sie etwa dabei schon beobachtet?“, hakte Irm nach und tat ganz furchtbar pikiert. Aatu schwieg eisern. So dämlich, dass er jetzt weiterredete und sich noch tiefer in diesem riesigen Fettnäpfchen der verbalen Peinlichkeiten versenkte, war er nun auch wieder nicht. Irm pikste ihm in die Rippen.

„Na, los. Sag schon“, forderte sie ihn auf.

„Nein“, antwortete Aatu. Irm machte einen Schmollmund und riss ihre Augen weit auf.

„Bitte.“

Bei Rafe hätte das sofort gezogen, bei Rafe zog es immer, wenn sie das tat, aber Aatu war nicht Rafe.

„Ich sagte Nein“, wiederholte er als Antwort auf diesen treuen, wenn auch völlig sinnlosen, Dackelblick.

„Oh, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte.“

„Betteln ist unschicklich, Irm“, tadelte er gönnerhaft. Als Antwort zog sie eine beleidigte Flunsch. Und schwieg, sehr zu Aatus Erleichterung.

„Aber …“, setzte sie gleich darauf doch wieder an zu sprechen.

„Bist du jetzt still?“, unterbrach Aatu herrisch. Irms Augen blitzten auf.

„Ab…“

„Ich sagte, still jetzt!“, befahl er mit Nachdruck. Irm öffnete protestierend den Mund. Sah sie aus wie ein Hofhund?

„A-a-ah! Ruhe jetzt und tanz weiter!“ Aatu hob drohend den Zeigefinger. Irm blies die Backen auf und er wusste, wären sie allein gewesen, hätte sie ihm die Zunge rausgestreckt. Er schmunzelte leicht. Wie konnte man nur so unglaublich erwachsen und gleichzeitig so unglaublich kindisch sein?

Irm schenkte ihm ein wildes Schielen, aus Aatus Schmunzeln wurde ein Grinsen und schließlich brachen sie in lautes Gelächter aus.


Weil es manchmal unheimlich guttat, wenn man so unglaublich kindisch war.

Aatu lehnte sich an den Brunnen im Park und sah in den Nachthimmel.

Sie hatten danach von der Tanzfläche gehen müssen, weil sie vor lauter Lachen nicht mehr in der Lage gewesen waren, weiterzutanzen. Aatu schüttelte leicht den Kopf. Der Abend war noch richtig gut verlaufen. Nachdem sie endlich fertig mit Lachen gewesen waren, hatten sie nebeneinander in der Eingangshalle auf dem Boden gesessen, geschwiegen und Champagner mit Beeren getrunken. Irm hatte tatsächlich ein ganzes Tablett davon mitgehen lassen. Seltsam, dass sie beide weiterhin dieses Zeug getrunken hatten, obwohl weder er noch Irm es eigentlich mochten. Die Beeren darin waren lecker gewesen.

Irgendwann waren sie, zugegebenermaßen etwas angeheitert, zurück in den Festsaal gegangen und hatten es noch einmal mit dem Tanzen probiert. Und nachdem sie dabei auch nicht miteinander geredet hatten, hatte es auch wirklich gut funktioniert.

Mittlerweile war das Fest seit zwei Stunden vorbei und die Bewohner von T-Dreieinhalb schliefen in ihren liebevollen gezauberten Betten.

Aatu konnte nicht schlafen.

Er hatte es versucht, aber es wollte sich keine Müdigkeit einstellen.

Erst hatte er es darauf geschoben, dass er sich sicher war, die Zwillinge und ihre Eroberung hören zu können, aber er hatte gleich gewusst, dass es nur eine fadenscheinige Ausrede war. Er war zu alt, um sich selbst zu belügen. Aatu stieß sich vom Brunnen ab und genoss das Gefühl des Grases an seinen nackten Füßen, als er durch den verlassenen Park wanderte.

Es hatte sage und schreibe sieben Tage gebraucht, um sich Hals über Kopf in Irm zu verlieben.

Treffer versenkt, du Held, dachte er zynisch.

Und es war das Schlimmste, was er sich bis dahin hätte vorstellen können. Sie war eine Hexe! Und nicht nur, dass sich Aatu vor fünfzig Jahren geschworen hatte, dass er nie wieder einem magischen Menschen sein Vertrauen schenken würde, er hatte sich auch geschworen, allein zu bleiben. Immerhin hatte es fünfzig Jahre geklappt. Bis Irm gekommen war und alles über den Haufen geschmissen hatte.

Rafe konnte nicht wirklich nachvollziehen, wie es für Aatu gewesen war, als er feststellen musste, dass der Mann, dem er seit er ihr kannte, alle seine Gedanken, seine Geheimnisse, seine Sorgen und Ängste anvertraut hatte, als dieser Mann ihn nur wegen so etwas wie Macht verraten hatte.

Æftelbert hatte alles weggeworfen, seine Familie, seine Freundschaft, nur für so etwas nicht Greifbares wie Macht. Tränen brannten in Aatus Augen, als die Erinnerung an den Leichnam seines Vaters in ihm hochstieg. Die schweren Brandverletzungen, die auf Zauberei hinwiesen, die gebrochenen und verdrehten Gelenke, als Æftelbert ihn durch die Luft geworfen hatte, wie ein Ding. Wenn er losziehen würde, um Æftelbert zu suchen und um Rache an ihm zu üben, und er Irm fragen würde, sie würde mit ihm gehen und sie würde an seiner Seite bleiben, bis sie diesen Verräter gefunden hätten. Æftelberts Tod würde weder seinen Vater noch seine Mutter zurückholen. Und den Verrat würde es auch nicht wieder gut machen.

Er hatte sich allein und im Stich gelassen gefühlt und dann, als Isabelle ihm entgegengespien hatte, dass das Kind in ihrem Leib nicht seins war … Sie wussten, dass er sie getötet hatte, aber sie wussten nicht wie. Und Aatu würde es auch niemandem erzählen, es war besser, wenn keiner erfuhr, wie sehr er sie gequält und gepeinigt hatte. Er schämte sich nicht dafür, eine hochschwangere Frau gepeinigt zu haben, aber er war auch nicht wirklich stolz darauf. Er nahm diese Tat als getan hin und er wusste nicht, ob es die anderen auch so halten konnten.

Ihre Haare rochen nach Minze und Erdbeeren und sie selbst ein wenig nach Karamell.

Aatu versuchte, sich Isabelles Gesicht vorzustellen, doch das erste Mal seit fünfzig Jahren schob sich hartnäckig ein anderes davor. Eines mit wilden Locken statt glatten Strähnen. Eines mit einer scharf geschnittenen Nase statt einer sanft geschwungenen. Ein Gesicht mit spöttisch blitzenden hellbraunen Augen, und einem Verstand dahinter, der ihn immer und immer wieder reizte und neckte und aus der Fassung brachte. Und er war trotz allen Vorbehalten froh darüber. Auch wenn er sich sicher war, dass es Rafe war, für den Irm sich erwärmt hatte. Aber es war okay, Rafe brauchte eine starke Gefährtin, es wurde Zeit, dass sie weiter machten, dass sie sich aufrichteten und nach vorn sahen und die Vergangenheit, Vergangenheit sein ließen. Und Irm war eine starke Frau, wie geschaffen für einen Rudelanführer.

Aatu seufzte herzhaft.

Rafe hatte schon immer jede haben können. Das lag vor allem an diesen Rudelanführertricks, wie Irm es nannte. Die hatte er schon immer perfekt beherrscht. Ein mitfühlender Blick hier, ein ergriffen gehauchte „Oh“ da und schon waren ihm die Frauen hoffnungslos verfallen.

Er konnte weder so tun, als ob er mitfühlend wäre, während er sich doch eigentlich zu Tode langweilte, noch konnte er ergriffene „Ohs“ hauchen. Er konnte nur grunzen oder schnauben, vor allem, wenn ihn etwas langweilte.

Nicht, dass er ein totaler Trampel war!

Nein, er konnte äußerst charmant sein, wenn er wollte, aber er konnte und wollte sich nicht so verbiegen. Und bevor er sich in den unterschiedlichsten Möglichkeiten eines potenziellen Selbstmordes verlor, nur weil ihn das Gesprächsthema langweilte, ging er dem ganzen langweiligen Gespräch aus dem Weg. Entweder er türmte oder, wenn die Dame ihn zumindest optisch ansprach, küsste er sie. Mit einer zweiten Zunge im Mund war selbst die redseligste Frau still. Diese Taktik hatte ihm, bis er mit Isabell zusammengekommen war, den Ruf des schweigsamen Verführers eingebracht. Aatu lachte leise auf. Obwohl er es nicht wusste - woher auch - er könnte schwören, dass Irm selbst mit seiner Zunge im Mund noch weiterreden würde.

Wenn er, auch wenn Irm dann mit Rafe zusammen war, trotzdem noch ab und zu mit ihr tanzen konnte, dann konnte er damit leben, beschloss er, seufzte herzhaft und machte sich auf den Rückweg zu T-Dreieinhalb. Er trat gerade aus dem Schatten der Birken, als sich die Seitentür des Vehikels einen Spalt weit öffnete und der von den Zwillingen abgeschleppte Leibwächter Dallin ausstieg. Aatu machte einen schnellen Satz zurück, um nicht entdeckt zu werden. Dallin richtete sich sein Hemd, dann drehte er sich zur Tür um und gab erst Seff, dann Velvel einen verdammt langen und innigen Kuss. Aatu wartete, bis er davon ging. Etwas steifbeinig war der Gute ja schon unterwegs, stellte er amüsiert fest.

„Du kannst da raus kommen, wir wissen, dass du da stehst“, raunte Seff belustigt in Aatus Richtung. Aatu tat ihnen den Gefallen und kam auf T-Dreieinhalb zu.

„Ihr schon, er nicht“, gab er als Antwort, schob die beiden zur Seite und stieg ein.

„Und, wie war dein Abend noch so?“, fragte Velvel zufrieden, als er Aatu zu dessen Zimmertür folgte. Aatu wandte sich zu ihm und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er war, wie sein Bruder, nackt.

„Mit Nackten rede ich nicht über persönliche Dinge“, neckte er liebevoll. Seff stieß einen erfreuten Laut aus, legte seine Hände in Aatus Rücken und schob ihn weg von dessen Zimmertür zu ihrer eigenen.

„Du sollst ja auch nicht darüber reden, du sollst es uns erzählen“, behauptete er vergnügt. Aatu wollte widersprechen, er wusste nicht, ob es so eine gute Idee war, seine Gedanken jemand anderen anzuvertrauen, doch dann sah er in die vertrauten Gesichter der Zwillinge. Sie waren zusammen aufgewachsen. Sie waren gemeinsam durch das Land gestreift, sie hatten Lager und Essen geteilt, sich von ihrem letzten Geld einen Krug Bier gekauft und sie hatten zusammen die Bordelle der großen Städte unsicher gemacht. Sie kannten ihn. Und Aatu wurde bewusst, dass er ein riesen Idiot gewesen war. Er hatte damals geglaubt, dass er in einer Zwillingsbeziehung als Freund untergehen würde. Er lächelte wehmütig. Die beiden waren schon immer mehr Freund für ihn gewesen, als Æftelbert es hätte je sein können und er hatte es übersehen.

„Wisst ihr was? Wenn ihr genug Bier da habt, dann könnt ihr meinetwegen kopfüber von der Decke hängen und euch dabei gegenseitig mit euren Rüsseln anmalen, während ich mit euch über meinen restlichen Abend rede. Und dann erzählt ihr mir den euren.“

Aatu trat in das Zimmer der beiden und schloss die Tür hinter sich.




11. Von einer Versammlung, Langeweile und einer kleinen unscheinbaren Flamme

 

Es waren alle dreißig Rudel anwesend.

Siebzehn von ihnen waren mit vier Personen vertreten, dreizehn mit drei, das machte einhundertundsieben Teilnehmer. Dazu kamen noch Bayard, der große und mächtigste aller Zauberer, der das Schloss bewohnte - wenn er nicht gerade auf Wanderschaft war und kein Schwein beziehungsweise Rafe ihn finden konnte. Fünfzig Butler umschwirrten diskret die Anwesenden und brachten ihnen Getränke und Häppchen. Rechts und links neben Bayard hockten die beiden Protokollführer, blasse langweilige Kerle mit blauen Tintenfingern und verkniffenen Gesichtern. Somit waren zeitweise hundertsechzig Personen in dem runden Versammlungssaal anwesend.

Sechszehn Rudel hatten Rudelzauberer, vierzehn Rudelhexen. Unter den Anwesenden - die Butler und Schriftführer nicht mitgezählt -waren sechzig Männer, sechsundvierzig Frauen und eine irmsche Heimsuchung.

Aatu blähte die Backen. Dieses Gerede war so langweilig, dass er sogar schon angefangen hatte, die Leute hier zu zählen. Wenigstens waren die Stühle bequem. Seit Stunden schwadronierten die einzelnen Rudelanführer was für tolle Rudelanführer sie doch waren und was für tolle Dinge sie doch taten; einige von ihnen züchteten ihre Menschen wie in Hühnerställen anstatt auf die Jagd nach freilaufenden zu gehen. Irms abfälligen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fand sie das genauso abartig wie Aatu selbst. Menschen jagte man, wo war denn da sonst der Spaß an der ganzen Sache?

Ein Rudel wurde gerügt, weil es nun schon wiederholt im Revier des benachbarten Rudels gejagt hatte, obwohl es auf der anderen Seite der Reviergrenze ein Gebiet mit ungeschützten Menschen gab. Es musste eine Goldstrafe zahlen, ein leichter Disput flammte auf, doch bevor er in eine interessante Diskussion ausarten konnte und vielleicht sogar in einem Duell der Rudelanführer, wurde er unterbunden. Nicht einmal der Spaß eines Anführerkampfes als Abwechslung gönnte man ihnen.

Aatu nippte an seinem Kaffee und stellte fest, dass er die Zwillinge beneidete.

Sie hatten bis kurz vor dem Morgengrauen miteinander geredet und sie hatten ihm zugehört, ihn liebevoll aufgezogen, ihm wiederholt unter die Nase gerieben, dass sie sofort bemerkt hätten, dass er sich in Irm verschossen hatte und dann hatten sie ihm bis ins wirklich allerkleinste Detail haargenau und äußerst bildlich von ihrem Dreier mit Dallin erzählt. Und zwar so bildgewaltig, dass er mit einer Mordserektion in sein Zimmer gegangen war und sich nach langer Zeit das erste Mal wieder mit der Hand Erleichterung verschaffen musste.

Und während er nach viel zu wenig Stunden Schlaf jetzt hier saß und vor lauter Langeweile alles zählte, was ihm vor die Nase kam - sieben Häppchen mit Truthahnscheiben, neun mit kaltem Schweinebraten, vier mit Menschenleber und drei mit Kaviar - lagen die beiden entweder noch selig schlafend in ihrem Fassbett oder - was wahrscheinlicher war - vögelten schon wieder Dallin durch. Aatu legte seine Hand in den Nacken und ließ ihn knackend kreisen.

 

Warum war dieser Raum noch mal rund?

Irm tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass es irgendetwas Symbolisches mit Ecken zu tun hatte, die für die Kanten und Knackpunkte zwischen den Rudeln standen. Beim Höllentor, wie war das doch noch gleich? Sie legte ihre Stirn in konzentrierte Falten, während sie tief in ihrem Gedächtnis nach einer Antwort kramte.

Der Raum dieser Versammlung war rund, weil es in diesem Raum keine Ecken und Kanten geben sollte, an denen man sich stoßen konnte, als Symbol, dass es hier in diesem Ort keine Reibungspunkte unter den Rudeln geben würde.

Genau. So war das. Die fehlenden Ecken sollten allen weismachen, dass das hier eine runde Sache war. Sie unterdrückte ein albernes Kichern. Es befand sich eindeutig noch zu viel Restalkohol in ihrem Blut; sie und Aatu hatten gestern aber auch was an Champagner weggetrunken. Und dabei schmeckte ihr das Zeug überhaupt nicht. Aber die Beeren darin waren unheimlich lecker gewesen.

Das war sterbenslangweilig. Wen interessierte denn schon, ob die Steppenwerwölfe sich ihre Menschen in Gattern hielten, statt freie zu jagen? - Davon abgesehen, dass das ja so was von total abartig war. Oder, dass die aus den Ostwäldern in fremden Revieren wilderten? Da gab’s ja wohl nur eine Lösung. Rudelanführerkampf. Sie warf einen kurzen Blick zu Rafe, der rechts von ihr saß und mit stoischer Miene zuhörte und dann zu Aatu, der verdammt übernächtigt aussah. Seine Augen waren leicht gerötet und geschwollen und da blinkte eine störrische Haarsträhne hinter seinem rechten Ohr fröhlich in ihre Richtung und weigerte sich, im Zopf zu bleiben. Der heute übrigens etwas schlampig geflochten war. Bei der nächsten Pause musste sie das ändern. Wie sah das denn aus?

Oh, weh, dachte sie frustriert, wenn sie jetzt schon Zöpfe interessanter fand als das Gerede hier, war Hopfen und Malz verloren. Sie griff nach einem Häppchen mit Truthahn und nagte gelangweilt darauf herum.

 

Jetzt waren es nur noch sechs Häppchen mit Truthahnscheiben, zählte Aatu frustriert und wollte sich gerade ausgiebig in Selbstmitleid suhlen, als der Vorsprecher - verdammt, den hatte er vergessen mitzuzählen! - vortrat und laut verkündete:

„Über das Rudel von Rafe von den Wilden Werwölfen!“

Rafe erhob sich und verneigte sich vor Bayard.

Durch Irm und Aatu ging augenblicklich ein Ruck und sie saßen aufrecht und mit wachem Blick da.

„Ich bin Rafe vom Rudel der Wilden Werwölfe“, stellte er sich vor. Dann zeigte er hinter sich.

„In ihrer Funktion als Rudelhexe: Irm aus dem Süden.“

Irm blieb, wie es Sitte war, sitzen und neigte nur hoheitsvoll den Kopf. Estelle platzte fast vor Stolz, als sie sah, wie erwachsen und selbstsicher sich ihre Nichte doch zeigte. Genau so musste sie in öffentlichen Momenten auftreten.

„In ihrer Funktion als Stellvertreter: Aatu vom Rudel der Wilden Werwölfe“, Rafe deutete zu Aatu, der sich knapp verneigte, „und Zev vom Rudel der Wilden Werwölfe.“

Zev, der alte Streber, verneigte sich ebenfalls. Er hatte, im Gegensatz zu Aatu und Irm jedem einzelnen Gesprächsthema aufmerksam gelauscht, denn Zev wusste, dass die wahre Macht Wissen war und das der Weg zu Wissen oft langweilig und zäh sein konnte, es sich aber durchaus lohnte, diesen langweiligen und zähen Weg zu gehen.

„Ihr habt an der letzten Versammlung nicht teilgenommen“, bemerkte der Vorsprecher kühl.

„Ich sah keine Veranlassung darin. Die Teilnahme ist meines Wissens immer noch freiwillig“, erwidert Rafe nicht weniger kühl. Leises protestierendes Gemurmel war zu hören, Irm konnte sich denken, was sie lästerten.

„So wie ihr keine Veranlassung darin gesehen habt, mitzuteilen, dass ihr jetzt eine Rudelhexe besitzt? Oder dass du dein Rudel für zwei Jahre allein und schutzlos zurückgelassen hast?“ Matchits heisere Stimme drang von den hinteren Rängen an ihr Ohr. Irm drehte sich zu ihm. Der Blick, den sie ihm schenkte war voller Verachtung.

„Genau. Ich sehe keine Veranlassung darin, dir mitzuteilen, was in meinem Rudel geschieht, Matchit vom Grauwald, denn ich bin dir zu keiner Rechenschaft verpflichtet“, erwiderte Rafe gelassen. „Ebenso wenig, wie ich einen Grund sehe, dich darüber zu informieren, was ich zwei Jahre lange tu und was nicht.“

Leises Gelächter hallte durch den Saal und Aatu dachte für sich, dass sein Bruder ausgesprochen souverän reagiert hatte.

Irm lächelte spöttisch, richtete ihren Rock und hob die Hand. Der Vorsprecher nickte ihr zustimmend zu. Irm erhob sich in einer anmutigen Bewegung, die Aatu fast den Atem raubte, wo hatte die diese Eleganz bisher versteckt? Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln, so sanft und so liebevoll und es stand in einem so starken Kontrast zu dem kalten Blick in ihren Augen, dass Aatu unweigerlich fröstelte. Langsam, in einer beinahe schwebenden Bewegung drehte sie sich zu Matchit um und sah ihm in sein verbranntes Antlitz.

„Unser Rudel war nie schutzlos, mein lieber Matchit, und das weißt du. Immerhin bist du oft genug an unseren Hexensäcken abgeprallt“, klärte sie ihn mit liebevoller Stimme auf. Estelle zerquetschte vor Aufregung beinahe Primus Arkos‘ Hand. Das hier war ihre Nichte, das hier war ihre kleine Wildblume, und sie war so schön und so erwachsen und so erhaben! Primus Arkos ertrug es stumm und gefasst und mit einem unergründlichen Lächeln auf dem Gesicht.

„Und Rafe hat unser Rudel auch nicht allein gelassen, wie du behauptest, denn als er ging, war ich ja da. Ich bin seit zwei Jahren und drei Monaten die Rudelhexe des Rudels der letzten Wilden Werwölfe!“, verkündete sie laut.

„Ach, und weshalb hingen dann die letzten beiden Jahre immer noch Hexensäcke an den Häusern? Und wie konntest du überhaupt magisch wirken, mit Hexensäcken? Und weshalb hat dich in den zwei Jahren keiner dort gesehen?“ Die Hexe aus einem Rudel in der Nähe des Süd-West-Waldes blitzte Irm angriffslustig an. Zustimmendes Gemurmel war zu hören und neugierige Blicke hefteten sich auf Irm. Estelle wünschte die elende Schlampe zur Hölle! Sie blitzte sie böse an.

In diesem Moment war Irm froh, dass sie die letzten beiden Jahre einen so großen Bogen um alle Rudel gemacht hatte und stattdessen in den freien Städten gewesen war. Sie lächelte kalt.

„Weil ich im Gegensatz zu anderen kein falsches Geltungsbedürfnis habe. Deshalb.“

Aatu grinste breit. Gutes Mädchen, lobte er Irm in Gedanken.

„Und offensichtlich haben hier einige ihren Lehrern nicht wirklich gut zugehört, als sie unterrichtet wurden. - Nun, es kann natürlich auch sein, dass es vergessen wurde, ich habe gehört, dass mit zunehmendem Alter das Gedächtnis ein wenig nachlässt, aber Hexensäcke schützen einen vor ungewünschter Magie. Die Magie der eigenen Rudelhexe wird ja wohl erwünscht sein, n'est-ce-pas?“, gab sie herablassend zurück. Estelle seufzte lautlos. Schön, dass ihre Nichte ihre eigene Verfehlung so selbstbewusst weitergereicht hatte.

„Und solange die Hexensäcke ihre Wirkung tun, weshalb sollte ich mich denn dann groß mühen? Und offensichtlich haben sie ihre Wirkung getan, sonst würde ich jetzt nicht hier zwischen meinem Rudelanführer und seinen Stellvertretern stehen.“ Irm schenkte Bayard einen fragenden Blick.

Der große alte Zauberer, mit dessen Macht sich keiner messen konnte, lächelte nachsichtig. Er mochte Rafe, auch wenn er ihn vor einem halben Jahr brüsk abgewiesen hatte, mit der Behauptung, er müsse sich selbst um seine Probleme kümmern. Er brummte in seinen nichtvorhandenen Bart. Er war zwar sehr alt, aber Bayard sah aus wie ein Mann Anfang vierzig und er würde sein schönes Gesicht nicht durch Haare verunstalten.

Bayard wusste Dinge, die die anderen nicht wussten. Und deshalb hatte er auch unter anderem gewusst, dass, wenn Rafe wieder zuhause wäre, sich seine Probleme mit aufdringlichen Hexen und Zauberern gelöst hätten. Und darüber hinaus hatte er gewusst, dass die zweite Überlebende des Rudels der Wilden Werwölfe vom Süden einen sicheren Hafen gefunden hatte.

Er wusste, dass er in dieser Hinsicht nicht objektiv war, aber wie könnte er auch? Irm war seine Urgroßnichte siebenundzwanzigsten Grades und bei aller Neutralität, Blut war nun mal doch dicker als Wasser.

Er gab mit einem Nicken Irm zu verstehen, dass sie fortfahren solle.

„Ich schütze mein Rudel mit allen nur erdenklichen Mitteln. Ihr könnt also eure fruchtlosen Bemühungen, es zu übernehmen, einstellen.“ Irms Blick wanderte zu Matchit und bohrte sich tief in seine roten Augen.

„Und glaubt mir, ihr seid gegen mich nicht gewachsen“, fügte sie hinzu und diese Drohung war eindeutig und sehr offensichtlich an Matchit gerichtet. Der Zauberer mit dem verbrannten Gesicht knirschte mit den Zähnen. Die Wilden Werwölfe hätten Macht bedeutet, Macht, die nun eine kleine dumme heimatlose Kirmeshexe besaß und die eigentlich ihm zustand.

„Nun haben sie aber offensichtlich verpasst, es mitzuteilen, dass sie eine Rudelhexe besitzen. Wie gehen wir gegen diese Verfehlung vor?“, rief er Bayard zu. So schnell würde er nicht aufgeben. Er wollte dieses Rudel haben! Rafe sah ihn mit erstaunter Gelassenheit an, während Irm wirkte, als ob sie ihm gleich an die Gurgel springen würde.

„Zum Ersten, Matchit vom Grauwald, wiederhole ich es gerne noch einmal: Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, wie ich mein Rudel führe und ich werde auch nie sein. Zum Zweiten: Wir sind keine Leibeigene von niemandem, das heißt, ich bin auch niemandem sonst außer meinem Rudel und meinen Schutzbefohlenen Rechenschaft schuldig. Wir belästigen niemanden, wir wildern nicht in fremden Revieren - und falls doch, lassen wir uns nicht dabei erwischen“, Rafe unterbrach seine kurze Rede und zwinkerte der Rudelanführerin von dem Rudel, welches man am ehesten als ihre Nachbarn bezeichnen konnte, schelmisch zu, „Und zum Dritten: Es wäre jetzt sehr in deinem Interesse, wenn du dich einfach wieder hinsetzen und einsehen würdest, dass wir niemals dein Rudel sein werden, sonst könnte es sein, dass ich mich vergesse und Dinge an den Tag zerre, die nur dich und mich etwas angehen.“ In Rafes Stimme schwang ein warnendes Knurren mit. Irm verschränkte die Arme vor der Brust und hob wartend die Augenbrauen.

Matchit starrte ihn störrisch an. Dieser verfluchte Rafe und sein dummes, verfluchtes Idiotenglück und diese verdammte Hexe! Oh, ihnen würde er Glück und Hochmut schon noch austreiben!

Die kleine grelle Flamme, die auf Irms Unterarm erschien und dort fröhlich von links nach rechts tanzte, ließen ihn erstarren. Schlagartig erinnerte er sich wieder an diese Demütigung und den unbeschreiblichen Schmerz von vor fünf Jahren, als sie ihn in Brand gesteckt und so schändlich entstellt hatte. Er war so ein wunderschöner Mann gewesen, mit seinen silbergrauen langen Haaren, seinem glänzenden Ziegenbart und seinen wohlgeschwungenen Augenbrauen.

Jetzt war er hässlich und entstellt. Bart- und augenbrauenlos, seine silbernen Haare wuchsen nur noch in unregelmäßigen Büscheln und seine Gesichtsfarbe glich der Haut eines gut durchgebratenen Hähnchens vom Grill. Von seiner melodiösen Stimme ganz zu schweigen! Die klang seit Irms Mordversuch an ihm wie ein rostiges Reibeisen!

Und gleich darauf erinnerte er sich an die brennenden Hände des Hexensackmachers, den er bestochen hatte. So viel Gold bezahlt für nichts als Ärger und zwei vereisten Werwölfen! Zwei seiner besten Krieger und die waren jetzt tot! Matchit versuchte, sich mit Würde wieder hinzusetzen. Irm wartete, bis sie sich sicher war, dass er sitzenbleiben und vor allem still sein würde, dann ließ sie die kleine unscheinbare Flamme, die kaum größer als der Fingernagel eines Säuglings gewesen war, verpuffen. Mit einem zufriedenen Nicken nahm sie ebenfalls wieder Platz.

Rafe blieb allerdings noch stehen.

„Mein Rudel gehört mir. Jedem von euch, der sich von dieser Versammlung erhofft hatte, dass er es übernehmen könnte, lass gesagt sein, dass ich dieses Rudel keinem kampflos überlassen werde!“

Er wartete, bis sich die Wirkung seiner Worte auch bis zum letzten Anwesenden entfaltet hatte, dann setzte er sich ebenfalls wieder hin. Zev nickte ihm zustimmend zu.

Der Vorsprecher räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, und fuhr mit seinem Protokoll fort. Irm griff nach Rafes Hand und drückte sie kurz.

Sie war stolz auf ihn. Wirklich stolz und damit stand sie nicht allein da. Aatu fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Rafe hatte sich nicht provozieren lassen und er hatte allen klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er der einzige Anführer ihres Rudels war und dass das Rudel der Wilden Werwölfe sich niemandem beugen würde.

Er sah Irm an, die seinen Blick zu spüren schien, denn sie drehte ihm den Kopf zu. Aatu schenkte ihr ein warmes Lächeln, welches sie nicht weniger warm erwiderte.

Ja, er hatte sie vor zwei Wochen unter anderem zur Rudelhexe bestimmt, weil er gewusst hatte, dass sie diese Aufgabe niemals haben wollte und er hatte gehofft, dass sie diese Ankündigung dazu verleiten würde, abzuhauen, aber wenn er wirklich richtig offen und ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er es auch gesagt, weil er gehofft hatte, dass sie blieb.

Und wenn sie wieder zuhause wären, nach dieser verdammten langweiligen Versammlung, dann würde er mit Freuden diesen verfluchten Magierturm einreißen, die Steine von Derne und Flöckchen pulverisieren lassen und er würde dafür sorgen, dass Irm den schönsten und besten Kräutergarten bekommen würde, den es auf dieser Welt gab.

Er streckte ihr zur Versöhnung seine offene Handfläche hin. Irm lächelte und legte ihre warme Hand in seine.

Sie war Irm vom Rudel der Wilden Werwölfe des Südens, die Krieger waren und sie war die Rudelhexe der Wilden Werwölfe des Nordens die Wölfe waren.

Sie war zuhause.

 

 

12. Von Warzen an delikaten Stellen, vielen Gesprächen und einem Tausch

 

Primus Raulf lief eigenartig.

Rafe saß mit Primus Arkos und dessen Stellvertreter und Bruder Argo an einem der vielen Bistrotischchen, die in dem tropisch bepflanzten Wintergarten standen, und unterhielt sich über Missernten, gute Jagden und der Pein der ständigen Renovierungen bei alten Gebäuden, als Primus Raulf draußen an den Scheiben vorbeistakste. Offensichtlich hatte Irm ihm tatsächlich eine Warze angehext. Er verkniff sich ein Grinsen und nippte hastig an seinem Kaffee. Zurück zu seinen Gesprächspartnern, mahnte er sich.

„Ich weiß, was vor dreißig Jahren im Süden geschehen ist, Primus Arkos“, begann er, des ständigen Ausweiches dieses Themas Leid. Ja, Missernten waren furchtbar, erfolgreiche Jagden umso besser und es war teuer, eine Burg renovieren zu lassen, deshalb wurde ihre Burg ja nicht renoviert.

„Wir sitzen nun schon seit drei Stunden zusammen und umkreisen uns wie die Geier, bitte entschuldigt meine Unhöflichkeit, aber ich habe keine Lust mehr auf diese Spielereien.“ Rafe stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und sah Primus Arkos leicht gereizt an.

„Wir haben durch Irm als meine Rudelhexe automatisch einen Bund zwischen unseren Rudeln. Ich verlange nicht von euch, dass ihr uns bei unseren Kämpfen zur Seite steht, das kann ich allein aufgrund dessen, dass unsere Rudel zu weit auseinanderleben, nicht machen. Ich will es auch nicht machen, denn ich werde keinen Außenstehenden, egal ob Verbündeter oder nicht, meine Kämpfe austragen lassen. Was ich möchte, ist eine Freundschaft. Mehr nicht, Primus Arkos. Man trifft sich zu Festen, man trinkt etwas miteinander, redet. Und ich hätte gern das Wissen, dass mein Rudel, sollte es auf der Flucht sein, bei euch einen Unterschlupf findet, denn es kann gut sein, dass es das irgendwann einmal benötigen wird.“ Rafe faltete die Hände auf seinen Oberschenkeln zusammen und wartete geduldig. Primus Arkos schluckte hart.

„Das kann ich dir nicht versprechen, Rafe von wilden Werwölfen“, sagte er hart. Sein Bruder hob erstaunt die Augenbrauen und Rafe nickte verstehend. Sie und die Werwölfe vom Süd-West-Wald als Freunde war auch eine lächerliche Idee.

„Irm ist für mich … Irm ist Danicas Tochter und Danica war für mich wie eine Tochter. Irm ist etwas besonders für mich, auch wenn ich es ihr nie zeigen konnte. Und wenn das nicht wäre, dann ist sie immer noch die Nichte meine Rudelhexe“, begann Primus Arkos ernst. Rafe schluckte seine Enttäuschung über Primus Arkos‘ Ablehnung hinunter, obwohl es ihn ehrlich traf. So unterschiedlich waren sie doch gar nicht, verdammt, sie waren alle Werwölfe, die ihr Fressen jagten und Menschen jagten! Er mahne sich zur Ruhe.

„Ich kann euch nicht nur Freundschaft versprechen, Rafe, denn ich fühle mich verpflichtet, euch Beistand zu versprechen“, eröffnete Primus Arkos mit Nachdruck. Rafe sah ihn nur an. Trotz des Desasters mit dem Rudel von Irms Eltern, trotz der angeblichen Schuld am Tod seines Vaters, wollte Primus Arkos wieder einen Bund des Beistands eingehen? Mit einem Rudel, welches zwei Wochen Reise von ihnen entfernt war? Ihm fehlten die Worte und er hätte jetzt gerne Zev bei sich gehabt, der die Worte an seiner statt parat hatte, aber Primus Arkos hatte auf diese intime Dreierrunde bestanden.

Wie sagte Rafe ihm nun am besten, dass er sich nicht zu einem Beistandsbund gezwungen fühlen musste, ohne Primus Arkos vor den Kopf zu stoßen?

„Danke“, sagte er stattdessen nur und verneigte sich, „Dasselbe gilt für mich und mein Rudel. Die Wilden Werwölfe vom Norden stehen euch bei.“

Rafe fühlte einen Druck in seiner Brust und er wusste, er hatte sich soeben nicht nur einen mächtigen Verbündeten gesichert, sondern auch eine verdammt große Verantwortung aufgehalst. Trotzdem, trotz des Druckes in seiner Brust, fühlte er sich leicht und warm und geborgen. Er hatte das Richtige getan.

„Die Einladung zum Herbstfest steht, Primus Arkos, und ich dulde kein Nein als Antwort“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu. Die Anspannung fiel von dem Rudelanführer ihm gegenüber ab und Primus Arkos schenkte Rafe ein väterliches, erleichtertes Lächeln.

 

Seff und Velvel lümmelten im Schatten vor T-Dreieinhalb herum, als sich Ylva und Dallin ihnen näherten. Velvel hob den Kopf, den er auf dem Bauch seines Bruders liegen hatte und zwinkerte gegen die Sonne. Dallin kam mit Ylva? War das nun gut oder schlecht? Dallin ließ sich zumindest nicht anmerken, dass er die beiden Werwölfe, die halb nackt auf der Wiese lagen, kannte. Dann sollten sie es am besten vorerst auch so halten.

„Entschuldigt, bitte“, begann Ylva. Seff richtete sich auf und sah sie fragend an.

„Ist Irm da?“

Sie klang so nett, und das, obwohl sie die Schwester von diesem Vollidioten - oder wie Derne Werwölfe gerne nannte, die er nicht mochte - Blödwolfs war.

„Drin in T-Dreieinhalb“, sagte er nur und deutete mit dem Kopf in T-Dreieinhalbs Richtung. Ylva verneigte sich leicht vor den beiden. Sie sah zu Dallin, lächelte unergründlich, dann ging sie entschlossen zum Vehikel. T-Dreieinhalb hupte erfreut, als er Ylva erkannte.

„Hallo, mein Großer“, grüßte sie sanft und tätschelte T-Dreieinhalbs Schnauze. Die Scheibenwischer liefen quietschend auf Hochtouren. Sie warf ihrem Leibwächter noch einen kurzen Blick über die Schulter zu, dann schlüpfte sie durch die von T-Dreieinhalb geöffnete Tür nach drinnen.

„Wie kann so ein bezauberndes Wesen so einen Bruder haben?“, fragte Velvel laut. Seff zuckte ratlos mit den Schultern.

„Sie schlägt nach ihrem Vater“, antwortete Dallin amüsiert. Die Zwillinge wandten ihm den Kopf zu und grinsten breit.

„Und du musst jetzt hier also auf sie warten?“, fragte Seff neugierig. Dallin zuckte mit den Schultern. Auf seinem fein geschnittenen Gesicht erschien ein schiefes Grinsen.

„Warten: Ja. Hier? - Nicht unbedingt“, antwortete er und deutete mit dem Finger auf das Gras vor seinen Füßen. Velvel lachte auf.

„Das heißt, du könntest auch woanders auf sie warten?“, hakte er schelmisch nach.

„Ja.“ Aus Dallins schiefem Grinsen wurde ein breites Grinsen. Seff sprang elegant auf die Beine.

„Dann warten wir gemeinsam woanders auf sie“, beschloss er, packte Dallin am Hosenbund und zog ihn rückwärts zu T-Dreieinhalb. Velvel drückte sich an Dallins Rücken.

„Ich hoffe, du bekommst keinen Ärger, wenn sie vielleicht ein wenig auf dich warten muss“, raunte er ihm in s Ohr.

Als sie in T-Dreieinhalb stiegen, trug Dallin sein Hemd nicht mehr und seine Hose hing ihm an den Knien.

 

Ylva stand etwas verloren mitten in T-Dreieinhalb.

„T-Dreieinhalb? Du hast umgebaut? Wo geht’s denn zu Irm?“, fragte sie und besah sich staunend die vielen Türen mit den feinen Mustern darin. Sie hörte T-Dreieinhalbs gedämpftes Hupen und dann leuchtete eine Tür weit hinten auf.

„Danke, mein Großer.“ Ylva tätschelte die Wand und schlenderte auf die leuchtende Tür zu. Hinter sich hörte sie verhaltenes Gekicher und sie wusste, auch ohne sich umzudrehen, dass Dallin mit seinem beiden Eroberungen das Vehikel betreten hatten.

Ein überraschtes „Oh!“ wurde hinter ihr laut, Ylva verkniff sich tapfer, zu kichern, dann klopfte sie leise an die Tür. Drei Mal kurz, zwei Mal lang, vier Mal kurz, ihr alter Klopfcode von früher und ohne auf eine Antwort zu warten, huschte sie in Irms Reich.

„Ylva!“ Irm flog ihr lachend um den Hals.

„Du siehst gut aus!“ Sie strahlte ihre Freundin glücklich an. Ylva verneigte sich hoheitsvoll und ihre blauen Augen blitzten.

„Hast du was zum Essen für mich? Ich sterbe vor Hunger!“, behauptete sie lachend. Irm wirbelte auf dem Absatz herum, kramte in einem windschiefen, mit allerlei Ramsch befüllten Regal herum und holte aus dem tiefsten Winkel eine große Keksdose hervor.

„Bist du allein hier?“, wollte Irm wissen und drückte Ylva die Dose gegen den Bauch. Ylva nahm sie entgegen, schüttelte den Kopf und riss den Deckel auf. Genüsslich schnupperte sie den süßen Geruch der Kekse.

„Nein. Dallin ist selbstverständlich mitgekommen. - Der ist jetzt allerdings eine Zeit lang beschäftigt.“ Ylva kicherte während sie auf einem Keks herumkaute. Irm lachte.

„Kaffee? Kakao? Tee?“, bot sie an.

„Kakao, bitte“, antwortete Ylva gänzlich unschicklich mit vollem Mund.

„Ich seh’s schon, wenn wir wieder zu Hause sind, darf ich mir sein Gejammer darüber anhören, wie sehr er die Zwillinge doch vermisst.“ Sie seufzte theatralisch und schob sich einen neuen Keks in den Mund. Irm grinste breit.

„Rudelhexe, hä?“ Es war offensichtlich, dass Ylva ihre guten Manieren an T-Dreieinhalbs Tür vergessen hatte. Sie warf sich auf Irms Bett und lümmelte alles andere als gesittet und adrett darauf herum. Sich fröhlich mit Keksen einkrümelnd, beobachtete sie Irm beim Kakao zubereiten. Die zuckte nur mit den Schultern.

„Wenn ich dir die Geschichte erzähle, fällst du vom Bett“, prophezeite sie und krönte die beiden Kakaotassen mit einer riesigen Sahnehaube.

„Du glaubst also wirklich, dass mich noch irgendetwas, was dich betrifft, aus den Pantoffeln hauen könnte? - Für so naiv hätte ich dich jetzt aber nicht gehalten.“ In Irms Gegenwart war Ylva nicht mehr die zurückhaltende, beinahe scheue Wölfin, die sie sonst war. In Irms Gegenwart war Ylva aufgelassen, frech und selbstbewusst. Da gab es keine Zwänge und Regeln und Aufpasser, die darauf Acht gaben, dass Ylva sich nicht daneben benahm und den guten Ruf ihres Bruders, dem angehenden Rudelführer, Schaden konnte. Was Ylva sowieso nicht schaffen konnte, dafür sorgte Primus Raulf schon ganz alleine.

„Ich geb dir gleich naiv“, drohte Irm lachend und setzte sich zu Ylva aufs Bett.

„Bevor du anfängst; was hast du meinem Bruder angehext?“

Irms Grinsen wurde diabolisch.

„Warzen“, antwortete sie zufrieden und wackelte nur mit den Augenbrauen. Ylva warf den Kopf in den Nacken und lachte laut und herzhaft.

„Danke. Vielen, vielen Dank! Du ahnst gar nicht, wie sehr du mir gefehlt hast, Meine-Irm!“ Ylvas Blick wurde etwas wehmütig.

„Du hast mir auch gefehlt, Meine-Ylva.“ Irm stellte die beiden Tassen weg und nahm ihre Freundin fest in den Arm.

„Und jetzt will ich als allererste Wissen, wie du zu diesen Schnuckel-Wölfen gekommen bist!“, forderte Ylva sie auf, ohne Irm aus ihrer Umarmung zu lassen.

Wären die Zwillinge nicht halb so beschäftigt mit Dallin gewesen, hätte sie das ständige Gekicher und Lachen, welches aus Irms Zimmer drang, aufs Äußerste beunruhigt, denn das waren Laute, die nur Frauen von sich gaben, wenn sie über andere redeten, herzogen und irgendwelche Pläne ausheckten.

 

Aatu allerdings bekam ein ganz schlechtes Gefühl, als er die beiden zusammen sah.

Den Vormittag hatten er, sein Bruder und Zev damit verbracht, zusammen mit den anderen Werwölfen an einer spielerischen Menschenhetzjagd teilzunehmen. Danach hatten sich alle an der gejagten Beute gesättigt, sie war friedlich unter allen Teilnehmern aufgeteilt worden, nur das Siegerrudel hatte die schmackhaften Organe für sich allein beanspruchen würfen. Während des Essens waren belanglose Gespräche geführt worden, hier und da wurden potenzielle Beziehungen geknüpft und am Nachmittag hatten sie sich alle erneut im Runden Saal eingefunden, um die restlichen, noch nicht geklärten Fälle oder noch nicht erzählten Neuigkeiten vorzutragen. An diesem Abend würde das rauschende Abschiedsfest beginnen, welches sich noch weit in den nächsten Tag ziehen würde. Die Rudel würden danach ausschlafen, und dann die Zeit des großen Aufbruchs zurück nach Hause beginnen.

Die Männer waren schon seit einer halben Stunde gebadet, frisiert und schick angezogen im Schloss und warteten auf ihre Rudelhexe.

Und als Irm dann die Vorhalle betrat, in einem Kleid, ähnlich dem, welches sie am ersten Abend getragen hatte, nur das dieses schwarz war, mit einem grünen Korsett, und ihre Haare offen tragend statt hochgesteckt, und bei ihr eingehakt Ylva, in einem moosgrünen engen Kleid der Damen vom Süd-West-Wald, ihre dunkelblonden Locken in sanften Wellen über die von dem Collier bedeckten Schultern fallend, und mit keckem Blitzen in den Augen, da wurde Aatu kurz Angst und Bang. Es waren diese Blicke, die beste Freundinnen miteinander teilten, diese Blicke, welche von Geheimnissen sprachen, die die beiden Frauen vor den Männern hatten und Aatu war sich sicher, dass diese Blicke nichts Gutes für sie Männer bedeuten konnten.

„Rafe, mach deinen Mund zu, du glotzt!“, zischte Zev und riss Rafe aus seiner Erstarrung. Rafe zuckte kurz zusammen, sammelte sich hastig und leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Die beiden Erscheinungen, die auf sie zuschwebten, verschlugen ihm die Sprache.

„Bitte entschuldige unsere Verspätung, Rafe. Aber du weißt ja, wenn wir Frauen uns mal verquatschen“, entschuldigte sich Irm kokett und Aatu liefen Schauer über den Rücken. Die hatte doch was vor! Er musterte Irm genau, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was sie verriet. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, als Irm weiterplapperte, etwas über Freundinnen, die sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hätten und ja so viel zu bereden hatten, alberner Frauenkram, alles nicht der Rede wert und dann fiel sein Blick auf Ylvas Leibwächter Dallin, der mit einem verlegenen, aber glücklichen Lächeln die beiden Zwillinge ansah und als er zu Velvel und Seff blickte, sah er ein doppeltes Spiegelbild dieses Lächelns und er war sich sicher, dass irgendetwas geschehen würde. Wahrscheinlich war er nur eine alte, griesgrämige Unke, aber er konnte sich des Gefühls nicht verwehren, dass es nach diesem Treffen einige einschneidende Veränderungen geben würde, die vielleicht nicht alle wohlwollend aufnehmen würden.

Es waren zu viele würden in seinem Überlegungen. Und würden war der Bruder von hätte und solange es nichts war und nichts hatte, waren es nur Spekulationen, auf die er nichts geben konnte und von denen Rafe nichts wissen wollte. Er seufzte verhalten und trat auf die beiden Frauen zu. Aatu ignorierte tapfer Ylvas funkelnde Augen, als er sich mit einem charmanten Lächeln an Irm wandte. Diese funkelnden Augen machten ihn nervös, als wüssten sie mehr, als sie sollten. Als wüssten sie mehr als er.

„Heißt das, das du für heute Abend etwa schon eine Begleitung hast? - Es würde mir das Herz brechen, wenn dem so wäre“, behauptete er galant. Irm gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Oberarm. Sie war so perfekt in ihre Rolle als voll integrierte Rudelhexe eingetaucht, die ihre Wölfe inn- und auswendig kannte, und genau wusste, wie weit sie gehen konnte, ohne sie zu verärgern, dass es Aatu ehrlich beeindruckte.

„Du alter Charmeur“, flötete sie ihm kokett zu und Aatu stellte fest, dass er diese Irm nicht mochte. Er wollte die richtige Irm wieder haben. Die, die Hosen unter ihren bunten Röcken trug. Die, die eben diese Fetzenröcke bis weit über die Knie raffte, um bequem auf einem Fass sitzen zu können, während sie mit den Zwillingen Rommé spielte. Die, die verfärbte Fingerspitzen hatte. Die, die auf allen Vieren bis zu den Knöcheln in dunkle Löcher kroch, weil dort die besten Spinnweben für ihre Zaubermittel waren. Die, die ihm Eisflächen unter die Schuhsohle zauberte.

„Als ob ich dich je hergeben würde.“ Sie lehne sich kurz an ihn, sich nur überdeutlich bewusst, dass beinahe alle Augen der Anwesenden auf ihr ruhten. Und die meisten von ihnen warteten nur darauf, dass sie einen Fehler machten. Dass sie verdeutlichten, dass sie doch kein so eingespieltes Team waren, wie sie vorgaben zu sein. Irm würde sich vorher ein Bein ausreißen, bevor sie so etwas preisgab.

Rafe trat einen Schritt vor und bot Ylva seinen Arm an.

„Darf ich dich zum Tisch begleiten, Ylva?“, fragte er höflich und Ylva schenkte ihm einen scheuen Blick, der so gar nicht zu dem passte, den sie beim Betreten des Schlosses gezeigt hatte, und hakte sich bei ihm unter.

„Aber sehr gerne, Rafe“, bedankte sie sich wohlerzogen. Aatu sah den beiden nach, wie sie nebeneinander in den großen Speisesaal schritten. Irm legte mit einem leisen Seufzer ihre Hand auf seinen Unterarm.

„Ich will endlich nach Hause“, murrte sie fast lautlos. Aatu schnaubte zustimmend. Er schob seinen Arm von ihrer Hand, nur um ihn um ihre Schultern zu legen und sie an sich zu drücken.

„Ich habe diese Farce so satt“, wisperte er in ihr Haar, als er seine Lippen darauf legte. Dann ließ er sie wieder los und wartete, bis Irm sich erneut bei ihm eingehakt hatte.

 

In der Tat war dieses Fest rauschend. Und es war furchtbar anstrengend.

Sie tanzten, sie lachten. Sie hielten ihre Maskerade aufrecht.

Irm entschuldigte sich mit einem falschen Lachen bei Aatu, nicht, dass sie ihm ein falsches Lachen schenken musste, sie schenkte es den anderen Teilnehmern, Aatu bekam mittlerweile jederzeit ein echtes Lachen von ihr. Irm hoffte nur, dass er es auch wusste. Sie brauchte dringend etwas Kühles zu trinken, in dem kein Alkohol drin war, frische Luft und ihre Ruhe. Mit einem Glas Wasser huschte sie in einem unbeobachteten Moment in den dunklen, leeren Park.

Irm ließ sich seufzend auf eine Bank fallen und starrte in den Himmel. Sie vermisste Flöckchen und Derne. Und Ruud und Sanda. Und Otosa und den Arzt und Annabelle und Holga und sogar die alte Hedda.

„Oh, ich wusste nicht, dass hier schon besetzt ist.“

Irm drehte mit einem belustigten Schnauben ihren Kopf.

„Wem willst du das weißmachen, Onkel?“, gab sie zurück und rutschte ein wenig zur Seite, damit sich Bayard neben sie setzen konnte. Er war wirklich ein gut aussehender Mann. Ein makelloses Antlitz, perfekt aufeinander abgestimmte Gesichtszüge, eine gute Figur, ein charmantes und einnehmendes Wesen. Bayard lächelte sie entwaffnend an.

„Ein Versuch war es wert, liebe Nichte“, antwortete er schelmisch und Irm verdrehte die Augen. Wäre sie nicht die, die sie nun mal war, würde sie vor lauter Verzückung in Ohnmacht fallen, ob diesen frech funkelnden Augen. Aber sie war nun mal Irm und ihr bereitete dieser Offensiv-Charme mal so gar nichts. Keine Gänsehaut, keine Röte auf die Wangen, kein feuchtes Höschen. Bayard sah sie gespielt frustriert an.

„Es funktioniert bei dir immer noch nicht, was?“, fragte er und tat enttäuscht. Irm lachte auf. Es war das erste echte Lachen, welches sie diesen Abend lachte und Bayard wusste das.

„Nein. - Ich sagte doch: du bist mir zu alt“, behauptete sie frech und knuffte den großen Zauberer in die Rippen. Bayard legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich.

„Ach, Irm-Kind“, begann er seufzend.

„Komm mir nicht mit Ach, Irm-Kind. Du hast es doch gewusst, oder? Und dann lässt du Rafe so auflaufen? Das ist nicht nett von dir“, tadelte sie ihn. Bayard schnitt eine Grimasse.

„Natürlich wusste ich es. Von dem Moment an, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Aber ich darf mich nicht in so etwas einmischen. - Zauberer-Kodex, du verstehst“, flüsterte er ihr verschwörerisch zu. Irm grinste. Es gab keinen Zauberer-Kodex, und Bayard wusste, das Irm das wusste, aber es gehörte zu ihren Spielereien, davon zu reden. Und um sich vor Antworten zu drücken.

„Während Rafe wie ein Blöder nach dir gesucht hat, hast du dich für ein halbes Jahr bei mir eingenistet und meinen Tee leer getrunken“, warf sie ihm weiter vor. Bayard zuckte lässig mit den Schultern.

„Was werd ich den Besuch bei meiner Lieblingsnichte unterbrechen, nur weil mich so ein dahergelaufener Werwolf sucht?“, entrüstete er sich. Irm schüttelte mit einem leisen TzTz den Kopf.

„Du kriegst das schon hin, mit dem Rudelhexe sein“, prophezeite er zuversichtlich. Irms Blick war tadelnd.

„Selbstverständlich tu ich das“, erwiderte sie leicht gönnerhaft. „Zwar werde ich mir jeden zweiten Morgen vor Angst in die Hose machen, aber ich seh da überhaupt keine Probleme auf mich zukommen.“

Sie schnitt eine Grimasse und nippte an ihrem Glas.

„Matchit wird noch ein Problem werden“, teilte Bayard ihr mit. Irm nickte.

„Ich weiß“, knurrte sie missmutig. „Aber wir werden mit ihm fertig. Er wird sich wünschen, seine gierigen Finger von uns gelassen zu haben.“

Bayard nickte zufrieden. Genau diese Einstellung brauchte eine Rudelhexe in diesem Rudel.

„Ihr spielt eure Rollen gut. Wenn man es nicht weiß, dann fällt es keinem auf, dass Aatu und du sonst ständig am Streiten seid oder dass du und Rafe euch erst seit zwei Wochen kennt. Du weißt, so wird das nun ständig weitergehen, bis sie irgendwann einmal einsehen, dass es bei euch keine Chance gibt, einzudringen, wie einst bei Æftelbert.“

„Vergleich mich ja nicht mit diesem Stück Dreck! Sollte mir der auch nur einmal unter die Finger kommen …“, drohte Irm zornig. Bayard tätschelte ihr die Schulter.

„Kein Sorge, Irm-Kind, ich weiß, dass du kein Æftelbert bist. Und alle anderen werden es auch noch einsehen“, beruhigte er sie amüsiert. Er mochte ihre impulsive Art. Sein verstorbener Bruder war genauso gewesen. Bayard seufzte verhalten.

„Was machen deine beiden Hausdämonen?“, wechselte er das Thema.

„Die spielen mit einer Hingabe, die mich manchmal ängstigt, entweder Amme für die Kinder oder Mauerwache. Sie sind glücklich und vollauf zufrieden in der Burg.“ Irm grinste.

„Und du? Bist du in der Burg glücklich?“, hakte Bayard nach. Irm drehte ihr Glas in den Händen.

„Ja. Es ist daheim. Und ich muss auch nicht in diesen scheiß Turm hoch. Ich habe ein riesiges Zimmer mit einem Erker, indem ich hoffentlich alles reingestopft bekomme, was ich brauche und habe.“ Irm lachte auf.

„Was allerdings schwer wird. Ich habe allein von Armleuchter-Bert siebenhundertzwölf Bücher, die ich unterbringen muss. Und meine ganzen Bücher. Und meine Tinkturen und meine Gerätschaften. Es ist eine Pein, kann ich dir sagen. Ich schwör’s dir Bayard, wenn ich damit fertig bin, alles einzuräumen, werde ich nie wieder umziehen. Vorher brenn ich alles nieder“, drohte sie und schüttelte den Kopf.

„Du bist keine Turmhexe“, sagte Bayard zustimmend.

Das wusste ich jetzt schon vom ersten Moment an!“ Irm streckte ihm frech die Zunge raus und bekam einen leichten Stups auf die Nase.

„Du hast was vor, das sehe ich in deinen Augen. - Willst du deinen alten neugierigen Onkel darüber aufklären?“

Irms Grinsen wurde sehr breit und sehr schelmisch.

„Nö. Es sei denn, es springt etwas für mich dabei heraus“, antwortete sie frech und wackelte auffordernd mit den Fingern. Bayard lachte. Sie hatte früh gelernt, dass es sich lohnte, mit gewissen Informationen erst dann herauszurücken, wenn er ihr im Gegenzug etwas gab.

„Feuerzauber?“, schlug er vor. Irm blies die Backen auf.

„Oh, bitte, beleidige mich nicht!“

„Windzauber? Erdzauber? Wasserzauber?“, bot Bayard an. Irm tat, als müsse sie Gähnen und hielt sie die Hand vor den Mund.

„Langweilig, brauch ich nicht, kann ich alles“, meinte sie demonstrativ desinteressiert.

„Das Buch der Abwehrzauber?“ Ein alter Schinken von epischem Ausmaß erschien in Bayards Hand. Irms Augenbraue schob sich langsam nach oben.

„Lass mich kurz einen Blick hineinwerfen. Nicht, dass ich dann vor leeren Seiten stehe“, forderte sie beton lässig, obwohl sie wusste, dass Bayard sie nicht hereinlegen würde. Bayard reichte ihr das Buch, Irm blätterte kurz darin herum, dann nickte sie zustimmend.

„Komm näher. Und wehe, du verrätst auch nur einer Seele etwas davon!“, drohte sie noch, dann beugte sie sich nah an Bayards Ohr, legte ihre Hände um seine Ohrmuschel und begann leise zu erzählen.

13. Von Kakteen, einem Besuch und Putzwut

 

Es hörte sich an, als ob die Berge um sie herum explodieren würden. Irm stieß einen wütenden Schrei aus, donnerte zum unzähligsten Male ihr Glas mit Molchaugen zurück auf den Schreibtisch und richtete die Kissen vor dem Regal neu.

Ein weiterer Donnerschlag ertönte, die Burg erzitterte und dieses Mal stürzten sich die Rattenschwänze in ihrem Glas vom Regal. Ihre sorgsam zum Trocknen an einer Leine aufgehängten Spinnweben rutschten in Zeitlupentempo zu einem klebrigen Knäul zusammen. Irm wirbelte herum und riss beinahe das Fenster aus seinen Angeln, als sie es öffnete.

„Bei allen verfluchten Höllenhunden!“, brüllte sie in den Hof. „Was im Namen des Höllenfürsten treibt ihr denn da?“

Aatu stand neben Derne in seiner Dämonengestalt und beide sahen erstaunt nach oben.

„Die Mauer festigen?“, schlug er amüsiert vor. Irm raufte sie die Haare.

Steine sprengen?, gab Derne zum Besten und Irms Haareraufen wurde regelrecht schmerzhaft.

„Und das muss man im Hof machen?“, schnauzte sie die beiden an. Rafe tauchte in ihrem Blickfeld auf. Er war schmutzig und verschwitzt und seine Haare standen wie Stacheln vom Kopf ab.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte er besorgt. Irm war kurz davor, alle einfach implodieren zu lassen.

„Nein! Mir fliegt hier mein halbes Regal entgegen!“

Rafe schob seine Unterlippe zwischen die Zähne. Sein Blick wurde mit einem Schlag treu und furchtbar verlegen.

„Lass das!“, fauchte Irm ihn an. Rafes Blick wurde eine Nuance treuer. Irm knurrte verhalten.

„Dann macht zumindest nicht mehr so viel Krach“, knickte sie ein. Rafe strahlte sie engelsgleich an und Irm schnitt ihm eine genervte Grimasse, ehe sie das Fenster weitaus sanfter, als sie es aufgerissen hatte, wieder schloss. Sie wusste, dass Rafe seinem Bruder und Derne jetzt ein siegessicheres Grinsen schenkte. Irms Blick wurde verschlagen und im nächsten Moment hörte sie, wie Rafe schmerzgepeinigt aufquiekte.

„Ein Kaktus? IRM!“

Irm ignorierte Rafes Gezeter und stellte das heruntergefallene Glas Rattenschwänze wieder an seinen Platz.

Sie waren seit vier Wochen wieder zuhause. Das Chaos in ihrem Zimmer war mittlerweile gebändigt und alles stand fein säuberlich an seinem Platz. Es sei denn, diese Vollidioten sprengten unter ihrem Fenster Steine!

Irm und Sanda besuchten Märkte und verkauften dort die verschiedensten Kräuterbeutel, und wenn sie das nicht taten, dann baute Sanda mit Inbrunst ihr kleines Liebesnest für sich und Ruud weiter aus. Derne und Flöckchen hatten es sich in T-Dreieinhalb heimisch gemacht, es war grusig, das Vehikel jetzt zu betreten, man fand sich dann in einer skurrilen Welt voll Asche, Feuer und Eisstürmen wieder. Gleich am nächsten Morgen, nach ihrer Rückkehr von der Versammlung hatte Aatu eigenhändig den ersten Hammerschlag getan, um den alten Magierturm abzureißen. Mittlerweile wuchsen die ersten Kräuter an der Stelle. Irm seufzte genüsslich in die eingekehrte Ruhe und schlug ihr von Bayard gegen Informationen erkauftes Buch über Abwehrzauber wieder auf.

Bald würde der Herbst über das Land ziehen. Und dann würde sie den ersten Winter seit vielen Jahren nicht in einem geschützten Plätzchen in einem Wald verbringen, wo sie T-Dreieinhalb dick in Decken wickelte, damit der sich keinen Schnupfen holte und sich und ihre beiden Schoßhund-Dämonen in ihrem Vehikel verschanzen und heißen Kakao trinken. Diesen Winter würde sie ihren Kakao vor einem großen Kamin in einer großen Burg verbringen, während T-Dreieinhalb in einem mollig warmen Unterschlupf stand, sicher vor jeder Art einer Erkältung. Man lachte nur so lange über ein verschnupftes Vehikel, bis man mal selbst in einem saß. Bei jedem Nieser schoss das Vehikel mindestens drei Meter wie eine Feuerwerksrakete nach hinten und wenn es hustete, flog man unweigerlich in die Luft. An den schleimigen Ölschnodder, welches es aushustete, wollte Irm gar nicht denken.

Ihre Tür wurde aufgerissen und Rafe stand schnaubend in ihrem Zimmer. Irm hob gelassen den Kopf und lächelte ihn freundlich an.

„Rafe“, grüßte sie.

„Mach das weg! So-fort!“, verlangte er wütend und drehte ihr den Rücken zu. Dort prangte ein großer Ohrenkaktus mit langen Stacheln. Irm grinste diabolisch.

„Och“, machte sie gespielt mitleidig, dann schnippte sie mit den Fingern und der Kaktus war verschwunden. Rafe wirbelte zu ihr herum.

„Du!“, fauchte er und zeigte drohend mit seinem Zeigefinger auf sie. Irm legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und schlug ihr Buch zu.

„Ihr!“, gab sie zurück.

„Du hast mir einen Kaktus an den Rücken gehext!“

„Und ihr habt mir meine Spinnweben kaputt gemacht!“

„Ein Kaktus am Rücken tut weh!“

„Warst du mal Spinnweben sammeln? Das ist auch nicht gerade ein Sonntagsspaziergang!“

 

Zev trat hinter Aatu, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und mit amüsierter Miene die beiden Streithähne beobachtete.

„Und ich dachte schon, du und Irm hättet Unterhaltungswert“, bemerkte er grinsend. Aatu drehte ihm den Kopf zu.

„Danke“, antwortete er lakonisch. Zev zuckte nur mit den Schultern. Wo er recht hatte, hatte er recht. Aatus und Irms Streitereien waren immer toll gewesen.

„Aber die beiden sind echt viel besser.“

Und vor allem ausdauernder, aber das würde Zev nicht laut aussprechen. Seit sie von der Versammlung zurück waren, gingen Aatu und Irm beinahe freundlich miteinander um. Und manchmal auch etwas zaghaft. Wo sie sich vor zwei Monaten noch beinahe täglich in die Haare geraten waren, so redeten sie jetzt völlig unspektakulär darüber oder einer der beiden gab fast augenblicklich nach und überließ dem anderen das Feld. Gut, dass da noch Rafe war, mit dem war es zumindest ab und zu noch wie früher. So wie jetzt zum Beispiel.

Mittlerweile waren sie vom eigentlichen Thema, dem Kaktus auf Rafes Rücken, auf Irms herumliegenden Socken gekommen. Ja, das war Zev auch schon aufgefallen, dass sich die von Irm vergessenen Socken so langsam um den Kamin unten stapelten. Sie kam in Strümpfen vor den Kamin, zog sie dort aus um sich ihre Füße zu wärmen und wenn diese dann warm genug waren und Irm irgendwo hinging, dann vergaß sie, dass sie mit Strümpfen an den Füßen gekommen war und ließ ihre Socken dort liegen. Zevs Meinung nach gab es Schlimmeres; wenn es die Socken der Zwillinge gewesen wären, zum Beispiel.

„Ach, aber dass du deine angenagten Knochen überall herumliegen lässt, das ist in Ordnung, oder was?“, fuhr Irm ihn gerade an.

„Also das find ich auch widerlich“, bemerkte Aatu leise und Zev nickte zustimmend. Was würden sie dafür geben, nicht an den unmöglichsten Stellen in der Burg von Rafe angebissenen Knochen zu finden. Aatu und Zev seufzten unisono. Das wäre traumhaft. Allerdings war Rafe in der Hinsicht lernresistent. Zev setzte an, sich zu räuspern und die beiden Streithähne zu unterbrechen, bevor sie vom Tausendsten ins Hunderttausendste kamen, doch die Zwillinge machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie schoben sich an ihm vorbei in das Zimmer und räusperten sich energisch. Rafe und Irm verstummten augenblicklich. Erst war ihr Blick verwirrt, dann, als ihnen bewusst wurde, dass Aatu und Zev Zuschauer bei ihrer Diskussion gespielt hatten, wütend.

„Rafe, wir haben Besuch. Er wartet unten in der Halle“, klärte Velvel auf, bevor einer der beiden ein Kommentar zu Aatus und Zevs Anwesenheit geben konnte. Rafe blitzte seinen Bruder böse an, als er - gefolgt von Velvel und Seff -an ihm vorbei nach unten marschierte. Irm blieb in ihrem Zimmer, verschränkte die Arme vor der Brust und sah beide erwartungsvoll an. Zev winkte ihr nur zu, dann folgte er Rafe und ließ Aatu mit Irm allein.

„Was? Es war lustig!“, verteidigte sich Aatu grinsend. Irm schnaubte und verdrehte die Augen.

„Das war ein Privatgespräch“, klärte sie ihn bissig auf. Aatu prustete.

„Ein Privatgespräch? Das halbe Dorf hat euch gehört, so wie ihr euch angeschrien habt!“, behauptete er lachend. Irm schürzte gönnerhaft die Lippen.

„Das gibt dir trotzdem nicht das Recht, uns einfach so zu belauschen!“, behauptete sie stur. Aatu schenkte ihr ein schiefes Grinsen, bevor er sich vom Türrahmen abstieß.

„Na, los, du Kakteenhexe. Gehen wir nach unten und sehen nach, wer uns da besuchen kommt“, schlug er versöhnlich vor. Als Irm ihm folgte, konnte sie sich einen klitzekleinen Windstoß, der Aatu kurz taumeln ließ, nicht verkneifen. Er wirbelte blitzschnell herum, schnappte sie und warf sie sich einfach über die Schulter wie ein Sack Kartoffeln. Irm stieß einen erschrockenen Schrei aus und krallte sich lachend an seinem Hosenbund fest.

Durfte er sie einfach so kitzeln? Aatus Gesicht glühte ein wenig, als ihm bewusst wurde, dass er sie sich beinahe geschnappt und an sich gedrückt hätte, um sie durchzukitzeln. Und dass sie kitzlig war, das wusste er von Seff. Seff, der keine Scheu hatte, ihre Rudelhexe kitzelnd quer durch die Burg zu jagen, bis ihre Wangen vor Anstrengung und Lachen rot glühten und Tränen an ihnen hinunterliefen. Seff, der sie dann einfach an sich zog, ihr einen ungestümen Kuss gab und sich mit ihr auf ein weiches Felllager oder eine der alten Couchen warf und sich an sie schmiegte. Was gäbe er für diese Leichtigkeit.

„Ich dachte, ihr seid zivilisierter. Der Burghof sieht aus wie ein Steinbruch, vor dem Kamin liegen Sockenberge, angenagte Knochen fahren überall herum …“, sagte eine Aatu nicht ganz fremde Stimme, als er mit Irm auf seiner Schulter die Treppe nach unten kam. Irm kreischte laut auf und strampelte hektisch mit ihren Armen und Beinen, um auf den Boden zu kommen. Aatu stellte sie vorsichtig ab und kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, wirbelte sie herum und rannte auf den Besucher zu.

„Meine-Ylva!“, kreischte sie ohrenbetäubend laut und grell und gleich darauf kreischte Ylva nicht weniger laut und grell „Meine-Irm!“. Die beiden Frauen fielen sich immer noch kreischend in die Arme und knuddelten sich, als hätten sie sich seit mindestens sieben Leben nicht mehr gesehen und nicht erst vor vier Wochen. Aatu schwor sich, wenn jetzt die beiden Zwillinge und Ylvas Leibwächter denselben Affentanz aufführen würden, würde er ausziehen. In den Wald. Oder zu Derne und Flöckchen in ihre personifizierte Hölle namens T-Dreieinhalb.

Zu Aatus Erleichterung und Schonung seiner Gehörgänge verhielten sich die Männer allerdings sehr sittlich und ziemlich. Sie nickten sich nur mit vielsagendem Grinsen schweigend zu. Zu Reden wäre auch sinnlos gewesen, dieses anhaltende Gekreische war immer noch nicht verstummt.

„Was tust du hier?“, quietschte Irm aufgeregt. Aatu verdrehte die Augen. Ja, klar, als ob sie nicht gewusst hatte, dass Ylva sie besuchen kam. Wem wollte sie das denn bitteschön weißmachen? Er suchte Rafes Blick, um in dem eine stumme Bestätigung seiner Gedanken zu finden, und sich besten Falls gegen die kreischende Brut zu verbünden, und stellte fassungslos fest: Sein Bruder glaubte es! Aatu zwinkerte schockiert. Rafe glaubte tatsächlich, dass Irm völlig ahnungslos über diesen Besuch war.

„Ich brauch ein Bier“, nuschelte Aatu, dessen Weltbild über seinen Bruder gerade mächtig ins Wanken kam.

„Oder noch besser: Bier und Whisky. Und Wein. Und Met. Starken Met. - Falls mich jemand sucht, ich bin in der Kneipe.“

Aatu taumelte mehr, als dass er zur offenen Tür nach draußen ging.

Er fasste es nicht.

Ein Idiot! Sein Bruder war ein Idiot!

 

Aatu hockte mit seinem dritten Krug Starkbier vor der Kneipe auf einer Bank, lehnte mit geschlossenen Augen an der Hauswand und verzweifelte immer noch an seiner neuesten Erkenntnis, als sich drei Schatten vor ihn schoben. Aatu öffnete sein linkes Auge und sah die Zwillinge und Dallin vor sich stehen. Alle drei hielten volle Bierkrüge in den Händen.

„Hier leidest du also“, meinte Velvel und setzte sich ungefragt neben ihn. Seff nahm auf Aatus anderer Seite Platz und klopfte mit seiner freien Hand neben sich, um Dallin anzuzeigen, dass der sich setzen sollte.

„Wir mussten türmen. Die kreischen zu laut“, behauptete Seff und nippte genüsslich an seinem Getränk.

„Mein Bruder ist ein Idiot“, sagte Aatu völlig zusammenhanglos. Velvel verschluckte sich an seinem Bierschaum und hustete heftig.

„Ernsthaft. Wir werden von einem Idioten angeführt“, beteuerte Aatu jammernd. Dallin gluckste leise.

„Worauf begründet sich deine nicht ganz so unrechte Annahme?“, wollte Seff grinsend wissen.

„Weil der tatsächlich glaubt, dass Irm keine Ahnung davon hatte, dass Ylva uns besuchen kommt!“ Aatu riss in einer dramatischen Geste die Arme in die Luft und besprenkelte sich und seine Banknachbarn mit seinem Bier. Dallin schielte auf seine Nase, auf der ein Schaumklecks thronte. Seff beugte sich zu ihm und leckte ihn mit einem anzüglichen Grinsen weg.

„Du hast recht. Er ist ein Idiot“, stimmte Velvel ihm mit ernster Miene zu. Er betrachtete das Biertropfen-Muster auf Aatus Wange.

„Sag ich doch.“ Aatu nahm einen großen Schluck.

„Wir könnten es doch auch leichtgläubig nennen“, schlug Dallin vor. Velvel schnaubte. Seine Zunge schnellte vor und entfernte schnell und gründlich die Bierspuren auf Aatus Wange, bevor sie ihre Säuberung an Aatus Hals beendete.

„Leichtgläubig. Am Arsch, leichtgläubig. So leichtgläubig kann kein Werwolf bei normalem Verstand sein!“ Aatus Arme schnellten in einer abwertenden Geste nach vorn und verspritzten Bier auf seiner Hose. Velvel starrte auf die dunklen Flecken.

„Mach weiter so und ich kann für nichts mehr garantieren“, drohte er grimmig. Aatu sah ihn kurz verwirrt an, dann folgte er Velvels Blick auf seine Oberschenkel.

„Kannst du bitte mit etwas mehr gegebenem Ernst an die Sache herangehen?“, warf er ihm entrüstet vor. Velvel hob den Blick und blitzte ihn lüstern an.

„Nicht die Sache, Velvel!“, korrigierte Aatu tadelnd. „Die Sache mit meinem idiotischen Bruder!“

Seff kicherte albern und Velvel seufzte bedauernd.

„Und was soll ich da tun? Ihm Hirn ins Hirn zaubern?“ Velvel hob fragend die Augenbrauen und sah seinen Freund leicht gönnerhaft an. Aatu gab ihm eine leichte Kopfnuss.

„Entweder das oder du leidest brav mit mir.“

„Dann leide ich lieber. Irm sagt, ich hätte kein Talent zur Zauberei.“ Velvel lehnte sich zurück und starrte die Straße entlang. Die vier Werwölfe verfielen in Schweigen.

„Wieso seid ihr überhaupt hier?“, wollte Aatu nach einer Weile von Dallin wissen. Der grinste.

„Offiziell, weil wir euch die Zusage zur Teilnahme des Süd-West-Wald-Rudels an eurem Herbstfest überbringen wollen“, antwortete er.

„Und in Wahrheit?“, hakte Aatu nach. Dallins Grinsen wurde breiter.

„In Wahrheit, weil Ylva Irm vermisst und das hier jetzt endlich ihre Chance ist, um von diesem Blödwolf von Bruder wegzukommen.“

„Blödwolf“, kicherte Seff albern. Aatu fragte sich, was in dessen Bier gepanscht war. Mittlerweile sollte er sich doch an diesen Ausdruck gewöhnt haben, immerhin betitelte Derne Aatu oft genug damit.

„Bist du besoffen oder hast du wieder von Irms Kräutern genascht?“, fragte er misstrauisch. Seff lachte auf.

„Nein, ich find Blödwolf einfach nur herrlich. Ich mag halt Blödwolf!“, verteidigte er sich gespielt aufgebracht. Aatu schüttelte leicht den Kopf. Hinter Seffs Rücken machte Dallin ein Zeichen, dass Seff etwas wirr im Kopf sei. Aatu grinste ihn an. Ylvas Leibwache war ihm sympathisch. Nicht nur, weil Dallin sich nicht zu fein fühlte, um sich mit diesen beiden schrägen Vögeln abzugeben, sondern weil er Primus Raulf offensichtlich genauso wenig mochte, wie er und Irm.

„Was der alles glaubt, wenn Irm es sagt, ist unfassbar. Wenn die zwei Mal mit ihren Augen klimpert und ihm sagt, dass die Welt jetzt auf dem Kopf steht, dann glaubt der das auch noch“, fuhr Aatu mürrisch fort. Seff legte den Kopf schief.

„Bist du eifersüchtig?“, wagte er vorsichtig zu fragen. Aatu sah ihn tadelnd an.

„Du bist es“, stellte Velvel nüchtern fest. Aatu schenkte ihm einen bösen Blick, bevor er ihn senkte und in sein Bier starrte.

„Seit wir wieder von der Versammlung zurück sind, ist alles anders“, murmelte er nach einer Weile leise. Seff hob mitfühlend die Augenbrauen und Velvel strich ihm sanft über den Rücken. Dallin seufzte leise, aber herzhaft.

„Ich weiß nicht, aber irgendwie … Ich … Ich will auch mit ihr herumalbern können, wie ihr“, nuschelte er verlegen und er kam sich dabei so unheimlich blöd vor. Seff und Velvel warfen sich über Aatu einen wissenden Blick zu.

„Ich weiß nicht, was ich bei ihr machen kann und was nicht. Kann ich sie einfach so über die Schulter werfen oder geht das zu weit? Könnte ich ihr einen Knuff geben, wenn sie mal wieder viel zu vorlaut ist oder nicht?“, klagte Aatu jämmerlich. Dallin beugte sich vor und wollte gerade etwas dazu sagen, als Vukasin auf sie zurannte.

„Hier seit ihr! Trinkt leer, Rafe hat eine Jagd beschlossen, zu Ehren unserer Gäste!“, unterbrach er die vier unwissentlich. Aatu knurrte verhalten. Er hatte jetzt keine Nerven, um zu jagen!

Seff seufzte, leerte sein Bier und erhob sich.

„Na, komm schon. Wird schon nicht so schlimm werden“, behauptete er, schnappte sich Aatus Handgelenke und zog ihn von der Bank.

„Ja, vielleicht lenkt dich das Jagen ja ein wenig ab und vielleicht kommen wir ja auf eine Lösung.“ Velvel schnappte sich Dallin. Er schlang seinen Arm um dessen Hüfte und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Du kommst doch mit, oder?“, fragte er Ylvas Leibwächter und seine Stimme hatte einen ungewohnt sanften Klang. Aatu musste unwillkürlich grinsen.

„Wenn ich darf, gerne“, antwortete Dallin mit einem Lächeln. Velvels Antwort war ein kurzer Kuss auf den Mund und Aatus Grinsen wurde eine Spur breiter. Als Dallin denselben verliebten Blick, mit dem er Velvel angesehen hatte, Seff zuwarf und dieser ihn nicht weniger verliebt erwiderte, wurde das Grinsen so breit, dass Aatu das Gefühl hatte, ihm würde gleich der Mund einreißen. Trotzdem konnte er dagegen nichts machen.

Seffs Arm, der unsanft auf seinen Schultern landete, holte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit und ließ aus dem Grinsen eine kurze Grimasse des Schmerzes werden. Aatu ächzte leise.

„Wir kriegen das schon hin“, behauptete Seff und gab ihm einen Stups auf die Nase. „Es wird Winter und der Winter ist die perfekte Zeit, um näher zusammenzurücken.“

Aatu nickte nur.

Er befürchtete allerdings, dass Irm an jemanden ganz anderen heranrücken würde, wenn die Zeit des Näher-Heranrückens gekommen war.

Er beschloss, ab sofort den Herbst blöd zu finden und leerte seinen Krug.

 

Drei Starkbier vertrugen sich nicht mit einer Jagd, stellte Aatu mürrisch fest, als ihm klar wurde, dass er heute zu nichts taugte, außer um dumm hinter allen anderen herzurennen. Er lag etwas abseits der anderen und nagte lustlos an einem Oberschenkelknochen herum. Er könnte genauso gut auf Holzspänen herumkauen, er hatte keine Ahnung, ob der Mensch gut schmeckte oder nicht.

Aatu spürte eine nasse Wolfsnase, die gegen seinen Hals stupste. Rafe sah ihn mit ernsten bernsteinfarbenen Augen an. Aatu schüttelte verneinend den Kopf, um seinem Bruder zu sagen, dass es ihm gut ging.

Wenn sie wieder zurück in der Burg waren, würde er es einfach auf den Alkohol schieben. Immerhin hatte er drei große Krüge Starkbier auf nüchternen Magen getrunken, das brachte selbst den kräftigsten Werwolf ins Schwanken. Rafe sah ihn abwartend an und Aatu gab ihm zu verstehen, dass er sich wieder ans Fressen machen sollte, er würde klar kommen.

Aatus Blick glitt zu Ruud und Sanda, die eng nebeneinander lagen, ihre Flanken berührten sich und sie schenkten sich über ihre Beute hinweg tiefe innige Blicke. Nach dem ersten großen Fressen hatten sie sich gegenseitig sehr sorgfältig die blutigen Schnauzen sauber geleckt. Jetzt knabberten sie gemeinsam einen Rippenbogen ab.

Seff, Velvel und Dallin tobten ausgelassen wie junge Welpen über die Wiese, schnappten spielerisch nacheinander, rollten als großes buntes Fellknäul durch das Gras und blieben schließlich eng aneinandergeschmiegt liegen. Als das obligatorische gegenseitige Saubermachen in etwas ausartete, was mit Saubermachen gar nichts mehr zu tun hatte, drehte Aatu den Kopf weg und blickte in ein Paar kleiner runder Knopfaugen.

Derne war von seinen kleinen Öhrchen bis zu seinem buschigen Ringelschwanz mit Blut verschmiert. Aatu legte den Kopf schief und sah ihn abwartend an. Derne tippelte näher, leckte ihm über die Schnauze und schmiegte sich ungefragt zwischen Aatus Vorderläufe. Er zwinkerte zwei Mal zu dem großen Wolf hoch und rollte sich dann zu einer blutigen Fellkugel zusammen. Aatu schnaubte belustigt und begann fürsorglich, den kleinen Kerl zu putzen. Er schmeckte interessant. Ein wenig nach Hund, ein wenig nach Irm und ein wenig nach Zuckerwatte. Entweder schmeckten Kriegsdämonen so oder das war ein weiterer Grund, weshalb seine Familie Derne verbrannt hatte. Er schmeckte zu süß. Aatu knabberte sanft über Dernes Rücken und erhielt als Antwort ein schnurrendes Geräusch.

Zev stand neben dem Kadaver und steckte neugierig den Kopf in die Bauchhöhle. Ein Fauchen erklang, Zev machte einen erschrockenen Satz nach hinten und aus dem offenen Bauch schoss eine kleine rot-weiß gemusterte Pfote, die nach dem roten Wolf schlug. Zev kläffte und erhielt eine Gänsehaut bescherende Antwort. Er legte sich flach auf den Bauch und robbte langsam näher. Wieder ertönte ein Fauchen und die kleine Pfote erschien. Zev schnappte spielerisch nach ihr und verfehlte sie absichtlich und mehrere Zentimeter. Der Kadaver wackelte, etwas rot-weißes schoss heraus, zwickte Zev blitzschnell in die Nase und verschwand wieder. Der große rote Wolf nieste überrascht, dann rollte er sich auf den Rücken und schob sich noch ein Stückchen näher heran. Aatu schielte zu den beiden hinüber, ohne mit Dernes Körperpflege aufzuhören. Jetzt ging die ständige Putzen-Nicht Putzen-Diskussion zwischen Zev und Flöckchen wieder los.

Rafe trabte an Aatu vorbei, in seinem Maul trug er einen angefressenen Arm, den er vor Ylva auf den Boden legte und ihn ihr hinschob. Ylva kläffte dankend und schlug ihre Zähne ins Fleisch. Rafe legte sich vor sie hin, bettete sein Kinn auf seine Vorderpfoten und sah ihr beim Fressen zu. Er war die ganze Jagd über Ylva nicht von der Seite gewichen, und Aatu dachte für sich, dass die beiden ein schönes Paar abgaben. Sein schwarzer Bruder und die blonde Wölfin.

Ein kleiner rot-weißer Pfeil zog Aatus Aufmerksamkeit wieder auf sich. Flöckchen schnellte aus ihrem Bauchhöhlenversteck heraus. Sie landete mit einem Satz auf Zevs Brustkorb, biss ihm kräftig in den Oberschenkel und jagte davon. Zev jaulte schmerzgepeinigt auf. Er strampelte sich hektisch auf die Beine und rannte der flüchtenden Hündin hinterher. Sie wurden vom Gebüsch verschluckt, das Laub raschelte heftig, Aatu hörte erst ein Quieken, dann ein Jaulen und schließlich kam Zev hochmütig zurück zu seinem Rudel getrabt, in seinem Maul hing eine wild fauchende und um sich schlagende Flöckchen.

Jedes Mal dasselbe Theater mit ihr, schnurrte Derne und ließ sich von Aatu auf den Rücken schubsen.

So langsam sollte sie sich daran gewöhnt haben.

Aatu schnaubte zustimmend und putzte ausgiebig Dernes Brust und den Bauch.

Zev legte sich mit der immer noch tobenden Flöckchen auf den Boden, nagelte sie mit seiner großen Vorderpfote auf dem Gras fest und begann sie inbrünstig sauber zulecken. Das wilde Fauchen nahm noch eine Spur zu, dann ergab sich die Eishundedämonin ihrem Schicksal und lag wie tot vor Zev. Sie mochte es nicht, wenn sie geputzt wurde.

Sie mochte Nasenstupser, über das Schnäuzchen lecken, aber sie hasste es, wenn diese Wölfe sie sauberleckten! Flöckchen unternahm noch einen letzten Ausbruchsversuch, den Zev schon im Keim erstickte, und blieb mit einem herzzerreißenden Seufzer schließlich liegen. Sie konnte einfach nicht begreifen, was Derne daran so toll fand. Man roch danach nach Wolfsspucke, man klebte danach vor lauter Wolfsspucke und ihr schönes weißes Fell stand in nassen, zusammengeklebten Stacheln von ihrem Körper ab und sie sah aus wie eine hässliche kleine Stachelkröte! Und jetzt kam er auch noch mit seinen riesigen Zähnen an! Flöckchen grub die Krallen ihrer Vorderläufe in den Boden, um sich unter der Wolfspranke hervorzuziehen, als Zev sie zärtlich abknabberte. Könnte sie einen roten Kopf bekommen, wäre der wahrscheinlich so rot wie eine reife Tomate, dachte sich Aatu amüsiert. Mit einem Mal erstarrte die kleine Hündin. Erst wurde ihr ganzer Körper schlaff und dann schoss ihr Hinterlauf in die Höhe und zuckte hektisch durch die Luft.

Zev, du wölfischer Misthund!, fuhr sie ihn an. Derne kicherte, Aatu grunzte und Zevs Schnauze verzog sich zu einem wölfischen Grinsen, während er gelassen weiterknabberte. Er hatte diese eine gemeine Stelle bei Flöckchen gefunden.

Zev! Flöckchen zog den Namen in die Länge und versuchte, einen drohenden Ton anzuschlagen, was ihr kläglich misslang.

Gib doch einfach zu, dass es schön ist, schlug Derne vor und zuckte zusammen, als Aatus raue Zunge seine Fußsohle kitzelte.

Ist es nicht!, beharrte Flöckchen stur. Und ebenso stur schob Zev sie so hin, wie er es brauchte, um sie ausgiebig zu putzen. Natürlich könnte sie sich in ihre dämonische Form verwandeln, aber dann würde sie den Wolf vielleicht verletzten und das wollte sie nicht. Sie mochte Zev, Zev war ein herzlicher und guter Kerl, der einfach nur einen Fehler hatte. - Er putzte sie zu gern. Flöckchen stieß ein resigniertes Schnauben aus und ergab sich endgültig ihrem Schicksal.

Du trägst mich nach Hause, knurrte sie beleidigt. Und dann badest du mich.

Diese verfluchte Putzwut bei diesen verfluchten Wölfen!

14. Von Spinnweben, Perlen und einer Invasion

 

Aatu fragte sich, ob die Zwillinge und Derne unter einer Decke steckten, denn wieso sonst lotste der Dämon-Spitz ihn tief in den Wald, weg von allen anderen, um ihm eine Felswand zu zeigen, an der viele Spinnweben hingen. Auf dem Weg dorthin hatte Derne ihm mindestens hundert Mal erklärt, dass das genau das richtige sei, um sich bei Irm für den Ärger vom Mittag zu entschuldigen. Wenn Derne bisher Irm verärgert hatte, hatte er sich danach nie so viel Mühe gemacht, die Wogen zu glätten und Aatu fragte sich, weshalb es ausgerechnet jetzt so furchtbar wichtig war, Irm zu besänftigen. Vor allem, weil Irm schon längst nicht mehr sauer auf sie war.

Er verwandelte sich ächzend zurück in einen Menschen und betrachtete die Wand vor sich.

„Und wie soll ich die Dinger nach Hause bringen, ohne dass sie zusammenkleben?“, fragte er argwöhnisch. Derne verdrehte die Augen.

Manchmal war es eine Pein, wenn man Werwölfe als Freunde hatte. Die waren aber auch was von begriffsstutzig.

Du pflückst vorsichtig eins ab, dann gehst du da rüber zum Fluss und tauchst es ganz kurz ins Wasser. Dann legst du es glatt auf diesen Stein, legst Blätter darüber und holst das nächste Netz. Mit dem gehst du dann wieder zum Wasser, machst es auch nass, legst es auf die Blätter und tust neue Blätter drauf. Dann nimmst du das nächste Netz…, klärte Derne ihn gönnerhaft auf. Aatu unterbrach ihn unwirsch.

„Ich habe es verstanden. -Danke“, knurrte er genervt und pflückte vorsichtig eines der großen Netze vom Stein.

Du musst dich noch bei der Spinne bedanken und entschuldigen, fügte Derne hinzu. Aatu zweifelte kurz an dessen Verstand.

„Ich soll was? - Wozu?“

Weil du ihr Haus klaust, du Blödwolf?, schlug Derne bissig vor. Aatu starrte das Netz in seiner Hand an. Das ergab Sinn. Zugegeben, er kam sich schon etwas dämlich vor, als er sich vorbeugte und in den dunklen Zwischenräumen nach einer jetzt heimatlosen Spinne suchte. Er sah ein großes Exemplar hinten in einer Ecke sitzen und ihn anglotzen.

„Es …“ er räusperte sich verlegen, „Es tut mir leid, dass ich dein … äh ... Haus klaue, aber ich brauch das für Irm, weißt du. Derne und ich haben ihre Netze heute Mittag kaputt gemacht und deshalb bringe ich ihr neue mit. - Also … also … danke, dass ich das mitnehmen darf. Nicht böse sein, okay?“

Du sollst ihr nicht deine ganze Lebensgeschichte erzählen, Blödwolf, sondern dich nur entschuldigen und bedanken. Das sind Spinnen, keine intelligenten Lebewesen!, bemerkte Derne herablassend. Aatu war kurz versucht, den Dämon in das Netz zu wickeln, unterließ es aber doch und schenkte ihm stattdessen nur einen vernichtenden Blick.

„Wenn dir nicht gefällt, wie ich es mache, dann hör nicht hin“, fauchte er eingeschnappt, trug das Netz vorsichtig zum Fluss und tauchte es kurz ins Wasser. Derne knurrte ihm als Antwort nur nach.

Nach dem fünften Netz kam sich Aatu immer noch wie ein Vollidiot vor, weil er sich bei Spinnen entschuldigte, und als er das sechste abgezupft hatte, hatte er eine hartnäckige achtbeinige Klette auf der Haut sitzen, die er nicht mehr loswurde. Aatu knurrte unwirsch und versuchte, die Spinne von seiner Schulter zu wischen, doch die krabbelte gelassen außerhalb seiner Reichweite.

„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!“, empörte er sich und stemmte die Hände in die Hüften. Derne gluckste belustigt.

Ich glaub, die will mit, stellte er amüsiert fest. Aatu legte genervt den Kopf in den Nacken und spürte gleich darauf, wie sich etwas in seinen Haaren verkroch. Leicht angewidert verzog er das Gesicht, als er acht kleine haarige Beinchen auf seiner Kopfhaut spürte.

„Geh ja nicht tiefer!“, warnte er drohend und tatsächlich krabbelte die Spinne zurück in seinem Nacken.

„Dann komm in drei Teufels Namen halt mit!“ Aatu sammelte vorsichtig die Netze ein und legte sie über seinen linken Unterarm.

„Wir haben zwei besessene Schoßhündchen in der Burg und eine Heimsuchung, die sich Rudelhexe nennt, da macht eine anhängliche Spinne den Kohl auch nicht mehr fett“, seufzte er und machte sich neben Derne auf den Rückweg. Die Spinne wuselte eine kitzelnde Spur von seinem Nacken auf seine Schulter. Aatu drehte ihr den Kopf zu und betrachtete sie. Acht starre Augen sahen zurück. Aatu fragte sich kurz, ob das die Spinne war, von der er das erste Netz geholt hatte. Sie war ein mindestens drei Zentimeter großes, schwarzes Exemplar mit langen, schlanken Beinen.

„Dir dürfte es an der Mauer vom Kräutergarten gefallen. Dort scheint fast den ganzen Tag die Sonne hin und wärmt die Steine auf. Und wenn ich ab und zu ein Stückchen Fleisch dort hinlege, kommen auch genug Fliegen zum Fressen für dich dorthin.“

Derne schüttelte fassungslos sein Köpfchen. Jetzt unterhielt sich dieser Blödwolf doch tatsächlich mit einer tumben Spinne! Als ob die ihn verstehen würde! Er schnaubte.

Wohin sollte das nur führen?

Als sie endlich die Burg erreichten, war Derne der festen Überzeugung, Aatu hätte dem Mistvieh auf seiner Schulter seine ganze verfluchte Lebensgeschichte erzählt. Tatsächlich hatte Aatu nicht einmal halb so viel geredet, wie Derne behauptete. Was er allerdings tat, als sie das Burgtor passierten, er hieß die Spinne herzlich in ihrem neuen Zuhause willkommen.

Rafe, der auf dem Hof auf seinen verschollenen Bruder wartete, und dabei versuchte, nicht in Panik auszubrechen, weil der nicht mit dem Rudel zusammen zurückgekommen war, stoppte, als er seinen mit sich selber plappernden Bruder in den Burghof treten sah. Eigentlich hatte er vorgehabt, Aatu gehörig die Leviten zu lesen, jetzt überlegte er sich, ob er nicht lieber einen Hirndoktor rufen lassen sollte.

„Siehst du, da hinten ist der Kräutergraten von dem ich dir erzählt habe …“ Aatu ging an Rafe vorbei ohne ihn zu beachten und marschierte auf Irms Kräutergarten zu. Rafe blinzelte ungläubig.

Ich glaube, dein Bruder ist sehr, sehr einsam, sagte Derne unter ihm und Rafe riss seinen Blick von Aatus Kehrseite zu dem Dämon zu seinen Füßen. Er bückte sich, hob Derne hoch und setzte ihn auf ein Fass.

„Wo wart ihr?“, wollte er wissen und sein Blick huschte wieder zu Aatu, der jetzt nackt im Kräuterbeet stand, Blätter auf seinem linken Unterarm liegen hatte, wie Bayards Kellner ihre Tücher und mit der rechten Hand in der Luft herumfuchtelte, während er offensichtlich weiter mit sich selbst redete.

Spinnennetze für Irm sammeln. Als Entschuldigung, klärte Derne ihn auf und kratzte sich hinter dem Ohr.

„Und dabei ist er auf den Kopf gefallen, oder?“, vermutete Rafe verwirrt. Hoffentlich war sein Bruder auf den Kopf gefallen, denn dann war dieser Anfall von Wahnsinn vielleicht heilbar. Derne kicherte belustigt.

Nein. Wir haben eine neue Mitbewohnerin mitgebracht, gluckste er. Rafe fragte sich, ob die beiden im Wald mit Kräutern und Beeren herumexperimentiert hatten.

„Und die ist unsichtbar?“, frotzelte er herablassend. Derne prustete.

Aber nicht doch! Sie ist mindestens drei Zentimeter groß!, widersprach er betont ernst und ergötzte dran, Rafe gehörig auf den Arm zu nehmen. Jetzt wurde ihm das erste Mal klar, weshalb es Irm so gerne machte. Weil es bei Rafe so furchtbar einfach ging, ihn aufzuziehen.

„Aatu! Hierher, aber sofort!“ Rafe sah seinen Bruder entschlossen an. Der murmelte etwas zu seiner Schulter und kam dann auf Rafe zugeschlendert.

„Wo wart ihr? Und was zum Höllenfürsten machst du da?“, wollte Rafe streng wissen.

„Wir haben Spinnennetze für Irm im Wald gesammelt. Immerhin haben wir ihre heute Mittag kaputt gemacht“, antwortete Aatu treu und hielt zum Beweis seinen linken Arm in die Höhe.

„Das ist echt eine scheiß Arbeit, das kann ich dir sagen!“, fuhr er fort. „Du musst die Dinger ganz vorsichtig abpflücken, und höllisch aufpassen, dass sie dabei nicht verkleben und dann…“

„Aatu!“, herrschte Rafe ihn wütend an. „Es ist mir scheißegal, wie schwer es ist, Spinnweben zu pflücken!“

„Dass das von dir kommt, war mir ja klar.“ Klang Irms Stimme von der Burgtür, im selben Moment, in dem Seff gespielt entrüstet rief:

„Um der Höllenfürsten Willen, Aatu! Bedecke dich, wir haben Gäste!“

Und gleich darauf kam von Irm ein lüsternes Schnurren.

Rafe war kurz vorm Explodieren.

Warum? Warum setzte diese furchtbare Bande immer alles daran, ihn als Deppen dastehen zu lassen? Vor allem jetzt, wo sie Besuch von Ylva und ihrem Leibwächter hatten? Ausgerechnet jetzt, wo Werwölfe aus dem Süd-West-Wald-Rudel da waren? Nicht genug, dass es in ihrer Burg aussah, als ob eine Bombe darin explodiert wäre, oder ein Winddämon durchgefegt, nein, das reichte ihnen allen ja nicht! Sie mussten ihn auch noch bei jeder Gelegenheit bloßstellen! Rafe knirschte laut mit den Zähnen.

„Eine schwarze Nachtwitwe!“, sagte Irm in diesem Moment verzückt neben ihm. Rafe zuckte erschrocken zusammen. Wann zum Höllenfürsten war sie denn jetzt neben ihm aufgetaucht? Gerade eben hatte sie noch an der Tür gestanden. Und was um alles in der Welt war eine schwarze Nachtwitwe?

Irm streckte ihre Hand zu Aatus Schulter und dann bewegten sich Aatus Haare, Rafe war sich kurz sicher, dass er jetzt derjenige war, der den Verstand verloren hatte, doch dann tauchte eine sehr große und sehr schwarze Spinne auf, die zielstrebig auf Irms Hand zu krabbelte. In Rafe zuckte kurz der Drang auf, das Viech mit einem Schuh zu erschlagen.

„Die Netze von schwarzen Nachtwitwen sind unheimlich filigran und doch sehr stabil gewebt. Wo habt ihr sie gefunden? Sie sind sehr selten. Und vor allem sehr scheu“, Irm hob ihre Hand nah vor ihr Gesicht und lächelte das achtbeinige Ungetüm freundlich an. Rafe verzog angewidert das Gesicht.

„An einer Felswand, als ich dir die hier gepflückt hab.“ Aatu streckt Irm den Arm entgegen, an dem die Spinnnetze hingen. Irm nahm den Blick von der Spinne, sah auf Aatus Arm und dann schenkte sie ihm ein Strahlen, welches Aatu durch und durch ging.

„Wirklich? Oh, danke!“ Immer noch mit diesem Strahlen auf dem Gesicht warf sie sich Aatu um den Hals und drückte ihn mit ihrem freien Arm fest an sich. Die Hand, auf der die Spinne hockte hielt sie dabei unwissentlich Rafe unter die Nase, der hastig einen Sicherheitsabstand zwischen sich und das Ding brachte. Aatu erwiderte zaghaft die Umarmung.

„Sehr interessantes Bild“, bemerkte Ylva und lehnte sich lässig gegen Seff, als würden sie sich seit Jahren kennen. Seff warf ihr einen kurzen Blick zu und nickte dann.

„Ihr Balztanz war von Anfang an ziemlich schräg“, stimmte er ihr zu und legte den Arm um sie. Mit Ylva war es ihm genauso gegangen, wie mit Irm. Er hatte sie gesehen, mit ihr geredet, nach kaum zwei Sätzen herzhaft mit ihr gelacht und sie augenblicklich in sein Herz geschlossen. Allerdings war das bei Ylva generell nicht wirklich schwer. Wenn sie nicht gerade an der schmerz- und boshaften Kandare ihres Blödwolf-Bruders hing, war sie eine lustige, gewiefte junge Werwölfin, zwar nicht ganz so vorlaut wie ihre Freundin Irm, aber nichtsdestotrotz genau so liebenswert.

Velvel hinter ihnen grunzte zustimmend.

Irm, die mit einem Arm einen nackten Aatu umarmte, der dabei seinen linken Arm mit Spinnweben darauf von ihnen wegstreckte, während Irm ihre andere Hand unter Rafes Nase hielt, auf der eine dicke fette schwarze Spinne hockte. Und natürlich Rafe, der aussah, als ob er sich nicht entscheiden konnte zwischen schreiend davonrennen oder die Spinne mit einem Schuh zu Brei schlagen. Velvel wünschte sich kurz einen Karikaturzeichner her, der dieses skurrile Bild für immer festhielt.

„Also wenn der noch einmal behauptet, wir wären pervers, dann hust ich dem was“, drohte er gespielt entrüstet und Ylva kicherte albern. Dallin bekam rote Ohren, als ihm bewusst wurde, dass die Zwillinge Aatu über ihre Beziehung miteinander offensichtlich sehr genau aufgeklärt hatten.

 

Der Geruch von Minze und Erdbeeren, gepaart mit einem Hauch Karamell.

Aatu unterdrückte mit Mühe ein Seufzen.

Oh, beim großen Wolfsgott!

Die Umarmung!

Dauerte sie schon zu lange?

Sie dauerte schon zu lange, oder?

Bestimmt dauerte sie zu lange!

Mit einem heiseren Räuspern nahm Aatu den Arm von Irms Rücken.

„Keine … keine Ursache. Ich … bring die Netze dann mal nach oben und zieh mir was über“, murmelte er, zwang sich zu einem lässigen Lächeln und trat einen Schritt zurück. Irm nickte zustimmend.

„Danke noch mal“, flüsterte sie und biss sich kurz auf die Unterlippe. Aatu hob die Hand, was er damit bezweckte, wusste er selber nicht so genau, dann eilte er auf die Burg zu und quetschte sich durch seine Rudelbrüder hindurch nach drinnen. Velvel nickte seinem Bruder zu, dann drehte er sich um und folgte Aatu nach oben.

 

Oh, er benahm sich wie der allerallerletzte Volltrottel! Nein, eigentlich benahm er sich noch viel schlimmer! Aatu knurrte wütend auf sich selbst ins Nichts und marschierte in Irms Zimmer, um die Spinnweben dort abzulegen. Ihr Geruch drang ihm sofort in die Nase und ließ ihn leise seufzen.

Wie ein-ein Hornochse! Genau! Er benahm sich wie ein strunzblöder, jungfräulicher Hornochsen-Volltrottel, der noch nie mit einer Frau geredet hatte und schon eine feuchte Hose bekam, wenn er ein Weibsbild nur ansah!

„Ja, das kommt hin“, stimmte Velvel an der Tür ihm zu und beinahe wären Aatu vor Schreck die Spinnweben aus der Hand gefallen.

„Was tust du denn hier? Habe ich laut geredet?“, japste er erschrocken und legte mit zittrigen Fingern hastig die Netze weg. Velvel lachte auf.

„Ne, aber ich kenne dich. Du schimpfst gerade in höchsten Tönen über dich selbst, hab ich recht?“ Er kam auf Aatu zu, legte ihm einen Arm um die Schulter und bugsierte seinen Freund aus Irms Zimmer hinaus ins sein eigenes. Aatu ließ sich mit einem lauten und verzweifelten Seufzer auf sein Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Kissen.

„Ich kenne mich selbst nicht mehr, Velvel“, jammerte er mitleidig. Velvel wackelte leicht mit dem Kopf.

„Ja, das letzte Mal hast du dich vor … hmmm … dreihundert Jahren so angestellt. Allerdings warst du da noch feucht hinter den Ohren und hast dein kleines Würstchen bis dato auch nur zum Pinkeln rausgeholt gehabt.“

Neben Aatu gab die Matratze nach, als sich Velvel neben ihn schmiss.

„Warum benehme ich mich so?“, lamentierte Aatu dumpf ohne sein Gesicht aus dem Kissen zu nehmen. Er spürte, wie sich Velvel an ihn schmiegte und seine Lippen auf Aatus Schulter legte.

„Weil du aus der Übung bist?“, tippte er. Aatu grunzte.

„Ich bin nicht aus der Übung! Ich habe die letzten fünfzig Jahre nicht wie ein Mönch gelebt! Ich hatte Sex!“, protestierte er. Velvels Finger zogen sanfte Kreise über Aatus Rücken.

„Sex ist nicht dasselbe wie verlieben. Du hast dich so sehr dagegen gewehrt, dass dir jemand zu nahe kommt, dass du gar nicht mehr weißt, wie so etwas ist.“

„Ach, halt’s Maul!“

Velvel lachte auf.

„Man-oh-Man, benimmst du dich aber gerade erwachsen!“, spottete er. Aatu entschied sich dafür, sein Gesicht aus dem Kissen zu heben und drehte es zu Velvel.

„Sie ist die Rudelhexe. Wenn sie mich nicht so mag, dann ist das blöd. Wäre es nur eine Werwölfin oder eine Menschenfrau, dann wäre das ja nicht so schlimm, weil die könnten wir ja wieder wegschicken, aber wir können ja wohl kaum Irm wegschicken, nur weil es bei uns nicht klappt!“, erklärte Aatu trotzig. Velvel stellte fest, dass sein Freund diese wirklich logische Erklärung in wunderbarer Irm-Manier vorgetragen hatte. Ihre kleine Hexe färbte auf Aatu ab. Velvel fand diese Erkenntnis wunderbar. Es bedeutete, dass Aatu sich wieder der Welt - beziehungsweise einer Irm - öffnete und sich nicht mehr hinter der Wut über den Verrat seiner ehemaligen Gefährtin versteckte.

„Woher willst du eigentlich wissen, dass sie lieber Rafe mag?“

Aatu drehte sich so schnell auf den Rücken, dass Velvel erschrocken auf seiner Brust landete.

„Wie kommst du denn jetzt auf so was?“

Velvel prustete Aatu auf den Bauch, bevor er sich auf alle Viere erhob und über ihn krabbelte.

„Weil ich nicht blöd bin und weil ich Augen im Kopf habe und weil ich sehe, wie verzweifelt du die beiden ansiehst, wenn sie miteinander reden. Normal reden, nicht streiten. Wenn sie sich streiten, dann strahlst du bist über beide Ohren, aber wenn sie ganz normal miteinander reden oder noch schlimmer, wenn sie miteinander lachen, und das tun die beiden seit der Versammlung verdammt oft, dann schaust du wie sieben Tage Regenwetter. Oder als ob du gleich anfangen würdest zu heulen! Weil du eifersüchtig bist und weil du befürchtest, dass sie sich für Rafe entscheiden wird! Weil du sie liebst, auch wenn du immer behauptest, sie treibt dich in den Wahnsinn! Vielleicht tut sie das ja auch, aber das macht sie mit fast jedem hier, am Liebsten mit Rafe! Und weil du für sie sogar eigenhändig Æftelberts Turm abgerissen hast! Weil du sie zur Rudelhexe bestimmt hast und nicht Rafe! Weil du für sie Spinnweben gesammelt hast, weil du im Gegensatz zu deinem Bruder weißt, mit welchen Geschenken du sie besänftigen kannst!“ Velvel verstummte und drückte Aatu einen verzweifelten Kuss auf die Stirn.

Und weil die Perlen euch beide verbunden haben!, dachte er beinahe beschwörend. Er glaubte an die Perlen, auch wenn diese ihn beim letzten Tanz mit Zev verbunden hatten. Die Perlen hatten seine und Seffs Eltern zusammengeführt und die von Aatu und Rafe und das waren wunderbare Beziehungen gewesen. Und die Perlen hatten Aatu und Irm zusammengeführt und nicht Irm und Rafe. Rafe gehörte nicht zu Irm, von Anfang an nicht und auch niemals zu keiner Zeit, aber wie konnte er das allen weismachen, wenn er doch für die meisten nur ein Clown und Chaot war, der zu viel auf alte, ungenaue Traditionen gab?

Velvel packte fest Aatus Gesicht und sah ihn ernst an.

„Es wird alles gut, glaub mir“, flüsterte er und nickte nachdrücklich. Aatus Blick wurde verwirrt. Was gerade auch immer in Velvel gefahren war, es machte ihm etwas Angst.

„Ja“, beteuerte er zaghaft und vor allem weil er glaubte, dass das die beste Antwort war. Velvel grinste sein unbekümmertes Grinsen, knutschte Aatu heftig auf den Mund und sprang dann vom Bett.

„Gut. Zieh dir was über, wir braten die Reste von der Jagd!“ Velvel drehte sich zu Aatus Kleiderschrank, riss ihn auf und warf ihm eine Hose und ein Hemd an den Kopf.

„Schade, dass du erst so spät gekommen bist. Du hast verpasst, wie Zev Flöckchen gebadet hat. Das war dieses Mal ein Spektakel, kann ich dir sagen.“

Bevor Aatu reagieren konnte, war Velvel aus seinem Zimmer gehüpft. Nachdenklich schlüpfte er in seine Hose. In Momenten wie diesen wurde er aus Velvel nicht schlau. Er war schon immer der sprunghaftere der Brüder gewesen, aber so extrem trat es selten zu Tage. Eigentlich erst seit Æftelberts und Isabelles Verrat. Natürlich, wie hatte er auch annehmen können, dass das spurlos an Velvel vorbeiging. Er hatte seine Familie verloren. Er musste seine kleine Schwester beerdigen. Seine Eltern. Und die Toten damals waren keine schönen Anblicke gewesen. Wie hatten sie nur so etwas tun können? Und wie hatte er nur so blind sein können, dass er nicht bemerkt hatte, dass Isabelle ihn betrogen hatte? Im Nachhinein waren ihm diese ganzen kleinen Signale aufgefallen, die damals darauf hingedeutet hatten, dass Isabelle einen anderen hatte. Aatu verlor sich kurz in der Vergangenheit und lachte überrascht auf, als er bemerkte, dass es nicht mehr so wehtat, an die beiden zu denken. Er sah aus seinem Fenster, vor dem bis vor vier Wochen noch der Magierturm gestanden hatte. Wunden heilten, und wohl auch diese Art von Wunden.

Aatu stülpte sein Hemd über seinen Kopf.

„Es kommt, wie es kommt, wann es kommt, aber es kommt immer zu rechten Zeit“, motivierte er sich entschlossen, holte tief Luft und rannte dann mit leichter Verspätung Velvel hinterher nach unten.

 

Während sein Bruder sich oben in seinem Zimmer kurzzeitig in schwer verliebtem Selbstmitleid verlor, achtete Rafe sehr genau darauf, wohin an der Mauer, die an den Kräutergarten grenzte, Irm dieses Spinnenmonster brachte.

Nein, es ist ein Weibchen, klärte Derne gerade irgendwen gutgelaunt auf und mit einem Mal hatte Rafe eine schaurige Vision, in der die Mauer über und über bedeckt war mit großen, haarigen, nachtschwarzen Achtfüßlern. Er erstarrte zur panischen Salzsäule und zuckte erschrocken zusammen, als in etwas am Arm berührte. Ylva sah ihn überrascht an.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte sie verlegen. Rafe versuchte, seinen davongaloppierenden Herzschlag wieder einzufangen, und ächzte leise.

„Schon okay“, japste er kurzatmig.

Die war sein Tod.

Diese Hexe würde eines Tages noch sein Tod werden!

Dass es nicht Irm gewesen war, sondern sein eigener Bruder, der diese Vorhut zu einer Spinneninvasion auf seine Burg gebracht hatte, ignorierte er geflissentlich.

„Du magst keine Spinnen?“, tippte Ylva ins Schwarze und lächelte sanft. Rafes frisch eingefangener Herzschlag ging augenblicklich wieder durch.

„Nein?“, quietschte er heiser. Ylva lachte leise.

„Geht mir genauso. Irm musste sie immer einfangen und rausbringen, wenn ich eine in meinem Zimmer hatte. Weil erschlagen durfte sich sie ja auch nicht.“ Sie zog eine nachdenkliche Schnute.

 

Und während Aatu sich oben in seinem Zimmer kurzzeitig in schwer verliebtem Selbstmitleid verlor, Rafe sehr genau darauf achtete, wohin an der Mauer Irm dieses Spinnenmonster brachte, versuchte diese ihren schnellen Herzschlag zu beruhigen. Sie wusste, dass die Umarmung einen winzig kleinen Tick zu lange gewesen war, aber sie war schließlich auch nur eine Frau und Aatus Körper war, ein kleines Schmunzeln stahl sich auf ihre Lippen, nun, er war heiß. Und sie mochte seine Nähe. Auch die körperliche. Sie glaubte immer noch seine Hand auf ihrem Rücken spüren zu können, seinen schnellen, kräftigen Herzschlag, das Gefühl seiner glatten Haut unter ihrer Hand, Irm seufzte lautlos und erzählte der schwarzen Nachtwitwe was für eine tolle Mauer sie doch ab sofort bewohnen konnte, wenn sie denn wollte.

„Außerdem sieht er verdammt gut aus“, wisperte sie der Spinne noch zu, bevor sie sie auf die Mauer krabbeln ließ.

„Und ich mag sein Lachen. Und ich glaub, er findet mich auch gar nicht mehr so unerträglich, weil ich eine Hexe bin. Und auf der Versammlung vor einem Monat hatten wir richtig viel Spaß miteinander. Ehrlich. Wir haben uns wirklich gut verstanden, er und ich.“ Irm saugte ihre Oberlippe zwischen die Zähne und sah der Spinne dabei zu, wie die über die Mauer huschte und ohne sich noch einmal umzudrehen in einem kleinen Spalt verschwand.

„Treulose Mistviecher!“, beschwerte sie sich belustigt und dann ließ Ylvas Ruf sie Aatu vergessen.

„Die bleibt aber an der Mauer, oder Meine-Irm?“, wollte Ylva kritisch wissen. Irm klopfte ihre Hände an ihrem Rock ab und drehte sich zu ihr. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihrer Freundin eine ehrliche Antwort zu geben, aber als sie Rafes leicht panischen Gesichtsausdruck sah, änderte sie spontan ihre Meinung.

„Ich hoffe es“, meinte sie und tat nachdenklich. Rafe versteifte sich ein wenig.

„Aber so genau kann ich das nicht sagen. Es ist Herbst und dann kommt der Winter und Spinnen mögen kein kaltes Wetter, es zieht sie in die Wärme …“ Irm ließ den Rest des Satzes unheilschwanger in der Luft hängen.

Er hatte es gewusst!

Sie würden überrannt werden!

Erst würde sich diese Spinne hier in seine Burg schleichen und dann ihren Freundinnen Bescheid geben, damit die ja auch alle rechtzeitig vor dem ersten Frost herkamen und dann hätte er die Invasion hier! Rafe fiepte kaum hörbar.

Ihirm, mahnte Derne tadelnd und Irm blies die Backen auf.

„Nein. Die bleibt an der Mauer. Wenn es kalt wird, kriecht sie in einen Spalt und macht Winterschlaf“, gab sie leicht geknickt zu. Blöder Derne in Form eines Guten Gewissens! Sie blitzte ihn böse an.

Rafe konnte und würde keinem sagen, wie sehr ihn das erleichterte. Er räusperte sich, strich sich eine nicht vorhandene Falte aus dem Hemd und zog die Nase hoch. Jetzt hatte er seine Beherrschung wieder.

Irm schlenderte mit einem frechen Grinsen an ihm vorbei, zwinkerte ihm zu und gab Ylva einen Luftkuss.

Ja, definitiv. Diese Hexe war sein Tod!

15. Von dem, der schon wieder kam, sah und nie wieder ging

  

Im Kamin brannte ein warmes Feuer und überall zwischen den alten Sofas lagen Kissen und Decken verstreut, auf denen Werwölfe lümmelten. Die Zwillinge und Dallin waren wieder zu einem engen Knoten verschlungen und streichelten sich träge. Zev spielte gegen Flöckchen und Derne Tauziehen und wurde dabei auf seinem Sitzkissen quer durch die Halle gezogen, was er mit mal lauterem und mal leiserem Gelächter quittierte, und Rafe und Ylva spielten Schach. Das Rafe gegen Ylvas taktisches Geschick in diesem Spiel keine Chance hatte, tat seiner guten Laune keinen Abbruch. Von dem Sofa, auf dem Ruud und Sanda lagen, erklang immer mal wieder leises verliebtes Gekicher. Die Köchin saß mit der Küchenmagd vor dem Kamin und strickte eifrig, ihre langen Holznadeln klapperten leise, während die Magd die einzelnen gestrickten Teile zu einem riesigen Plaid zusammennähte. Es war eine wundervoll friedliche Stimmung, während draußen vor der Tür schon seit Tagen ein Herbststurm wütete.

Und wenn man es nicht wusste, dann fiel einem gar nicht auf, dass ganz hinten in der Ecke, unter einer selbstgestrickten steingrauen Decke, ein kleines verzaubertes T3-Vehikel hockte und schlief.

Irm stemmte die Hände in die Hüften und tippte mit ihrem bestrumpften Fuß auf den Steinboden. Auch wenn sie es nicht gewusst hatte, sie hatte T-Dreieinhalb sofort entdeckt. Auch wenn die Decke verdammt gut geraten war und man sie kaum von der Steinwand unterscheiden konnte. Blöd nur, das T-Dreieinhalb Geräusche von sich gab, wenn er schlief.

„Will ich es wissen?“, fragte sie leise in die Runde. Aatu, der mit einem großen Krug Met aus der Küche kam, schlang seinen Arm um sie und zog sie zum Kamin.

„Nein, willst du nicht“, behauptete er und drückte sie energisch auf ein freies Sofa. Irm drehte sich zu T-Dreieinhalb um und holte zu einer Erwiderung Luft.

„Nein, willst du nicht. Aber ich sag es dir trotzdem: Er hat sich eine leichte Erkältung eingefangen. Im Vehikel-Unterschlupf zieht es.“ Aatu drückte ihr den schweren Krug in die Hand und machte ein Zeichen, dass sie davon trinken sollte. Irm nippte brav an dem heißen Getränk.

„Hab ich gar nicht bemerkt, dass er rotzelt“, stellte sie nachdenklich fest. Aatus blick war tadelnd.

„Willst du jetzt etwa Zev der Lüge bezichtigen?“ Er nahm ihr den Krug wieder ab und trank selbst einen Schluck.

„Nein! Niemals!“, wehrte Irm ab. Zev würde doch nicht lügen, was den Gesundheitszustand von T-Dreieinhalb anging! Zev doch nicht! Irm stockte kurz. Doch würde er. Eben weil es Zev war und Zev einen verdammten Narren an ihrem Vehikel gefressen hatte. Sie zog die Beine an, schob ihre kalten Füße ungefragt unter Aatus Oberschenkel und legte kritisch den Kopf schief. Aatu nahm noch einen schnellen Schluck Met, bevor er Irm den Krug unter die Nase hielt.

„Met?“, fragte er unschuldig. Irm schnappte sich den Krug.

„Und warum schnarcht mein Transporterbus eigentlich unter einer Tarndecke?“, wollte sie wissen. Er hatte gewusst, dass sie niemals auf diese Tarndecke hereinfallen würde. Trotzdem wurde Aatus Blick demonstrativ tadelnd. Er musste sich an den Text halten.

„Trink, Irm“, forderte er sie auf und Irm fragte sich kurz, ob er sie betrunken machen wollte, damit sie nicht weiter nachfragte. Sie trank brav.

„Getrunken, Aatu. - Also, weshalb unter einer Tarndecke?“, wiederholte sie ihre Frage. Verflucht! Der Met war offensichtlich doch nicht stark genug! Sie stellte doch noch Fragen! Aatu holte tief Luft, stieß sie in einem herzhaften Seufzer wieder aus und holte erneut Luft.

„Hast du schon mal eine Decke für so ein großes Vehikel gebraucht?“, stellte er eine Gegenfrage.

„Ja“, sagte Irm grinsend, „und zwar jeden Winter.“

„Na, da siehst du’s ja! Wir können nicht zaubern und das hier war die erste Decke, die wir in seiner Größe gefunden haben!“, behauptete Aatu zufrieden mit der Antwort. Irm fiel sofort auf, dass die Köchin und die Küchenmagd sich betont unauffällig von ihr wegdrehten. Den Unmengen an gestrickten Topflappen, die um die beiden herumlagen, nach zu Urteilen, waren sie gerade an einer zweiten Decke für T-Dreieinhalb dran. Irm schürzte die Lippen.

„Soso“, meinte sie und nahm noch einen Schluck Met.

„Wozu braucht ihr denn eine so große Decke in Mauermuster?“, tat sie ahnungslos. Aatu verfluchte kurz sein Pech beim Glücksspiel. Eigentlich hätte Zev es ihr erklären müssen, weshalb ab sofort ihr Vehikel mit in der Burg wohnen würde, aber den Zwillingen war es zu verdanken, dass sie es ausgelost hatten, wer es ihr sagen musste. Sie hatten Strohhalme gezogen und Aatu hatte den Kürzesten erwischt. War ja eigentlich logisch gewesen, er hätte sich auch gleich freiwillig melden können. Wieso er überhaupt dabei mitgemacht hatte, war ihm eh ein Rätsel. Er war ja erst dazu gestoßen, als T-Dreieinhalb schon eingeparkt hatte. Seltsamerweise hatte Rafe es überhaupt nicht gestört. Zurück zu Irms Frage, mahnte er sich.

„Falls uns mal eine Wand einkracht und wir Besuch kriegen, dann hängen wir die Decke vors Loch damit es keiner merkt“, behauptete er mit ernster Miene. Zev biss sich heftig auf die Unterlippe ohne mit seinem Zerrspiel aufzuhören und Seff erstickte sich beinahe selbst mit dem Kissen. Und Aatu brach der Schweiß aus. Konnte sie nicht einfach aufhören zu fragen und diesen verdammten Met trinken? Die Zwillinge hatten ihm hoch und heilig versichert, dass der Honigwein so stark angesetzt war, dass Irm nach spätestens drei Schlucken davon sturzbetrunken wäre und es sie gar nicht mehr interessieren würde, warum und weshalb T-Dreieinhalb mit im Haus war. Vier Schluck Met und ihr Verstand war immer noch klar wie eh und je! Das nächste Mal würde er es sich zwei Mal überlegen, ob er auf die Zwillinge hörte!

„Ach, so. Na dann ist ja alles klar“, meinte Irm zufrieden, nahm noch einen großen Schluck und reichte Aatu den Krug wieder. Ihre Zehen wackelten vergnügt unter seinem Bein. Aatu leerte zur Nervenberuhigung den halben Krug. Das war knapp gewesen, dachte er erleichtert und dann war er sich sicher, dass die Idiotie seines Bruders ansteckend war.

Als ob Irm ihm diesen Blödsinn auch nur eine Sekunde lang abgekauft hätte! Er schielte zu ihr und sah in ihr spöttisch grinsendes Gesicht.

„Ihr seid süß“, meinte sie und warf T-Dreieinhalb einen liebevollen Blick zu.

Falsches Ding! Erhob Aatus Herz protestierend Einwand. Sie starrte das falsche Ding so an!

Er nuschelte ein verlegenes „Danke“.

„Sag mal, Irm“, begann er neugierig. Irm drehte sich zu ihm, lehnte sich mit der Schulter an die Sofalehne und schob ihre Füße tiefer unter sein Bein.

„Was denn, Aatu?“, fragte sie mit einem leichten Lächeln.

„Öffnet mir auf der Stelle das Tor! Ich will, was mir zusteht und das ist das Rudel der Wilden Werwölfe!“

„Matchit!“

Irm schnellte in die Höhe.

„Ich sagte: Öffnet mir auf der Stelle das Tor!“

Neben ihr hörte sie das Reißen von Stoff als sich Rafe und Aatu in Wölfe verwandelten.

„Die Dorfbewohner!“, schreckte Seff auf und die Köchin ließ ihre Stricknadeln fallen.

Um die kümmern wir uns! Derne ließ das Seil los, sah kurz zu Flöckchen und rannte mit ihr davon. Irm wurde hektisch.

„Ruhig, Irm, ganz ruhig“, mahnte sie sich selber, während sie nervöse Kreise drehte.

„Kräuter, ich brauch Kräuter! Ihr seid zu wenig, ich muss euch verdoppeln!“, japste sie und hetzte zur Treppe.

Draußen hörten sie das laute Krachen von Holz, als das große Tor barst.

„Keine Zeit, keine Zeit!“ Irm wirbelte auf dem Absatz herum und rannte zur Tür. Atmen, ruhig und tief atmen. Energie sammeln, Energie bündeln, Irm streckte den Arm aus, schnippte mit den Fingern und die Tür sprang weit auf. Augenblicklich stürmten die Werwölfe nach draußen.

Hinter ihr erwachte T-Dreieinhalbs Motor mit einem lauten, wütenden Brüllen und Irm schaffte es im letzten Moment einen Satz zur Seite zu machen, als ihr treues Vehikel laut hupend an ihr vorbeiraste.

„Seff! Gebt auf Ylva Acht!“, schrie sie den Wölfen nach.

„Irm!“

Sie wirbelt herum und sah, wie die Köchin ihr einen großen Beutel zuwarf.

„Wir nehmen die Feuerbomben!“, rief die Frau mit dem sonst so sanften Gesicht entschlossen, schnappte die Küchenmagd am Handgelenk und zerrte sie hinter sich nach oben zum Dach. Irm fasste tief in den Beutel. Feines Kräutermehl schmiegte sie um ihre Hand und schlängelte sich ihren Arm hoch. Feuerkräuter. Sie grinste boshaft und rannte den Wölfen hinterher nach draußen.

 

Die Dorfbewohner waren ein wehrhaftes Völkchen, stellte Derne begeistert fest, als er neben Flöckchen um die Ecke geschlittert kam und sah, dass sich ihre Menschen tapfer mit allem wehrten, was sie als Waffen benutzen konnten.

Derne verwandelte sich mit einem bodenbebenden Brüllen in seine wahre Form und spießte im Rennen einen Werwolf mit seinen langen Hörnern auf. Neben ihm wurde es kalt und Flöckchens lange Gestalt bog nach links ab, um von einer anderen Seite anzugreifen.

Derne warf seinen Kopf zur Seite und der tote Werwolf flog tief in den angrenzenden Wald. Eisblitze schossen vom Himmel und ließen ihre Angreifer zu klirrenden Eissplittern zerfahren. Derne wischte mit seiner riesigen Pranke einen Werwolf von ihrem Arzt. Der Doktor keuchte. Ein kurzes prüfendes Schnuppern später hatte Derne den nur leicht verwundeten alten Mann auf ein Hausdach in Sicherheit gebracht. Mit einem grimmigen Grunzen zerfetzte Derne zwei Werfwölfe mit den bloßen Händen.

 

Im Burghof herrschte das Chaos.

Ineinander verbissene Wölfe rollten kämpfend über den Boden, Blut floss und inmitten dieses Chaos saß Matchit auf seinem Pferd und schleuderte Blitze nach dem behände ausweichenden Rafe.

T-Dreieinhalb überfuhr einen Werwolf, prallte mit seiner platten Schnauze gegen zwei weitere Werwölfe und rammte sie ungebremst gegen die Burgmauer. Als er mit quietschenden Reifen den Rückwärtsgang einlegte und den überfahrenen Werwolf gleich noch einmal überfuhr, war sein weißer Lack mit Fell und Blut übersäht. Er knatterte mit tödlicher Entschlossenheit zum zerstörten Burgtor, um weitere Angreifer zu überfahren und sie am Eindringen zu hindern.

Irm holte tief Luft.

Rafe jaulte vor Schmerzen auf, als ihn einer der Blitze an der Schulter streifte. Dieser verfluchte Schweinehund hatte aber auch ein verdammt beschissenes Timing! Jetzt, wo sie den Ring Hexensäcke aufgebrochen hatten, um die Säcke zu flicken, fiel diesem Brathähnchen ein, anzugreifen! Neben ihr ging eine Feuerbombe hoch und setzte einen von Matchits Werwölfe in Brand.

Die Erde bebte und eine Welle aus Stein und Dreck traf Matchits Pferd an der Seite und ließ es taumeln. Der Zauberer wirbelte herum und blitzte Irm an.

„Du!“, zischte er wütend. Vergessen war Rafe, die hier, die wollte er leiden lassen! Er gab seinem Pferd die Sporen und drängte es rücksichtslos zwischen den kämpfenden Werwölfen hindurch auf Irm zu. Die verzog ihr Gesicht zu einem kalten Lächeln. Er belästigte ihr Rudel. Er brach Gesetze und heilige Eide, um sich ihr Rudel, ihre Familie Untertan zu machen. Er wollte die versklaven, die sie liebte, um mehr Macht zu besitzen!

Er hatte versucht, Rafe zu töten!

Er hatte Aatu gedroht!

Wut kroch in ihr hoch.

„Du perverser Scheißkerl hast an meiner verdammen Unterwäsche geschnüffelt, wie ein räudiger Straßenköter!“, brüllte sie voller Zorn und ballte ihre Hände zu festen Fäusten. Es gab einen lauten Knall, als über Irm ein riesiger Feuerball erschien, der auf Matchit zuschoss und ihn vom Sattel riss.

„Das hier ist mein Rudel! Das hier sind meine Werwölfe! Das sind meine Menschen! Und du hast hier nichts verloren!“

Ein weiterer Feuerball explodierte auf Matchits Brust.

„Du bist in mein Zuhause eingedrungen! Du hast meine Lieben bedroht! Du versuchst meine Familie zu töten!“ Irm trat von der Tür weg und kam bedrohlich langsam auf Matchit zu, der sich panisch versuchte zu löschen. Sein Mantel stand in hellen Flammen, seine ihm noch verbliebenen Haare brannten lichterloh. Irms Stimme war dunkel und kalt, in ihren Augen brannte ein eisiges Leuchten. Aatu erstarrte gebannt und sah Irm an, wie sie sich inmitten eines Hagels aus Feuerbomben Matchit näherte. Sie war zum Fürchten schön.

„Ich habe dich gewarnt, Matchit vom Grauwald! Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, dieses Spiel in Würde zu beenden. Jetzt wirst du brennen!“

Einer von Matchits Werwölfen rannte auf Irm zu. Aatu schnellte herum und die Zeit begann sich zu dehnen. Er sprintete los, doch er wusste, dass er zu langsam sein würde. Der Werwolf prallte gegen Irm, vergrub seine langen Klauen in ihrer Schulter und riss sie von den Beinen. Im selben Moment schoss ein weißer Blitz auf Irm zu und explodierte in einem gleisenden Licht auf ihrer Brust. Ein Wolf stieß einen beinahe menschlichen Schrei aus und dann kreischte ein Mensch.

Irm landete unsanft auf dem Steinboden.

Aatu prallte mit seinem ganzen Körpergewicht gegen den Werwolf. Er grub tief seine Zähne in dessen Nacken, nutze seinen Schwung und riss den Werwolf von Irm herunter.

Das Kreischen hielt an und ging in einem blubbernden Gurgeln unter, bevor es völlig verstummte.

Aatu zerfleischte in hektischer Angst die Kehle des Werwolfes.

Irm! Irm!

Aatu ließ von dem Toten ab und hetzte zu Irm zurück. Sie lag reglos auf dem Boden, ihre rechte Schulter blutete stark. Aatu winselte verzweifelt.

Hinter ihm heulte Rafe ein Siegesheulen, doch Aatu kümmerte es nicht.

Irm.

Da lag Irm und sie regte sich nicht. Panisch stieß er sie mit seiner Nase an.

 

Die Ortschaft sah aus, wie der Vorhof zur Hölle. In den Straßen und einigen Häuser prangten große Krater und Löcher, die Derne oder Flöckchen mit ihrer geballten Kraft hineingeschlagen hatten und überall lagen tote oder Teile von toten Werwölfen herum. Dazwischen, in all dem Kriegschaos standen die Bewohner, bewaffnet mit Heugabeln und Sensen, von deren Spitzen und Klingen Blut tropfte. Die meisten von ihnen verwundet, aber wie durch ein Wunder alle am Leben.

Derne sah sich schweratmend um.

Alle tot, stellte Flöckchen fest und ihre Stimme klang noch kälter als sonst. Derne schnaubte grimmig.

„Danke.“ Der Bürgermeister legte Derne die Hand auf den Unterarm. Derne wandte ihm den Blick zu. Der Mann hatte eine tiefe Kratzwunde quer über dem Gesicht und seine linke Schulter war ausgerenkt. Es war bestimmt das grauenvollste, was er in seinem Leben erlebt hatte, doch er wirkte gefasst und ruhig. Und, was Derne ungemein erleichterte, er hatte keine Angst vor den beiden Dämonen. Ein kleines Mädchen, welches in einem Fass Zuflucht gesucht hatte, krabbelte hektisch heraus und warf sich weinend an Flöckchens Bein. Die Eishundedämonin tätschelte ihr liebevoll den bebenden Rücken.

„Dieser räudige Zauberer!“, fluchte Annabeth, die Tochter der Schneider wütend, und gab einem Kadaver einen kräftigen Tritt.

Es geht euch gut?, fragte Derne in die Runde. Flöckchen trat zu ihm, das kleine Mädchen trug sie fest an sich gedrückt auf ihrem Arm.

Du bist verletzt, schnarrte sie besorgt. Derne sah auf die vielen Bisswunden an seinem rechten Bein und zuckte mit der Schulter.

Aus der Burg hörten sie Rafes Siegesgeheul und im Dorf brach der Jubel aus.

 

Ylvas Körper zuckte in Krämpfen, als sie sich heftig neben Matchits Leichnam übergab. Die Flanken der schlanken Werwölfin zitterten kraftlos. Ylva atmete tief ein und aus und erzwang eine Verwandlung. Kaum dass sie wieder ein Mensch war, übergab sie sich erneut.

„Ylva! Geht es dir gut?“, fragte Rafe besorgt und legte ihr sanft einen Arm um die bebende Schulter. Es war zu viel für dieses sensible Wesen gewesen. Ylva hatte zwar tapfer für dieses Rudel gekämpft, aber dass sie eigenhändig Matchit getötet hatte, war wohl zu viel für sie gewesen. Im selben Moment, indem der Werwolf Irm angegriffen hatte, war Ylva aus dem Nichts Matchit an die Kehle gesprungen und hatte fest zugebissen. Der Zauberer hatte sich verzweifelt gewehrt, seine Hände waren halt- und kraftlos über ihren Körper geglitten und dann hatte es ein knackendes Geräusch gegeben und sein Kopf war von seinen Schultern gefallen. Und jetzt kniete die arme Ylva neben seinem Kadaver und spuckte sich die Seele aus dem Leib.

„Es war viel zu anstrengend für dich, Ylva. Du hättest nicht mitkämpfen sollen“, begann Rafe beruhigend auf sie einzureden. Ylva wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sah ihn verwirrt an. Wovon redete der Kerl da?

„Wieso zu anstrengend?“, hakte sie irritiert nach. „Hast du eine Ahnung, wie furchtbar dieser Kerl schmeckt?“

Rafe stieß ein erleichtertes Lachen aus. Er schlang die Arme um Irms Freundin und drückte sie fest an sich. Es ging ihr gut. Oh, den Himmeln sei Dank, es ging ihr gut.

„Ich weiß, weshalb ihr beide miteinander befreundet seid. Ihr gehört einfach nur zusammen!“ Rafe gab Ylva einen sanften Kuss auf den Kopf, genoss die Wärme ihrer Haut an seinem Körper und das Wissen, dass sie unverletzt war.

 

Aatu stand am Türrahmen zu seinem Zimmer und nagte hektisch auf seinen Fingernägeln herum, während Rafe im Flur nervöse Kreise lief. Irm lag in Aatus Bett, der Arzt hatte sich weit über sie gebeugt, murmelte unverständliche Worte und schüttelte dazu immer wieder den Kopf.

„Wie geht es ihr?“ Seff tauchte neben Rafe auf und wagte einen ängstlichen Blick in Aatus Zimmer. Rafe stoppte kurz in seinem Weg und zuckte hilflos mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Er ist noch nicht fertig“, antwortete er und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf.

„Sie wird es überleben. Jetzt braucht sie erst einmal viel viel Ruhe.“

Rafe zuckte erschrocken zusammen, als der alte Doktor sich zur Tür drehte. Er räumte seine Tasche ein, klappte sie zu und mit einem harschen Nicken humpelte er an Aatu vorbei aus dem Zimmer.

„Und jetzt sehen wir nach deinem Bruder, Seff.“

Aatu nahm seine Hand vom Mund und kam zaghaft auf das Bett zu. Irm sah so hilflos und schwach aus, es machte ihm Angst. Ihre Lider flatterten und dann sah sie ihn kraftlos an.

„Aatu …“, wisperte sie kaum hörbar. Aatu beugte sie hastig zu ihr.

„Rafe … Wo … Rafe …“

Aatu zuckte heftig zusammen.

Rafe.

Ja.

Natürlich.

Sie fragte nach seinem Bruder. Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf.

„Ich hol ihn“, sagte er gepresst und schluckte den großen Kloß in seinem Hals hinunter. Natürlich verlangte sie nach Rafe. Ein hartes Lachen wollte sich seine Kehle hochstehlen, doch er zwang es nieder. Jeder Schlag seines Herzens schmerzte.

„Sie will dich sprechen“, sagte er brüsk und deutete hinter sich. Rafe sah ihn überrascht an, dann eilte er an seinem Bruder vorbei zu Irm ans Bett.

„Komm … komm näher …“, bat sie leise und Rafe kniete sich artig vor dem Bett auf den Boden.

„Noch näher …“

Aatu wollte nicht weiter zusehen. Er wollte nicht sehen, wie Irm ihre Hand auf Rafes legte und ihm tiefe Blicke schenkte. Er wollte nicht zusehen, wie sie ihm ihre Liebe gestand und dann dahinschied, wie in einem schlechten Buch. Sein Blick war wie festgenagelt auf die beiden gerichtet.

Plötzlich sprang Rafe auf, nickte hastig und drehte sich kurz zu seinem Bruder. Ein scheues Lächeln huschte über Rafes Gesicht und Aatu hatte das Gefühl, sein Herz würde entzweigerissen. Er erwiderte es! Er hatte es gewusst! Rafe und Irm. Ihm war zum Heulen zumute.

Rafe sah noch mal zu Irm, der vor Erschöpfung die Augen zufielen, dann eilte er an seinem Bruder vorbei, aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte Aatu, wie Rafe die Treppe nach unten rannte.

Was zum Höllenfürsten hatte das jetzt zu bedeuten? Konnte er es nicht erwarten, es dem ganzen Rudel zu erzählen, dass Irm ihn so sehr liebte?

„Ist er unten?“, wisperte es vom Bett. Aatus Verzweiflung wuchs zu so einem Ausmaß heran, dass er Irm am Liebsten mit einem Kissen erstickt hätte, nur um sie nie wieder sehen zu müssen. Er nickte, ohne sie anzusehen.

„Gut. Könntest du mir bitte die Kissen aufschütteln? Ich liege hier aufgebahrt wie eine Tote!“

 

16. Von der, die Wolf heißt, hoffnungslosen Fällen und zu viel Auswahl

 

Aatu blinzelte einmal. Und dann noch einmal. Und dann spürte er, wie seine Beine aus eigenem Antrieb zu seinem Bett auf Irm zugingen, wie sich sein Oberkörper nach unten beugte und seine Hände die Kissen, auf denen sie lag, aufschüttelten. Irm seufzte zufrieden und rekelte sich wohlig. Wusste sie eigentlich, was sie ihm gerade antat?

„Dir … dir geht es gar nicht so schlecht?“, fragte er dümmlich. Irm grinste ihn breit und verflucht fit an und ihre Augen funkelten voller Vitalität.

„Ach, i wo!“, wehrte sie mit ihrem breiten Grinsen ab. „So ein Werwolfskratzer haut mich nicht so aus den Latschen. Ich hab mir nur ordentlich den Schädel angeschlagen, als ich auf dem Boden gelandet bin. Der Arzt sagt, ich hab nicht mal eine Gehirnerschütterung.“

„Aber du warst ohnmächtig! Und dich hat ein Blitz von Matchit getroffen!“, stellte Aatu fassungslos fest. Irm zuckte mit der unverletzten Schulter.

„Mag ja sein, trotzdem geht’s mir gut“, beteuerte sie. Aatu schnappte nach Luft.

„Ja, und wozu dann die ganze Scharade?“, wollte er aufgebracht wissen. Nicht genug, dass sie ihm unwissentlich das Herz zerfetzte, nein, jetzt belog sie auch noch seinen Bruder! Das vitale Funkeln in Irms Augen wurde verschwörerisch.

„Ganz einfach: Weil Rafe sonst nicht das tun würde, was er jetzt tut“, begann sie geheimnisvoll. Aatu schloss kurz die Augen. Er wollte sie gerade so gerne schlagen!

„Klär mich bitte auf!“, knurrte er gereizt.

„Aber gerne doch. Setz dich“, forderte sie ihn auf und klopfte mit der Hand neben sich aufs Bett. Aatu nahm brav Platz.

„Weißt du, was Ylva bedeutet?“

Aatu schüttelte verneinend den Kopf. Woher sollte er und weshalb sollte er das auch wissen? Es interessierte ihn nämlich nicht.

„Ylva bedeutet Wölfin.“ Irm sah ihn abwartend an.

„Und?“ Aatu hatte keine Ahnung, was daran so furchtbar wichtig sein könnte, dass Irm Rafe vorspielen musste, sie wäre kurz vorm Krepieren. Dann fiel bei ihm der Groschen. Sie hatte Rafe gar nicht ihre unendliche Liebe gestanden! Sein Gesicht hellte sich mit einem Schlag auf und sein Herz machte freudige Hüpfer.

„Und das hast du ihm gesagt?“, hauchte er atemlos. Irm nickte.

„Hey, ich musste mir von meinem Arzt anhören, dass mein werter Rudelanführer mich arme verletzte und ohnmächtige Rudelhexe links liegen hat lassen und zu meiner besten Freundin gerannt ist, nur weil die kotzend neben einem kopflosen Matchit kniete. Wenn das mal kein Zeichen ist, dann weiß ich auch nicht. Außerdem ist dein Bruder ein Trottel. Er hätte sich sonst nie getraut, Ylva den Hof zu machen, weil sie Arkos‘ Nichte ist und er viel zu viel Angst hat, dass er eine Abfuhr kassiert. Aber gegen Zeichen ist man machtlos. Und dass Ylva Wölfin heißt, hey, wenn das nicht das Zeichen schlechthin für die beiden ist, dann weiß ich auch nicht. Außerdem weiß ich aus sicherer Quelle, dass diese Zuneigung nicht einseitig ist.“ Irm strahlte ihn an und Aatu konnte schwören, dass sie eine Aura von hellem goldenem Licht umgab.

Nie war ihm ein schöneres Wesen begegnet, als Irm in diesem Moment und es brannte sich für immer und ewig in seine Gedanken ein. Wie sie in seinem Bett hockte, die Hände in ihrem Schoß verschränkt, die Schürfwunden an ihrem rechten Ellbogen und Unterarm, die Kratzer auf ihrem Wangenknochen. Das wilde zerzauste Haar, das Hemd, welches eigentlich ihm gehörte, aber das war im Moment egal. Die ziemlich große Beule an der Seite ihrer Stirn, wo sie mit dem Kopf auf dem Steinboden aufgeschlagen war. Er verkniff sich tapfer ein Seufzen.

„Wieso liege ich eigentlich in deinem Bett?“, zerstörte Irm diesen magischen Moment, aber Aatu war gnädig, immerhin hatte sie sich ordentlich den Kopf angeschlagen.

„Weil Velvel meinte, dass du deine Ruhe brauchst und Ylva ja bei dir schläft und sie dann nicht in Ruhe schlafen kann, wenn du krankes Wesen neben ihr liegst“, antwortete er mit einem schiefen Grinsen. Irm lachte leise.

„Ja. Und wie du schläfst, ist ihm wohl egal, was?“

Aatu zuckte mit den Schultern.

„Ich kann mich auf meine Couch legen“, meinte er nur. Er würde sich auch vor dem Bett auf dem Boden zusammenrollen, das war ihm egal. Wichtig war im Moment nur, dass es ihr gut ging und sie nicht in Rafe verliebt war!

„Blödsinn! Ich geh zurück in mein Zimmer!“, widersprach Irm und tippte sich an die Stirn.

„Au!“ Sacht legte sie ihre Fingerspitzen an die große Beule. Da hatte sie sich ein ziemlich mächtiges Horn eingefangen. Gut, dass ihr Schädel so hart war.

„Das geht nicht. Also, dass du in dein Zimmer gehst. Sonst fliegt dein Ich-liege-im-Sterben-Schauspiel auf“, erinnerte Aatu sie leicht gönnerhaft.

„Stimmt. Dann tut es mir leid, dass ich dein Bett belagere.“ Sie legte ihre Hand auf seine und drückte sie kurz. Aatu stand binnen Sekunden in Flammen. Sprichwörtlich, nicht tatsächlich.

„Weißt du was? Da du ja todkrank bist und so, da brauchst du jetzt Ruhe und ich … ich hol dir was zu essen, okay?“, schlug er stammelnd vor und erhob sich hastig. Irm biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, was jetzt in Aatu gefahren war.

„Okay“, stimmte sie zögernd zu und sah ihm nach, wie er aus dem Zimmer hetzte. Gut. Dann war die Sache mit ihrer Hand auf seiner wohl keine so gute Idee gewesen. Irm nickte. Dann wusste sie jetzt zumindest Bescheid.

„Na, dann, Herz freimachen und weiter suchen. Irgendwo gibt es bestimmt einen“, murmelte sie und zog die Decke bis unter ihre Nase. Die Decke, die nach Aatu roch. Irm knurrte verstimmt.

 

Aatu riss die Tür zum Zimmer der Zwillinge auf, stürmte ohne ein Wort hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Ohne sich umzusehen, raste er auf Velvel zu, der in seinem Bett lag. Velvel starrte ihn verdutzt an. Was um alles in der Welt war in Aatu gefahren?

Der war mit einem Satz auf dem Bett, schnappte sich Velvel, presste seine Hände gegen dessen Kopf und gab ihm einen langen, heftigen Kuss auf den Mund.

„Danke“, flüsterte er.

„Danke, danke, danke.“ Aatu überschüttete ihn mit unzähligen festen Küssen auf den Mund, während er sich dabei unablässig bedankte.

„Wofür?“, japste Velvel, als Aatu lange genug von ihm abließ.

„Für alles. Für Irm in mein Bett packen, für mir zuhören, für’s zuversichtlich sein, für einfach alles!“

Aatu gab ihm noch einen letzten dicken Kuss, bevor er von ihm abließ. Velvel grinste breit. Es war schön, seinen Freund endlich wieder glücklich zu sehen.

„Also wenn du hier schon am Knutschen bist, dann darfst du bei mir gleich weitermachen! Er war nicht allein dafür verantwortlich!“, beschwerte sich Seff lachend. Aatu sprang vom Bett, schnappte sich den anderen Zwilling und zog ihn in eine feste Umarmung. Lachend drückte er seine Lippen auf Seffs.

„Danke, mein Freund“, flüsterte er, drückte Seff noch einmal an sich und schob ihn dann auf Armeslänge von sich.

„Ich muss ihr was zu essen bringen!“, jubelte er, bevor er aus dem Zimmer rannte.

„Warum bringst du mir eigentlich kein Essen?“, beklagte sich Velvel bei seinem Bruder. Der tippte sich an die Stirn.

„Weil du nicht todkrank bist!“, erwiderte er. Velvel schnaubte.

„Irm auch nicht!“

„Bei Irm ist es was anderes! Da ist es Taktik und notwendig!“

„Dann taktiere du mir etwas zu Essen hoch!“, verlangte Velvel energisch.

„Du hast dir die Schulter ausgekugelt! Du kannst selber laufen!“, meinte Seff schulmeisterlich und stemmte die Hände in die Hüften.

„Der Arzt hat mir aber Bettruhe verordnet!“

„Weil du gejammert hast wie ein kleines Kind.“

„Du hast mich nicht lieb“, behauptete Velvel schmollend. Seff ließ die Hände sinken und sah seinen Zwillingsbruder liebevoll an.

„Mehr als gut für mich ist“, antwortete er zärtlich.

 

Irm langweilte sich zu Tode und dass, obwohl sie erst seit höchstens zehn Minuten allein war. Dass sie, wenn sie sterbenskrank spielte, im Bett liegen musste und ihr Ruhe gegönnt wurde, hatte sich bei ihrem spontanen Plan nicht bedacht. Sie sollte lernen, ihre Handlungen ein bisschen besser zu überdenken. Nachdenklich rieb sie sich ihre Brust. Matchits Blitz hatte ganz schön wehgetan, als er sie getroffen hatte, aber der Arzt hatte ihr versichert, dass man nichts davon sah und sie auch keine Schäden deshalb davongetragen hatte.

Und jetzt war er tot.

„Hm“, machte Irm nachdenklich.

Was ist hm?, fragte eine sanfte Stimme. Sie drehte den Kopf zur Tür und ein frohes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Derne. Komm her“, bat sie und streckte die Hand nach ihrem Freund aus. Derne humpelte tapfer näher. Ungelenk sprang er zu Irm aufs Bett.

„Was hast du?“, fragte Irm besorgt, als sie den dicken Verband an seinem rechten Hinterlauf sah.

Vermaledeite Werwölfe! Ich wurde von einem regelrecht angenagt. Du weißt, dass sich das bei mir immer entzündet, jammerte er wehleidig und schmiegte sich eng an sie. Irm strich ihm über sein weiches Fell. Dann stockte sie.

„Flöckchen! Wie geht es ihr? Ist sie verletzt? Wieso ist sie nicht hier?“, fragte sie hektisch. Derne machte Tztztz und zwinkerte.

Du redest hier gerade von meiner Flöckchen, meine liebe Irm, tadelte Derne sanft. Ihr geht es gut. Sie hilft das Dorf wieder aufzubauen. Wir haben etwas, nun ja, gewütet. Derne räusperte sich verlegen, als er daran dachte, welchen Schaden er und Flöckchen bei der Verteidigung der Bewohner verursacht hatten. Flöckchen war schon seit Stunden damit beschäftigt, die in den Boden geschlagenen Löcher und die zerstörten Dächer und Wände wieder zu reparieren. Da er schwerst verwundet war, hatte Flöckchen bestimmt, dass sich Derne ausruhte. Er nagte mit wilder Entschlossenheit an seinem Verband herum.

„Derne. Lass das“, mahnte Irm sanft und legte ihre Hand über Dernes Hinterlauf.

Es juckt aber, jammerte der Dämon wehleidig. Und wie es juckte! Jedes verfluchte Mal, wenn er von einem Werwolf gebissen wurde, entzündete sich die Bisswunde. Sie nässten und eiterten und brannten höllisch. Irm war der festen Überzeugung, Derne war allergisch gegen Werwolf-Spucke und so langsam aber sicher neigte Derne dazu, ihr Recht zu geben. Er schmiegte sich eng an Irm und schloss mit einem Seufzer die Augen.

Du hast mir eine Todesangst beschert, als ich gehört habe, Matchit hätte dich verletzt, nuschelte er leise. Irm zog ihn auf ihre Brust, verzog kurz das Gesicht, als die Stelle, wo Matchits Blitz sie getroffen hatte, kurz ziepte und gab Derne einen sanften Kuss auf das kleine runde Köpfchen.

„Musst du nicht, ist alles nur Show“, wehrte sie ab.

Wieso konnte Matchit einen Blitz auf dich schleudern, Irm? Wo sind die Hexensäcke?, hakte Derne schläfrig nach.

„Weil ein Schwarm Spatzen gemeint hat, er müsse sich daran bedienen, um sich aus der Jute Nester damit zu bauen, haben Ylva und ich sie gestern abgenommen, um die Beutel zu flicken. Hat ihm trotzdem nichts gebracht. Er ist jetzt ziemlich kopflos und mir geht’s ziemlich gut. Da würde ich mal sagen, wir brauchen die Hexensäcke nicht mehr wirklich so dringend, oder? Wie sieht’s im Dorf aus, außer euren Kollateralschäden?“ Irm begann, ihn liebevoll im Nacken zu kraulen.

Alle mehr oder weniger gesund und munter. Ein paar Verletzte, aber ansonsten haben sie sich gut geschlagen. Das sind verdammt zähe Leutchen, das kann ich dir sagen. Annabeth ist wahrhaft gefährlich mit einer Mistgabel in der Hand. Sie hat sage und schreibe s-i-e-b-e-n Werwölfe platt gemacht! Wenn ich nicht schon meine Flöckchen hätte … Derne kicherte verhalten. Irm seufzte erleichtert.

„Wir müssen als Allererstes die Stadtmauer befestigen. Nur weil wir Matchit relativ einfach geschlagen haben, heißt das nicht, dass es immer so sein wird“, grübelte Irm nachdenklich. Derne gab ein zustimmendes Schnauben von sich, dann sprang er vom Bett. Irm sah ihn erstaunt an.

„He, wo willst du hin?“, fragte sie verwirrt. In diesem Moment ging die Tür auf und Aatu kam mit einem voll beladenen Tablett in sein Zimmer. Derne nutzte die Gelegenheit und huschte zwischen seinen Beinen eilig nach draußen.

Bis später und lasst es euch schmecken!, trällerte er mit einem hörbaren Grinsen, dann schlug die Tür zu.

„Ich wusste nicht, auf was du Lust hast, drum hab ich ein bisschen was zur Auswahl dabei. Zu Rafe hab ich gesagt, dass das alles meins ist, und für dich die Brühe hier, damit er keinen Verdacht schöpft. Allerdings glaube ich, dass er es eh nicht so richtig mitbekommen hat, was ich ihm gesagt habe, er klebt an Ylva wie eine Klette.“ Aatu kicherte albern, zog mit einem Bein ein kleines Tischchen ans Bett und stellte das Tablett darauf ab. Mit einer leicht nervös wirkenden Geste strich er sich sein langes Haar hinter die Ohren. Irm lächelte ihn an.

„Danke. Und was davon ist nun wirklich alles für mich?“, fragte sie neugierig und ließ den Blick über die Unmengen Essen wandern. Aatu machte eine ausschweifende Geste, die das ganze Tablett einschloss. Er würde sich ja gerne zu Irm aufs Bett setzen, aber er war sich nicht sicher, ob das auch Irm wollte. Aatu beschloss, dass es ihm jetzt egal war, was Irm wollte oder nicht, das hier war schließlich immer noch sein Zimmer und nicht Irms, und nahm an der Bettkante Platz. Irm rutschte ein Stück nach hinten, damit er sich bequemer hinsetzen konnte.

„Äh, alles?“, schlug Aatu vor.

„Hmmm…“, machte sie nachdenklich. Schinken oder Braten? Knödel oder Nudeln? Oder doch erst die duftende Brühe? Irm nagte nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, während sie das Essen begutachtete.

„Probleme bei der Auswahl?“, tippte Aatu grinsend. Irm lachte.

„Ich hab keine Ahnung, was ich als erstes Essen soll. Oh! Spieße!“ Irm griff nach einem Fleischspieß mit gebratenem Gemüse und zog das erste Fleischstück mit den Zähnen ab. Aatu lachte.

„Darf ich den Zweiten nehmen?“, fragte er. Irm verdrehte kauend die Augen.

„Also bitte! Natürlich darfst du. Hau rein und lass es dir schmecken“, wünschte sie mit vollen Backen. Aatu bediente sich und knabberte ziemlich schüchtern an seinem Spieß herum.

 

Derne stand an der Tür und lauschte. Und dann seufzte er leise.

So würde das wirklich nichts werden, mit den beiden. Die Zwillinge hatten recht. Die konnten alle Hilfe gebrauchten, die sie kriegen konnten. Er tippelte humpelnd zur Zimmertür von Velvel und Seff und kratzte den vereinbarten Code. Nur wenig später gab Dallin ihm Einlass.

Bei allen heiligen großen Dämonen, ihr hattet recht. Wir müssen härtere Geschütze auffahren, verkündete er, als er zu Velvel aufs Bett sprang.

Jemand eine Idee?

 

Rafe stoppte an Fuß der Treppe und suchte mit seinen Augen nach Ylva. Er fand sie, wie sie Zevs verletzten Arm verband. Ihr Gesichtsausdruck war konzentriert und doch strahlte sie eine unglaubliche Sanftheit dabei aus, sein Herzschlag beschleunigte sich unweigerlich. Sie hieß Wölfin, und so schwach Irm im Moment auch war, diese Information war ihr so wichtig gewesen, dass sie sich völlig verausgabt hatte, um sie ihm mitzuteilen.

Rafe erkannte Zeichen, wenn er sie sah und was es hieß, dass Ylva Wölfin bedeutete, das hatte er sofort erkannt. Sie gehörte zu ihnen, sie gehörte zu ihm. Sein Herz klopfte noch eine Spur heftiger gegen seine Rippen. Dann hatte es ihn also nicht betrogen, als er sie das erste Mal auf der vierteljahrhundertlichen Versammlung gesehen hatte. Er hatte sich sofort von ihr angezogen gefühlt und jetzt war ihm auch klar, weshalb. Nicht nur, weil er sich Hals über Kopf in dieses bezaubernde Wesen verschossen hatte, sondern weil sie auch zu ihnen gehörte. Weil sie eine Wölfin war und weil sie so hieß und wie hatte er die letzten Meter zwischen sich und ihr überbrückt? Gerade eben hatte er doch noch an der Treppe gestanden. Zev lächelte und zog sich diskret zurück. Ylva strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte schüchtern. Rafe kniete sich neben sie.

„Alles in Ordnung?“, fragte er sanft. Ylva nickte.

„Ich bin fertig, Matchit herauszukotzen“, meinte sie mit einem bezaubernden Lächeln.

„Das … das war ein guter Biss“, meinte Rafe anerkennend. Ylva strahlte ihn an.

Zev verkniff sich ein Lachen. Bisher hatte er geglaubt, das Gezanke zwischen Irm und Aatu oder Irm wie sie Rafe aufzog, sei ein äußerst unterhaltsames Programm, aber es schien, dass Rafes Balzversuche bei Ylva das noch toppen könnten. Er schnappte sich ein Stückchen Menschenfleisch vom Grill und setzte sich in Hörweite in einen alten durchgesessenen Sessel.

„Und … ähm … ge-gefällt es dir hier?“ Rafe kratzte sich nervös am Kinn. Ylva faltete ordentlich die Tücher zusammen, mit denen sie Zev das Blut vom Arm gewaschen hatte. Rafe bekam schwitzige Handflächen, während er auf ihre Antwort wartete.

„Im Großen und Ganzen schon“, sagte sie schließlich nachdenklich. Rafes Herzschlag kam ins Stolpern. Es gefiel ihr hier nicht. Sie wollte hier nicht leben!

„Irm hab ich mittlerweile dazu gebracht, ihre Socken wieder mitzunehmen, wenn sie sie vor dem Kamin auszieht, aber diese angenagten Knochen …“ Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Auf Rafes Gesicht legte sich ein rosa Schimmer.

„Ähm, ja“, nuschelte er verlegen. Vielleicht hatte Irm ja doch recht damit, wenn sie sagte, das sei ein wenig eklig. Vielleicht könnte er sich ja angewöhnen, sie wegzutun, also aufräumen, in den Müll werfen oder so was. Wo tat man abgenagte Knochen hin? Er bekam einen heftigen Knuff in die Rippen. Ylva lachte amüsiert.

„Du lässt sie immer liegen, stimmt‘s?“, stellte sie treffsicher fest. Rafe räusperte sich nur und schwieg, was sie nur noch mehr zum Lachen brachte.

„Ja, es gefällt mir hier. Dein Rudel macht es mir sehr leicht, dass es mir hier gefällt. Es sind alles sehr freundliche Leute. Die Zwillinge bringen einen ständig zum Lachen und bei Zev fühlt man sich einfach beschützt. Dein Bruder ist ein wenig spröde, aber er ist ein anständiger Kerl.“ Sie hörte auf, Tücher zu kleinen Türmen zu falten, und legte sie weg.

„Wieso fragst du?“, wollte sie wissen und warf Rafe einen schüchternen Blick zu. Rafe schmolz wie Schnee in der Sonne. Genau dieser Blick war es gewesen, der ihm beim ersten Abendessen bei der Versammlung vor einem Monat den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Dieser scheue Blick, der dennoch voller Kraft strotzte, diese klaren blauen Augen mit diesen wunderschönen geschwungenen Wimpern. Ihr dunkelblondes, glattes Haar, welches wie ein Wasserfall aus Gold über ihren zarten Rücken fiel. Rafe wünschte sich sein altes Selbstvertrauen zurück, welches er beim Frauenaufreißen bisher immer gehabt hatte. Er wünschte sich seine Lässigkeit zurück, sein charmantes Grinsen, das neckische Zwinkern, doch irgendwie schien sich das alles in Luft aufgelöst zu haben.

„Ylva bedeutete Wölfin“, sagte er völlig zusammenhanglos.

„Ich weiß“, entgegnete sie schmunzelnd.

„Rafe bedeutet Wolf“, fuhr er fort. Auf ihrem Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln.

„Willst du … willst du bleiben?“, presste Rafe hektisch vor. Aus dem Lächeln wurde ein Lachen und Ylvas Wangen färbten sich dunkelrot. Sie wusste, was das bedeutete. Sollte sie ihn noch ein Weilchen zappeln lassen und sich über seine unbeholfene Art amüsieren oder sollte sie sich erbarmen? Irm würde ihn jetzt wohl noch eine ganze Weile quälen, aber sie war nicht Irm, sie war Ylva die Wölfin. Statt einer Antwort gab sie ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. Rafe starrte sie dümmlich an.

„Heißt das ja?“, hakte er unsicher nach. Ylva lachte auf.

„Ich frage mich gerade ernsthaft, wie diese ganzen tratschigen Hühner immer darauf kommen, dass du so wortgewandt und charmant bist und sie immer mit Komplimenten überschüttest.“ Sie schenkte ihm ein leicht spöttisches Lächeln und Rafe wäre am Liebsten im Erdboden versunken. Ja, genau dasselbe fragte er sich gerade auch. Jetzt wo es darauf ankam, hatte sein Charme offenbar beschlossen, in Urlaub zu gehen. Er zuckte hilflos mit den Schultern.

„Du hast mir schon auf der Versammlung unheimlich gefallen“, stammelte er stattdessen.

Zev schnappte sich Vukasins Bierkrug und gluckste leise. Rafe und Aatu waren eindeutig Brüder. Er nahm einen kräftigen Schluck Bier. Kurz war er versucht, Rafe den Krug an den Kopf zu werfen, damit der sich endlich am Riemen riss, beschloss dann aber, weiterhin schweigend zuzuhören und sich köstlich über diesen Trottel von Rudelanführer zu amüsieren.

Er fragte sich kurz, was Aatu und Irm in Aatus Schlafzimmer machten, als eben dieser regelrecht enthusiastisch die Treppe heruntergerannt kam und sich panisch umsah. Mit einem leisen Freudenschrei hetzte er auf die Köchin zu, packte sie am Arm und zerrte sie hinter sich her in die Küche.

Als Zev sich wieder Ylva und Rafe widmete, hatte der sie schon im Arm liegen und sie rieben ihre Nasen aneinander. Zev fluchte verhalten. Jetzt hatte er das Beste verpasst. Mit einem beleidigten Knurren leerte er Vukasins Krug und stellte ihn zurück auf den Tisch. Den entrüsteten Blick seines Rudelbruders ignorierte er.

Naja, zumindest war geklärt, was die beiden von einander hielten. Jetzt mussten sie nur noch das Ganze mit Primus Arkos und Ylvas Vater Argo klären, aber das würden sie entweder vor oder nach dem Herbstfest tun. Zev war sich allerdings ziemlich sicher, dass weder der eine, noch der andere gegen ihre Beziehung etwas einzuwenden hatte. Ihnen war wie jedem anderen - von Aatu mal abgesehen, der war auf der Versammlung damit beschäftigt gewesen, Irm anzuschmachten - aufgefallen, wie oft Rafe mit Ylva getanzt hatte und wie oft sie beieinander gestanden hatten. Man hätte schon blind und ein Idiot sein müssten, um nicht zu erkennen, dass die beiden mehr verband, als nur Höflichkeit. - Oder gänzlich daran desinteressiert, wie zum Beispiel Aatu, aber der hatte ja auch eine Entschuldigung für sein Desinteresse gehabt. - Flirten mit Irm. Zev lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte versonnen. Lyall wäre stolz auf die Auswahl seiner Söhne. Ylva wie Irm waren beide starke Frauen, die für das Wohl ihrer Rudel ohne zu zögern ihr Leben riskierten und ihm treu waren. Und ihren Männern würden sie nicht weniger treu beiseitestehen. Zev hob erstaunt die Augenbrauen, als er Aatu mit einem voll beladenen Tablett die Treppe hochgehen sah. Wollte er Irm mästen oder was hatte der Tölpel vor?

Das würde noch ein langer, langer Weg werden.

Während er Rafe und Ylva in ihrer Verliebtheit beobachtete, überlegte er sich schon einmal die Argumente, die für diese Verbindung der beiden sprach, die er gegebenenfalls bei Primus Arkos und Argo anbringen musste.

 

17. Vom Suchen und Finden, Schrubben und einem Running Gag

 

Nur noch heute musste sie das leidende Elend spielen, dann konnte sie wieder zurück in ihr eigenes Schlafzimmer gehen. Irm unterdrückte ein Seufzen und konzentrierte sich wieder auf den Klang von Aatus Stimme. Sie lehnte sich an seine kräftige Brust und ließ sich von der Geschichte tragen. Es war ein für sie glücklicher Zufall gewesen, dass Rafe vor zwei Tagen hereingeplatzt war, als sie sich mit Aatu über Rafes und Ylvas Beziehungsstand unterhalten hatten. In seiner Not hatte Aatu einfach gelogen und behauptet, er würde Irm aus dem Buch vorlesen, welches er auf dem Schoß als Tischersatz liegen gehabt hatte.

Die Tür öffnete sie einen Spalt weit und Rafe streckte seinen Kopf ins Zimmer. Dann war wohl die obligatorische Stunde um und er machte seinen Kontrollbesuch. Warum und weshalb wussten die Götter.

„Alles klar bei euch?“, fragte Rafe, wie Irm zu glauben wusste, scheinheilig.

„Braucht ihr was?“

Aatu unterbrach sich und funkelte seinen Bruder leicht gereizt an.

„Nein, Rafe, immer noch nicht“, erwiderte er und gab sich nicht einmal Mühe, nicht genervt zu klingen.

„Und wohl auch in der nächsten Stunde nicht“, fügte er mürrisch hinzu. Rafe hob beschwichtigend die Hände und unterdrückte ein Grinsen.

„Ylva und ich gehen spazieren“, verkündete er mit einem Strahlen im Gesicht.

„Wenn du mir damit sagen willst, dass du in einer Stunde nicht wieder vor meiner Tür stehst, schön, verschwinde“, scheuchte Aatu ihn weg. Irm kicherte verhalten. Rafe schnitt seinem Bruder eine Grimasse, dann sah er zu Irm.

„Wie geht es dir?“, fragte er zum millionsten Mal. Irm lächelte.

„Viel besser. Der Arzt meint, ich darf heute Abend aufstehen und euch wieder auf die Nerven gehen. Ich soll mich nur noch ein-zwei Tage zurückhalten und es nicht gleich übertreiben“, log sie dreist. Rafe nickte erleichtert. Er war unglaublich froh darüber, dass es Irm wieder gut ging und sie keine bleibenden Schäden davongetragen hatte.

„Und ihr braucht wirklich nichts? Weil, dann würden wir gehen“, hakte er noch mal nach. Aatu knurrte verhalten. Irm schlug ihm warnend auf die Brust.

„Hör auf damit. - Nein, alles prima“, beteuerte sie freundlich.

„Wo seid ihr gerade?“ Rafe deutete mit dem Kopf auf das Buch. Irm verkniff sich, mit den Zähnen zu knirschen und Aatu, seinem Bruder schlicht das Buch an den Kopf zu werfen.

„Trustram wurde bei der Schlacht von einem vergifteten Speer verwundet und nun machen sich seine Getreuen auf, die Heilerin zu finden, die ihn retten kann“, antwortete Irm und klimperte mit den Wimpern. Rafe machte ein „Ah!“, dann verschwand sein Kopf aus dem Spalt und die Tür wurde geschlossen. Aatu schnaubte und las weiter. Als er Rafe die Treppe nach unten gehen hörte, verstummte er schlagartig und ließ das Buch sinken. Irm kicherte an seinen Oberarm und brachte seine Haut zum Vibrieren.

„Hoffentlich verirrt er sich“, knurrte Aatu, stopfte ein Stückchen Papier zwischen die Seiten und legte das Buch weg. Er las nur dann vor, wenn sie hörten, dass Rafe sich näherte. Irm hantierte unter der Decke herum und zog ein Mühle-Spielbrett hervor.

„Also, wo waren wir? - Wolltest du nicht gegen mich gewinnen, Werwolf?“, neckte sie, richtete sich auf und schlug die Beine untereinander. Aatu hätte es gefallen, wenn sie noch ein Weilchen bei ihm liegengeblieben wäre.

„Haha“, meinte er nur und ordnete die Spielfiguren nach ihrem letzten Spielzug vor Rafes Störung an. Wenn sie nicht gerade über Rafe und Ylva oder über die Zwillinge und Dallin redeten, dann spielten sie mit einer Inbrunst, die ihresgleichen suchte, Mühle. Oder Irm machte lustigen Budenzauber, wie sie es nannte, und ließ Stoffbären tanzen oder Büchern Nasen wachsen oder ähnlichen Unfug.

Kurz, sie hatten verdammt viel Spaß miteinander.

„Ich war nicht nett, als ich sie umgebracht habe“, sagte Aatu und im ersten Moment war Irm verwirrt, dann fiel ihr wieder ein, worüber sie sich unterhalten hatten, bevor sie Rafe mit seinem Kontrollbesuch gestört hatte. Aatu hatte begonnen, über die Geschehnisse von vor fünfzig Jahren zu reden. Als Rafe sie gestört hatte, hatte er ihr gerade gestanden, dass er seine schwangere Verlobte umgebracht hatte.

„Glaub mir, Mitleid kriegt sie trotzdem keins von mir“, meinte Irm schnippisch und schob ihren Stein auf ein freies Feld. Aatu grinste schief.

„Mitleid kriegt sie keins von dir? - Was stimmt mit deinem Kopf nicht, Irm aus dem Süden?“, wollte er wissen und ein Lachen stahl sich seine Kehle hoch. Er hätte ja mit viel gerechnet, aber nicht mit dieser Antwort. Irm hob kurz den Kopf und sah ihn an.

„Was erwartest du? Dass ich sage Also wirklich, Aatu, sie war dein Weibchen, wie konntest du sie nur grausam töten! oder Och, die arme, fehlgeleitete Seele. Dieser verfluchte Zauberer hat sie bestimmt verhext und sie ist ganz und gar unschuldig gestorben!? - Vergiss es. Die Schlampe wusste ganz genau, was sie dir angetan hat. Sie kann froh sein, dass wir sie nicht in die Finger bekommen haben!“, knurrte sie wütend. Aatu legte den Kopf schief und aus dem Lachen wurde ein liebevolles Lächeln. Sie verteidigte ihn gerade. Sein Herz begann, ein wenig schneller zu schlagen.

„Du hast doch noch gar nicht alles gehört“, wandte er sanft ein. Irm hob den Kopf und sah ihn wütend an.

„Was soll da noch sein? Sie hat dich mit Æftelbert betrogen, sich von ihm schwängern lassen und allen weißgemacht, es sei von dir. Und dann hat sie dich und ihr Rudel verraten. Hab ich was vergessen?“, spottete sie bissig. Aatu schüttelte den Kopf und holte zu einer Antwort Luft, als Irm ihm drohend mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze stupste.

„Es ist mir scheißegal, ob sie eigentlich eine total nette Werwölfin gewesen ist, mit der ich mich bestimmt gut verstanden hätte, oder was auch immer du mir sonst noch sagen willst, damit ich nicht so hart über sie rede! Sie hat ihre Familie betrogen und das reicht mir völlig aus. Mehr muss ich nicht über sie wissen!“

Sie hatte ihn eindeutig verhext, und zwar ganz ohne ihre Magie, nur durch ihr Irm-Sein, denn wieso sonst begann Aatus Nasenspitze zu kribbeln? Er schloss kurz die Augen.

„Ich wollte so etwas auch gar nicht sagen“, erwiderte er gerührt. Sie war so herrlich parteiisch und sie war so herrlich auf seiner Seite, ihm wurde warm ums Herz.

„Nein? Oh. - Sondern?“ Irm nahm ihren Finger wieder von Aatus Nase und legte die Hände in ihren Schoß.

„Dass ich mich nicht dafür schäme, dass ich ihr dabei so wehgetan habe. Ich bin zwar der Meinung, dass es nicht gerade meine glorreichste Tat war, aber ich schäme mich nicht dafür.“ Aatu blockierte mit seinem Zug einen Stein von Irm. Sie schnaubte belustigt und änderte ihre Spieltaktik.

„War’s so schlimm?“, hakte sie nach und nahm einen neuen Versuch in Angriff, drei ihrer Steine in eine Reihe zu bringen. Aatu schubste einen seiner Steine auf einen Knotenpunkt und zuckte mit den Schultern.

„Es war zumindest nicht nett“, wich er aus. Irm machte ein „Aha“ und im selben Atemzug ein triumphierendes „Ha!“ als sie eine Mühle gebildet hatte. Mit einem zufriedenen Grinsen stibitzte sie einen von Aatus Steinen vom Brett. Aatu stieß ein verdrossenes Knurren aus. Jetzt hatte er schon wieder nur noch fünf Steine auf dem Brett liegen, während Irm immer noch alle neun im Spiel hatte.

„Schummelst du?“, hakte er kritisch nach. Irm blähte entrüstet die Backen.

„Das hab ich gar nicht nötig! Ich hab einfach Glück im Spiel!“, entrüstete sie sich.

„Und warum hab ich dann trotzdem Pech in der Liebe?“, beklagte Aatu sich halbherzig.

„Immerhin verliere ich oft genug!“

Irm zuckte kurz zusammen.

„Soll ich sie für dich verhexen?“, bot sie selbstlos an und fügte in Gedanken noch einige unschöne Nebenwirkungen, die sie Aatus unglücklicher Liebe gleich mit anhexen würde, hinzu.

„Nein. Es soll echt sein“, wehrte er hastig ab und spürte, wie er rote Wangen bekam. Wie sie von Isabelle auf Pech in der Liebe kamen, war ihm zwar schleierhaft, aber es war passiert und jetzt brauchte er eine für sich plausible Ausrede, kurz das Zimmer verlassen zu können. Irm würde weiter nachhaken, garantiert und dafür brauchte er kurz Zeit für sich, um sich Ausflüchte einfallen zu lassen.

„Ich muss mal kurz austreten. - Wehe, du verschiebst die Steine!“, drohte er gespielt ernst und erhob sich vom Bett. Irm hob mit treuer Miene ihre rechte Hand und streckte Zeige- und Mittelfinger zum Schwur.

„Bei meiner Hexenkunst!“, deklarierte sie feierlich. Aatu schnaubte nur und huschte aus dem Zimmer. Irm blies die Backen auf und seufzte leise.

Wer könnte die Schlampe sein, in die Aatu sich verknallt hatte? Irm wackelte mit ihrer Nase. Es gab da einen Suchen-und-Finden-Zauber, bei dem man etwas oder jemanden für einen anderen suchen und finden konnte. Was benötigte sie dafür? Irm tippte sich nachdenklich mit dem linken Zeigefinger gegen die Lippen, während sie angestrengt nachdachte.

Viererlei Spinnennetze: Hatte sie.

Sieben Blüten vom roten Fingerhut: Hatte sie auch.

Etwas persönliches von dem, für den man suchte - auch wenn der davon nichts wusste. Irm sah sich hektisch um und entdeckte ein verlorenes Haar von Aatu. Sie steckte es hastig in einen genähten Kräutersack: Hatte sie.

Froschlaich, im besten Fall frisch: Sie hatte nur eingelegten von letztem Frühjahr, aber der tat’s bestimmt auch. Hoffte sie.

An den Rest konnte sie sich allerdings beim besten Willen nicht erinnern. Dann musste sie warten, bis sie wieder in ihr eigenes Zimmer ziehen durfte. Irm grunzte unschicklich. Sie konnte den Suchen-und-Finder-Zauber zwar so oder so nicht sofort zusammenbrauen, aber trotzdem nervte es sie, dass sie sich nicht mehr an alle Zutaten erinnern konnte.

Früher, als sie noch die selbsternannte und einzige Wanderhexe des Landes war, da hatte sie alle möglichen und unmöglichen Zaubersprüche im Kopf gehabt, aber jetzt, seit sie Rudelhexe war, vergaß sie immer öfter Zaubersprüche. Vor allem die, die sie kaum noch wirkte.

Irm kratzte an der Bettdecke herum.

Bis eben hatte sie Aatu noch so viel fragen wollen.

Wieso sein Bett mitten im Raum stand und nicht an einer Wand.

Wieso es keine Bilder in seinem Zimmer gab.

Wieso es nichts Persönliches, wie Bücher oder irgendein Sammelsurium in seinem Zimmer gab.

Wieso sein Bett mitten im Raum stand.

Wieso stand das Ding mitten im Zimmer? Kein normaler Mensch stellte sein Bett mitten ins Zimmer, egal wie groß es auch war! Irm warf sich herum und legte ihre Unterarme auf das Kopfteil des Bettes. Da standen das Bett in dem sie lag, ein klappriges Nachttischen, das durchgesessene, ziemlich unbequem aussehende Sofa, auf dem Aatu die letzten Nächte geschlafen hatte, und ein Kleiderschrank im Zimmer. Der Rest des großen Raumes war leer. Gähnend leer. Irm war sich sicher, dass es ein Echo geben würde, wenn sie laut rufen würde, so leer war es hier. Die Tapeten waren verblichen und in einem staubig-schmutzigen braun mit einem noch schwach erkennbaren Muster aus blumigen Ornamenten. Der Holzboden war verkratzt und sehnte sich dringend nach einem Schrubber. Das Fenster allerdings war sauber und bot einen freien Blick auf ihren Kräutergarten.

Bis eben hätte sie ihren linken Arm hergegeben, um noch ein wenig länger in Aatus Zimmer bleiben zu dürfen, doch jetzt wollte sie am Liebsten sofort wieder zurück in ihr eigenes kleines chaotisches Reich.

Irm stieß einen herzhaften Seufzer aus und versteckte sich unter der Bettdecke vor der großen bösen Welt.

 

Und während Irm leise an Liebeskummer litt und sich in ihrem Zimmer verschanzte und über ihren Zauberbüchern brütete, sich immer noch nicht sicher, ob sie nun Aatus Liebe mit einem Suchen-und-Finder-Zauber lokalisieren sollte, verstärkten die Werwölfe und Dorfbewohner die Mauer und harkten das frisch gefallene Laub zusammen. Flüchtlinge aus Matchits alter Markung baten um ein neues Heim, Werwölfe wurden rigoros abgelehnt, sie wollten keine Werwölfe unter sich haben, die erst vor einer Woche versucht hatten, sie zu töten, die Menschen durften fast alle bleiben. Die leeren Häuser wurden bezogen, Fensterläden gerichtet, Vorgärten gejätet.

Als Irm nach zwei Tagen stillen Leidens sich wieder aus ihrem Zimmer und der Burg wagte, fest entschlossen, sich niemals und von niemandem unterkriegen zu lassen, traf sie auf dem großen Marktplatz die beiden Zwillinge und Dallin, die eifrig den Boden mit riesigen Besen schrubbten. Neugierig und froh über eine Ablenkung von ihrem Leid trat sie näher.

„Will ich wissen, weshalb ihr hier den Marktplatz mit Seife schrubbt?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Seff unterbrach sein wildes Putzen. Er stellte den Besen auf, lehnte sich an den Stiel und grinse Irm breit an.

„In vier Tagen ist das Herbstfest. Morgen kommen deine Tante und Primus Arkos samt Gefolgschaft. Wir machen hier natürlich Großreine! Was denkst du denn?“, fragte er mit seinem breiten Grinsen. Irm verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf schief und wackelte mit der Nase. Wenn es nicht gerade Seff wäre, der das behaupten würde und wenn Dallin nicht lautlos vor sich hinmeckern würde, dann hätte sie es vielleicht geglaubt. - Vielleicht.

„Was habt ihr angestellt?“, wollte sie tadelnd wissen. Seff verdrehte die Augen und riss in einer dramatischen Geste die Arme in die Luft. Der Besenstiel landete klappernd auf dem Pflasterboden.

„Wieso glaubt eigentlich immer jeder gleich, dass wir etwas angestellt hätten?“, beklagte er sich theatralisch. Irm schnaubte. Ja, warum wohl?

Sie haben in der Halle die Fensterscheiben kaputt geschlagen, als sie mit T-Dreieinhalb Fußball gespielt haben, petzte Flöckchen hämisch, als sie leichtfüßig an ihnen vorbeitippelte, in ihrem kleinen Schnäuzchen trug sie einen kleinen Kranz mit Herbstblumen. Irm sah ihr nach, wie sie den Blumenkranz zu einem der neubezogenen Häuser brachte, und lachte auf. Seff schickte ihr wüste Beschimpfungen hinterher.

„Alte Petze!“, rief Velvel der Eishundedämonin beleidigt nach. Flöckchen ignorierte sie einfach.

„Nach dem zweiten eingeschossenen Fenster hab ich ihnen gedroht, dass sie den Marktplatz schrubben müssen, wenn das noch mal passieren sollte“.“ Rafe trug einen schweren Bund Holzscheite an Irm vorbei.

„Schön, dass es dir wieder besser geht“, fügte er mit einem sanften Lächeln hinzu. Irm schüttelte ungläubig den Kopf. Da kam sie mal eine Woche nicht unter die Leute und dann verpasste sie hier gleich das Wichtigste.

„Danke. - Ylva ist zu dir gezogen?“, fragte sie mit einem breiten Grinsen und folgte Rafe zum Feuerplatz. Der bekam rosa Ohren und nickte verlegen.

„Tja, dann wird sie wohl bleiben, was?“ Irm half Rafe beim Abladen und Aufschichten des Holzes.

„Ich hoffe es. Ich möchte sie gerne als meine Gefährtin.“ Rafe schenkte Irm einen völlig verliebten Blick. Irm schmunzelte. Bei Werwölfen lief das so wunderbar unkompliziert ab. Sie sahen sich, sie waren von einander angezogen, sie stellten fest, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte, sie kamen zusammen, sie zogen zusammen, sie blieben zusammen. In seltenen Fällen passierte es zwar auch, dass sie sich wieder trennten, aber die Erfolgschance für eine Beziehung auf Lebzeit lag bei Werwölfen bei Neunundneunzig Prozent.

„Dann solltest du mal anfangen, dir schlüssige Argumente einfallen zu lassen. Primus Arkos ist ein zäher Verhandlungsgegner“, schlug Irm vor.

„Und deine Tante?“, hakte Rafe nach. Irm sah ihn verwirrt an. Ihre Tante Estelle hatte in dieser Hinsicht nicht wirklich viel Mitspracherecht.

„Äh, ich denke, sie ist genauso zäh“, antwortete sie irritiert. Rafe nickte nachdenklich.

Pflück Estelle einen großen Strauß weißer Herbst-Calla, das sind ihre Lieblingsblumen, schlug Flöckchen vor, die mit einem neuen Herbstkranz im Mäulchen an ihnen vorbei zu einem der Häuser tippelte. Offensichtlich war sie Mitglied im örtlichen Dekorations-Komitee. Irm sah ihr belustigt nach und fragte sich, was ein Eishundedämon wohl dekorieren konnte. Außer Eiskristalle herbeizaubern.

„Zev und ich haben uns schon abgesprochen. Ich denke, unsere Chancen stehen recht gut.“ Rafe nahm seinen Blick von Flöckchen und lächelte Irm zuversichtlich an. Sie nickte aufmunternd.

„Ihr schafft das schon, da bin ich mir ziemlich sicher“, bestätigte sie. Ihr Blick fiel auf Aatu, der gemeinsam mit Zev einen riesigen Drehspieß auf den Platz trug. Irm tippte darauf, dass es wohl der für Menschenfleisch war. Sie verzog kurz das Gesicht.

„Geht ihr mit Primus Arkos auf die Jagd oder jagt ihr extra?“, fragte sie, ohne den Blick von den beiden zu nehmen, die geschäftig ihren Spieß positionierten. Rafe folgte ihrem Blick mit den Augen und grinste breit.

„Wir jagen mit unseren Gästen. Úlfur und Vukasin gehen gerade dem Gerücht nach, dass sich frische Menschen im westlichen Niemandsland angesiedelt haben. Ich denke, es werden welche sein, die nach Matchits Tod weggezogen sind und die wir nicht bei uns aufgenommen haben“, antwortete er mit seinem breiten Grinsen im Gesicht.

„So lange sie schmackhaft sind …“, wandte Irm gelassen ein. Rafe lachte leise. Auf der einen Seite wurde Irm grün wie ein Laubfrosch und übergab sich fast, wenn sie dabei zusehen musste, wie die Werwölfe Menschen fraßen, ob nun roh frisch vom Knochen oder gebraten vom Spieß, aber auf der anderen Seite nahm sie die Tatsache, dass sie Menschen jagten und fraßen gänzlich gelassen als gegeben hin. Verstand einer eine Irm, dachte er belustigt.

Menschen sind immer schmackhaft, meine liebe Irm, bemerkte Flöckchen gönnerhaft, als sie sie das dritte Mal passierte.

„Wo starrst du eigentlich die ganze Zeit über hin?“, hakte Rafe mit seinem breiten Grinsen nach. Irm dreht ihm den Kopf zu.

„Hm? - Ich muss wissen, wohin sie den Menschenspieß stellen. Ich will nicht versehentlich davon essen“, antwortete sie arglos, zeigte auf den aufgebauten Drehspieß und fragte sich, weshalb Rafe sie so dämlich angrinste. Rafes Grinsen bekam kurz eine leicht anstößige Note, dann hatte er sich wieder gefangen.

„Was anderes, Irmchen“, wechselte er das Thema. Irms Blick war tödlich.

„Hast du Todessehnsucht, oder was? Läuft es so schlecht mit Ylva?“, spottete ein an ihnen vorbeischrubbender Dallin boshaft und erntete einen strafenden Blick von Rafe.

„Putz und halt den Mund!“, herrschte er ihn an, dann ignorierte er Dallin und sah zu Irm.

„Bist du überhaupt damit einverstanden, dass wir Menschen von Matchit hier wohnen lassen?“

„Falls du Sorge hast, ich lasse meine Antipathie gegen den Kopflosen an denen aus, die mal unter seiner Fuchtel gestanden haben, keine Bange, das werd ich nicht. Falls du Sorge hast, ich traue dir nicht zu, genug Menschenkenntnis zu haben, auch keine Bange, ich vertraue dir in dieser Hinsicht blind. Falls du Sorge hast, ich könnte sie rausschmeißen, sobald ich auch nur das leiseste Gefühl habe, sie wollen uns und unserem Dorf schaden, erst recht keine Bange, ich schmeiß sie nicht raus, ich töte sie gleich und lass ihre Leichen verschwinden“, antwortete sie mit ernster Miene. Rafe war sich nicht sicher, meinte sie es jetzt ernst oder nahm sie ihn mal wieder auf den Arm. Verflucht! Er sollte solche Themen nicht mit ihr besprechen, wenn sie allein waren!

„Aatu!“, brüllte er seinem Bruder zu, der sich mit Zev daran machte, den nächsten Drehspieß zu holen. Sein Bruder bremste augenblicklich ab und sah Rafe an.

„Komm her! Ich brauch dich hier!“

Aatu trottete gehorsam näher und stellte sich mit fragendem Blick neben Rafe.

„Hilf mir!“, verlangte Rafe von ihm, dann sah er zu Irm.

„Sag das noch mal!“

Irm verdrehte die Augen.

„Ich habe Rafe gerade gesagt, falls er Sorge hat, dass ich meine Antipathie gegen Matchit an seinen Menschen, die jetzt bei uns leben, auslasse, braucht er keine Angst haben, das werde ich nicht. Falls er Sorge hat, dass ich ihm nicht zutraue, genug Menschenkenntnis zu haben, soll er sich auch nicht sorgen, ich vertraue seinem Urteil. Falls er Sorge hat, ich könnte Matchits Ex-Menschen rausschmeißen, sobald ich auch nur das leiseste Gefühl habe, sie wollen uns und unserem Dorf schaden, soll er sich erst recht keinen Kopf machen, ich hab ihm versichert, dass ich sie nicht rausschmeiße, sondern sie gleich töten und ihre Leichen verschwinden lassen werde“, wiederholte sie brav und sah Aatu treu an.

„Verarscht die mich mal wieder?“, wollte Rafe von seinem Bruder wissen. Aatu riss seinen Blick von Irm.

„Irgendwann werde ich dir vielleicht einmal zeigen, woran du erkennen kannst, wann sie so etwas ernst meint und wann nicht“, versprach er seinem älteren Bruder amüsiert. Rafes Blick verdüsterte sich schlagartig. Irgendwann klang verdammt nach, vielleicht, eventuell, wenn mich die Muse oder die Gnade beißt.

„Es mag dich in deinen Grundfesten erschüttern, dass ich das jetzt sage, aber: Irm würde die Welt in die Luft jagen, wenn es sein müsste, um uns zu schützen.“ Aatu warf ihr einen liebevollen Blick zu. Rafe erschauderte kurz, dann breitete sich eine wohlige Wärme in seiner Magengegend aus. Aatu beugte sich verschwörerisch zu seinem Ohr.

„Ich will gar nicht wissen, was sie und ihre Hausdämonen anstellen, sollten mal unsere Welpen in ernsthafter Gefahr sein“, flüsterte er verschwörerisch.

Die grausamsten Qualen, die du dir ausdenken kannst, sind nichts im Vergleich zu dem, was wir denen antun werden, die es auch nur wagen sollten, einem unserer Jungen auch nur ein Härchen zu krümmen!

Flöckchen, tippelte gelassen zwischen ihnen durch.

„Was bist du heute? Unser persönlicher Running Gag, oder was?“, wollte Irm leicht entrüstet wissen und stemmte die Hände in die Hüften.

Was kann ich denn dafür, dass ihr eure Probleme mitten auf dem Marktplatz ausdiskutiert? Ich arbeite hier!, gab Flöckchen schnippisch zurück, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Irm schnaubte.

„He! Ich arbeite hier auch! Ich wurde nur herbeizitiert, ja!“, empörte sich Aatu. Flöckchen grunzte nur und verschwand um eine Ecke. Aatu sah fassungslos erst zu Irm und dann zu Rafe.

„Ich glaub’s ja wohl nicht. Haben diese Dämonen eigentlich keinen Respekt mehr?“ Er schüttelte entgeistert den Kopf.

Irm kicherte leise.

18. Von hysterischen Tanten, Hexensäcken und Idioten

 

Estelle war schon aus dem Vehikel draußen, als dieses noch in den Hof rollte. Primus Arkos stieß einen leisen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Frauen waren immer gleich so hysterisch.

„Wo ist Irm?“, herrschte sie auch schon prompt die erstbeste arme Seele an, die ihr über den Weg lief. - Es war ein zehnjähriger Junge, das arme Ding, und der verfiel prompt in Schockstarre.

„Wo ist meine Nichte?“

Primus Arkos wartete, bis der Fahrer das Vehikel geparkt hatte, dann stieg er aus und legte Estelle beruhigend die Hand auf die Schultern. Der kleine Junge sah zu, dass er so schnell er konnte von diesem seltsamen Weibsstück wegkam. Sie war in ihrer Verrücktheit beängstigend.

„Meine Schönheit“, begann er sanft. Estelle wirbelte zu ihm herum und in ihren Augen loderte wortwörtlich ein Feuer.

„Wenn du nicht willst, dass ich dich mit Wasser übergieße, dann lösch deine schönen Flämmchen, meine Schönheit. Deiner Nichte wird es bestimmt gut gehen, sonst hätte uns Rafe schon längst darüber informiert.“ Primus Arkos streichelte ihr über die glatte Wange und die Flammen in Estelles Augen erloschen.

„Braves Mädchen“, lobte er und zuckte im nächsten Moment zusammen, als ihm ein stechender Schmerz durch den Ischias-Nerv fuhr. Er schürzte kurz die Lippen, schluckte mehrmals und richtete sich mit stoischer Miene auf.

„Ich bin kein Köter, dem du den Kopf tätscheln kannst, Arkos!“, zischte Estelle wütend. Primus Arkos stieß ein gereiztes Zischen aus.

 

Rafe erkannte zwar immer noch nicht, wann und ob Irm ihn veräppelte, aber er erkannte sofort, wenn ein Werwolf dank eines Zauberspruches Schmerzen litt. Er lächelte leicht zynisch und erinnerte sich an den Kaktus, den Irm ihm an den Rücken gehext hatte. Manchmal glaubte er, immer noch seine Stacheln im Rücken zu spüren. Er würde bei Gelegenheit Primus Arkos fragen, womit der Estelle eben verärgert hatte.

Irm war eindeutig die Nichte ihrer Tante.

„Estelle! Primus Arkos!“, rief er freudig und trat die Eingangsstufen hinunter.

„Ihr seit fr…“

„Wo ist meine Nichte?“, unterbrach Estelle in gänzlich undamenhaft. Rafe schnaubte kurz und zeigte dann mit seinem Finger hinter sich ins Innere der Burg.

„Drin“, sagte er resigniert, dann wurde er von dieser wunderschönen, eleganten, gut situierten und äußerst manierlichen Hexentante grob beiseite geschubst und landete beinahe auf der Nase.

Eindeutig die Nichte ihrer Tante, stellte er bissig fest, als er sich wieder aufrappelte. Primus Arkos ging ihm dabei äußerst diskret zur Hand.

„Es tut mir leid, sie ist außer sich vor Sorge. Als sie von Matchits Angriff gehört hat, war sie nicht mehr zu Halten. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie die Vehikel verhext oder den Irrsinn gewagt, sich selbst herzuteleportieren.“ Primus Arkos schüttelte leicht den Kopf.

„Sie neigt ein wenig zur Impulsivität“, fügte er entschuldigend hinzu. Rafe schnaubte.

„Ich teile mein Heim mit ihrer Nichte, Primus Arkos. Erzähl mir ja nichts von Impulsivität!“ Er strich sich sein Hemd glatt. Die Phantomkaktusstacheln waren kurz präsent wie noch nie.

„Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Primus Arkos. Wie war eure Fahrt?“, fragte er zuvorkommend. Primus Arkos lachte auf.

„Möchtest du die Wahrheit hören oder soll ich dich der Höflichkeit halber belügen?“

 

„Irm? Oh, bei allen Höllentoren, du lebst!“

Irm, die gerade dabei war, T-Dreieinhalbs Sprung in der Windschutzscheibe zu kitten, drehte sich erstaunt um. Der tapfere Transporterbus hatte nach dem Kampf ziemlich ramponiert ausgesehen und sich vehement geweigert, seine Beulen und Dellen zu glätten, bis Irm sie gesehen und dementsprechend gewürdigt hatte.

„Tante Estelle?“, schaffte sie noch zu fragen, dann hatte ihre Tante sie erreicht und in eine schraubstockartige Umarmung gezogen.

„Tan-Au! Tan-Tante Est-Aua!-Estelle! Aua, du tust mir weh! Ich hab eine verletzte Schulter!“, rief Irm panisch und wand sich wie ein Aal in Estelles Klammergriff. Ihre Tante lockerte diesen nur minimalst, während sie Irm mit Küssen überschüttete. Irm hörte irgendwo Seff leise Kichern.

„Tante Estelle! Du blamierst mich!“, zischte Irm leise.

„Papperlapapp! Wie geht es dir? Ich habe gehört, du wurdest von ihm verletzt? Wie konnte das geschehen, ihr habt Hexensäcke ausgelegt! Wieso muss ich das von einem jämmerlichen Nachrichtenvogel erfahren und nicht von einem Kurier? Um der Götter Seelen Willen, was hat dieser, dieser, dieser, was hat er mit T-Dreieinhalb gemacht? Wo sind Derne und Flöckchen? Warum haben sie dich nicht beschützt? Wurde Aatu verletzt? Und wieso wohnt dein Vehikel in der Burg?“, rasselte Estelle panisch herunter, während sie ihre Nichte einer halben Leibesvisitation unterzog.

„Es geht mir gut, mich hat ein Werwolf angesprungen und ich hab mir den Kopf beim Landen angeschlagen, der Blitz, den Matchit auf mich geschleudert hat, war harmlos, ja, wir haben Hexensäcke, aber Ylva und ich haben den Ring unterbrochen, weil Spatzen die Säcke zerrissen haben und wir sie eben an diesem Tag flicken wollten, als Matchit der Kopflose uns angegriffen hat. Wir können uns noch keine Kuriere leisten, zumindest nicht die guten, schnellen, er hat mit T-Dreieinhalb gar nichts gemacht, T-Dreieinhalb wurde verletzt, als er mitgekämpft hat und er war gut, Tante Estelle, du hättest ihn sehen müssen, Derne und Flöckchen sind im Wald unterwegs und verscheuchen die restlichen Werwölfe aus Matchits Rudel, die nicht freiwillige gehen wollen, sie haben die Dorfbewohner beschützt, das war wichtiger, als ich.“ Irm holte tief Luft.

„Nein, Aatu wurde nicht verletzt“, fuhr sie fort und fragte sich, weshalb ihre Tante das eigentlich interessierte.

„Und warum mein Vehikel jetzt in der Burg wohnt, statt in seinem Unterstand, das solltest du Zev fragen, das war seine Idee. - Hattet ihr eine gute Fahrt? Wie geht es Primus Arkos? Braucht er Kopfschmerzkräuter? Ist dieser Blödwolf von Primus Raulf auch mit dabei? Habt ihr schon ausgeladen oder braucht ihr Hilfe? Möchtest du erst einen Rundgang im Dorf oder erst in der Burg machen?“, schoss Irm zurück und auf ihrem Gesicht erschien ein breites Grinsen. Estelle zog pikiert die Nase hoch.

„Hör auf, dich über mich lustig zu machen!“, fuhr sie ihre Nichte beleidigt an. Irm schlang ihre Arme um die Taille ihre Tante und schmiegte sich an sie.

„Mach dir keine Sorgen, Tante Estelle. Es geht uns allen gut. Wir sind noch alle ganz und am Leben. - Im Gegensatz zu Matchit.“ Sie kicherte hämisch.

„Es hätte euch wissen die Götter was geschehen können. Oh, Irm, ich war beinahe wahnsinnig vor Sorge!“ Estelle gab ihr einen sanften Kuss auf den Kopf.

„Nur beinahe?“, spottete Primus Arkos, der mit seinem und Estelles Gepäck beladen in die Burg kam. Im nächsten Moment quiekte er erschrocken auf, als er vom Boden abhob und wild durchgeschüttelt wurde.

Aatu, der gerade mit Vukasin die Möbel um den Kamin neu anrichtete, stieß Töne aus, die zwischen Lachen, Grunzen und Schnauben schwankten. Rafe warf ihm einen bösen Blick zu, man lachte seinen Besuch nicht aus!, und Aatu verstummt schlagartig.

Primus Arkos landete unsanft wieder auf dem Boden der Burg, als Estelle von ihrer Nichte abließ und zu Aatu herumschnellte.

„Aatu!“, rief sie erfreut aus und eilte auf ihn zu. Aatu zuckte erschrocken zusammen. Der Blick, den er der auf ihn zurauschenden Estelle warf, war am besten mit einem panischen Kaninchen zu vergleichen. Er wurde in eine feste Umarmung gerissen und abgeküsst.

„Es geht dir gut“, flüsterte Estelle nicht weniger erleichtert. Irm fragte sich kurz, ob ihre Tante sich auf halbe Strecke zu ihnen den Kopf angeschlagen hatte. Weshalb in drei Höllenteufels Namen sorgte sie sich so übertrieben um Aatu? Irm stemmte die Hände in die Hüften, runzelte die Stirn und schürzte nachdenklich die Lippen. Ob Estelle und Aatu …? Kurz flammte bittere Eifersucht in Irm hoch, dann schalt sie sich eine Närrin. Ihre Tante war definitiv mit Primus Arkos zusammen, dessen war sie sich zu hundert Prozent sicher, immer hin hatte sie die beiden bei der Versammlung sehr genau beobachtet. Vielleicht verwechselte Estelle ja auch Aatu mit Rafe und glaubte, Ylva wäre mit ihm zusammen. Irm schüttelte den Kopf und beschloss, dass es ihr egal war, was im Kopf ihrer Tante vor sich ging. Sie hatten hier größere Probleme.

Ihr Besuch war einen Tag zu früh dran, sie waren noch alle mitten in den Vorbereitungen und dementsprechend sah die Burg aus, als ob einer von Irms Feuerbällen in ihr explodiert wäre. Irm ließ unauffällig ihre Hand kreisen und sammelte so den noch nicht weggewischten Staub von Boden und Möbeln zusammen. Die doch recht ansehnliche Staubkugel, die dadurch entstand, quetschte sich eilig den Kamin nach oben. Es ertönte ein lautes Ploppen, als der zusammengehexte Schmutz den Kamin durch die Öffnung am Dach verließ und explodierte. Vereinzelte Staubflocken rieselten das Rohr hinunter und landeten in der kalten Asche vom Vortag. Irm ignorierte Estelles fragenden Blick und schnappte sich hastig einen von Rafe liegengelassenen angenagten Knochen, um ihn in ihrer Rockfalte zu verstecken.

„Es tut uns leid, dass es hier etwas … chaotisch aussieht, wir haben erst morgen mit euch gerechnet und sind noch mitten in den Vorbereitungen …“, versuchte Rafe zu erklären. Primus Arkos holte zu einer Antwort Luft, als ein Freudenschrei ihn unterbrach.

„Onkel!“ Ylva flog regelrecht die Treppe nach unten und prallte gegen Primus Arkos‘ Brust. Er ächzte leise.

„Ihr seid ja viel zu früh da! Wir haben erst morgen mit euch gerechnet!“ Ylva überschüttete ihren Onkel mit herzlichen Küssen.

„Du hast dich eindeutig hier eingelebt, meine liebe Nichte“, bemerkte er leidend. Ylva war schon genauso ungestüm wie Irm. Etwas umständlich versuchte er, ihre Umarmung zu erwidern, und scheiterte an den Koffern, die er immer noch trug.

Rafe erinnerte sich wieder an seine Erziehung und griff nach einigen der Koffer, die Primus Arkos immer noch umklammert hielt, als hinge sein Leben davon ab.

„Geht mir ja vorsichtig damit um!“, fauchte Estelle ihn drohend an. „Da sind empfindliche Kräutermischungen drin!“

Rafe nickte artig und marschierte mit den Gepäckstücken in den Händen zur Treppe.

„Aye-Aye, Ma’am“, versprach er galant, „ich werde deine Koffer wie rohe Eier behandeln. Ich bin oben und bringe das Zeug ins Gästezimmer.“

 

Die nächsten vier Stunden herrschte Hektik in der Wolfsburg.

Nicht nur, dass Estelle die ganze Gesellschaft einen Tag zu früh hatte aufschlagen lassen, während sie noch alle damit beschäftigt waren die Burg vorzeigbar zu machen, zwei Stunden nach der Ankunft des halben Süd-West-Wald-Rudels kamen der Rudelanführer und acht seiner engsten Getreuen von Matchits ehemaligem Rudel aus dem Grauwald und baten demütig vor dem Tor um Einlass.

Irm stand mit verschränkten Armen zwischen Rafe und Aatu und blitzte den armen Kerl, der vor ihnen auf dem Boden kniete und den Kopf gesenkt hielt, böse an.

„Wir möchten uns entschuldigen. Für den Angriff auf euer Heim, für die Schäden, die wir damit verursacht haben. Und wir möchten uns bei euch bedanken, dass ihr uns von Matchit befreit habt“, sagte der Werwolf untertänig ohne den Blick zu heben.

„Er hatte mich lange Jahre unter einem Bann gehalten und ich war ihm willenlos ausgeliefert. Durch seinen Tod bin ich endlich wieder frei. Ich hätte niemals zugelassen, dass er so etwas tut.“

Ylva schnalzte laut mit der Zunge und die Werwölfe vom Grauwald zuckten erschrocken zusammen. Davon, dass sie eigentlich ein stolzes und starkes Rudel waren, war im Moment nicht viel zu sehen.

„Verfluchter Bastard!“, wetterte Estelle los. Sie raffte ihren langen Rock und marschierte mit ausladenden Schritten die Eingangsstufen hinunter. Mit verkniffener Miene beugte sie sich zum Rudelanführer und schnupperte an ihm.

„Oh, dieser drei Mal verfluchte Bastard! In der tiefsten Hölle aller Höllen soll er schmoren!“

„Es war ein Zombie-Zauber nehme ich an?“, tippte Irm und legte den Kopf schief. Sie hätte Matchit zwar mit etwas anderem als Bastard betitelt, aber sie war auch nicht ihre Tante. Die bewahrte selbst beim Fluchen eine gewisse Contenance.

„Verstärkt mit Eisenkraut, Blutwurzel und Nesselsud!“, stimmte Estelle aufgebracht zu.

„Sie stinken immer noch danach, als ob sie erst gestern darin gebadet worden wären.“

„Das erklärt, weshalb er nicht mit dir zur Versammlung gekommen ist, sondern mit deinem Sohn“, wandte Primus Arkos nachdenklich ein. Der Werwolf stieß einen bitteren Ton aus.

„Er und Matchit bliesen in dieser Hinsicht ins selbe Horn“, sagte er und zu der Bitterkeit gesellte sich eine traurige Note.

„Steh auf, Uri“, bat Rafe sanft und der Werwolf erhob sich zögernd.

„Benötigt ihr Unterstützung?“, wollte Rafe wissen. Uri lachte überrascht auf.

„Mein Rudel greift euch an und du fragst mich, ob du mir helfen kannst?“ Er schüttelte den Kopf.

„Nein, vielen Dank, Rafe. Mit allem, was jetzt noch kommen mag, müssen wir selbst fertig werden“, verneinte er traurig.

„Bitte, nehmt das hier als Entschuldigung an. Ich weiß, es macht den Angriff nicht ungeschehen und es ist auch nicht viel, aber es ist alles, was wir noch haben.“ Uri machte eine Handbewegung und zwei seiner Werwölfe kamen mit kleinen Kisten zu ihm. Uri öffnete die Deckel. Sie waren gefüllt mit Geld und Edelsteinen. Rafe seufzte leise.

„Das ist alles, was euch von eurem Wohlstand noch geblieben ist?“, hakte er nach. Uri lachte wieder bitter.

„Offensichtlich waren weder Matchit noch mein Sohn sonderlich sparsam. Wir haben keinen Wohlstand mehr. Die Zeiten, in denen das Grauwald-Rudel reich war, sind vorbei.“

Irm kniff nachdenklich die Augen zusammen. Uri war ein gebrochener Mann. Verraten vom eigenen Sohn und seinem Rudelzauberer. Sie warf einen kurzen Blick auf Aatu, immerhin war das ja wieder eine Bestätigung seiner eigenen Überzeugung, nämlich, dass man Hexen und Zauberern nicht trauen konnte, doch sie konnte nichts in seinem Blick lesen, was darauf schließen lassen könnte, dass er so etwas dachte. Stattdessen sah er zu ihr und lächelte kurz.

„Irm, Rafe, kann ich euch kurz sprechen?“, bat er ernst. Irm und Rafe nickten beide und traten mit Aatu in eine ruhige Ecke.

„Gib ihnen unsere Hexensäcke“, schlug er vor. Rafe blinzelte ungläubig. Er sollte die Hexensäcke hergeben? Was war nur in letzter Zeit mit seinem Bruder los?

„Ist dir was auf den Kopf gefallen?“, fragte er statt einer Antwort. Irm biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Aatu verdrehte genervt die Augen.

„Wir brauchen sie nicht mehr. Rafe, wir haben in Irm eine Rudelhexe, die uns genug magischen Beistand und Schutz bietet. Und wir haben Derne und Flöckchen. Uri und sein Rudel hat nichts mehr. Kein Ansehen, kein Geld. Es geht ihnen so wie uns vor fünfzig Jahren!“, beschwor er Rafe. Irm schnaubte herablassend und die beiden Brüder sahen sie irritiert an.

„Also bitte, was wird es ihnen so gehen wie euch!“, widersprach sie zornig.

„Weder wurden sie an ein anderes Rudel verkauft, noch wurde einer von seiner Gefährtin betrogen und belogen!“

„Sie wurden verhext, das ist ungefähr dasselbe!“, bemerkte Aatu bissig.

„Und deshalb willst du ihnen Hexensäcke geben, die niemand mehr zerstören kann?“, hakte Irm schnippisch nach.

„Naja, bis auf Spatzen. Die schaffen das“, wandte Rafe ein und erntete einen bösen Blick von beiden. Er grinste schief.

„Warum willst du ihnen die Säcke nicht geben, Irm?“, wollte er sanft wissen. Irm verschränkte die Arme vor der Brust. Sie warf einen kurzen Blick auf Uri, der geduldig vor der Treppe auf ihre Rückkehr wartete.

„Nicht jeder ist Æftelbert. Und nicht jeder ist Matchit.“ Aatu legte ihr eine Hand auf den Ellbogen. „Und es ist noch gar nicht so lange her, dass du mir genau das gezeigt hast. Sie brauchen die Chance, einen neuen Rudelzauberer oder eine neue Rudelhexe zu finden, die genauso in ihr Rudel gehören, wie du zu uns. Und die Hexensäcke können ihnen dabei helfen. Schon vergessen? Sie schützen nur vor ungewollter Magie. Wenn da ein magisches Menschlein ankommt, das zu ihnen gehört, dann lassen die Hexensäcke die Magie zu und wenn da so etwas ankommt, wie Matchit bei uns, dann ist es machtlos gegen die Säcke. Wahre Größe zeigt sich im Willen zum Vergeben.“ Aatus Lächeln wurde liebevoll. Rafe grinste verschmitzt. Wenn das mal keine Liebeserklärung gewesen war, dann fraß er einen Besen. Ach, was, dann fraß er alle Besen!

Irm haderte noch etwas und dachte angestrengt nach.

„Ich weiß nicht, ob man Hexensäcke einfach so weiterreichen kann, wie ein Seil oder so“, sagte sie nach einer Weile. Rafe musste gestehen, er wusste es auch nicht. Was er allerdings wusste, war, dass Aatu immer noch Irms Ellbogen festhielt. Er räusperte sich verhalten.

„Ich frag mal Estelle.“ Rafe ging zu Irms Tante und steckte mit ihr die Köpfe zusammen.

„Du meinst das wirklich so, wie du gesagt hast?“, hakte Irm vorsichtig nach. Aatu nickte.

„Wir haben dich. Da brauchen wir die Säcke nicht mehr. Und wir haben T-Dreieinhalb. Und Derne und Flöckchen. Und du bist nicht wie Æftelbert und Isabelle. Du verrätst mich nicht“, stimmte er leise zu. Irm nickte.

„Nein. Bei meinem Leben“, schwor sie feierlich. Rafe kam wieder zurück und stellte sich nah zu den beiden.

„Estelle meinte, dass es funktionieren könnte. Und sie findet deine Idee sehr edelmütig, Bruder“, sagte er leise und stellte fest, dass er die beiden bei einem sehr wichtigen Moment gestört hatte. Er verfluchte die Momente, die immer im falschen Moment zu kommen schienen. Aatu ließ Irms Ellbogen los, Rafe hätte ihn dafür am Liebsten in den Hintern getreten. Wieso ließ der denn jetzt Irm los? Er hatte sie weiter festzuhalten! Er knurrte kurz und ignorierte die fragenden Blicke der beiden.

„Gut. Dann ist es also beschlossen?“, hakte Aatu nach. Irm wackelte mit der Nase.

„Nur geliehen! Bis sie ihre eigene Heimsuchung gefunden haben!“ Sie gab Aatu einen Knuff in den Magen und lachte leise. Aatus Blick wurde kurz entrüstet, dann schubste er sie einfach.

„Kinder!“, mahnte Rafe gespielt streng. „Reißt euch zusammen. Nur geliehen. Aye, meine Lieblingshexe.“

Aatu und Irm mussten schwer an sich halten, auf dem Rückweg nicht miteinander herumzualbern, aber sie schafften es. Rafe trat vor Uri und sah ihn ernst an.

„Eine Kiste nehmen wir an. Die andere braucht ihr selber. Wenn ihr möchtet, würden wir euch unsere Hexensäcke zum Schutz anbieten, bis ihr einen neuen geeigneten Rudelzauberer oder eine neue Rudelhexe habt. Wir benötigen sie nicht mehr. Wir sind hier sicher“, bot er dem Rudelanführer des Grauwald-Rudels an. Uri blinzelte überrascht und auch in seinem eigenen Rudel hörte Rafe erstauntes Raunen.

Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich gut an, zu wissen, dass sie diese vermaledeiten Säcke nicht mehr benötigen würden, es fühlte sich so verdammt gut an, zu wissen, dass sie Freunde hatten, die sie mit ihrem Leben beschützen würden.

Rafe korrigierte sich: nein, keine Freunde, neue Familienmitglieder. Er unterdrückte ein zufriedenes Strahlen und zwang sich stattdessen ein offenes Lächeln ins Gesicht, welches er Uri vor sich schenkte.

„Das … das können wir nicht annehmen …“, stammelte Uri beinahe erschrocken. Irm seufzte herzhaft und trat vor.

„Uri. Nimm die verdammen Säcke. Sobald es sich herumspricht, dass ihr ohne magischen Beistand seid, rennen sie euch die Bude ein! Rafe weiß, wovon er spricht, immerhin ging es ihm lange genug auch so. Nehmt die Säcke, verteilt sie und hofft darauf, dass so schnell wie möglich eine Hexe oder ein Zauberer zu euch kommt, bei dem sie versagen, denn die oder der gehört dann zu euch“, beschwor sie ihn ernst.

„Und wenn ihr durch die Säcke geschützt seid, könnt ihr euch in Ruhe darum kümmern, die Katastrophe, die Matchit und dein Sohn über euch gebracht haben, zu beseitigen. - Ich würde euch nur raten, die Spatzen wegzuscheuchen. Die können die Dinge sehr wohl kaputtmachen“, fügte sie mit einem schelmischen Grinsen hinzu.

Auf dem Gesicht des Werwolfs erschien ein erleichtertes Lächeln. Uri verneigte sich tief vor den Wilden Werwölfen.

„Ich danke euch. Ich danke euch für eure Gnade und ich danke euch, dass ihr uns helft. - Seid euch unserer Unterstützung in allen Belangen, egal um was es sich auch handeln mag, gewiss“, versprach er feierlich.

„Leiste keine Schwüre, die du nicht zu halten gedenkst, Uri vom Grauwald“, bemerkte Primus Arkos hart.

„Du möchtest nicht zwei Rudel als Feinde haben.“

„Niemals, Primus Arkos, niemals!“, beteuerte Uri ernst. Irm grinste breit und stupste Rafe mit der Schulter an.

„Wie’s aussieht, haben wir neue Freunde“, meinte sie zufrieden.

 

Uri und seine Werwölfe bekamen von Rafe die Erlaubnis, in T-Dreieinhalbs altem Unterschlupf zu übernachten und anstatt einfach nur dort ihr Lager aufzuschlagen und auf den nächsten Morgen zu warten, halfen die neun ungebetenen Gäste ungefragt dabei, die Burg und den Hof aufzuräumen.

Als Irm am nächsten Morgen zum Burgtor schlenderte, hing Aatu im Gebälk und holte die beiden darin versteckten Hexensäcke hervor.

„Eine Ära geht zu Ende“, witzelte sie und legte den Kopf schief. Aatu sah sie an.

„Es ist noch kein Jahr her, dass ich dort oben hing und mich vor Matchit versteckt habe“, fuhr sie fort. Aatu warf ihr den Hexensack zu, den sie geschickt auffing und sprang vom Balken. Leichtfüßig landete er vor ihr.

„Und ein lebendiger T-Dreieinhalb mich fast einen Herzinfarkt bekommen ließ. Und ein Flerne zwei Werwölfe vereiste“, fuhr er mit einem sanften Lächeln fort. Irm nickte zustimmend.

„Wollen wir die beiden schmelzen lassen?“, bat sie ernst. Aatu drehte sich zu den beiden Eisskulpturen, die seid dem letzten Frühjahr vor dem Tor Spalier standen.

„Ich denke, das ist eine gute Idee. Wir brauchen sie nicht mehr. Wir haben dich, du bist abschreckender als jede Eisskulptur im Sommer“, stimmte er zu. Irm schnappte laut nach Luft und im nächsten Moment wurde Aatu in die Luft geschleudert. Er schrie erschrocken auf und ruderte wild mit den Armen, um einen Halt zu finden. Stattdessen schlug er sich den Kopf an der Mauer an.

„Irm!“, brüllte er aufgebracht, als er bemerkte, dass er immer weiter nach oben stieg, und krallte sich hektisch am Mauerwerk fest.

„Lass mich sofort wieder runter! Irm! Irm! IRM!

Irm drehte sich auf dem Absatz um, schnaubte und hinter ihr landete ein Werwolf mit einem lauten Uff! auf den Holzplanken des Wehrgangs.

„Oh, na warte!“

Tja, das hatte er nun davon, dass er sie abschreckend genannt hatte, Irm stieß ein triumphierendes Lachen aus und dann klatschte etwas hartes, kleines und rundes gegen ihren Hinterkopf.

„Au-a!“ Irm wirbelte herum und sah Aatu, der mit einem siegessicheren Grinsen einen kleinen Lederball in seiner Hand hielt. Dessen Zwilling kullerte über den Hof.

„Das bereust du!“, knurrte sie mit zusammengekniffenen Augen. Aatu lachte nur hämisch. Er holte aus und der zweite Lederball klatschte schmerzhaft gegen Irms gesunde Schulter.

„Und wie du das bereust!“ Irm rannte los. Neben ihr erschienen zwei kleine Windhosen. Aatu stieß ein protestierendes Lachen aus, sie hexte, er konnte das nicht, das war Betrug! Er hechtete im letzten Moment vom Wehrgang und die erste Windhose verpuffte an der Brüstung. Er knurrte triumphierend. Mittlerweile war er kein Anfänger mehr, er wusste jetzt, wie er Irms Zaubereien entgehen konnte. Zumindest meistens. Behände kletterte er über die Mauer zurück in den Burghof, schlug einen Bogen und schlich sich lautlos von hinten an Irm heran. In seiner Hand hielt er einen weiteren Lederball.

 

Rafe stand am frisch eingesetzten Fenster und beobachtete, wie sein Bruder sich an Irm heranschlich, auf seinem Gesicht lag ein Grinsen, in seinen Augen leuchtete genau dasselbe Funkeln, wie bei den spielerischen Jagden. Rafe lächelte glücklich. Sein Bruder hatte Isabelle und Æftelbert offensichtlich überwunden.

„Arkos sagte mir, dass du mit mir reden möchtest?“, sagte Estelle leise neben ihm. Rafe wandte ihr kurz den Kopf zu und nickte.

„Ja. Ich möchte dich im Namen meines Bruders und als sein Rudelanführer etwas fragen“, stimmte er zu. Estelle machte eine auffordernde Geste.

„Hat er deine Zustimmung, deine Nichte als seine Gefährtin zu nehmen?“

Estelle runzelte kurz die Stirn. Normalerweise war der Antragsteller dabei, wenn der Rudelanführer diese Frage stellte. Sie legte kurz den Kopf schief und schürzte die Lippen. Ihre Augen funkelten amüsiert.

„Sollte dein Bruder nicht dabei sein, wenn du mir diese Frage stellst, Rafe von den Wilden Werwölfen?“, hakte sie lächelnd nach. Rafe sah sie ertappt an.

„Er weiß es doch, oder?“

Rafe grinste sehr breit und sehr unschuldig.

„Ich nehme an, das heißt nein“, bemerkte Estelle belustig. Rafe zuckte nur vage mit den Schultern.

„Und weshalb fragst du dann?“

„Prophylaktisch?“, schlug er mit seinem unschuldigen Grinsen vor. Estelle lachte leise auf. Sie hatte sich am Vorabend lange mit Zev unterhalten und der hatte ihr so einiges über ihre Nichte und vor allem dieses von Angst und Unsicherheit geprägtes umeinander herumschleichen von ihr und Aatu erzählt. Irgendwann hatte sich Derne ungefragt dazugesellt und ihr von der Idee der Zwillinge, Irm während ihrer Genesungszeit zu Aatu ins Zimmer zu packen, um Ylvas Schlaf nicht zu stören, erzählt. Und da Derne der Meinung war, Diskretion sei etwas, was ihn nicht belangte und er nicht benötigte, plauderte er gleich noch fröhlich aus, dass Ylva schon in der zweiten Nacht nach Matchits Angriff zu Rafe ins Zimmer gezogen war. Er gönnte Estelle ein nicht einmal ansatzweise erstauntes „Oh!“ und fuhr dann in bester Klatschweiber-Manier fort, über Aatu und Irm und deren fruchtloses Pseudo-Balzverhalten zu tratschen. Zev warf ab und an noch einige Anmerkungen ein, die Estelle vor allem eines verdeutlichten: Ohne die dementsprechenden Schubser in die richtige Richtung würden die beiden noch Jahre um sich herumschleichen wie hungrige Wölfe. Ob sie allerdings Dernes Einwand, dass die beiden Zwillinge Velvel und Seff sich um die Sache kümmern wollten, sie beruhigen sollte, wagte sie anzuzweifeln. Dafür schlugen die beiden zu sehr nach ihrem Vater. Der hatte Zeit seines Lebens auch immer nur Unsinn und Streiche in seinem Kopf gehabt.

„Falls sie es irgendwann einmal schaffen sollten, zusammen zu kommen, möchtest du dir sicher sein, dass ich dieser Verbindung mein Einverständnis gebe“, seufzte Estelle leise.

Rafe nickte zustimmend.

„Selbst wenn ich dagegen wäre, würde es meine Nichte einen feuchten Kehricht interessieren, was ich davon halte. Sie würde tun, was sie für richtig hielte. Das hat sie von ihrer Mutter. Selbst wenn Arkos gegen die Verbindung von ihr und Andrian gewesen wäre, hätte meine Schwester ihn geheiratet. Weil Liebe stärker ist, als Befehle oder Einverständnisse. Oder kluger Verstand.“ Estelle hob ihre Hand und legte sie Rafe sanft auf die Wange.

„Nicht wahr, Rafe von den Wilden Werwölfen? Hat dein Charme versagt? Fehlten dir die Worte? Wolltest du nur noch starren und sabbern?“ Sie lächelte mitfühlend. Rafe schloss kurz die Augen.

„Hat sie es dir erzählt?“

Estelle lachte.

„Nein, aber auf der Versammlung hast du dich mindestens genau so dämlich angestellt. - Das ist das Los der Männer“, meinte sie und jetzt klang ihre Stimme nicht mehr mitfühlend, sie klang mitleidig.

„Oh! Das Frühstück ist fertig! Ich sterbe fast vor Hunger!“

Estelle nahm ihre Hand von seiner Wange und ließ ihn einfach am Fenster stehen. Wie einen Idioten. Wie Rafe sich im Moment auch fühlte.

Manchmal waren Frauen eine Pein.

 

 

19. Von einem Misthaufen, einem mörderischen Wetterhahn und den Schein wahren

Irm bekam nicht mit, wie Uri und seine acht Werwölfe die Wolfsburg wieder verließen.

Sie steckte kopfüber in einem riesigen Misthaufen, Aatu sei Dank. Sie musste lernen, seinen Worten glauben zu schenken, wenn er ihr ein „Das gibt Revanche!“ zufauchte. Denn hätte sie es getan, dann würde sie jetzt nicht prusten und pusten und einen Windzauber wirken müssen, der sie Stück für Stück aus dem zähen Glibber aus Kuhdung und verrottenden Stroh blies. Es gab einen lauten schmatzenden Ton und Irm war endlich frei.

Dafür würde sie ihn kastrieren, schwor sie sich grimmig und verzog angewidert das Gesicht, als ihr eine Haarsträhne voll Dung ins Gesicht klatschte. Wahlweise könnte sie sich allerdings auch in seinem Bett wälzen. Irm versuchte, sich den Dreck von der Haut zu wischen, dann strich sie ihren völlig eingesauten Rock glatt und streckte sich. Sie war Irm, Rudelhexe des letzten Rudels Wilder Werwölfe und sie würde jetzt den jüngeren Bruder des Rudelanführers umbringen!

Fluchend kletterte sie über den Misthaufen, rutschte aus und landete mitten in einem noch recht frischen Haufen Pferdeäpfel. Irm knurrte gereizt, rappelte sich wieder auf und trat auf den Burghof.

Sie strich sich Haare, Stroh und Dung aus dem Gesicht, richtete ihr verrutschtes Oberteil und stolzierte erhobenen Hauptes auf die Burg zu. Sie ignorierte die Zwillinge, die ihr mit offenen Mündern nachsahen ebenso, wie sie Dallins leises Würgen ignorierte, als er in ihren Dunstkreis geriet.

Ihre Tante würde wahrscheinlich gleich umfallen, aber das war Irm egal. Stoisch öffnete sie die Eingangstür und schritt, alle Anwesenden ignorierend, durch den großen Saal, nebelte die Luft mit ihren Gestank nach Mist ein und erklomm die Treppe nach oben in ihre Zimmer.

Rafe biss sich die Unterlippe blutig, um nicht zu lachen, und Estelle würgte verhalten hinter einem Taschentuch aus edler Spitze.

 

Aatu hangelte sich umständlich vom Dach der Burg über die Dachschindeln zur Regenrinne und ächzte leise. Irgendwie war das alles hier etwas außer Kontrolle geraten. Erst hatte Irm ihn in die Luft geschleudert, dabei wäre er fast von dem Wetterhahn auf dem Dach aufgespießt worden, dann, als er wieder unsanft hinter der Burg in einem Baum gelandet war, hatte er sie sich geschnappt und sie kopfüber in den Misthaufen gestopft. Zum Dank hatte sie ihn mit einem Schwerelosigkeitszauber belegt, was ihn, angesichts der Tatsache, dass sie mit dem Oberkörper in Mist gesteckt hatte, erst in Gelächter hatte ausbrechen lassen, dann hatte er kurz Panik bekommen, als er bemerkt hatte, dass er keinen Flug mit Landung gebucht hatte, sondern nur einen Flug. Jetzt war er froh, dass es den mörderischen Wetterhahn gab, denn ohne den wäre er jetzt wohl auf dem Weg zur Sonne oder so. Aatu grunzte vor Anstrengung und zog sich die Regenrinne nach unten. Mühsam klopfte er am Fenster und hoffte auf Einlass.

„Rafe! Rafe!“, brüllte er seinem Bruder zu. Der drehte den Kopf zum Fenster und seine Gesichtszüge entglitten ihm. Was trieb Aatu denn da? Aatu glitt mit einem heiseren Aufschrei langsam nach oben über die Fensterscheibe, seine Finger fuhren hektisch über das Glas, auf der Suche nach Halt.

„Kann mich mal einer reinlassen, bitte?“, bat Aatu panisch, als er sich wieder zurück vor das Fenster gehangelt hatte. Seff sprang auf die Beine, öffnete es hastig und zog seinen Freund am Arm in die Burg.

„Wieso fliegst du?“, wollte er wissen. Estelle runzelte die Stirn, sah kurz zur Treppe, die vor knapp zehn Minuten stinkend und mit Mist übergossen ihre Nichte erklommen hatte, und dann zu Aatu.

„Schwerelosigkeitszauber“, tippte sie, schnippte mit den Fingern und Aatu landete unsanft auf dem Boden und begrub Seff unter sich.

„Sie hätte mich in die Sonne fliegen lassen!“, beklagte er sich, als er sich wieder aufrappelte. Estelle seufzte verhalten. Irm war immer so furchtbar impulsiv. Von wem sie das hatte, war ihr ein Rätsel.

„Du hast sie in den Misthaufen gesteckt“, stellte Rafe fest und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich bin beinahe vom Wetterhahn aufgespießt worden!“, beklagte sich Aatu entrüstet und hob zur Demonstration sein Hemd. An seiner Seite prangte ein langer und tiefer Kratzer. Rafe verdrehte die Augen. Er fand es ja äußerst erfreulich, dass sich Irm und Aatu wieder vertrugen und ihre Scherze miteinander trieben, aber konnten sie sich wenigstens so lange damit zurückhalten, solange sie Besuch hatten? Er massierte sich gereizt die Nasenwurzel. Als Aatu bemerkte, dass er von seinem Bruder kein Mitleid erhalten würde, zog er sein Hemd wieder nach unten und blies die Backen auf.

„Ich geh mich entschuldigen“, knurrte er mürrisch und stapfte zur Treppe.

„Trotzdem hat sie versucht, mich zu töten! Sogar zwei Mal“, behauptete er stur. Rafe schnalzte tadelnd mit der Zunge.

„Meinetwegen, es war ein Unfall!“, gab Aatu sich geschlagen. Rafe nickte zustimmend. Wenigstens begann einer der beiden wieder normal zu werden.

 

Aatu holte tief Luft, als er vor Irms Zimmertür stand.

Wirklich leid tat es ihm immer noch nicht, dass er sie kopfüber in den Misthaufen gesteckt hatte, immerhin hatte sie ihn in die Luft gewirbelt, wie ein Laubblatt und er war mit mehr Glück als Verstand weder vom Wetterhahn aufgespießt noch von der Sonne geröstet worden. Trotzdem, er war der Ältere, er war, ja, was war er? Der Mann? Der Werwolf? Der Klügere war er ganz gewiss nicht. Aatu langte nach der Türklinke und drückte sie nach unten.

„Kannst du auch klopfen oder gibt es diese Höflichkeit bei euch nicht?“

Irm saß unter einem riesigen Schaumberg in einer großen Badewanne, und blitzte Aatu tadelnd an. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Er hatte keine Ahnung, was er erwartet hatte, aber dass sie in einer Wanne saß, brachte ihn jetzt völlig aus dem Konzept.

„Rein oder raus, aber mach gefälligst die Tür zu!“ Irm schrubbte wild an ihrem Oberarm herum. Aatu trat hastig ein und schloss die Tür hinter sich. Natürlich saß sie in der Badewanne, was sollte sie auch sonst tun? Sich etwa sauberhexen? Aatu verkniff es sich, sich gegen die Stirn zu schlagen.

„Ich … ähm … also ich … ich wollte …“, stammelte er verlegen und suchte irgendetwas, worauf er starren konnte. Egal was, Hauptsache nicht auf die nackte Irm. Auch wenn man außer ihrem Kopf und den Schultern nicht wirklich viel von ihr sehen konnte. Der dichte Seifenschaum verdeckte alles.

„Was wolltest du? Stammeln? Dir meine Inneneinrichtung ansehen?“, neckte sie und versuchte, mit Ihrem Schwamm an ihren Rücken zu kommen.

„Solange dir noch nicht eingefallen ist, was du machen wolltest; könntest du mir helfen, meinen Rücken zu waschen?“, bat sie grinsend und streckte Aatu den Schwamm hin. Er räusperte sich leise, ging auf Irm zu und nahm ihr den Schwamm ab.

„Beug dich vor“, meinte er ruppig und Irm lehnte sich brav nach vorn. Aatu tauchte den Schwamm ins Wasser und strich ihr sanft über den Rücken.

„Also eigentlich wollte ich mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich dich in den Misthaufen gestopft habe“, begann er leise. Irm brummte.

„Aber du hast mich abheben lassen und ich wurde fast vom Wetterhahn aufgespießt!“, fuhr er leicht entrüstet fort.

„Zwei Mal gleich!“

Irm schoss erschrocken in die Höhe.

„Ach, du meine Güte! Der Schwerelosigkeitszauber!“, fiel ihr siedend heiß ein.

„Wie bist du wieder runter gekommen?“

„Ich hab mich im allerletzten Moment am Wetterhahn festgekrallt und mich dann das Dach und die Regenrinne hinuntergehangelt. Deine Tante hat den Zauber netterweise aufgehoben!“ Aatu klatschte ihr eine Ladung Wasser in den Nacken. Irm hustete, als ihr welches davon in den Mund lief, verzog angewidert das Gesicht, dann tauchte sie ihre Hand unter und schaufelte blind hinter sich. An Aatus erschrockenem Japsen erkannte sie, dass sie ihn getroffen hatte. Sie konnte sich exakte fünf Sekunden über den Treffer freuen, dann packte Aatu sie grob am Kopf und drückte sie unter Wasser. Irm blubberte empört, ihre Hände suchten hektisch nach etwas, woran sie sich festhalten konnten. Sie bekamen Aatus Hemdsärmel zu fassen, und dann lief ein eiskalter Schauer über Aatus Rücken, als sich Irms Finger in den Stoff krallten. Es wirkte auf ihn, als ob die klamme Hand des Todes sich nach ihm ausgestreckt und ihn erwischt hätte. Er quiekte auf, als er einen Satz in die Luft machte, und kopfüber in die Badewanne fiel. Das warme Badewasser schlug über ihm zusammen, er berührte mit der Hand etwas Weiches und betete, dass es nur ihr Arm oder das Bein gewesen war, dann stieß er mit der Stirn gegen den Boden der Wanne. Er hörte dumpfes Lachen und Irm stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn und drückte ihn gnadenlos nach unten. Sie wollte ihn tatsächlich ersäufen!

Aatu wirbelte herum, Irm stieß einen kurzen Schrei aus, Wasser schwappte über, und mit einem lauten Japsen tauchte er an der Oberfläche auf. Irm kicherte und gab ihm einen leichten Tritt gegen die Hüfte. Aatu hob die Hand, um sich seine Haare aus dem Gesicht zu streichen, als er Irms Hand auf seinem Hinterkopf spürte, ihr Gesicht war von einem diabolischen Grinsen verzogen, und er gleich darauf wieder unter Wasser gedrückt wurde. Aatu packte blind nach ihren Hüften, bekam sie zu fassen und zog. Irm kreischte auf, bevor sie unterging. Sie lachte unter Wasser, packte eine Haarsträhne von Aatus Haaren, Aatu bohrte ihr im Gegenzug seine Finger in die Hüften. Ihr lachender Schrei stieg in Luftblasen an die Wasseroberfläche. Sie alberten wild in der Wanne herum, durchnässten dabei alles in unmittelbarer Nähe der Badewanne und kamen schweratmend zur Ruhe.

Aatu öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg aber und grinste stattdessen Irm breit an. Irm kicherte leise. Sie hob die Hand und wischte ihm Schaum von der Stirn. Aatu bemerkte, dass er nur ein wenig nach links rutschen müsste, um sie zu berühren. Er schluckte hart, sein Blick huschte von ihren Augen zu ihrem Mund und wieder zurück. Irm legte leicht den Kopf schief, ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Aatus Lippen bewegten sich, als wollten sie erneut versuchen, Worte zu bilden.

Näherte er sich ihr oder täuschte er sich?

Konnte er ihren warmen Atem auf seiner Haut spüren oder war das nur Einbildung?

Ihre hellen braunen Augen hielten seinen Blick gefangen, gleich würden sich ihre Nasen berühren. Sie würden sich küssen und dann? Dann würde er hoffen, beten, dass sie ihn nicht abwehrte. Er ertrank ihn diesem hellen Braun, welches beinahe bernsteinfarben war, ja, er konnte ihren Atem an seinem Mund spüren, er hatte sich nicht getäuscht, sie waren sich wirklich so nah. Nur noch wenige Zentimeter, wie würden sich wohl ihre Lippen anfühlen? So weich, wie sie aussahen? Wie sie wohl schmeckte? Auch nach Karamell, nach dem sie immer ein wenig roch?

„Irm? Hättest du bitte Zeit für mich? Wir sollten uns unterhal-oh!“

Aatu zuckte so heftig zusammen, dass er prompt wieder unterging. Irms Kopf schnellte zur Tür, unter der ein verlegener Primus Arkos stand und wie vom Donner gerührt auf die Badewanne starrte.

„Gilt es eigentlich unter Werwölfen als unhöflich, anzuklopfen, bevor man irgendwo eintritt?“, schnauzte sie ihn mehr erschrocken als wütend an. Was zum Höllenfürsten wollte der denn nun hier?

Aatu kämpfte sich hektisch wieder an die Wasseroberfläche, strampelte sich ungelenk aus der Wanne und landete unsanft auf dem nassen Boden auf dem Hintern. Er rappelte sich auf die Beine, rutsche auf den durchnässten Bodendielen aus und landete erneut auf dem Hintern. Jawohl, im sich zum Deppen-machen war er meisterhaft, bemerkte er zynisch, krallte sich am Wannenrand fest und erhob sich umständlich. Fahrig strich er sich über die nassen Sachen.

„Ich … äh … also ich … bin dann … ich geh dann … ich zieh mir was Trockenes an!“, stammelte er verlegen und hastete mit gesenktem Blick an Primus Arkos vorbei aus dem Zimmer.

„Komm rein und mach die verfluchte Tür zu!“, herrschte Irm Primus Arkos unwirsch an. Der zuckte zusammen und trat hastig ein.

„Ich habe euch gestört?“, stellte er fragend fest. Irm schnaubte nur und erhob sich aus der Wanne.

„Aber nicht doch“, ätzte sie gallig. „Gibst du mir bitte das Handtuch?“

Primus Arkos beeilte sich, ihrem Wunsch nachzukommen. Er schnappte sich das große Handtuch und wickelte Irm sanft darin ein.

„Ich wusste nicht, dass er bei dir ist“, entschuldigte er sich verlegen. Irm machte eine abwehrende Handbewegung.

„Ist jetzt eh zu spät. Was möchtest du mit mir bereden?“, entgegnete sie versöhnlich. Primus Arkos seufzte verhalten.

„Ich wollte mir dir über Rafe und Ylva reden. - Also du und Aatu?“, tastete er sich langsam vor. Irm schnaubte wieder und trocknete sich ab.

„Nein“, antwortete sie ruppig und mit einem harschen Fingerschnipsen verschwand das übergeschwappte Wasser vom Holzboden.

„Aber du würdest gerne?“, hakte er nach. Irm lächelte kurz ein wenig wehmütig.

„Wolltest du nicht mit mir über Rafe und Ylva reden?“, fragte sie leicht tadelnd, während sie sich die Haare trocken rubbelte. Primus Arkos nickte wissend.

„Denkst du, er ist eine gute Wahl?“

Irm schlüpfte in eine Bluse und lachte auf.

„Ylva bedeutet Wölfin, Onkel“, klärte sie ihn erhaben auf, während sie ihr Oberteil zuschnürte. Jetzt lachte Primus Arkos.

„Und das reicht dir als Antwort?“

„Nein. Aber das und die Tatsache, dass die beiden glücklich sind, wenn sie zusammen sind. Dass sie sich verstehen, dass sie sich in den meisten Dingen einig sind. Dass sie sich lieben“, erklärte sie geduldig.

„Ylva hat sich vom ersten Moment an hier zuhause gefühlt. Sie blüht hier auf. Sie ist die perfekte Gefährtin des Rudelanführers. Sie weiß, wann sie sanft sein muss und sie weiß, wann sie streng sein muss. Sie fügt sich hier ein und sie hat keinen Moment gezögert, ihr Leben für das eines Rudelmitglieds zu riskieren. Matchit hätte sie töten können, als sie ihn angegriffen hat, aber das war ihr egal. Ihr Rudel war in Gefahr und nur das hat für sie gezählt. Es war für sie selbstverständlich, dass sie mitkämpft. Onkel Arkos, Ylva gehört genau so zu den Wilden Werwölfen, wie ich es tu. Und sie gehört an Rafes Seite. Und Rafe betet den Boden unter ihren Füßen an. Und sie den unter seinen.“ Irm schlüpfte in ein ärmelloses Kleid und drehte Primus Arkos den Rücken zu. Mit einem ungeduldigen Ton deutete sie auf die Schnürung in ihrem Rücken. Primus Arkos lachte leise, trat zu ihr und band die Bänder in ihrem Rücken zusammen.

„Diese Kleidung steht dir weit besser, als diese seltsamen Fetzen, die du bisher immer getragen hast. Und dir steht grün“, stellte er zufrieden fest. Irm lachte.

„Grün, wie der Wald, der uns umgibt“, sagte sie leise. Primus Arkos legte ihr seine Hände auf die Schultern.

„Du würdest auf sie Acht geben?“, fragte er vorsichtig. Irm drehte sich zu ihm um und legte den Kopf schief.

„Natürlich werde ich das. Sie ist doch Meine-Ylva“, beteuerte sie und nahm den großen Werwolf in den Arm. Primus Arkos drückte sie an sich.

„Ach, Irm-Kind“, seufzte er leise.

„Ach, alter Werwolf“, gab sie grinsend zurück.

„Es tut mir leid, dass ich eben einfach so hereingeplatzt bin“, wiederholte er betreten. Irm gab ihm einen leichten Klaps auf den Rücken.

„Hör auf damit. Was nicht sein soll, soll nicht sein.“ Sie löste die Umarmung und trat einen Schritt zurück. Primus Arkos hätte dazu gerne seine Sicht der Dinge erklärt, aber Irms Gesichtsausdruck ließ ihn schweigen. Wer war er schon, dass er diese störrischen Hexen vom Zweig Bayards des Großen umstimmen konnte?

„So. Aus unserem zugegeben doch recht kurzem Gespräch über das für und wider einer potenziellen Verbindung zwischen Rafe und Ylva schließe ich, dass du der Beziehung der beiden nicht gänzlich abgeneigt bist?“, schlussfolgerte sie mit einem breiten Grinsen. Primus Arkos lachte auf.

„Du kannst in mir lesen, wie in einem Buch, mein chaotisches Irm-Kind“, scherzte er. „Nein, ganz im Gegenteil. Ylva ist nach der Versammlung durch das Schloss geschlichen, wie ein trauernder Geist. Sie hat kaum geredet, fast nichts gegessen, war lustlos und geistig abwesend und als sie erfahren hat, dass wir zu eurem Herbstfest kommen, hat sie sich augenblicklich angeboten, den Boten zu spielen. Ich konnte gar nicht so schnell zustimmen, wie sie ihre Koffer gepackt hatte.“

„Wir sind hier nicht ständig in Gefahr“, begann Irm und flocht ihre Haare zu einem ordentlichen Zopf.

„Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass wir nicht nur unter dem Schutz einer völlig bekloppten Hexe stehen, sondern auch unter dem zweier Dämonen und einem kämpferisch höchst begabten T3-Vehikel. Du hättest T-Dreieinhalb sehen sollen. Er hat so tapfer gekämpft.“ Irm strahlte Primus Arkos voller Stolz an.

„Und wie du selbst mitbekommen hast, haben wir jetzt die Werwölfe vom Grauwald als neue Verbündete. Und unsere Dörfler sind zähe Menschen, die gehen nicht kampflos unter. Außerdem ist ja auch noch Dallin hier und im Gegensatz zu meinem Rudel kenne ich die Ausbildung, die er genossen hat. Ich weiß, dass er ein herausragender Kämpfer ist, sonst wäre er ja auch kaum Ylvas Leibwächter.“

„Da du die Rudelhexe bist, ist es an dir, den Zeitpunkt der Hochzeit zu bestimmen, das weißt du“, gab Primus Arkos zu bedenken. Irm schob ihren Arm unter den seinen und grinste breit.

„Jap. Und wenn die beiden nicht artig zu mir sind, dann kann sich der sehr lange hinausziehen. Du weißt ja, wie das mit den Zeichen so ist; nicht das richtige Wetter, die Frösche hüpfen aus der falschen Richtung in den Burggraben, ein Fensterladen hängt schief … hach, es gibt so viele Faktoren, die einer Hochzeit im Wege stehen …“, behauptete sie gut gelaunt, während sie an Primus Arkos‘ Arm zu ihrer Zimmertür ging.

Primus Arkos lachte. Er war erleichtert, dass sich Irm nicht von möglichen oder nicht möglichen Beziehungen unterkriegen ließ. Sie war eine Kämpferin und er war stolz darauf.

„Es ist schön, dass nicht nur ich unter dir zu leiden habe“, beschloss er gut gelaunt und schlenderte mir ihre den Flur entlang zur Treppe.

„Also leiden finde ich etwas übertrieben! Wir hatten manchmal unterschiedliche Auffassungen von gewissen Lebensabschnitten“, kicherte Irm albern. Als sie die Treppe erreicht hatten, wurde sie mit einem Schlag ernst.

„Bevor du das nächste Mal in mein Zimmer gestürmt kommst, klopf bitte vorher an, ja? Ich bin keine zehn mehr“, bat sie ihn streng, doch in ihren Augen glomm ein vergnügtes Leuchten. Primus Arkos schloss kurz die Augen. Er fühlte sich wie ein dummer Trampel.

„Versprochen, Irm-Kind“, sagte er feierlich.

„Gut. Und jetzt hab ich Hunger. Ich hoffe, die Meute hat noch was vom Frühstück übrig gelassen.“

 

Er hätte nur zwei Sekunden mehr Zeit gebraucht, um herauszufinden, was er wissen musste, nur zwei Sekunden. Aatu schälte sich aus seiner nassen Kleidung und schleuderte sie frustriert in eine der leeren Ecken seines Zimmers.

Es war karg und leer, aber seit Irm drei Nächte bei ihm geschlafen hatte, wirkte es noch karger und leerer als davor. Aatu seufzte und trat vor seinen Kleiderschrank. Mit größerer Sorgfalt als üblich holte er eine frische Hose und ein dazu passendes Hemd heraus, belog sich selbst, indem er sich sagte, er wollte nur gut aussehen, weil sie Besuch in der Burg hatten, und zog sich an.

Er war ihr so nah gewesen. So nah, nur noch ein Hauch, und dann hatte ihnen Primus Arkos dazwischengefunkt. Aatu knurrte drohend ins Nichts, es war auch nicht schwer, in dieser Leere von Zimmer ins Nichts zu knurren. Und diese Leere schien immer größer zu werden. Er seufzte herzhaft, schloss den Schrank und wandte sich zu seiner Zimmertür.

An seinem Körper haftete der Geruch von Irms Badewasser. Er roch nach Karamell und Erdbeeren.

Aatu seufzte verhalten.

Naja, vielleicht hatten sie in den nächsten Tagen ja mal ein paar Minuten Zeit für sich. Er zog eine Flunsch. Nein, wohl eher nicht, denn heute Nacht würden sie jagen gehen und der morgige Tag war verplant mit den Vorbereitungen fürs Herbstfest. Den Tag darauf wären sie alle damit beschäftigt, sich für das Fest herzurichten, dass dann am Abend stattfinden würde. Aatu blähte die Backen.

Es würde Ewigkeiten dauern, bis sie wieder ihre Ruhe hatten.

Im Moment verfluchte er den Besuch des Süd-West-Wald-Rudels, das verdammte Herbstfest und einfach alle, die sich in seiner Nähe befanden. Es waren nämlich alle potenzielle Störfaktoren.

Aatu verließ sein Zimmer und ging nach unten in die Halle, um den Schein zu waren.

20. Von einem ungebetenen Gast, Spiegelsucht und Zähneknirschen

Am Nachmittag, an dem das Herbstfest stattfand, war Aatus Laune auf seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt. Als ob er nicht genug eigene, wichtigere Probleme hätte, schien es, als ob sie alle ihre Liebesleben mit ihm in ausführlichster Detailgetreuheit ausdiskutieren und erzählen müssten.

Erst hatte ihn Rafe beiseite genommen und ihm in höchsten Tönen von sämtlichen Vorzügen, die Ylva doch besaß, vorgeschwärmt. Als sein älterer Bruder nach einer gefühlten Ewigkeit endlich einmal Luft geholt hatte, hatte Aatu sich der kurzen Illusion hingegeben, er hätte jetzt wieder seine Ruhe, doch Rafe war der Meinung, dass er seinen Bruder jetzt damit quälen wollte, indem er ihn mit den - Aatus Meinung - nach absurdesten Heiratsanträgen der Welt ankam. Welche Werwölfin würde wohl den Ehering im Magen eines Säuglings finden? Sie würde ihn fressen, ohne zu merken, dass sie mehr fraß, als nur saftiges Fleisch.

Aatu rieb sich den Nacken und schloss die Augen.

Als er sich endlich von seinem Bruder losgeeist hatte, waren ihm diese beiden bis über beide Schoßhündchenohren verknallten Dämonenköter entgegengetippelt. Derne und Flöckchen waren so eng nebeneinander hergelaufen, dass kein Windhauch mehr zwischen ihre Körper gepasst hatte. Ihr Fell war zu einer fluffigen Symbiose aus weiß und braun in allen Tönen verschmolzen, wo sie sich berührt hatten.

Und diese verliebte Symbiose hatte ihn dazu genötigt, sich ihr morbides Liebesnest in T-Dreieinhalb anzusehen. Es war ein Albtraum aus Trümmern, gezauberten Leichenteilen und obskuren Kreaturen, die Aatu noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es wunderte ihn wirklich, dass T-Dreieinhalb dank seines Innenlebens keine Albträume hatte.

Und als sei das nicht genug für seine geplagte Seele gewesen, hatte er die ganze Zeit über die Zwillinge und Dallin irgendwo in Hörweite gehabt, wie die drei albern kichernd und giggelnd gegenseitig aneinander herumgetatscht hatten.

Es war zum Verrücktwerden!

Aatu hockte in der Badewanne in seinem kahlen Zimmer und planschte lustlos mit der Hand im Wasser herum.

Warum sein Zimmer so kahl war? - Weil er alles, was ihn auch nur ansatzweise an Isabelle erinnert hatte, verbrannt hatte. Was so ziemlich alles an seinem Mobiliar beinhaltet hatte.

Warum sein Bett mitten im Zimmer stand? - Weil er es einfach irgendwo anders stehen haben wollte, als damals mit Isabelle. Weil es mit ihr im Einfall des Sonnenlichts gestanden hatte, zwar auch frei im Raum, aber im Hellen. Er hatte es dahin geschoben, wo die Sonne es nicht mehr erreichen konnte, an den dunkelsten Platz seines Zimmers. Er wirkte zu depressiv, vielleicht lag es daran, dass es mit Irm nicht klappte.

Aatu stieß einen sehr langen und sehr herzhaften Seufzer aus und sank langsam unter Wasser. Hier unten würde er bleiben. In seiner kleinen Blase aus Badewasser, wo es warm und gemütlich war und der Lärm von einfahrenden Vehikeln und erstaunten Freudenschreien nur leise und gedämpft an sein Ohr drangen. Hier in seiner Wasserblase, die nicht nach Karamell und Erdbeeren roch, sondern nach Minze und Honig, wo die aufgeregten Schritte, die auf einmal ertönten, so fern waren und ihn überhaupt nicht belangen konnten.

Seine Zimmertür wurde so fest aufgestoßen, dass sie erst gegen die Wand knallte und dann schwungvoll zurück in Schloss. Aatu knurrte missmutig ohne aufzutauchen und gab sich der Illusion hin, seine Tür wäre durch die grobe Behandlung kaputt gegangen und würde nie wieder aufgehen, doch dann öffnete sie sich erneut. Aatu hörte Schritte, die sich näherten und ihn in seiner Wanne passierten, ohne innezuhalten.

Neugierig geworden, beschloss er, doch aufzutauchen und starrte in Irms gereiztes Gesicht.

„Was?“, fragte er irritiert. Er konnte sich nicht wirklich daran erinnern, ihr einen Streich gespielt zu haben. Irm grunzte unschicklich.

„Ich schlafe bei dir. Mein Zimmer ist belegt“, fauchte sie bockig. Aatu hob fragend die Augenbrauen.

„Bayard ist eben gekommen. Er möchte am Herbstfest teilnehmen. Und außerdem hat er erfahren, dass Matchit hier war und mich verletzt hat. Er hat getan, als ob mein halber Arm fehlen würde, dabei ist es ja schon fast verheilt! Glaubst du, dass Nachrichtenvögel untereinander tratschen?“ Irm griff nach dem Schwamm, der auf dem Wannenrand lag. Aatu konnte sie nur sprachlos anglotzen wie ein Idiot.

„Ich mein, anders kann ich mir nicht vorstellen, woher Bayard das weiß. Oder glaubst du, er ist echt allwissend?“

Irm tauchte den Schwamm ins Wasser, packte Aatu an der Schulter und drückte seinen Oberkörper forsch nach vorn. Ungefragt begann sie, seinen Rücken zu waschen.

„Ich schwör dir bei allen Höllenteufeln, ich werde ab jetzt meine Zimmertür zumauern, wenn ich baden bin!“, meckerte sie gereizt und schrubbte über Aatus Haut, wie ein Berserker. Tatsache, ihre Haare waren noch etwas feucht und der Geruch von Karamell und Erdbeeren raubte ihm fast die Sinne.

„Und ich schwör dir bei deinem Badeschwamm, wenn sich die Bewohner dieser Burg nicht angewöhnen, anzuklopfen, bevor sie in mein Zimmer latschen, passiert noch ein Unglück!“

„Wer war es dieses Mal?“, fragte Aatu, als er seine Stimme wiedergefunden hatte.

„Dein Bruder!“, raunzte sie gereizt. Aatu gluckste erst leise, dann schwoll es zu einem Kichern an und schließlich lachte er laut, während er von Irm den Rücken gewaschen bekam.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, schniefte er belustigt. Irm unterbrach ihre Waschung und sah ihn ernst an.

„Ich hab ihm meinen Schwamm ins Gesicht geschmissen. Mehr nicht“, antwortete sie stoisch und fuhr fort, mit dem Schwamm über Aatus Rücken zu streichen. Sehr viel sanfter allerdings, als zuvor.

„Es tut mir leid, dass ich mich schon wieder bei dir einniste, aber ich kann nirgendwo anders hin, außer zu meiner Tante und Primus Arkos oder zu Ylva und Rafe. Und bevor ich mich zwischen die in die Bettmitte quetsche …“ Irm ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und schnaubte dramatisch.

„Und ganz ehrlich? Mich gruselt‘s in T-Dreieinhalbs neuem Innenleben“, gestand sie leise. Aatu nickte zustimmend. Er würde da auch nicht freiwillig übernachten und - Hallo, Welt!? - Wer war er, dass er Irm nicht bei sich aufnehmen würde?

„So. Hinten bist du sauber“, beschloss Irm, legte den Schwamm weg und richtete sich auf. Aatu unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen.

„Hast du eigentlich geklopft, bevor du hier hereingeschneit bist?“, wollte er grinsend wissen und machte Anstalten, sich aus der Wanne zu erheben. Irm schenkte ihm ein breites Grinsen, dann griff sie nach einem Handtuch und hielt es ihm ausgebreitet hin.

„Ich hatte noch ein Eintreten ohne Vorankündigung bei dir gut“, behauptete sie frech. Aatu lachte, nahm das Handtuch entgegen und wickelte es sich um die Hüfte. Wozu sich mit falscher Scham abmühen? Aatu war sich verdammt sicher, dass Irm sie schon mehrmals beim Verwandeln beobachtet hatte. Außerdem hatten sie schon zusammen gebadet. Mehr oder weniger zumindest.

„Außerdem“, fuhr Irm fort und begann, das Bett herzurichten, „ich bin die Rudelhexe, ich muss nicht anklopfen“, behauptete sie, während die Aatus Bettzeug ein wenig beiseiteschob und ihr Kissen und Decke auf sein Bett drapierte.

Aatu lachte auf.

„Ach, darfst du“, neckte er gut gelaunt und öffnete seinen Kleiderschrank. Irm warf einen kurzen Blick auf seine Kehrseite.

„Natürlich. - Nimm das dunkelblaue Hemd und die schwarze Hose da“, schlug sie beiläufig vor und Aatu zuckte erschrocken zusammen, als er sie nah an seinem Ohr hörte. Er sammelte sich, versuchte, seinen galoppierenden Herzschlag zu beruhigen.

„Und was trägst du?“, fragte er betont gelassen und griff nach den Kleidungsstücken, die Irm für ihn ausgesucht hatte. Irm seufzte leise.

„Ylva meint, das weinrote, schulterfreie Kleid“, antwortete sie und stützte ungefragt ihr Kinn auf seiner Schulter ab. Aatu flehte alle Götter und Höllenteufel die ihm spontan einfielen an, dass sein kleiner Freund zwischen seinen Beinen auch weiterhin klein blieb.

„Solange wir zusammenpassen, geht das in Ordnung.“ Aatu war über sich selbst am Meisten erstaunt, dass seine Stimme so normal klang.

„Ach, Aatu-Herzchen, wir beide passen doch immer zusammen“, flötete Irm lachend. Aatu drehte ihr den Kopf zu und grinste schief.

„So? Tun wir das?“, neckte er mit blitzenden Augen. Irm legte sich äußerst kokett und grazil die Fingerspitzen auf die Brust.

„Aber natürlich! Wir sind ein Traumpaar“, behauptete sie ernst und klimperte mit den Wimpern. Aatu brach in Gelächter aus. Mit einem unsanften Schubs stieß er sie beiseite und schlüpfte in seine Hose.

„Zieh dich um, Prinzesschen, wir wollen doch nicht zu spät kommen.“ Aatu schnürte seine Hose, schlüpfte in das Hemd und grinste Irm betont lässig an. Irm stemmte die Hände in die Hüften.

„Ph!“, machte sie herablassend.

„Ich wäre ja schon längst fertig, wenn ich nicht hätte ausziehen und dann noch einem hilflosen Werwolf den Rücken hätte waschen müssen“, behauptete sie demonstrativ pikiert. Aatu lachte empört auf.

„Hilflos?“, beschwerte er sich. Irm hob zustimmend die Augenbrauen.

„Zieh dich jetzt verdammt noch mal um!“, trieb Aatu sie zur Eile an und gab ihr einen kräftigen Klaps auf den Hintern. Irm quiekte entrüstet und flüchtete zum Bett.

„Noch so eine Aktion, Freundchen, und ich überlege mir, ob du nicht doch auf deinem unbequemen Sofa schläfst!“, drohte sie lachend. Aatu stockte kurz. Sie wollte sein Bett mit ihm teilen? Er schnappte nach Luft, überwand seine Überraschung und stieß einen undefinierbaren Ton aus.

„Ach?“, überspielte er tapfer seine aufkommende Freude, „Wer sagt denn, dass du nicht auf der Couch schläfst?“

Irm schnaubte.

„Weil ich die Dame von uns beiden bin. Deshalb schlafe ich ja wohl im Bett.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und ihr Blick war eindeutig triumphierend.

„Dame? Wo siehst du denn hier bitteschön eine Dame?“, neckte Aatu sie weiter. Dieses dumm-erfreute Grinsen schien in sein Gesicht getackert worden zu sein. Statt einer Antwort schmiss Irm ihm ihr Kissen an den Kopf.

„Pack das ja wieder da hin, wo es hingehört. Ich geh jetzt mein Kleid holen.“

Aatu nickte artig, grinste weiterhin wie ein grenzdebiler Idiot und sah Irm nach, wie sie sein Zimmer verließ, um ihr Kleid für das Fest zu holen. Ihr Kissen hielt er im Arm wie eine Geliebte.

 

Bayard war augenblicklich aufgebrochen, als der Vogel mit der Nachricht eingetroffen war, dass Matchit sich Rafes Rudel mit Gewalt zu holen versucht und dabei Irm verletzt hatte. Das war schlimmer gewesen, als er gedacht hatte. Bayard gab zu, er hatte Matchits Wahn, das Rudel der Wilden Werwölfe sein eigen zu nennen, unterschätzt. So hatte er das Nötigste zusammengepackt und war losgefahren.

Und als er an Rafes Burg angekommen war, musste er feststellen, dass sich die Wilden Werwölfe gut gelaunt auf das alljährliche Herbstfest vorbereiteten, und die schwer verletzte Irm alles andere als schwer verletzt war und nur noch ein Kratzer auf ihrer Schulter davon zeugte, dass sie verwundet worden war. Er hatte einen Heilzauber gewirkt, damit sie ungehindert tanzen konnte und kein Schorf ihre Aufmachung am Abend störte. Eigentlich hatte Bayard vorgehabt, wieder zurück nach Hause zu fahren, doch Rafe hatte darauf bestanden, dass er am Fest teilnahm und Irm musste ihm, wie es Tradition war, ihr Zimmer überlassen. Wirklich böse hatte sie dabei nicht gewirkt, als sie lautstark verkündet hatte, dann eben die Hälfte von Aatus Bett in Beschlag zu nehmen, wenn sie schon aus ihrem geworfen wurde, wie ein räudiger Köter.

Und als er einen kurzen Blick auf diese verrückten Zwillinge geworfen hatte, hatte er gewusst, wo der Hase langlief. Vielmehr, von wo der Nachrichtenvogel gekommen war. Er hatte ihnen einen gespielt drohenden Blick zugeworfen, den beide mit einem breiten und unschuldigen Grinsen erwidert hatten - sie hatten beide eindeutig das Lachen ihres Vaters, in dessen streichespielende Fußstapfen sie offensichtlich getreten waren. Augenscheinlich war das ihre Art der Verkupplung. Nun, wenigstens würde er mal wieder bei einem ordentlichen Herbstfest zugegen sein.

Bayard stand vor Irms mannshohen Spiegel, richtete seine violetblaue Zaubererobe und stellte mal wieder fest, was für ein gut aussehender Kerl er doch war. Sein dunkelblondes Haar fiel in sanften Wellen über seine breiten Schultern und umrahmte sein markantes bartloses Gesicht. Sein Mund war voll und doch wirkte er nicht wie ein weicher Frauenmund - seiner Meinung nach - und in seinen dunkelblauen Augen mit den dichten Wimpern lag trotz seines hohen Alters ein jugendliches Funkeln. Ja, Bayard der Große war ein äußerst stattlicher und sehr attraktiver Mann. Zufrieden mit dieser Feststellung beschloss er spontan, auf seine wallende, körperverhüllende Robe zu verzichten und stattdessen eine enge Hose und ein körperbetonendes Hemd zu tragen. Am besten eines in einem hellen Blauton, der seine Augenfarbe etwas unterstrich.

Allerdings musste er zugeben, dass er etwas überrascht gewesen war, zu erkennen, dass Irm und Aatu nun doch kein Paar waren. Bei der Versammlung hatten sie so vertraut und verliebt gewirkt und vor allem, als ob sie zusammen wären. Da war ihm wohl offensichtlich ein Irrtum unterlaufen. Bayard schüttelte verständnislos den Kopf. Er verstand Hin und Her definitiv nicht. Wenn ihn eine Frau reizte, dann eroberte er sie sich und basta. Wäre er an Aatus Stelle, wäre das Thema, dass die Rudelhexe ihr Bett hergeben musste, erst gar nicht aufgekommen, denn dann würde die schon seit Monaten in seinem Bett liegen. Bayard richtete noch einmal seine Frisur, stellte fest, dass seine Entscheidung, sich in Hose und Hemd statt in Robe zu kleiden, definitiv die richtige gewesen war, und erhoffte sich ein nettes Geplänkel mit Aussicht auf mehr mit einer der hübschen Dorfbewohnerinnen heute Abend, bevor er beschwingt Irms Zimmer verließ.

Er schwor sich, wenn dieser dusslige Werwolf sich beim Fest nicht an seine Urgroßnichte siebenundzwanzigsten Grades ranmachte, dann würde er das tun, soviel stand schon mal fest. Denn sie sah in ihrem weinroten Kleid einfach nur bezaubernd aus. Der Schnitt umschmeichelte ihre weibliche Figur und vor allem ihren Busen, Bayard schlenderte elegant den Flur hinunter. Kurz war er versucht, Irm Aatu einfach auszuspannen, dann dachte er, dass das gemein wäre, der Werwolf war keine wirkliche Konkurrenz für ihn. Dazu hätte es zwar keinen prüfenden Blick mehr in die Spiegelung eines Fensters gebraucht, aber sicher war sicher und vor allem betrachtete Bayard sich gerne selbst. Am Liebsten nackt, wo er seinen wunderschönen, perfekt geformten Körper in Gänze ohne störende Stoffe bewundern konnte.

„Ich sag es dir nur ein mal, Bayard“, ertönte eine wohlbekannte Stimme hinter ihm. Bayard musste sich eigentlich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die von Estelle kam. Trotzdem wandte er sich zu seiner Großnichte um und schenkte ihr sein entwaffnendstes Lächeln, wissend, dass es an dieser Frau abprallte, wie Wasser an einem Lotusblatt. Trotzdem versuchte er es immer und immer wieder, in der Hoffnung, dieses zarte Wesen doch noch in sein Bett zu bekommen. Er war auch nur ein Mann.

„Lass deine notgeilen Finger von meiner Nichte oder dein Ding da unten taugt nur noch zum Pissen und das auch nur unter Schmerzen“, drohte sie grimmig. Bayards Lächeln wurde eine Spur entwaffnender, was Estelle nur mit einer hochgezogenen Augenbraue und vor der wunderschön festen Brust verschränkten Armen quittierte.

„Ich mein das ernst, Großonkel.“

Bayard verzog leidend das Gesicht. Dass sie unbedingt dieses grässliche Großonkel erwähnen musste. Das machte ihn so -alt.

„Meine wunderschöne Estelle, wo bleiben nur deine Manieren? - Als ob ich mich an meiner kleinen Irm vergreifen würde!“, erwiderte er mit gespieltem Entrüsten. Estelles Arme verschränkten sich fester, hoben diese wunderschönen runden Kugeln an, Bayard gönnte sich einen ausgiebigen Blick darauf und dann sah er kurz gar nichts mehr. Er knurrte gereizt und holte sich sein geblendetes Augenlicht zurück.

„Das war nicht lustig, meine Liebe!“, knurrte er und strich sich sein Hemd glatt.

„Dann hör auf, mir ständig auf die Brüste zu glotzen, wie ein rolliger Junghund“, gab Estelle zurück. Bayard schnaubte.

„Ich bin ihr sowieso zu alt“, gestand er niedergeschlagen. Estelles Mundwinkel zuckten, doch bevor sie in Gelächter ausbrechen konnte, hatte sie ihre Mimik wieder im Griff. Bayard schürzte die Lippen. Der offensichtliche Triumph von Estelle, nagte an seinem Ego wie ein Werwolf an einem Oberschenkelknochen.

„Lachst du?“, fuhr er sie ruppig an. Estelle biss sich auf die Innenseiten ihrer Backen und schüttelte verneinend den Kopf.

„Du bist schon bei ihr abgeblitzt und versuchst es trotzdem immer und immer wieder“, stellte sie belustigt fest. Bayard schnitt ihr eine Grimasse.

„Bei allen Höllen, ihr Männer seid und bleibt einfach dämliche Trottel!“ Estelle gab Bayard einen harten Schlag auf seinen Bizeps und ließ ihn einfach vor seinem Fenster stehen.

Der große Zauberer sah seiner Großnichte nach, sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen entrüstet und niedergeschlagen.

Er, Bayard der Große, war der schönste Mann, der auf dieser Erde wandelte, und was brachte es ihm? Gar nichts. Immerhin blitzte er bei eben diesen zwei Frauen ab, die er am dringendsten ins Bett kriegen wollte. Verdammt noch eins! Bayard räusperte sich erhaben, zog die Nase hoch und beschloss, einfach ein anderes schönes weibliches Wesen zu betören.

Er streckte sich, straffte die Schultern und schritt hoheitsvoll zur Treppe. - Nicht allerdings, ohne noch einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild zu werfen.

 

Oh, verdammt!

Bayard zog kurz einen Schmollmund. - Der übrigens in normalen Haushalten die Frauen reihenweise dazu brachte, vor Verzückung zu seufzen. Da er hier allerdings kein multiples Seufzen hörte, ließ ihn kurz an der Sehkraft der anwesenden Damen zweifeln. Ob seine rechte Hand noch wusste, was sie tun musste? Sie war schon lange nicht mehr wirklich aktiv gewesen. Mit leichtem Frust stolzierte er zu Rafe, der die wunderbare Ylva im Arm hielt. In ihrem schneeweißen Kleid mit den eisblauen Stickereien sah sie einfach nur umwerfend aus. Und Rafe, mit seinen dunklen Kleidern als ihr optisches Gegenstück, war genauso wenig zu verachten.

Er würde es nie jemandem erzählen, aber er hatte volle drei Tage gebraucht, bis er verstanden hatte, was Irm damit gemeint hatte, als sie ihm in seinem Garten „Ylva bedeutete Wölfin“ ins Ohr geflüstert hatte. Zwar hatte er mit wichtiger Miene gewichtig genickt, aber erst am dritten Tag war ihm die Bedeutung hinter der Bedeutung klar geworden. Was musste dieses Kind auch immer so kryptisch vor sich hinschwafeln? Hätte sie nicht einfach nur sagen können: „Rafe und Ylva sind total in einander verknallt und ich werde sie miteinander verkuppeln, weil die beiden zusammengehören.“? Das hatte sie definitiv von seiner Mutter, die hatte auch immer mit solchen unheilschwangeren kryptischen Phrasen um sich geschmissen, wie andere mit Spucke. - Was war sie noch gleich für Irm? Ihre Urgroßtante achtundzwanzigsten Grades? Großtante siebenundzwanzigsten Grades? Oder war sie doch die Ururgroßtante gewesen? Am besten nahm er seine Finger zu Hilfe, um es aufzuzählen. Er war der Urgroßonkel siebenundzwanzigsten Grades …

Bayard schaffte drei Verwandtschaftsverhältnisse aufzählende Schritte, dann schnappte sich Irm seinen rechten Ellbogen und drehte ihn zu sich. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn schob sie ihn auf Armeslänge von sich und musterte ihn kritisch.

„Jup. So darfst du mitkommen. Ich hatte schon Angst, du kommst in deinem furchtbaren Kaftan“, meinte sie zufrieden. Wäre ihr Blick nicht so kühl analytisch geblieben, während sie ihn gemustert hatte, hätte sich Bayard weit mehr über ihr Kompliment gefreut.

„Danke, schönes Kind.“ Er schenkte ihr sein wärmstes Lächeln. Irm zwinkerte ihm schelmisch zu.

„Wehe, du brichst heute Nacht zu viele Herzen“, drohte sie spielerisch. „Ich werde sie alle zu dir ins Schloss schicken.“ Irm stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen familiären Kuss auf die Wange. Bayard gab undefinierte Geräusche von sich, die alles bedeuten konnten.

„Du siehst hinreißend aus, Kind.“ Er erwiderte ihren Wangenkuss etwas herzlicher als nötig und warf Aatu über Irms Kopf hinweg einen spöttischen Blick zu. Mit leisem Triumph sah er, wie sich Aatus Blick verdüsterte. Da war wohl jemand eifersüchtig. Ob er ihn heute Abend ein wenig ärgern sollte? Bayard legte seinen Arm um Irm, um sie enger als nötig an sich heranzudrücken. Wenn er sich nicht gänzlich täuschte, dann knirschte der Werwolf gerade mit den Zähnen.

„Und du bist dir sicher, dass ich keine Chance bei dir habe?“, wisperte Bayard Irm ins Ohr. „Denn du siehst heute Abend wirklich, wirklich bezaubernd aus. Dieses weinrot schmeichelt dir unglaublich und deine wunderschönen Schultern …“

Irms hochgezogene Augenbraue ließ ihn mit einem amüsierten Schmunzeln verstummen.

„Du gibst nicht auf, was?“, stellte sie belustigt fest. Wenn er dabei nicht so niedlich wäre, wie er sich um sie bemühte, würde es sie beginnen, zu nerven. Leider hatte er auf sie dabei die gleiche Wirkung wie ein kleiner Welpe; sie wollte ihn dann am Liebsten knuddeln und hinter den Ohren kraulen. Irgendwann würde sie ihm das einmal sagen. Und damit sein völlig überzogenes Ego in sich zusammenfallen lassen, wie ein Kartenhaus. Sie lachte gehässig in Gedanken.

„Nicht, solange du nicht in festen Händen bist“, antwortete er ehrlich und schenkte ihr eines seiner Aufreißerlächeln. Nicht, weil er sie damit betören wollte, sondern weil ihn Aatus verkniffener Gesichtsausdruck unglaublich erheiterte. Egal, was auch kommen mochte, er würde einen sehr amüsanten Abend haben. Und voraussichtlich einen neuen Feind, aber damit konnte er leben.

Und er war ja auch kein vollkommener Mistkerl. Irgendwo hoffte er, dass er diesen depperten Werwolf mit seiner Flirterei endlich aus der Reserve locken konnte.

21. Von einem Herbstfest, einem Perlentanz und engen Verbindungen

Aatu war ganz kurz davor, Bayard den Großen zu hassen.

Nicht nur, dass dieser verfluchte Zauberer aussah, wie der wahrgewordene feuchte Traum aller Frauen, nein, jetzt musste sich dieser Sex-Appeal auf zwei Beinen auch noch an Irm ranschmeißen! Ausgerechnet an Irm! Konnte er sich nicht irgendeine andere Schlampe suchen? Er unterdrückte mühsam ein Knurren und stürzte sein Bier hinunter.

Er hockte eingequetscht zwischen den Zwillingen auf einer Bank und funkelte Bayard böse an, der gerade mal wieder mit Irm tanzte. Oder vielmehr immer noch.

„Wieso tanzt du eigentlich nicht mit Irm?“, wollte Dallin wissen und stieß verhalten auf. Aatu fauchte.

„Wie denn, wenn dieser Methusalem sie nicht aus seinen klapprigen Fängen lässt?“, beschwerte er sich. Seff kicherte verhalten und Velvel verdrehte die Augen.

„Ganz einfach: Indem du abklatscht!?“, schlug Velvel spöttisch vor. Aatu blitzte ihn böse an.

„Ich kann doch nicht einfach da hingehen und abklatschen!“, behauptete er mürrisch. Dann schürzte er die Lippen.

„Glaubt ihr, Idiotie ist ansteckend?“, wollte er von seinen Freunden wissen. Dallin brach in lautes alkoholgeschwängertes Gelächter aus und die Zwillinge kicherten in ihre Bierkrüge.

„Das war eine ernst gemeinte Frage!“, empörte sich Aatu entrüstet und ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

„Naja, an irgendwas muss man ja merken, dass du mit deinem Bruder verwandt bist“, behauptete Velvel und zupfte Fleisch von einem Teller in Reichweite. Aatu schnaubte prustend. Er schob seinen Bierkrug von sich, schälte sich zwischen den Brüdern vor und stieg von der Bank. Mit entschlossener Miene strich er sein Hemd glatt, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, um zu prüfen, ob Essen dazwischen hing, und marschierte auf Irm und Bayard zu. Aatu straffte sich, dann tippte er dem Zauberer mutig auf die Schulter.

„Ich darf dir deine Tanzpartnerin stehlen?“, fragte er höflich. Bayard drehte sich überrascht zu dem Störenfried um, erkannte Aatu und nickte erhaben. Wurde auch Zeit, dass der dusslige Wolf endlich in die Gänge kam, er bekam schon Blasen an den Füßen von diesem Herumgehüpfe.

„Wenn meine Tanzpartnerin möchte“, erwiderte er hoheitsvoll. Aatu hätte ihn für diesen Ton am Liebsten eine geknallt, beherrschte sich aber.

„Gerne“, flötete Irm, gab Bayard einen kräftigen Schlag in die Rippen und wandte sich an Aatu. Elegant glitt sie in seine ausgestreckten Arme und die beiden tanzten davon. Bayard sah zu, dass er von der Tanzfläche kam, bevor noch irgendeine auf die Idee kam, er könne jetzt mir ihr tanzen. Er hatte Durst. Und Hunger. Und seine Füße schmerzten.

„Also ganz ehrlich?“, wisperte Irm, als sie mit Aatu ans andere Ende der Tanzfläche getanzt war. Aatu beugte sich erwartungsvoll zu ihr.

„Ein so guter Tänzer ist er nun wirklich nicht“, gestand sie ihm und schnitt eine leidende Grimasse. Aatu lachte schadenfroh.

„Ach, nein?“, hakte er belustigt und zutiefst zufrieden nach.

„Nein. Du bist um Welten besser. Um Welten!“, behauptete sie mit Nachdruck. Aatu war sich sicher, dass er vom Boden abhob.

„Danke“, nuschelte er und stellte fest, dass es ihn nicht nur freute, sondern auch leicht verlegen werden ließ. Irm machte eine abwertende Handbewegung. Ihre Augen funkelten im Schein der vielen Feuerstellen.

„Kein Ding. Was gesagt werden muss, muss gesagt werden.“

Aatu lachte leise auf.

„Du hast echt ein Talent dafür, genau das Falsche im falschen Moment zu sagen, weißt du das?“, schmunzelte er und zog sie näher an sich. Ihr Körper schmiegte sich warm und fest an seinen.

„Und alles nur, um dich zum Lachen zu bringen“, behauptete sie mit diesen funkelnden Augen. Aatu holte tief Luft, sammelte seinen gesamten Mut zusammen und gab ihr einen sanften Kuss auf den Haaransatz.

„Was täte ich nur ohne dich?“, meinte er mehr zu sich selbst. Irm grinste ein wenig deppert, als seine Berührung ein Kribbeln verursachte. Ganz kurz hoffte sie, dass sie Aatus heimliche Flamme gar nicht mit einem Suchen-und-Finden-Zauber belegen musste, weil es da gar keine andere gab.

„Dich zu Tode langweilen“, gab sie zurück. Aatu musste zugeben, dass sie recht hatte.

Sie tanzten noch ein paar Lieder, dann nahm Aatu sie einfach an der Hand und führte sie um die Tanzfläche herum zu seinem Platz.

Die Zwillinge rutschten mit einem breiten Grinsen enger zusammen, allerdings nur so weit, dass Aatu Irm halb auf seinen Schoß ziehen musste, damit sie sich auf die Bank setzen konnte.

„Du, ich sollte vielleicht mal zu meiner Tante und mit ihr Plaudern“, merkte Irm leise an. Aatu legte den Kopf schief.

„Scheiß drauf. Für die Unterhaltung der Gäste ist Rafe zuständig“, behauptete er gelassen. Er schlang demonstrativ einen Arm um Irms Taille, um ihr zu verdeutlichen, dass sie nirgends hingehen würde. Irm grinste und blieb brav sitzen.

„Ist das Mensch?“, wollte sie von Velvel wissen und deutete auf ein Teller mit Fleisch.

„Nö. Baby-Kuh.“ Er schob vorbildlich den Teller näher an sie heran, damit sie sich auch ja nicht von Aatu trennen musste, um an das Essen zu kommen.

„Ich hab einen Bärenhunger! Tanzen ist ganz schön anstrengend“, behauptete sie und bediente sich. Dallin sprang so schnell von der Bank, dass er beinahe auf die Nase fiel. Irm und Aatu sahen ihn überrascht an.

„Was tust du?“, wollte Seff wissen. Dallin strich sich elegant seine halblangen blonden Haare aus dem Gesicht.

„Na, Irm was zu essen holen“, erwiderte er, straffte sich und marschierte entschlossen davon. Seff schnalzte mit der Zunge als er ihm nachsah, auf seinem Gesicht lag ein beinahe mitleidiger Blick. Dallin ging einige Schritte, dann stoppte er und sah sich um. Er drehte sich erst nach links, dann nach rechts, deutete mit seinen Fingern in der Gegend herum und machte eine schwungvolle hundertachtzig Grad-Drehung.

„Hups“, kicherte er, als er wieder zurückkam, „Falsche Richtung.“

Aatu und Irm tauschten kurze Blicke und sahen dann die Zwillinge an.

„Fünf Krüge Bier und vier Met“, sagte Seff grinsend. Aatu schüttelte leicht den Kopf und Irm kicherte in ihre vorgehaltene Hand.

Es dauerte eine Weile, bis Dallin mit einem voll beladenen Tablett in den Händen wieder zurückkam. Er hatte in seinem alkoholgeschwängerten Zustand eine Ehrenrunde um die ganze Tanzfläche zurückgelegt und stellte mit einem Strahlen das zusammengesammelte Essen schwungvoll vor Irm auf den Tisch.

„Bitteschön, die Rudelhexen-Dame. Wir hätten heute im Angebot: Baby-Kuh, Baby-Schwein, Baby-Mensch - oh, das ist nicht für dich, das ist für deinen Schatz.“ Er kicherte albern und nahm hastig einen Teller weg, den er vor Aatu stellte.

„Baby-Möhren, Baby-Erbsen, Baby-Mais, Baby-Knödel …“, zählte er fröhlich weiter auf.

„Hast du deinen Eisprung?“, frotzelte Irm glucksend. Dallin sah sie verwirrt an. Aatu biss sich grunzend auf die Unterlippe.

„Tschuldige, red weiter“, forderte sie ihn betont ernst auf. Dallin warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Baby-Met?“, zog Irm ihn weiter auf und deutete auf einen Krug. Jetzt wurde der Blick von ihm vernichtend.

„Werd hier nicht albern!“, fuhr er sie harsch an. „Es gibt keinen Baby-Met!“

Beleidigt schob er sich zwischen den Zwillingen auf die Bank zurück. Seff lachte Tränen.

„Es tut mir leid, Dallin“, schnurrte Irm. Sie schob sich auf Aatus Schoß und beugte sich über Velvel hinweg zu dem mit verschränkten Armen schmollenden Werwolf. Dallin schnaubte nur. Irm kraulte ihn liebevoll hinter seinem Ohr.

„Sei nicht böse, Dallinchen. Bitte. Bittebittebitte“, bat sie mit treuem Blick. Dallin schürzte die Lippen und tat, als ob er nachdenken musste.

„Aber nur, weil du es bist“, knurrte er gespielt mürrisch. Irm drückte ihm einen dicken und lauten Schmatzer auf die Wange.

„Ich hab dich ja so lieb“, flötete sie fröhlich.

Aatu hatte auch etwas lieb. Und zwar, wenn Irm aufhören würde, auf seinem Schoß herumzurutschen, wie auf einem Kissen. Da war nämlich etwas Kleines, was sich tierisch freute, dass darauf herumgerutscht wurde und das neigte dazu, seine Freude mit stehenden Ovationen zu feiern.

„Bist du fertig, auf mir herumzurutschen, wie auf einer Rutschbahn?“, knurrte er leicht ungehalten. Irm sah ihn erst erstaunt an, dann breitete sich ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht aus.

„Aber natürlich.“ Ihr Grinsen wurde breit und mit einem letzten nachdrücklichen Hüftschwung setzte sie sich still hin. Für fünf Sekunden, dann wackelte sie wieder auf ihm herum.

„Tschuldigung, ich sitze noch nicht bequem“, behauptete sie neckisch. Aatu kniff ihr in den Hintern.

„Piekst dich was hartes?“, fragte Velvel scheinheilig. Sie brachen in lautes Gelächter aus.

 

Rafe lächelte glücklich, als er Aatu laut und fröhlich lachen hörte. Er nahm Ylvas Hand in seine und drückte sie sanft. Ylva schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Nichts gegen meinen Onkel und meinen Vater, aber mir wäre es gerade echt lieber, sie wären nicht da, und wir könnten drüben sitzen“, raunte sie ihm zu und schmiegte sich eng an ihn. Rafe seufzte unterdrückt. Ja, er würde auch viel lieber bei seinem Bruder sitzen. Nicht, dass Primus Arkos ein schlechter Tischnachbar wäre, sie hatten erstaunlich viel Spaß zusammen, aber trotzdem, Rafe sah, dass da drüben am Tisch etwas Wichtiges seinen Lauf nahm und er war nicht dabei. Er starb hier vor Neugier und bekam nichts mit! Rafe schnaubte verhalten.

Natürlich wusste er, dass Ylva bei der erstbesten Gelegenheit mit Irm darüber reden würde und ihm ausgewählte Passagen davon erzählen würde, aber er wollte es nicht irgendwann später zu hören bekommen, er wollte dabei sein! Seine Neugier brachte ihn beinahe um den Verstand.

Ein nachdrückliches Räuspern gepaart mit einem gequälten Stöhnen riss ihn aus seinen Grübeleien. Holga stand vor ihrem Tisch, ein breites Grinsen auf dem Gesicht und Perlenketten in der Hand.

Primus Arkos jammerte ein: „Oh, bitte nicht!“, was Estelle mit einem „Oh, doch, du bist ungebunden!“, quittierte, unterlegt vom hämischen Gekicher Argos. Estelle erhob sich, ließ sich von Holga die Perlen um ihr Handgelenk wickeln und zerrte Primus Arkos unnachgiebig auf die Beine. Die leidende Miene des Rudelanführers wäre ein Karikaturzeichner wert, stellte Rafe amüsiert fest.

„Los, ihr auch!“, forderte Holga und trieb ihn und Ylva mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Aufstehen an.

„Öhm, aber ich bin nicht mehr ungebunden“, protestierte Rafe zufrieden. Holga schnaubte.

„Noch seid ihr beiden offiziell nicht zusammen, also los. Und wenn der Perlentanz euch beide zusammenbringt, dann wird die alte Hedda zwar weinen, aber wir anderen werden alle sehen, dass ihr zusammengehört und dann können wir alle zufrieden und glücklich schlafen“, behauptete sie vergnügt und umwickelte Ylvas Handgelenk. Rafe stieß einen leisen Fluch aus, während er sich widerwillig erhob. Bei seinem Glück beim Perlentanz würde er wieder an der alten Hedda hängenbleiben.

Ylva hüpfte aufgeregt neben Irm in den Ring der Tänzer.

„Wie geht der Tanz?“, wisperte sie und spielte nervös mit den Perlen an ihrem Handgelenk herum. Irm lachte.

„Sieh einfach zu, dass du weder auf die Nase noch in eine der Feuerstellen fällst“, antwortete sie gut gelaunt. Ylva schnitt ihr eine Grimasse.

„Das ist nicht wirklich hilfreich, Irm!“, beschwerte sie sich und setzte gerade dazu an, weiterzufragen, als die laute Musik einsetzte, sie von irgendjemand in der Nähe an den Hüften gepackt und herumgewirbelt wurde. Sie quiekte erschrocken auf und fand sich an einer völlig anderen Stelle wieder, von wo sie gestartet war.

„Nicht denken!“, riet ihr Otsoa lachend, packte sie, drehte mit ihr ein paar Runden und schleuderte sie von sich.

„Einfach nur hüpfen und nicht in die Feuerstellen fallen!“, rief er ihr noch nach, dann hing sie in Aatus Armen.

„Er hat Recht, nur hüpfen und weg von den Feuerstellen.“ Er zwinkerte ihr schelmisch zu und weggewirbelt wurde sie. Ylva kam in den Armen ihres Onkels zum Stehen.

„Ich habe mir den Hintern versengt“, jammerte er wehleidig und Ylva kicherte albern.

„Nicht denken, Onkel! Nur hüpfen und nicht in die Feuerstellen fallen!“, riet sie ihm lachend, als sie davonfegte.

Aatu entließ erleichtert die alte Hedda aus seinem Griff und warf einen hektischen Blick über die Tanzenden, in der Hoffnung, Irm zu finden. Vor allem in der Hoffnung, Irm ohne einen mit ihr verbundenen Partner zu finden. Er sah ihre fliegenden Locken und glaubte, über die laute und wilde Musik hinweg ihr Lachen zu hören, als sie von Zev zu Primus Arkos flog. Hände kamen in seine Reichweite, Aatu packte automatisch zu und sah erstaunt in Dallins Gesicht. Der zuckte nur hilflos mit den Schultern.

„Sanda hat behauptet, wir würden als ungebunden gelten, solange der Perlentanz nichts Gegenteiliges sagt“, entschuldigte er sich, dann war er weg und Holga landete in seinen Armen.

Aatu hörte das erste Johlen und sein Kopf schnellte in die Richtung des Geräusches. Da standen die Zwillinge und ihr Süd-West-Wald-Wolf, ihre Perlenketten fest ineinander verschlungen. Aatu lächelte glücklich und ihm wurde warm ums Herz. Er war sich sicher, heute würde der Perlentanz keine falschen Paare bilden, heute würde er allen zeigen, wer zusammengehörte.

Er hatte es noch nie jemandem gestanden, aber Aatu glaubte tatsächlich an den Perlentanz. Er war der festen Überzeugung, dass die Perlen wussten, wer zu wem passte. Auch wenn sie beim letzten Mal seinen Bruder mit der alten Hedda verbunden hatten und Velvel und Zev, aber Aatu glaubte, dass das daran lag, dass es für sie damals einfach noch nicht den richtigen Partner gegeben hatte. Jetzt hing Velvel an Dallin und seinem Bruder fest, genau so, wie es sich gehörte. Es gab für Velvel nur einen Weg, einen Partner zu finden; einen, der die etwas zu innige Geschwisterliebe verstand, akzeptierte und im besten Fall teilte. Und dieser jemand war eindeutig Dallin.

Ein weiteres Johlen und Aatu betete inbrünstig, dass es Rafe und Ylva waren, doch es waren Primus Arkos und Estelle und wieder fühlte sich Aatu in seinem Glauben bestätigt.

Er tanzte weiter, Hände wechselten sich so schnell wie Sekunden flogen, immer mehr Paare fanden sich, sinnige wie unsinnige, und dann prallte er mit Ylva im Arm gegen Rafe, der mit Irm herumhopste.

Aatus Puls beschleunigte sich unweigerlich und er schob Ylva beinahe hektisch in Rafes Arme, in derselben Bewegung, wie er Irm seinem Bruder entriss. Ylva stieß einen leisen Protestlaut aus, als sie unsanft gegen Rafe prallte, doch als sie in dessen Gesicht sah, war ihre Empörung vergessen. Ihre Hände fanden sich, ihre Finger verschränkten sich ineinander und für Rafe gab es in diesem Moment nur noch Ylva.

Sie bewegten sich!

Ganz langsam und heimlich wanden sich die Perlenketten umeinander. Unbemerkt von den beiden, die sie dadurch miteinander verknüpften. Wäre Irm keine Hexe und wüsste sie nicht, was Magie alles bewirken konnte, sie wäre der festen Überzeugung, sie wäre betrunken oder hätte sich den Kopf gestoßen. Mit offenem Mund glotzte sie auf die kleinen weißen Kügelchen, die sich immer noch umeinanderschlangen. Und dann johlte jemand in ihrer Nähe los, Rafe und Ylva wurden von ihr weggezogen und ihre zusammengebundenen Hände in die Höhe gehoben. Sie drehte den Kopf zu Aatu, sie musste ihm dringend erzählen, was sie gerade gesehen hatte, als das Johlen lauter wurde, jemand ihren Arm packte und nach oben riss. Sie sah kurz auf ihre Hand, dann zu Aatu. Er lächelte leicht und nahm ihre in die Höhe gehaltene Hand in seine. Kein Blatt Papier hätte noch zwischen sie gepasst, so fest waren die Perlen miteinander verknotet.

Aatu hatte es gewusst! Zugegeben, er hatte es eher erhofft, nein, erfleht, dass er und Irm, also sie beide zusammen gewickelt, verknotet, verbunden wurden, denn jetzt konnten sie miteinander den letzten Tanz tanzen und jetzt war doch klar, dass sie zusammengehörten, denn die Perlen logen nicht, denn weshalb sollten sie sie nun schon zum zweiten Mal miteinander verbinden? Sein Herz galoppierte in einem wilden Rhythmus los.

Aatu grinste hektisch, zog Irm an sich und ging mit ihr zum Rand der Tanzfläche, um auf den letzten Tanz zu warten, den alles entscheidenden Tanz, denn der würde doch zeigen, ob sie gut zusammenpassten oder nicht. Und sie hatten so oft zusammen getanzt und Aatu wusste, dass sie sehr gut zusammenpassten, wenn sie tanzten und bei allen Höllenteufeln, bitte, bitte, sie musste es doch dann einfach kapieren und es musste einfach klappen und er klang wie ein verzweifelter Halbstarker, der keine Ahnung hatte, wie er seinen Schwarm ansprechen sollte, aber genau so fühlte er sich, denn was würde mit ihrem Rudel geschehen, wenn es zwischen ihnen nicht klappen sollte, das wäre eine Katastrophe für das ganze Rudel, wie sollte es dann weiter gehen? Er müsste es dann verlassen, denn Irm konnte nicht gehen, sie war die Rudelhexe und das Rudel brauchte seine Rudelhexe! Er war kurz vorm Hyperventilieren und er konnte nichts dagegen tun, er konnte nur dastehen und atmen und-

„Hey, kommst du? Der letzte Tanz“, riss ihn Irm aus seiner Panikattacke. Er zwinkerte verwirrt, dann klärte sich sein Blick.

„Oh, ja, natürlich. Tanzen wir“, stimmte er hektisch zu und grinste schief. Irms Lächeln war so wunderschön, es floss warm und wohlig bis zu seinem kleinen Zeh hinunter und ließ ihn verhalten seufzen.

„Lassen wir sie alle alt aussehen“, schlug Irm vor. Es musste etwas zu bedeuten haben, dass die Perlen sie nun schon zum zweiten Mal miteinander verbunden hatten, oder? Sie biss sich kurz auf die Lippe, dann hing sie plötzlich in Aatus Armen.

„Ja“, wisperte Aatu und legte seine freie Hand fest auf ihren Rücken.

„Wir beide“, fügte er hinzu.

„Wir beide“, nickte Irm. Aatu lächelte sanft.

 

Dieses Mal verschwand Aatu nicht direkt nach dem Abendessen. Er tanzte noch ein paar Runden mit Irm, dann schlenderte er mit ihr zurück zu ihrem Tisch, ihre Hand hielt er fest in seiner. Er setzte sich an seinen alten Platz neben Velvel und zog Irm zu sich auf den Schoß. Er fühlte sich gut, nein, er fühlte sich prächtig. Irm lehnte sich an ihn und seufzte zufrieden. Sie zwinkerte Seff zu, der mit einem breiten Grinsen zurückzwinkerte. Um sie herum erklang ausgelassenes Gelächter und lautes einander Zuprosten, was Irm daran erinnerte, dass sie durstig war. Sie hob ihre Hand, um nach Velvels Krug zu greifen, und erstarrte mitten in der Bewegung. Die vier Werwölfe sahen sie überrascht an. Was hatte sie? Dallin spannte sich unmerklich an, um im Falle eines Angriffs gleich zuschlagen zu können.

„Was hast du?“, raunte Aatu alarmiert.

Irm ließ den Blick schweifen.

„Was habt ihr?“, wollte sie im Gegenzug verwirrt wissen. „Ich habe eine gefesselte Hand.“ Zur Verdeutlichung hob sie ihre linke Hand in die Höhe, die immer noch an Aatus gekettet war. Dallin schnaubte und entspannte sich wieder.

„Und deshalb reagierst du, als ob Matchit wieder auferstanden wäre? Wir haben uns erschrocken!“, beschwerte sich Seff tadelnd. Irm runzelte die Stirn.

„Kann es sein, dass ihr ein bisschen neurotisch seid?“, stellte sie fest und drehte sich zu Aatu um.

„Ich glaube, wir sollten die mal wegmachen, es sei denn, du willst mich ab sofort ständig um dich herum haben“, bemerkte sie mit einem schiefen Grinsen. Aatu beschloss, dass das eine ziemlich verlockende Idee war. Er grinste sie breit an.

„Auch zum Pinkeln“, erinnerte sie ihn spöttisch. Aatu zog eine Flunsch.

„Mist, ich glaube, ich muss das kurz noch mal überdenken.“ Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Seff kicherte etwas, was sich schwer nach „Kacken“ und „zusehen“ anhörte. Aatu ignorierte ihn. Darüber nachzudenken würde die Stimmung verderben.

„Naja, aber nur, wegen dem Pinkeln“, behauptete er gönnerhaft. Nachdenklich betrachteten sie das kleine Kunstwerk an Knoten um ihre Handgelenke. Velvel beugte sich zu ihnen.

„Ihr müsst sie gemeinsam lösen, sonst klappt es nicht“, klärte er sie betont ernst auf. Aatus Blick war tadelnd.

„Das weiß ich selber“, gab er zurück. Velvel drückte unter dem Tisch fest die Daumen. Es gab nämlich noch etwas, was man über den Perlentanz sagte: Je mehr man zusammenarbeitete, umso einfach lösten sich die Knoten und je schneller war man frei und trotzdem auf Lebzeit aneinandergebunden. Velvel biss sich fast die Lippe blutig, als er sah, wie wunderbar harmonisch die beiden miteinander arbeiteten und sich von den Perlenketten befreiten. Es ging herrlich schnell und herrlich einfach. Er jubelte innerlich. Zufrieden mit der zwischenmenschlichen Entwicklung von Aatu und Irm lehnte er sich gegen Dallin, ließ sich von ihm den Oberarm kraulen und beobachtete die beiden. Er hatte es schon immer gewusst; die Perlen logen nicht. Das sah man ja an ihm, seinem Bruder und Dallin. Die Perlen wussten, wer zusammengehörte. Rafe und Ylva, er, sein Bruder und Dallin und selbstverständlich Irm und Aatu. Velvel nahm Dallins Hand und gab ihm einen Kuss auf den Handrücken.

Jetzt würde alles gut werden.

 

Das Fest ging bis kurz vor der Morgendämmerung.

Die Feuer waren heruntergebrannt und rot glühende Punkte im Dunkel der Nacht, als die Zwillinge mit Dallin in der Mitte und Irm und Aatu gemeinsam zur Wolfsburg schlenderten. Dallin gähnte laut. Er freute sich auf sein weiches Bett zwischen Seff und Velvel. Vor ihnen in der Dunkelheit hörte er Ylvas leises Gekicher. Er drehte sich zu Irm um, ohne seine beiden Begleiter loszulassen.

„Die ist richtig besoffen“, stellte er mit einem breiten Grinsen fest. Irm kicherte leise. Ja, sie hatte sehr wohl mitbekommen, dass sich ihre beste Freundin beim Herbstfest die Kante gegeben hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass Ylva so viel Alkohol vertrug. Aatu schob seine Hand unter ihre und verschränkte ihre Finger miteinander. Irm lächelte leicht. Wenn sie in Aatus Zimmer und endlich allein waren, dann musste sie ihm dringend eine Frage stellen. Auch wenn sich ihr Magen vor Aufregung und leichter Angst allein bei dem Gedanken daran zusammenzog, aber wenn nicht jetzt der Moment dazu war, dann gab es ihn nie. Ihre Finger krampften sich kurz um seine Hand, doch sie ignorierte Aatus fragenden Blick. Stattdessen bohrte sie ihren Blick in die Dunkelheit und als sie durch die Halle der Burg zur Treppe gingen, fokussierte sie ihn auf den schlafenden T-Dreieinhalb. Sein weißer Lack leuchtete regelrecht im Dämmerlicht des heruntergebrannten Kaminfeuers.

Sie gingen nach oben, die Zwillinge und Dallin verabschiedeten sich an ihrer Zimmertür und Aatu und Irm gingen mit einem verschwörerischen Grinsen auf den Gesichtern in ihr Zimmer. Irm schloss die Tür hinter sich und wartete, bis Aatu einige Kerzen angemacht hatte. Irgendwie war es eine seltsame Situation. Bis vorhin war es noch normal gewesen und jetzt machte sie der Gedanke, mit Aatu in einem Raum zu schlafen, nervös. Sie schloss die Augen und holte tief Luft.

„Bin ich es?“, stammelte sie aufgeregt. Aatu zuckte kurz zusammen.

„Nein?“, vermutete sie und spürte, wie es ihr die Kehle zusammenzog. Aber die Perlen, dachte sie. Die Perlen hatten sie doch nun schon das zweite Mal miteinander verbunden. Aatu pustete das Streichholz aus und legte es neben die Kerze.

„Ja“, nuschelte er beinahe lautlos. Irm stieß einen für ihn undeutbaren Ton aus.

„Tut mir leid“, fügte er hinzu. Auch wenn er sich freute wie ein kleines Kind, dass die Perlen sie erneut zusammengeführt hatten und dass Irm auf seinem Schoß gesessen hatte, als ob sie dort hingehörte, hieß das noch lange nicht, dass sie dasselbe fühlte, wie er. Vielleicht war das alles nur eine Art Freundschaftsdienst gewesen. Vielleicht mochte sie ihn auch nur als platonischen Freund. Er zuckte erneut zusammen, als sie ihre Hände in seine schob.

„Glaubst du an die Perlen?“

Aatu nagte auf seiner Unterlippe herum. Das war eine ganz gemeine Frage. Sollte sie nicht daran glauben und ihn nur als Kumpel ansehen, würde es ihn wie einen Idiot dastehen lassen. Und wenn sie auch daran glauben würde, dann würde sie sein bestgehütetes Geheimnis kennen. Eines, was ihm ein wenig peinlich war, weil es so kitschig und romantisch war.

„Ja“, gab er zu. Irm lächelte.

„Ich auch.“ Sie kam ihm so nah, dass sie ihn fast berührte.

Und Aatu beschloss, dass es ihm jetzt egal war.

Jede Angst, jede Sorge, jeder Zweifel.

Er entzog ihr seine Hände.

 

 

22. Von Karamell, Erdbeeren und Minze, kandierter Zuckerwatte und von einem Ende

 

Aatu entzog ihr seine Hände und legte sie sanft auf ihre Wangen.

„Ja, du bist es“, wiederholte er mit Nachdruck und beugte sich zu ihr. Seine Lippen strichen sanft über ihre, er seufzte leise. Karamell mit einem Hauch Erdbeeren und Minze. Irm erwiderte seinen Kuss und schmiegte sich an ihn.

„Ich bin froh, dass ich es bin“, sagte sie an seinem Mund. Aatu grinste kurz. Er hatte es doch gewusst, dass sie selbst beim Küssen nicht die Klappe halten konnte.

„Ich auch“, gestand er glücklich.

Ihr Kuss gewann an Intensität. Karamell mit einem leichten Beigeschmack Honigwein. Schmeckte genauso gut, wie Karamell mit Erdbeeren und Minze roch.

 

„Weißt du, dass ich so kurz davor war, deine unglückliche Liebe mit einem Suchen-und-Finden-Zauber zu belegen?“, kicherte Irm, als sie es nach ewigen Zeiten endlich geschafft hatten, sich voneinander zu trennen und ins Bett zu kriechen, und zeigte mit ihren Fingern einen verschwindend kleinen Abstand an. Aatu lag auf dem Rücken, Irm eng an sich gedrückt und strich ihr sanft über die Schulter. Er lachte leise auf.

„Ist wahr. Ich war verdammt eifersüchtig“, gestand sie und gab ihm einen Kuss auf die nackte Brust.

„Auf dich selber. Das kannst auch nur du“, gluckste er.

„Ich dachte, du stehst auf Rafe“, gab er nach kurzem Zögern leicht verlegen zu. Irm rümpfte die Nase.

„Nichts gegen deinen Bruder, immerhin ist er auch mein Rudelanführer, aber Rafe ist nichts für mich. Der ist mir nicht gewachsen“, behauptete sie grinsend. Vielleicht würde Aatu ihr irgendwann einmal sagen, wie sehr in das erleichterte.

„Ach, und ich bin es?“, scherzte er. Irm zog kurz die Nase hoch.

„Das werden wir ja sehen. Aber du hast recht gute Chancen. Du weißt, dass jetzt anstrengende Zeiten auf uns zukommen werden?“, stellte sie fest. Aatu seufzte übertrieben.

„Es wird das Grauen!“, behauptete er gespielt leidend und legte seinen freien Handrücken auf seine Stirn.

„In welches Zimmer werden wir ziehen? In deins oder meins? Werden wir das Bett an eine Wand stellen oder mitten ins Zimmer? In den Schatten oder in die Sonne? Vor ein Fenster oder vor ein Regal? Bekomme ich die linke Schrankseite oder du? Sitzt du am Tisch rechts von mir oder links? Verlangst du jeden Sonntag ein Frühstück im Bett? Bekomme ich dann jeden Samstag ein Frühstück im Bett? Oder wechseln wir uns wöchentlich ab?“, zählte er ernst auf. Irm lachte.

„Müssen wir noch anklopfen, um einzutreten, wenn der andere badet?“, fuhr sie mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht fort. Aatu drehte ihr den Kopf zu.

„Oh, das Problem können wir sofort lösen: Wir baden ab sofort nur noch gemeinsam, dann erledigt sich die Frage nach dem Klopfen. Und zur Vorsicht hext du einfach solange die Tür zu, damit keiner rein kann.“

„Ich glaube, ich möchte morgen ausgiebig baden“, behauptete Irm mit einem Schnurren in der Stimme, das Aatu durch Mark und Bein und zwischen die Beine ging. Sein Grinsen wurde eine Spur anzüglich.

„Sehr ausgiebig. Ich möchte sehr gründlich … gereinigt werden. Und ich glaube, du musst sehr gründlich gereinigt werden.“ Er gab ihr einen sanften Kuss auf den Mund. Irm grinste breit.

„Ich kann es kaum erwarten“, nuschelte sie.

„Fein. Dann ist das wichtigste Problem gelöst. Der Rest ist Kinderkram.“ Aatu drehte sich, dass er über Irm lag und stützte sich auf seinen Unterarmen ab.

„Ich bin froh, dass du du bist. Und dass du meine bist“, flüsterte er ihr ins Ohr, bevor er ihr einen Kuss darauf hauchte.

„Und ich erst.“ Irm schnappte nach seiner Unterlippe und saugte daran.

Aatu vergaß zu fragen, ob sie ihm damit sagen wollte, dass sie auch froh war, dass sie sie war, oder dass sie Aatus war, denn ihre Finger wanderten über seinen Rücken zu seinen Pobacken, um sie sanft zu kraulen, und bescherten ihm heiße Schauer und Gänsehaut. Ihre Augen funkelten herausfordernd.

Mit einem rolligen Knurren zog Aatu die Decke über sie und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss.

 

Derne sprang vom Fenstersims und landete sanft und geräuschlos wie eine Feder im Burghof. Erhobenen Hauptes tippelte er zur leicht geöffneten Vordertür, huschte hinein und zu T-Dreieinhalb, der ihm mit Standlicht den Weg wies. Das Vehikel sah ihn neugierig an.

Auf Dernes hündischem Gesicht erschien ein zufriedenes Grinsen und T-Dreieinhalb stieß einen leisen röhrenden Ton aus. Er öffnete seine seitliche Schiebetür und offenbarte lavaspeiende Vulkane, verbranntes Ödland und Flüsse aus glühendem Magma. Derne hüpfte hinein, mitten in einen Magmafluss, der zwar heiß aussah, sich aber nach einer ganz normalen Bodenplatte anfühlte und hinter ihm glitt die Tür ins Schloss.

Derne tippelte weiter, auf der Suche nach Flöckchen.

In der Luft hing der Geruch von kandierter Zuckerwatte und zwischen saftig grünen hohen Grasstängeln und bunten Wiesenblumen lag Flöckchen und putzte inbrünstig den Boden vor ihr. T-Dreieinhalb vibrierte wohlig.

Kandierte Zuckerwatte?, hakte Derne nach und gab seiner Herzdämonin einen sanften Hundekuss. Hellblaue Schmetterlinge flatterten an ihrem Köpfchen vorbei.

T-Dreieinhalb mag den Geruch von kandierter Zuckerwatte, gab sie schnippisch als Antwort. Derne schmiegte sich an sie.

Und?, wollte sie wissen. Derne seufzte herzhaft und sah sich in ihrem kleinen Idyll um. Sanfte Hügel und tiefgrüne Wälder umgaben ihre kleine Höhle, die mitten in einer paradiesischen Lichtung mit einem falschen See und einem Bächlein, das kein echtes Wasser führte, aber umso echter plätscherte, und sogar schillernde Fische beherbergte, lag. Er schnurrte zufrieden.

Sie küssen sich gerade. Im Bett, brummte er. Flöckchens Augen funkelten.

Na endlich, schnarrte sie und fuhr fort, T-Dreieinhalb zu putzen. Als wohliger Dank ließ das Vehikel eine sanfte Frühlingsbrise über sie wehen.

Schade eigentlich, bemerkte Derne und scharrte sich im weichen Gras ein kleines Nest neben Flöckchen. Die Eishundedämonin sah ihn mit leicht schief gelegtem Kopf an.

Die Zwillinge und ich hatten noch so gute Ideen, seufzte er weiter und rollte sich zu einer kleinen Fellkugel zusammen. Flöckchen schnaubte.

In der Folterkammer einschließen lässt bei Hexen und Werwölfen keine romantische Stimmung aufkommen, Derne, das habe ich dir schon duzend Mal gesagt, belehrte sie ihn herablassend. T-Dreieinhalb trötete leise zustimmend. Derne verdrehte die Augen.

Wir hatten auch noch andere Ideen!, verteidigte er seinen und den Plan der Zwillinge.

Beide nackt auf der kleinen Insel im See aussetzen ist genauso bescheuert. Das meint übrigens auch T-Dreieinhalb. Das Vehikel stieß erneut einen leisen zustimmenden Ton aus.

Ach, und was wären deine Vorstellungen von romantischer Kuppelei gewesen?, raunzte Derne seine Herzdämonin eingeschnappt an. Flöckchen schmatzte genüsslich mit dem kleinen Mäulchen.

Ein Picknick am See bei Sonnenuntergang ist romantisch. Oder ein heißes Bad mit Entspannungskräutern bei Kerzenlicht. Oder nebeneinander auf den Fellen vor dem Kamin sitzen, klärte sie gönnerhaft auf. Derne grummelte Unverständliches.

Bitte?, hakte Flöckchen hochmütig nach.

Das mach ich nur für dich, nuschelte der große und gefährliche Kriegsdämon undeutlich und starrte stur auf einen nicht vorhandenen Fleck auf T-Dreieinhalbs Grasboden. Flöckchen stieß einen grausigen Ton aus, der ein Glucksen sein konnte - oder auch nicht - und rückte näher an Derne heran.

Ich bevorzuge das Picknick, schnarrte sie mit ihrer verführerischen Stimme, die Derne durch und durch ging und ihm wohlige Schauer über das kleine Rückgrat rieseln ließ.

Dann werde ich dich sehr bald damit überraschen, versprach er sanft und stupste mit seinem Näschen gegen das ihre. T-Dreieinhalb ließ leise eine Nachtigall im Hintergrund singen und eine Sonne in den schönsten Farben untergehen. Die beiden Dämonen schmiegten sich eng aneinander und betrachteten glücklich das magische Schauspiel ihrer Behausung Schrägstrich ihres bestens Freundes, der ihnen prompt auch noch einen kleinen Schwarm Vögel schenkte, die über den roten Horizont flogen.

Oh, ja, sie waren sehr bösartige Dämonen.

Und jedem, der sie in ihrem neuen Heim besuchen kam, zeigten sie das auch überdeutlich, indem sie ihm eine verwüstete und zerstörte Welt zeigten. Aber es war doch wie bei jedem anderen auch; wenn Besuch kam, dann räumte man seine Wohnung auf. Derne kicherte leise, dachte an Aatus angewidertes und Rafes entsetztes Gesicht, als die beiden das erste Mal in T-Dreieinhalb getreten waren und sich Aug in Aug mit der scheußlichsten Vorstellung einer Hölle konfrontiert sahen.

Er war sich nicht sicher, aber er glaubte gesehen zu haben, dass Irm den einen grünen Grashalm ganz hinten in der Ecke gesehen hatte, den er, Flöckchen und T-Dreieinhalb vergessen hatten, verschwinden zu lassen.

Was würde er freiwillig in einer Höllenumgebung wohnen!

Er wollte keine Albträume kriegen! Derne hob das kleine runde Apfelköpfchen und schnupperte genüsslich an einer Butterblume. Sie roch herrlich nach Butterkeksen.

Ich mag unsere Wohnung, sagte er und kitzelte T-Dreieinhalbs Bodenplatte mit seinen kleinen Krallen.

Wenn wir Junge kriegen, werden wir alle hier wohnen bleiben, beschloss er, während er dem Vehikel einen Krallenmassage zukommen ließ. Flöckchen schnurrte zustimmend.

Für immer und immer und immer.

 

Und in der Wolfsburg des letzten Rudels Wilder Werwölfe brumme ein verzaubertes T3-Vehikel leise vor sich hin, ließ dabei sanft Wände und Boden vibrieren und schenkte den schlafenden Bewohnern und Gästen zufriedene Lächeln.

 

~~~ Ende ~~~

 

Vielen Dank an euch alle, die diese kleine Geschichte gelesen habt. Ich hoffe, ich konnte euch damit ein kleines bisschen unterhalten.

 

Liebe und dankbare Grüße - Eure Emme DeVille

Impressum

Texte: Emme DeVille
Bildmaterialien: Emme DeVille
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2014

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