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Wien
Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten zu realen Orten oder Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Wind kräuselte die Blätter der höchsten Baumkronen, als wären sie ein See aus dunkelgrünem Wasser. Das schwächliche, fade Licht des Mondes vermochte die Umgebung kaum zu erhellen. Selten blitzte er zwischen den grauen Sturmwolken hervor, die sich grollend auf ihren Einsatz vorbereiteten.
Auch unter den grünen Wellen wogten die Äste im Wind. Die Böen zerrten an dem Mantel einer hochgewachsenen, hageren Gestalt, die sich wütend gegen das Flattern ihrer Kleidung sträubte und es unentwegt neu befestigte, damit es nicht einem Segel gleich hinter ihr herwogte.
Finster starrte der Mann in den Wald, der keinen Deut heller war als der Blick, der ihm zugeworfen wurde. Heulend strichen die Luftmassen geisterhaften Katzen gleich zwischen den Stämmen umher und sorgten mehrmals dafür, dass der Fremde beinahe einen ausgleichenden Schritt nach hinten machen musste.
Natürlich glich das Wetter, wenn er sich mal vom Schloss entfernte, dem Inneren einer Kuh mit Blähungen. Es konnte nicht angehen, dass ihm das Schicksal – oder was auch immer für dieses Schweinewetter verantwortlich war – einen halbwegs angenehmen Spaziergang gönnte.
Spaziergang, schnaubte der Mann in Gedanken. Seine rechte Hand, die zuvor damit beschäftigt gewesen war, den Stoff an Ort und Stelle zu halten, griff in eine der geräumigen Innentaschen. Durch seinen eigenen Körper war das Metall erwärmt worden, sodass es angenehm auf der unterkühlten Haut seiner Hand lag. Kurz zögerte er, dann förderte er es zutage.
Beziehungsweise zunachte. Die Sonne war seit Stunden untergegangen und wenn er wollte, dass sein Ausflug unbemerkt blieb, musste er sich beeilen. Sie würden Fragen stellen, wo er gewesen sei, was er gemacht habe, wieso er zu spät gekommen sei …
Mit einem wütenden Knacken schloss sich sein Kiefer. Angespannt betrachtete er das Metall, das er aus dem Schloss hatte mitgehen lassen. Es war nichts Besonderes, vor allem nicht in dem schlechten Licht.
Kein Mondstrahl verriet die Form der Haarspange, die er in einem der verlassenen Flure des Schlosses gefunden hatte. Niemand hatte sie vermisst – wie auch? Ihre Besitzerin weilte seit langem nicht mehr auf dieser Welt.
Kurz fuhren seine Finger der schmalen, elegant geschwungenen Gestalt nach, dann schloss er die Augen. Allmählich verblassende rote Flecken pulsierten vor seinen geschlossenen Lidern, als er sich auf die Spange konzentrierte.
Wie sollte es gehen? Ging es überhaupt? Es musste! Er konnte sich das nicht alles eingebildet haben! Sorge und Wut über seine Unwissenheit rangen miteinander um seine Aufmerksamkeit und summierten sich zu einer nervösen Ungewissheit, die seine Finger leicht zittern ließ.
Seine Gedanken rasten. Es war lächerlich. Er ließ sich von einer Spange unter Druck setzen. Von einer Spange. Er konnte sich das alles nicht einbilden, nicht wahr? Man musste seinen Sinnen vertrauen; wie sollte man sich sonst in der Welt zurechtfinden? Wenn man nicht auf sich zählen konnte, wer war für einen da?
Verbissen konzentrierte er sich auf die Spange, versuchte sie im Dunkeln mit geschlossenen Augen zu sehen, mit tauben Fingern zu fühlen, irgendetwas zu erreichen. Doch die Spange blieb genau das – eine Spange, die im heulenden Wind immer mehr auskühlte wie ein abgemagerter, verlassener Windhund.
Mehrere Sekunden lang stand der Mann da, erstarrt und konzentriert, wütend und ohnmächtig. Sein Herz klopfte mit regelmäßiger Beharrlichkeit gegen seinen Käfig aus Kalk und Knorpel und belebte ihn gerade durch seine scheinbaren Bemühungen ihn zu sprengen. Die Anspannung hatte sich in alle Glieder festgefressen und nährte sich an seinem Hass.
Er musste etwas mit den Metallen machen. Niemand konnte so gut schmieden! So schnell! Sie könnten reich werden, könnten für ihre Schmiedekunst in die Geschichte eingehen; nicht in ihre Familiengeschichte oder die der Adeligen, nein, in die Geschichten, die selbst der schäbigste Bürger seinen Kindern zum Einschlafen erzählte. Mit solchen Künsten konnten Kriege gewonnen werden, ehe sie begannen.
Aber es war unmöglich. Die Gestalt wusste, dass er nicht dumm war. Er wartete immer ein paar Tage, nachdem er fertig geworden war, ehe er die Kunden benachrichtigte. Benachrichtigte mit der freundlich-distanzierten Höflichkeit, die er nicht von seinem Vater gelernt hatte, nein, von ihr hatte er sie gelernt.
Es war ausgeschlossen, dass ein Bengel ihr etwas verheimlichen konnte, dass er sie verspotten konnte mit seinen Kräften, die nicht existierten. Die linke Hand des Mannes begann zu zittern; er schob es auf die Kälte, die sie klamm machte und die Nerven reizte.
Erneut verstrichen einige Sekunden, in denen seine Gedanken mehrmals durch seinen viel zu eng wirkenden Schädel rotierten. Dann brach der Himmel. Als ob irgendeine höhere Macht von ihm enttäuscht wäre, attackierte kaltes, zu kleinen Geschossen umgeformtes Wasser den Erdboden. Das Prasseln auf den Blättern übertönte beinahe den Wind und erklang zusammen mit ihm in einer Symphonie, für die der Mann keine Ohren hatte.
Das kalte Nass lief ihm in den Nacken und unter seinen Mantel, wo es ihm einen Schauder über den Rücken jagte.
Das bringt nichts! Der Mann ließ seine Hand zuschnappen. Die Metalleiche lag einem geschwungenen Eisblock gleich in seiner Hand, ohne die Gnade zu besitzen, dem unbeständigen Kristall ähnlich zu schmelzen. Aber es ist unmöglich! Es muss möglich sein! Er ist ein Hexer, wie auch sein Vater schon einer war!
Sein Vater, noch ein unschönes Problem, wenn auch eines, das sich selbst erledigt hatte. Natürlich hatte der Fremde nie gewusst, dass sein Bruder etwas zu verbergen hatte, aber er hatte es geahnt mit der unverrückbaren Gewissheit desjenigen, dem nicht zu wissen erlaubt ist. Es war anders gewesen. Nicht in der Natur des Fluchs, sondern in seinen Folgen.
Den einen hatte es umgebracht, den anderen würde es zum berühmtesten Schmied des gesamten Jahrhunderts machen.
Mit einem Ruck drehte der im Mantel Bekleidete sich um, und das wäre auch eindrucksvoll gewesen und hätte energisch gewirkt, wenn der Boden nicht ein gleichgültiges Schmatzen von sich gegeben und Windböen die kalten Geschosse auf ihn gerichtet hätte.
Der Stoff, der seinen Körper einhüllte, war inzwischen durchnässt. Er hatte nicht damit gerechnet, von einem heulenden Unwetter überrascht zu werden. In dieser Nacht hatte er mit nichts gerechnet.
Er schritt durch die Dunkelheit, sein Zorn auf den Weg, auf den Wald und aus Prinzip auf alles und jeden gerichtet, der ihm in den Sinn kam. Sein Fuß schleuderte einen faustgroßen Stein einige Handbreit weiter weg in den Schlamm, wo er mit einem unangenehmen Geräusch liegen blieb.
Wurde er verspottet? War das das Ziel seines Bruders gewesen? Nein, dazu hätte er nie die Geistesstärke gehabt. Aber er konnte es sich nicht eingebildet haben. Was war los? Was entging ihm? Wenn er die Kontrolle verlor …
Er zwang sich, tief durchzuatmen. Ja, ihm entging etwas. Nein, das würde ihm nicht in den Rücken fallen können. Der Junge wusste nicht, dass der Verhüllte unwissend war. Mal abgesehen davon, dass der Bengel nicht die Kraft hätte, sich gegen ihn zu stellen und akzeptiert zu werden.
Davon beruhigt wandten sich seine Gedanken erneut der Spange zu, die noch immer von seinen Fingern umschlossen war. Im Takt seines erbosten Herzens konnte er seinen Puls durch die Gelenke jagen spüren, zwischen ihnen das Metall.
Etwas Seltsames passierte. Es war so abstrakt, so unerklärbar, dass er für einige Sekunden abstreiten wollte, dass es geschehen war. Sein Wille setzte sich letztlich durch. Es musste Einbildung gewesen sein.
Man konnte Metall nicht mit geschlossenen Augen sehen. Man konnte Metall nicht mit tauben Fingern fühlen. Noch wichtiger, und dessen war er sich sicher, so etwas hätte man ihm längst verraten: Man konnte das Metall nicht flüstern hören.
Eine Gänsehaut jagte über seinen gesamten Körper, wesentlich machtvoller, als je eine durch Kälte verursachte Gänsehaut ihn hätte heimsuchen können. Reflexartig schleuderte er die Spange weg, weit weg von sich. Das Flüstern verschwand, erstickt vom aufgeweichten Waldboden. Gleichzeitig übermannte ihn eine Erschöpfung, die er auf seine Unruhe und die Anspannung schob – immerhin war das nicht sein einziges Problem; da war auch Shenoa …
Was auch immer es war, das der Bursche konnte, er aber nicht, es war nicht das. Konnte nicht sein. Durfte nicht sein.
Während der Fremde im Mantel ohne die Spange zurück zum Schloss ging, von seinen eigenen Sinnen gejagt, hob einige Gehminuten weiter weg jemand den Kopf. Es war wahrlich eine fürchterliche Nacht, um sammeln zu gehen oder einen Botengang zu erledigen; leider war er nicht in der Position, irgendetwas an der Notwendigkeit des Ausflugs zu verändern.
Und ebenso, wie der Mantelträger seine Wahrnehmung als Einbildung abgetan hatte, wollte auch der Unfreiwillige es handhaben. Doch der jung aussehende Mann wusste um die Risiken, falls er sich irrte und ihnen jemand entging. Die Energie war schwach gewesen; zu schwach, um eine Richtung auszumachen, zu wissen, wer sie losgelassen hatte oder welcher Natur sie war.
Er würde es nicht dem Zufall überlassen, ob sie meldungswürdig war oder nicht. Erfahrungsgemäß war der Zufall ein unzuverlässiger Geselle, gerade dann, wenn man ihn dringend brauchte; da war er schlimmer als das Schicksal.
Der Mann wandte sich um, das nasse Gewand in einer gedankenverlorenen Geste glattstreichend, und schritt in die zum Mantelträger entgegengesetzte Richtung. Über ihm wogten die grünen Tiefen des Blättermeers, vom Wind angetrieben, vom Regen gejagt.
Graue Wolken türmten sich und entließen ihre Last in großzügigen Portionen, die von einem enthusiastischen Wind Vorhängen, die sich hoben und senkten, gleich durch die Luft gepeitscht wurden. Selbst durch die Mauern des Schlosses konnte er das Heulen des Sturms klar vernehmen.
„… weswegen der kommende Ball von herausragender Bedeutung für dich sein wird“, schloss Leopold.
Keanu starrte aus dem Fenster der Bibliothek auf den vom Windregen gepeitschten Wald. Streng genommen war es keine Bibliothek; die Bibliothek war ein viel größerer Raum, der sich über drei Stockwerke erstreckte und Generationen an verstaubten Büchern beinhaltete, also alles, was die Familie Susurr jemals schriftlich hatte festhalten wollen. Jede einzelne Ausgabe, jeder Auftrag und jeder Gewinn waren peinlich genau festgehalten, nach Datum sortiert und jederzeit einsehbar.
Zugegeben, dachte Keanu, während er den Regen beobachtete, der wie ein Vorhang aus Tropfen ähnlich einem grau-weißen Schleier vom Wind gehoben und gesenkt wurde, hat es dieser Familie einiges an Reichtum gebracht, immer genau zu wissen, wie viel Geld sie hat. Ein mentales Seufzen begleitete seinen nächsten Gedanken. Und bald schon habe ich die Leitung über diese Geldmaschinerie …
„Warum gerade der nächste Ball?“, fragte Keanu, ohne sich umzudrehen. „Es wird noch mindestens einen dieses Jahr geben.“
„Weil es geradezu ideal ist“, antwortete Leopold gereizt. Er war das Familienoberhaupt, soll heißen: in der Theorie verfügte er über das Leben vierer Menschen, in der Praxis von dreien. Und selbst bei drei war sich Keanu nicht sicher, ob es nicht zwei oder gar nur er waren.
„Immerhin werden wir unser Fest ganz dem ertragreichen Jahr widmen“, fuhr Leopold fort, ohne richtig mitzubekommen, dass sein Neffe geistig höchstens zu siebzig Prozent anwesend war. „Die Feldarbeit war in der diesjährigen Saison sehr ergiebig! Ergiebig genug, dass wir vieles teuer verkaufen können, wenn wir die Erzeugnisse noch ein wenig bearbeiten. Wir haben massenweise Nahrungsmittel – genug, um auch welche bei unserem Fest zur Schau zu stellen. Was glaubst du, wie erpicht die Väter der ganzen Mädchen sein werden, dass du eine ihrer Töchter heiratest, wenn sie das alles sehen?“
Keanu konnte es sich nur zu gut vorstellen. Sie würden seinen Onkel beiseite nehmen und Angebote machen, welche Begünstigungen die Susurrs im Handel mit der entsprechenden Familie bekommen würden, wenn sie diese und jene Tochter mit dem einzigen Sohn und Erben verheirateten …
Aber das würden sie auch ohne die Zurschaustellung des Essens machen. Keanus Gabe sorgte dafür, dass es ihm nicht an Mädchen mangelte, die bereit waren ihn zu heiraten. Sein Aussehen mochte durchschnittlich sein, aber sein Erbe war gigantisch und seine Schmiedekünste so gut, dass er nur auf Auftrag etwas herstellte und sich das teuer bezahlen ließ.
„Ich denke nicht, dass es tatsächlich bei diesem Ball sein muss“, erwiderte Keanu entschlossen und drehte sich zu seinem Onkel um. „Wieso sollte ich mich jetzt schon entscheiden müssen? Wir machen den Oktoberball und den Neujahrsball, und spätestens im März gibt es sicher noch ein Sonnenwendfest … wann genau eigentlich?“
„Am zwanzigsten oder einundzwanzigsten März, so genau weiß ich das noch nicht“, antwortete Leopold nach einem kurzen Moment des Zögerns, ehe er ungeduldig wurde. „Beim Dämonenherrn, wieso willst du nur so lange warten? Ab sechzehn dürfen Sprösslinge das Erbe ihrer Eltern verwalten, so steht es im Gesetz! Du hättest bereits seit vier Monaten heiraten können!“
„Das mag ja sein“, antwortete Keanu, „aber warum hätte ich? Mal ehrlich, zu dem Goldährenball sind nur sehr wenige gekommen. Ich finde, dass ich noch bis zum Neujahrsball warten sollte … oder gar bis zum Sonnenwendball.“
Leopold setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Keanu schnitt ihm bestimmt das Wort ab. „Wieso machst du dir überhaupt so viele Gedanken darüber? Ich achte beim Ball einfach etwas mehr auf die Mädchen, bleibe höflich wie immer, bin der wohlerzogene Junge aus dem Geschlecht der Susurrs, und so weiter und so weiter. Spätestens in einem Jahr werde ich geheiratet haben. Ich an deiner Stelle würde mir eher Sorgen wegen Gwyni machen.“
Zugegeben, das war nicht gerecht gegenüber Gwyneira, aber es funktionierte – wie immer. Leopold runzelte die Stirn und sah Keanu abwesend an. „Gwyn ist ein ganz anderes Kapitel.“
„Allerdings“, stimmte Keanu zu in der Hoffnung, dass ihm dreisilbige Antworten helfen würden, aus dem Kreuzfeuer seines Onkels zu kommen. Theoretisch gehört das ganze Familienerbe mir, erinnerte er sich. Ich könnte mich jederzeit dazu entschließen, die Verwaltung zu übernehmen. Leo … ist nur derjenige, der für mich die gröbsten Stöße abfängt, wenn jemand nach mir tritt.
Sein Onkel schien das bedeutend anders zu sehen. Aktuell verlor er sich in einer Ausführung seiner schrecklichen Probleme damit, dass jemand in der Familie – ausgerechnet bei einem solchen Engpass! – einen Genfehler hatte.
„… wäre natürlich gut, wenn ich sie verheiraten könnte, aber wie soll das gehen? Es gibt bedeutend schönere Mädchen, und Nasrin ist eines davon …“
Keanu schaltete ab. Er starrte quer durch den Raum, der mit Büchern zugepflastert war. Die meisten von ihnen betrafen Rechnungen – noch etwas, das sein Onkel glücklicherweise für ihn übernahm –, andere handelten von der Schmiedekunst, der Beschaffenheit der einzelnen Metalle und verschiedenen Techniken, beispielsweise wie das Metall bei einem Schwert härter werden konnte als bei normal geschmiedeten Waffen.
Er hatte all die Bücher ja nicht nötig, aber nicht einmal Leopold wusste, was es mit seinem Talent auf sich hatte. Sicher war er sich nur, dass es um Metall ging und die Gabe Metallflüstern genannt wurde. Keanu mochte diesen Namen nicht, obwohl er zugeben musste, dass er passend war. Er hörte das Metall um sich herum flüstern und hörte, wie es zu ihm sprach … spürte die Metalle in den Körpern der Menschen, Tiere und Pflanzen, denn obwohl sie nicht so wichtig waren wie Wasser, funktionierte ohne sie nichts …
„… lässt sich bestimmt etwas machen. Nasrin ist ja eine wahre Schönheit, vielleicht gefällt sie einem der jungen Herren, wenn nicht sogar gleich mehreren – da fällt mir ein, sie braucht unbedingt ein neues Kleid, das alte schmeichelt ihr nicht mehr …“
… und mit ihnen arbeiteten wesentlich mehr Dinge, die nicht notwendig waren. Er zog die Brauen leicht zusammen. In der letzten Nacht hatte er viel gearbeitet. Nicht, weil er einen Auftrag gehabt hatte; er fertigte gerne kleinere, nutzlose Gegenstände an, wenn ihm danach war. Kurz, für einen einzigen Moment, hatte er geglaubt, noch jemand anderen zu spüren. Jemanden, der an Metall gearbeitet hatte. Der Moment war so flüchtig gewesen, dass nicht mehr zurückgeblieben war als eine leicht gedrückte Stimmung. Ein anderer Magier, noch dazu mit derselben Gabe – das konnte kein Zufall sein, wenn es tatsächlich so war.
Keanu lenkte seine Aufmerksamkeit kurz auf den Monolog seines Onkels, doch es war nichts Wichtiges dabei. Zufrieden wandte er sich seinen Gedanken zu. Es gab genügend sesshafte Leute in der Nähe, die Magier sein könnten – plus Reisende, von denen er nichts mitbekam.
Selbst im Schloss könnte es einen zweiten Metallflüsterer geben, aber das wäre ihm aufgefallen. Ein mehrere Sekunden andauerndes Zögern befiel ihn. Wäre es ihm wirklich aufgefallen? Sein Blick wanderte durch das Fensterglas und den windigen Regen ins Nichts, bis er zu dem Schluss kam: Wahrscheinlich nicht.
Wenn er ehrlich war, könnte es jeder sein, selbst einer der Bediensteten. Keanu wusste nicht, ob er in der Lage war, einen Magier zu erkennen – woher auch? Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, es auszuprobieren. Gleichzeitig kam ihm der Gedanke an einen Magier im Schloss absurd vor. Da waren er, Leopold, seine beiden Schwestern und zeitweise seine Mutter. Und die Bediensteten, etwa ein halbes Dutzend, je nach Saison mehr.
Der letzte Brief seines Vaters kam ihm in den Sinn. In Kombination mit dem kurzen Aufflackern einer schwachen oder weit entfernten Magie schienen die Zeilen geradezu offensichtlich auf eine Tatsache zu deuten, die er nicht wahrhaben wollte.
Nicht nur du bist betroffen, lautete einer der letzten Absätze des Briefes. Vielleicht sind es auch deine Schwestern. Das weiß ich nicht –wenn sie dir irgendetwas dazu sagen, musst du dafür Sorge tragen, dass niemand anderes es erfährt! Auch Leopold darf davon nichts wissen!
Ausdruckslos starrte der Sechzehnjährige nach draußen. Dass er nichts über seine Gabe verraten durfte, war eine der wichtigsten Botschaften gewesen, die ihm sein Vater mit dem Brief übermittelt hatte. Es war ihm nicht gelungen – keiner wusste Genaues, aber alle im Schloss inklusive der Bediensteten hatten eine vage Ahnung, dass es bei seinen Schmiedekünsten nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Es war nicht die Kunst, die ihn verriet; begabte Schmiede konnte es ebenso geben wie begabte Musiker, die bereits im Kindesalter Hervorragendes leisteten – die Zeit war es. Er war zu schnell und dabei zu gut.
Aber seine Familie … Er warf einen kurzen Blick auf Leopold, der weiterhin seinen Vortrag über Keanus Schwestern hielt. Der Junge hatte den Eindruck, dass sein Onkel absichtlich so eine ausschweifende Rede zum Besten gab, und kurz war es ihm, als ob ein bohrender Blick auf ihm lag, der mehr als seine Aufmerksamkeit testen wollte – dann verwarf er den Gedanken. Dieser Mann konnte unmöglich ein Magier sein.
Ebenso wie seine Schwestern. Oder seine Mutter. Sein Vater war einer gewesen – woher sonst hätte er darüber zu schreiben gewusst? –, doch obwohl das ausreichen würde, um die Zwillinge mit einem Stück seiner Macht auszustatten, glaubte Keanu es nicht.
Keine von ihnen zeigte irgendwelche Besonderheiten.
Das war schlecht formuliert.
Keine von ihnen zeigte irgendwelche Besonderheiten fernab der Besonderheiten, die sie auszeichneten. Und eine Hingabe zu Pflanzen oder Zurückgezogenheit konnten nicht ernsthaft als Zeichen der Magie angesehen werden, nicht wahr?
Erneutes Zögern machte sich in ihm breit. Woher sollte er wissen, ob sie sich seltsam verhielten? Er verbrachte kaum Zeit mit ihnen; war mit Leopold, den bald auf ihn zukommenden Regierungsgeschäften oder seiner Schmiede beschäftigt. Eine enge Geschwisterbeziehung sah anders aus.
Ärgerlich schüttelte er den aufkeimenden Gedankengang ab. „Du solltest spätestens übermorgen einen Schneider herbestellen, damit Nasrins Kleid rechtzeitig fertig ist. Hast du bereits eine Rückmeldung bekommen, welche Familien alle vertreten sein werden?“, wandte er sich an seinen Onkel, um sich von weiteren gedanklichen Ausschweifungen abzuhalten.
„Was? Oh, ja, ja …“ Leopold zählte rasch die Namen auf, die ihm einfielen, und fügte hinzu: „Nur die Familien aus dem Silere werden nicht kommen, zumindest nach dem letzten Stand der Dinge – Krankheitsfall. Könnte sich aber noch ändern.“
„Wollte noch irgendjemand auf den Ball, ohne, dass wir ihn eingeladen hätten?“, fragte Keanu mit geheucheltem Interesse nach. Er bemerkte beunruhigt die verunsicherte Stille zwischen seiner Frage und der nächsten Aussage seines Onkels.
„Ja, allerdings.“ Leopold runzelte die Stirn und sah seinen Neffen irritiert an. „Zwei Vertreter aus einem Hause, von dem ich selbst noch nicht sehr viel gehört habe, aber angeblich soll es auch recht hoch in der Hierarchie sein …“
„Wie heißt es?“, wollte Keanu ungeduldig wissen. Wir sind uns ähnlicher, als ich es als Außenstehender gutheißen würde, musste er sich eingestehen.
„Den Namen konnte ich mir beim besten Willen nicht merken, Keanu, aber vielleicht finde ich den Brief“, meinte der Onkel in einem Ton, der das hörbare Äquivalent zu einem tadelnd gehobenen Zeigefinger war.
Natürlich findest du ihn wieder, dachte der Erbe und fixierte eines der dicken alten Bücher, die seit mindestens zwei Jahren in diesem Raum lagen und selten gebraucht wurden, erleichtert, ein ablenkendes Gesprächsthema gefunden zu haben. Du hebst alles auf … wenn irgendjemand irgendetwas von der Familie schriftlich will, ist es für die nächsten fünfzig Generationen frei zugänglich, darauf kann man sich bei uns Susurrs verlassen.
„Sie kommen jedoch nicht aus Dominien.“
„Nicht?“, fragte Keanu überrascht. „Aus Eone?“
„Nein. Aus Folium.“
Keanu erstarrte in seiner Position, während er angestrengt versuchte sich zu erinnern, was Folium war. Ach ja, ein Königreich nördlich von Dominien. Nach weiteren nachdenklichen Sekunden fiel ihm ein, dass es das nordöstlichste Königreich auf dem Kontinent war. Es besaß auch zwei Drittel der Wasserberge, einem Gebirgszug, der in Dominien das letzte Drittel hatte. Abgesehen davon fiel Keanu nichts zu dem Land ein.
Aus Folium … warum wollte eine Familie, von der sie bisher kaum gehört hatten, in Kontakt mit ihnen treten? Keanu runzelte die Stirn. „Und sie hatten vorher noch nie etwas mit uns zu tun?“
„Nein. Zumindest noch nie direkt. Ich glaube, mit einem unserer Handelspartner betreiben sie ebenfalls Handel, ansonsten habe ich ihren Namen noch nie gehört.“
Normalerweise wäre Keanus Antwort gewesen: Es gibt für alles ein erstes Mal. Doch jetzt war er zu beschäftigt, um eine nichtssagende Antwort zu geben. „Können wir sie irgendwie abweisen, ohne unhöflich zu wirken?“
Leopold schüttelte bestimmt den Kopf und ging zu seinem Schreibtisch. „Definitiv nein, Keanu. Es hat eine Familie abgesagt und eine hat noch nicht geantwortet. Sonst könnten wir sie mit der Begründung abweisen, dass der Ball bereits ausgelastet ist und sie es beim nächsten Mal ruhig noch einmal versuchen können, aber wir haben mindestens einen Platz frei, den wir verplant hatten. Du weißt ja, früher oder später würden sie davon erfahren.“
Keanu seufzte. Er mochte es nicht, mit fremden Personen in Kontakt zu treten und etwaige Handelsabkommen mit ihnen zu schließen. Noch weniger konnte er es leiden, wenn diese Wildfremden nicht aus Dominien kamen, denn das bedeutete, dass er sich garantiert blamierte, da er die entsprechende Kultur nicht oder unzureichend kannte.
„Es wird kein Mädchen von ihnen sein“, sagte er mit Bestimmtheit in der Stimme.
„Der Meinung bin ich auch“, antwortete sein Onkel, als ob er mindestens so viel zu dem Thema zu sagen hätte wie Keanu. Dieser ließ ihn für heute in diesem Irrglauben – sein Vater hätte über seine Ehe bestimmen können, auch seine Mutter, aber sein Onkel hatte nicht mehr Mitbestimmungsrecht als seine Schwestern. Der Unterschied lag darin, wie er es ihm gegenüber formulierte und was er ihm nicht sagte.
Der Regen ließ nach.
Gwyneira saß auf dem Ast einer Kastanie, die sich auf der Insel angesiedelt hatte. Diese war so groß wie zwei bis drei Zimmer des Mädchens nebeneinander, also die größte auf dem gesamten See. Bei schweren Unwettern wurde sie überflutet und die Landschaft veränderte sich ein wenig, da der Kern der Insel zwar aus Stein bestand, der Rest aber zu Sand und Erde geworden war.
Trotzdem hatten einige Pflanzen beschlossen, die Insel dauerhaft zu besiedeln. Gwyneira wunderte sich über ihren Erfolg. Die Kastanie hatte den alljährlichen Bemühungen des Sees sie zu entwurzeln vor Jahrzehnten als Keimling standgehalten und sich schnell genug angepasst, dass sie lebte.
Vielleicht war es diese Begebenheit, die Gwyneira an dem Baum faszinierte. Sie hegte nicht viel Interesse gegenüber der Flora – sie wusste, dass die Bäume dafür verantwortlich waren, dass sämtliche tierische Organismen überleben konnten, und zwar in mehrfacher Hinsicht, aber genauer hatte sie sich nie dafür interessiert und sie bezweifelte stark, dass sich das in Zukunft ändern würde. Nasrin wäre, wenn Gwyneira ihr das gesagt hätte, dermaßen wütend geworden, dass sie den legendären Drachen um nichts nachgestanden und einem Sturm gleich den Sprecher des Vorwurfs mental vernichtet hätte, denn Pflanzen waren ihr Ein und Alles. Für ihre Geschwister waren sie lediglich Dinger, die aus der Entfernung grün aussahen und bei näherer Betrachtung auch ein wenig Braun beinhielten.
Die einzige Ausnahme war die Kastanie. Gwyneira war sich sicher, dass ihre Geschwister sie nicht für mehr als einen Flecken Grün zwischen den Wellen hielten; sie hatte ihre Lieblingspflanze in ihr gefunden.
Obwohl das Unwetter in der Nacht stark gewesen war, hatte der Baum davon nur eine Spur getragen – ein größerer Ast, der weit auf den See hinausgeragt hatte, war in der Mitte abgebrochen und zu Treibgut geworden. Ansonsten war der Baum in einem Stück geblieben.
Wie immer.
Gwyneira entfaltete ihre Flügel und musterte sie bei weitem nicht zum ersten Mal. Sie hatte gehört, dass viele Menschen vom Fliegen träumten und sich mehr als ein verrückter Wissenschaftler an irgendwelchen Flugmaschinen versucht hatte und zu Tode gestürzt war, was seine Nachfolger dazu veranlasst hatte, klüger vorzugehen, aber der Mensch Gwyneira hatte diese Sehnsucht nie verspürt. Während andere davon träumten, das, was sie kannten, aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, über es hinwegzugleiten und sich dabei kaum anstrengen zu müssen, hatte sie ihren Traum verwirklicht.
Sie war tauchen gegangen. Die Welt unter Wasser war eine, die sonderbar genug war, um interessant zu bleiben, und vertraut genug, dass sie interessant war. Es gab, wie auch an Land, Erhebungen und Vertiefungen im Boden, Wälder aus Pflanzen und Tiere verschiedenster Arten. Einer der wichtigsten Unterschiede war die Schwerelosigkeit, die selbst ein Vogel nie spüren würde.
Diese war einer der Gründe, wieso der Mensch Gwyneira regelmäßig tauchen ging. Wieso sollte ein Wesen, das zwei Beine und zwei Arme hatte, träumen wegzufliegen, wenn es sich durch das Wasser manövrieren konnte?
Gewiss, nicht übermäßig elegant, keineswegs effektiv und nicht annähernd so schnell wie auch nur kleinste Fische, die unmöglich zu berühren waren, doch gut genug, um nicht ständig gegen Felsen zu donnern oder unterzugehen.
Vor fünf Jahren hatte Gwyneira zum ersten Mal die Sehnsucht nach der Schwerelosigkeit außerhalb des Wassers gespürt, allerdings – vermutete sie – anders als die meisten Menschen. Sie hatte nicht einfach losfliegen wollen.
Es war ein Gefühl, das sich schwer beschreiben ließ. Sie war auf dem Seeturm gewesen – ihr damaliger Lieblingsort, da sie die Insel nur schwimmend hatte erreichen können – und hatte auf den See gestarrt, wie sie es auch heute noch tat. Sie war am Rand gestanden, direkt hinter den Zinnen, und hatte zu den Wellen gesehen, die unter ihr gegen den kleinen Hafen geschwappt waren.
Gwyneira erinnerte sich, dass ein leichter Wind geweht hatte, als sie ihn zum ersten Mal gespürt hatte. Es war gewesen, als hätte sich tief in ihrem Inneren etwas bewegt – eine Empfindung, die mit Worten schwer nachvollziehbar geschildert werden konnte –, dann hatte sie eine Anspannung, eine Energie gespürt, die sie eingenommen, ihr keine Wahl gelassen hatte.
Ohne nachzudenken war sie auf die Zinnen geklettert. Einen kurzen Moment lang hatte sie alles gleich und anders gesehen – die Höhe war beängstigend und potenziell gefährlich, aber auch berauschend; der Wind war eine Bewegung größerer Luftmassen, aber auch eine Möglichkeit, sich in den Himmel zu schrauben und dem Boden zu entsagen; das Seewasser war vertraut und unvertraut gewesen, als ob es ein anderes Wasser, vielleicht das des Meeres, hätte sein müssen.
Aber es war Wasser, und da war Wind, und da war sie. Mehr hatte sie nicht gebraucht.
Instinktiv hatte sie die Arme positioniert, als ob sie Flügel wären, und war gesprungen. Der Mensch Gwyneira hätte Angst haben sollen, der Vogel Gwyneira hätte vor Freude jauchzen sollen. In diesem kurzen Stadium, das nie länger als einige Sekunden anhielt, eher Millisekunden, waren beide Wesen vereint, obwohl sie grundverschieden waren.
Die Angst des Menschen und die Euphorie der Raubmöwe hatten sich zur Konzentration vereinigt. Ein helles Licht war Herzschläge später rund um Gwyneira erstrahlt und hatte sie umhüllt, ohne sie zu blenden. Als sie wieder hatte sehen können, hatte sie den Wind mit ihren Flügeln eingefangen und der Mensch mit seinen Sorgen, seiner Angst und seiner Erdgebundenheit hatte sich zurückgezogen, um später gerufen zu werden.
So war es seit dem ersten Mal immer gewesen. Einmal hatte sie sich drei Wochen lang nicht verwandelt und festgestellt, dass der Vogelkörper ein Bedürfnis war, das dem Trinken nahe kam: Sie brauchte es, sie musste sich verwandeln. Wenn sie es nicht kontrolliert tat, würde sich die Raubmöwe Gehör verschaffen und mit etwas Glück mitten auf einem Ball erscheinen, was suboptimal gewesen wäre.
Daher mochte sie den Seeturm – wenn auch nicht so sehr wie die Kastanie auf der sich neugestaltenden Insel. Während der Turm einen hervorragenden Verwandlungsort bot und Zeit, sich im Flug zu fangen, konnte sie sich hier niederlassen und das Schloss, den Wald, den See und die Bediensteten aus ihrem sicheren Versteck beobachten.
Sie blinzelte und betrachtete die braunen Flügel ausgiebig. Die Raubmöwe liebte es zu fliegen, es war dasselbe Gefühl wie als Mensch zu gehen und zu laufen. Es war nicht mühelos, sogar anstrengend, aber das Ergebnis waren die Distanz, die Geschwindigkeit, die Luft, die vorbeistrich und sich von ihr kontrollieren ließ … das Ergebnis war das Gefühl, fliegen zu können.
Liebevoll ließ Gwyneira ihren Blick über die klar erkennbaren Reihen der Federn gleiten, die ihre Flügel bedeckten. Sie hatten eine braune Farbe und waren auf der dem Himmel zugewandten Rückseite dunkler als auf der Vorderseite. Rücken und Bauch waren von einem helleren Braunton.
Die hellsten Federn waren an der Spitze der Flügel zu finden, wo sie länger als die restlichen waren und sich von der Flügelspitze bis zum Flügelansatz am Rücken an der unteren Seite entlangzogen. Ihr Ansatz war weiß, wurde im weiteren Verlauf dunkelbraun, das auf der dem Korpus abgewandten Seite heller war. Die Trennstelle zwischen den Farbschattierungen wurde von einem weißen Strich gebildet, der die Spitze nicht erreichte.
Aus dem welligen Spiegelbild, das der See ihr an ruhigen Tagen bot, wusste Gwyneira, dass ihr Schnabel gerade, etwa zwei Drittel so lang wie ihr Kopf und dunkelgrau war. Eine weitere Besonderheit, die sie als Wasservogel auszeichnete, waren die Schwimmhäute an ihren Füßen, die einen ähnlichen Farbton hatten.
Abgesehen davon, dass das Wasser sich falsch anfühlte, es unter ihrem Federkleid im Sommer viel zu warm war und ihr jetzt, da die Temperatur knapp über zehn Grad lag, heiß war, war die Stelle am See perfekt. Ihre Füße waren nicht dafür gemacht, sich an irgendeinem Ast festzukrallen, aber ebenso, wie sie sich als Mensch Verhaltensweisen antrainieren konnte, konnte sie auch ihren Möwenfüßen sagen, dass sie etwas machen sollten, das sie normalerweise nicht machen würden.
Gwyneira sah auf, als eine Lichtreflektion auf dem Wasser sie darauf aufmerksam machte, dass die Dämmerung angebrochen war und die Sonne demnächst aufgehen würde. Die Wolken hatten sich genug gelichtet, dass die Umgebung der Tageszeit entsprechend heller wurde.
Tagsüber, wenn die Sonne schien, war sie lieber ein Mensch. Sie war sich nicht sicher, wo ihr Vogelkörper in der Natur lebte, wenn er nicht an einen Menschenkörper gebunden war, aber sie war sich sicher, dass es kein Süßwassergewässer im Westen Dominiens war.
Gwyneira hob ab und flog flügelschlagend zurück in Richtung Schloss. Sie genoss das Gefühl des Fliegens, des Gleitens, und beobachtete die Wellen unter ihr, bis sie dem Schloss nahegekommen war. Rasch gewann sie an Höhe und flog zu dem Seeturm, der zwanzig Meter über dem Hafen aufragte.
Die Raubmöwe überwand die Zinnen und rief stumm in sich hinein. Der Mensch entfaltete sich und für eine kurze Zweit waren sie zwei Wesen in einem – der scharfe Blick des Skuas, die lebhafte Phantasie des Menschen, das Gefühl des Windes auf den Federn und auf der Haut … dann umgab sie ein helleres Licht, als sie es irgendwo gesehen hätte – lediglich Blitze hielten mit, aber dafür waren sie von wesentlich kürzerer Dauer – und ihre Beine stießen gegen den über Nacht abgekühlten Steinboden.
Da sie nicht zum ersten Mal auf dem Turm landete, hatte sie abschätzen können, in welcher Höhe sie sich verwandeln musste, um aufrecht stehen bleiben zu können und nicht umzukippen, aber sie war zu weit unten gewesen und taumelte zwei Schritte nach hinten, ehe sich ihre Wahrnehmung auf ihren Menschenkörper fokussierte und sie ihr Gleichgewicht wiederfand.
Die Raubmöwe, die kurzzeitig präsent gewesen war, zog sich zurück und Herzschläge später war sie zu einer Erinnerung verblasst und zu einem dumpfen Gefühl, dass sie jederzeit wiederkommen konnte, wenn Gwyneira sie brauchte oder sie zu lange ignorierte.
Vor den ersten Strahlen der Sonne flüchtend bückte sie sich, öffnete die Falltür und ging zurück ins Innere des Turms. Sie schloss die Klappe sorgfältig – es war auf den Fluren des Schlosses kalt genug; sie brauchte keine zusätzliche Kälte von zwanzig Metern über dem Boden – und wandte sich der Wendeltreppe zu, um rasch nach unten zu steigen, während sie die Handschuhe auszog und sie zurück in ihre Taschen steckte.
Als sie aufblickte und einen Schritt zur Treppe gemacht hatte, sah sie den verwirrt wirkenden Bediensteten. Es gab nicht wirklich eine Uniform für die Angestellten – es waren so wenige, dass jeder jeden kannte; selbst Leopold dürfte jeden Bediensteten erkennen –, aber es gab eine typische Kleidung.
Der Mann trug diese – ein hellblaues, verwaschen wirkendes Hemd, das in der dunklen, durch Schmutzflecken verunstalteten Hose steckte und im gepflegten Zustand formeller wirkte, so hingegen aussah, als wäre es nach mehreren anstrengenden Tagen auf den Boden geworfen und widerwillig am nächsten Morgen angezogen worden.
Gwyneira zögerte. Es war ein seltenes Ereignis, dass jemand hierher kam, vor allem um diese frühe Zeit. Der junge Mann fand seine Sprache ein paar Sekunden schneller als sie.
„Guten Morgen, Rapeka“, grüßte er.
Ihr Reaktionsvermögen setzte für ein paar Sekunden aus. Die Anrede, die der Bedienstete verwendet hatte, stammte aus dem Alt-Dominischen und klang dermaßen unvertraut in ihren Ohren, dass sie sich kurz die Stunden mit ihrer Mutter in Erinnerung rufen musste, um sich zu erinnern, warum er sie nicht beim Namen nannte.
Natürlich, das wäre vermessen, fügte sie ihrem Gedankengang hinzu. Er würde nie eine Kündigung riskieren. Vor allem, da er – wenn sie sich richtig erinnerte – im letzten Frühjahr von seiner Familie zu ihnen geschickt worden war, als eine Stelle dauerhaft frei geworden war.
„Morgen, …“ Sie suchte nach seinem Namen, fand ihn nicht und entschied sich, die Anrede bleiben zu lassen. Ihr war das per Protokoll erlaubt.
Der junge Mann holte rasch die Verbeugung nach, die er der jüngsten Adelsgeneration schuldete, und sagte, nachdem er sich aufgerichtet hatte: „Ihr seid früh auf den Beinen, Rapeka, wenn Ihr mir die Anmerkung erlaubt.“
Gwyneira knetete den Handschuh, den sie noch immer in Händen hielt. Sie wollte zu einer entschuldigenden Antwort ansetzen, als sie sich daran erinnerte, in welcher Position sie war. Vor ihm brauchte sie sich nicht zu entschuldigen – und sonst war niemand da, der ihr vorwerfen könnte, ein wenig adeliges Verhalten an den Tag zu legen.
„Das stimmt“, antwortete sie knapp. Selbst in diesen zwei Worten konnte sie ihre zögerliche Unsicherheit heraushören.
Was sollte sie jetzt sagen?
Noch ehe sie ihr Hirn nach einer brauchbaren Antwort durchwühlen konnte, half ihr der Bedienstete – als ob er ihr Zögern bemerkt hätte. „Ich wollte Euch nicht stören, Rapeka. Soll ich wieder gehen?“
„Nein, nein, ich geh‘ schon“, antwortete sie erleichtert, steckte den Handschuh ein und ging mit raschen Schritten zur Treppe. Ihre Schritte hallten in dem eng gewundenen Turm, während sie die Stufen hinter sich brachte und das Stockwerk ihres Zimmers anstrebte.
Hatte sie einen Fehler gemacht? Nein, sie war nicht unhöflich gewesen und mehr, als dass sie früh auf dem Seeturm gewesen war, konnte der Bedienstete nicht wissen. Es war ausgeschlossen, dass er irgendetwas mitbekommen hatte, das die Information wert war. Dennoch schlug ihr das Herz bis zum Hals und ihre Hände zitterten leicht.
Um sich zu beruhigen – es war nichts passiert; sie hatte lediglich mit einem unerwartet aufgetauchten Bediensteten ein paar Worte gewechselt –, lenkte sie ihre Gedanken zurück auf das Jetzt. Sie schätzte, dass es sechs Uhr war und für gewöhnlich wollte niemand etwas von ihr vor der Mittagszeit, aber tragischerweise war heute kein gewöhnlicher Tag.
In knapp mehr als achtundvierzig Stunden war ein Fest, ein Ball, um genau zu sein. Leopold bezeichnete es als Oktoberfest, Keanu als Erntefest und Nasrin als unnötiges Fest. Tatsache war, dass es stattfinden würde und somit Aufmerksamkeit verdiente.
Nasrin brauchte, soweit Gwyneira das mitbekommen hatte, ein neues Kleid, und Leopold wollte sich vielleicht vergewissern, dass Gwyneiras passte. Sie wusste, dass ihr Onkel die Tatsache, dass sie ein Albino war, nicht richtig verkraftet hatte.
Er ist halt sehr versessen darauf, dass alles ordnungsgemäß funktioniert, dachte sie, um die deprimierte Stimmung zu unterdrücken, die in ihr aufkam, wenn sie daran dachte. Er macht sich nur Sorgen, weil sämtliche Erben aus Keanu, mir und Nasrin bestehen und es sonst niemanden gibt, der die Susurrs in die nächsten Jahrzehnte bringen wird.
Diese Feststellung mochte Leopolds Verhalten zu ihr entschärfen – nicht wahr? –; hilfreich war sie nicht. Ihr machte es kaum etwas aus, wie die Leute sie ansahen – man konnte es ihnen nicht vorwerfen, und nach einigen Jahren hatte sie sich an die Blicke gewöhnt, an die Blicke voller Irritation, Abwertung, Abscheu …
Kurz verweilten ihre Gedanken bei diesem Thema, dann zwang sie sich, nicht mehr an dieser Stelle zu verharren. Unruhig suchten ihre Augen die steinerne Mauer ab, als ob sie ihr eine Antwort geben könnte, wie sie sich im Zaum halten, wie sie ihre Probleme lösen könnte.
Es war nicht einfach mit ihr als eine von drei Erbinnen eines einst umfangreichen Adelshauses. Wie jede andere Person auch musste sie einen Nutzen für die Familie haben, und da sie als Erbin mit ziemlicher Sicherheit wegfiel, würde sie diesen Sinn im Heiraten finden.
Wenn sie ihn fand …
Damit muss ich mich erst in ein paar Monaten beschäftigen, drängte sie die unangenehme Richtung beiseite, die ihre Gedanken eingeschlagen hatten. Oder gar Jahren. Gut, in zwei Jahren spätestens … aber … nicht jetzt, das ist doch wichtig …
Sie könnte es auch wie ihre Mutter machen: Abhauen und irgendwo untertauchen, die Welt erkunden, fern von den Susurrs und ihren Angelegenheiten. Ein verschollenes, teilweise verachtetes Familienmitglied werden.
Gwyneira schüttelte den Gedanken ab und verließ die Wendeltreppe. Sie hatte sich ein Zimmer im vierten Stock ausgesucht, wohlwissend, dass es viele Treppen zum Gehen waren, was ihr Schutz vor unerwünschten Gästen gab. Leute, denen langweilig war, wollten keine vier Stockwerke hinaufgehen, um sich zu unterhalten, wenn es unten auch Beschäftigung gab. Keanu, Nasrin und Leopold hatten Zimmer im ersten oder zweiten Stock und waren anfälliger für gelangweilte Ballgäste.
Als ob das mein größtes Problem wäre …
Auf dem Flur des vierten Stocks war die Luft wärmer, sodass Gwyneira ihre Jacke aufmachen konnte, während sie die letzten Meter zu ihrem Zimmer zurücklegte. Sie dachte daran, dass Keanu vielleicht in einigen Tagen verlobt sein würde. Nasrin würde erst drankommen, wenn ein Junge auf sie zukam oder Keanu verheiratet war. Es war keine von Leopolds Stärken, sich auf mehrere Baustellen zu konzentrieren.
Genau das ist mein Glück, dachte sie, denn ich beherrsche es beinahe perfekt.
Gwyneira lehnte am Türrahmen und sah in den Ballsaal, der von den Bediensteten festlich hergerichtet wurde. Zwar war noch Zeit, bis der Ball startete, aber aus Erfahrung wusste sie, dass selbst ein kleineres Exemplar jenes Fests genug Potenzial für Störungen und Verzögerungen bot.
Nachdem sie ihren kleinen Schock in der Früh überwunden hatte, hatte sie sich ein Tageskleid angezogen und ihre Frisur gerichtet. Die Mühe hatte sie anschließend mit größter Sorgfalt zerstört, indem sie sich in ihr Bett gelegt hatte und fast eingeschlafen war. Sie hatte bemerkt, dass sie am Frühstückstisch erwartet wurde, hatte sich rasch die Haare gemacht, das Kleid glattgestrichen und war hinunter zum Speisesaal gegangen.
Sie hatte eine Rüge von Leopold einstecken müssen, dass sie zu spät gekommen sei und damit den gesamten Tagesplan verzögert hätte. Gwyneira hatte es über sich ergehen lassen und war nach dem Frühstück in ihr Zimmer gegangen, wo sie es nicht mehr beim Halbschlaf belassen hatte.
Nun, ein paar Stunden später, war sie wach, hatte die fehlende Nacht ausgeglichen und beschlossen, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Der Ballsaal, der für das Fest hergerichtet wurde, hatte sich da angeboten.
Ein leises Rascheln kündigte ein Geräusch an, das klang, als würde Stoff zerreißen. Das Albinomädchen sah zu der entsprechenden Stelle und beobachtete, wie einer der Bediensteten fluchte. Eine der Girlanden, die aus verschiedenen essbaren Gegenständen bestand – an einer Schnur waren unter anderem Trauben, Miniaturkürbisse, noch kleinere, aber farbenfrohe Äpfel und Kastanien befestigt –, war nicht rechtzeitig befestigt worden und hatte sich dazu entschlossen, sich lieber nicht mit der Schwerkraft anzulegen.
Gwyneira verlor das Interesse, als sie beobachtete, dass der Unglückliche auf dem besten Weg war, die Girlande trotz ihres Gewichts zwischen den zwei vorgesehenen Säulen zu spannen, obgleich es eine lange Girlande war und es sich um dicke Säulen handelte.
Ihr Blick wanderte weg vom Unfall und sie betrachtete den Ballsaal. Er war einer der prächtigsten Räume im Schloss, und das aus gutem Grund: Er repräsentierte den gesamten Reichtum und die geballte Macht einer der wichtigsten Familien in Dominien.
Fast alle Teile des Saals waren aus weißen Marmor errichtet worden; die Säulen waren mit Gravuren verziert und in ihren Dimensionen gigantisch. Die Grundfläche hatte die Form eines Rechtecks, die hohe Decke wurde getragen von zwei Dutzend Säulen und das Tor am Ende des Saals hatte als solches mehrere Tausend Silbermünzen gekostet.
Aus Gwyneiras Sicht fast eine Geldverschwendung – wenn sie hier nicht jährlich ein halbes Dutzend Feste veranstalten würden. Das Geld, dachte sie mit einem Anflug von Trotz, während sie sich zur Treppe umwandte, hätte man trotzdem besser nützen können.
Aber mich wird das nie jemand fragen, führte sie ihren Gedankengang mit einem Hauch Bitterkeit fort, während sie die Tür schloss. Es sind nur dann Mädchen bei den Susurrs an die Macht gekommen, wenn es keinen einzigen männlichen Anwärter gegeben hat. Wir sind einfach nicht dazu da, über Geld und Personen zu bestimmen, sondern sollen den Reichtum über neue Söhne vermehren.
Wie gut nur, dass es bei mir wahrscheinlich nicht einmal zu einer Hochzeit kommen wird …, fügte sie bitter hinzu. Die Treppe fand ein Ende und Gwyneira wechselte in den vierten Stock. Es dauerte einige Minuten, bis sie den Seeturm-Flügel erreicht hatte, da der Ballsaal am anderen Ende des Schlosses lag und dieses andere Ende dank der gigantischen Dimensionen weit weg lag. Hätte diese Entfernung Gwyneira nicht Ruhe garantiert, hätte sie an dieser Stelle gedacht, dass das aufwendig investierte Geld irgendwo anders besser angelegt gewesen wäre.
So hingegen lästerte sie nicht einmal in Gedanken und schloss die Tür zu ihrem Zimmer, sobald sie eingetreten war. Es zeugte von ihrer Überzeugung und von der ihrer Familie: Während das Bett einfach beschaffen war, waren die Polster mit aufwendigen Stickereien verziert, die die Schlafqualität nicht zwingend anhoben.
Einen Schreibtisch gab es in dem Sinne nicht, aber es gab einen kleineren, ebenen Tisch, auf dem Gwyneira ihre Schreibsachen ablegen konnte. Die Beine waren mit Schnitzereien verziert, ebenso die ihres Nachtkästchens.
Beim Spiegel hatte sie sich durchgesetzt – er war ein schlichtes Exemplar ohne nennenswerten Rahmen. Der Boden war nicht, wie in den anderen Schlafzimmern, mit einem flauschigen Teppich ausgelegt, sondern zeigte die Steine des Schlosses. Der Kamin hätte ein Feuer enthalten sollen, aber Gwyneira löschte es meistens, sobald irgendjemand es anzündete.
Außer, wenn sie sich lange nicht mehr verwandelt hatte.
Gwyneira legte sich auf ihr Bett, ohne ihr schlicht gehaltenes, weißes Kleid auszuziehen, und starrte an die Decke, die ebenfalls Steine zeigte. Das nicht brennende Feuer hatte ihre Gedanken von Reichtum und Familie zu ihrem zweiten Körper gelenkt. Skuas waren verschlagene, ungenierte Diebe. Es hatte sie mehrere Tage ihres Lebens gekostet, um genaueres über die Raubmöwen herauszufinden, aber die Mühe war es wert gewesen.
Anhand ihrer Federmusterung hatte sie erraten, dass die Raubmöwe ein Tier war, das weit im Norden lebte, dort, wo das Eis nie auftaute. Von den dort beheimateten Vögeln stahlen Skuas Eier – sie waren abhängig von ihnen. Ab und zu fiel ihnen auch ein Fisch zum Opfer, den die Seevögel gefangen hatten.
Es hatte seine Zeit gedauert, bis Gwyneira einen Bericht gefunden hatte, der nicht vollkommen negativ war. Skuas waren Raubmöwen, sie fraßen das Futter anderer, ohne sich abzumühen. Sie waren Parasiten, die ihre Wirte brauchten und sie zugleich auszulöschen drohten, was auch ihren eigenen Untergang heraufbeschwören würde.
Zugleich waren sie diebisch, mitleidslos und – wenn ihr parasitäres Verhalten miteinbezogen wurde – beinahe unendlich dumm, mutig, furchtlos, ohne Scheu und Angst. Immer abwartend, dass ihr Opfer unachtsam wurde, dass es ihnen eine Gelegenheit gab, sich seine Beute zu schnappen und damit zu verschwinden. Sie waren elegant und schön – genau das waren Skuas: furchtlose, schöne Diebe mit einem Gewissen wie der Raum zwischen zwei Sternen.
Skuas hatten Feinde, vor allem die jüngeren Exemplare – allerdings nicht viele. Sie waren aufmerksam und ließen sich von ihren Opfern nicht leicht töten. Es gab das eine oder andere Raubtier, das ihnen gefährlich werden konnte, aber von diesen hielten sie sich fern.
Gwyneira hatte es nach ihrer ersten Verwandlung kaum bemerkt, aber mit jeder Stunde, die verging, fiel es ihr mehr auf. Die Körper mochten definierte Strukturen und Formen haben – aber das, was in den Körpern war, wie auch immer es genannt werden konnte – ob Geist, Seele oder sonst was –, war nicht getrennt.
Es gab ein Weiß, und es gab ein Schwarz. Es gab ein Feuer, und es gab ein Eis. Aber es gab immer etwas dazwischen.
Zwischen dem Eis und dem Feuer gab es Wasser, und zwischen dem weißen und dem schwarzen Farbton gab es ein ausgewogenes Grau, das beide Farben in gleicher Stärke vereinte. Dieses Mittelding durchlebte Gwyneira selten – in den Sekunden ihrer Verwandlung –, aber es gab auch dampfendes Wasser und ein dunkles Grau.
Der Mensch war nicht nur ein Mensch, sondern zu vielen Prozentpunkten human und zu einem oder zwei ein Skua. Diese ein oder zwei Prozent reichten aus, um eine enorme Wirkung zu zeigen. Nicht immer zu Gwyneiras Vorteil.
Was würden die Leute sagen, wenn das Albino-Mädchen in einem hellen Licht verschwinden und ein brauner Seevogel herauskommen würde?
Sie würden nicht positiv reagieren, und in ihrem Fall waren die Leute auch Leopold, Keanu und Nasrin. Anders ausgedrückt: Niemand durfte von ihrer Gabe erfahren. Es war viel zu riskant, selbst bei Keanu, der so etwas wie ein Magier war. Deshalb musste sie sich besser kennen als ein durchschnittlicher Mensch und wissen, welche Situationen sie zu meiden hatte.
Gwyneira starrte an die Steindecke. Es war Mittag, in einigen Minuten würde sie sich hinunter zum Speisesaal begeben und dort ein Mittagessen einnehmen. Sie würde sich zusammenreißen müssen und sich nichts anmerken lassen dürfen. Der Skua mochte keine Angst vor dem Risiko haben, aber Gwyneira war nicht nur Skua, sondern auch Mensch.
Und der wusste um die Folgen. Hexerei war außerhalb einiger adeliger Familien verboten und wurde mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft. Gwyneira schauderte, als sie dachte, dass man sie verbrennen könnte – als sie sich vorstellte, wie die Flammen ihre Füße erreichten und ein großer Schmerz sie einnahm, wie sie wusste, dass es das letzte sein würde, das sie wahrnehmen würde, wie das Feuer ihren Bauch und ihren Kopf verbrannte und es dann aus war, endgültig und unwiderruflich aus …
Aufkommende Zweifel unterbrachen ihre Phantasie, die sich beleidigt zurückzog in dem Wissen, bald zurückgerufen zu werden. Konnte sie daran sterben? Sie konnte sich verwandeln. Während der Verwandlung, wenn ihre Körper und ein großer Teil ihres Charakters wechselten, war sie immun gegen alles: Kälte, Hitze, Licht, Materie, alles.
Als sie sich einmal zu knapp über dem Boden verwandelt hatte, nahe am Fenster, hatte die Verwandlung stattgefunden, wo ein Stein hätte sein müssen, zeitgleich mit ihrer Hand. Noch während der Verwandlung hatte sie die Hand zurückgezogen, aber sie war unverletzt, lediglich ein leichter Schmerz hatte sich bemerkbar gemacht.
Ein Blick auf den Stein hatte sie den Grund erahnen lassen. Das, was sie hätte verletzten sollen, hatte Blasen geworfen, geglüht und eine Hitze ausgestrahlt, die sie mehrere Schritte zurückweichen hatte lassen. Sie hatte das Abkühlen mit einigen Eimern Wasser beschleunigt und anschließend die Wasserpfütze aufgewischt, da sie nicht wollte, dass sie sich erklären musste. Noch heute war dieser Teil der Wand malträtiert, wenn auch keine Hitze mehr an den Unfall erinnerte.
Bedenken überkamen sie, ob sie nicht auch gegen Feuer immun wäre. Wäre sie schnell genug, könnte sie vor dem Feuer wegfliegen, ehe es sie erreichte und der Schutz der Verwandlung verschwand, und nur Pfeile würden ihr etwas anhaben können.
Doch es war ein anderes Gefühl, das ihr sagte, dass Feuer ihr kaum schaden konnte. Seit sie ein Kleinkind gewesen war, hatte sie eine tiefe Verbundenheit mit Wasser empfunden, die sie als selbstverständlich angesehen hatte. Heute vermutete sie, dass dem nicht so war.
Inzwischen glaubte Gwyneira, dass ihre Verbindung auf Gegenseitigkeit beruhte: Sie verstand das kühle Nass, vertraute ihm und ließ sich von ihm leiten – dieses verstand sie, war in ihr, überall um sie herum und half ihr. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das auf Vertrauen und Verständnis basierte.
So konnte Gwyneira das Wasser fühlen, wenn sie sich konzentrierte. Nicht im Sinne von Feuchtigkeit, sondern als eine Art sechster Sinn: Sie wusste, wie viele Wassertropfen in der Luft waren, konnte die Flüsse und den See erspüren und das pulsierende Herz eines Menschen – gefüllt mit Wasser …
Es war schwer, diesen Sinn zu beschreiben. Wie sollte sie einem Blinden die Farbe Grün erklären? Wie einem Geruchslosen den Duft von Rosen? Sie war davon ausgegangen, dass alle diesen Sinn hatten, wie alle, die sie bisher getroffen hatte, fühlen und hören konnten – bis sie bemerkt hatte, dass sich ihre Geschwister seltsam verhielten, dafür, dass sie das Wasser wahrnehmen müssten. Das war der Zeitpunkt, seit dem sie vermutete, dass sie es nicht konnten.
Gwyneira hatte nie versucht, Kontrolle über das Wasser zu erlangen, da es sie ebenfalls nicht zu kontrollieren versuchte. Vielleicht – wahrscheinlich – war es dumm anzunehmen, dass das Wasser eine Art Bewusstsein hatte, dass es vertrauen und verstehen konnte, aber es kam ihr so vor. Vor einigen Monaten hatte sie in einem Buch einen Satz gelesen, der die Bedeutung hatte, dass der Mensch von den Illusionen lebte, ohne die er seine Hoffnung verlieren würde.
Die Bedeutung dieses Satzes war in ihrem Gedächtnis haften geblieben und bot sich als willkommene Ausrede an: Sie durfte verrückt sein, sie durfte an etwas Albernes glauben, denn es war eines der Dinge, an die sie glauben konnte. Die Menschen brauchten ihre Illusionen. Sie brauchte ihre Illusionen.
Aber … Gwyneira setzte sich ruckartig genug auf, um einen leichten Schwindelanfall zu provozieren, den sie hatte – wie ihr ein unsympathischer Arzt erklärt hatte –, weil sie angeblich einen zu niedrigen Blutdruck hatte.
Was ist, wenn ich nicht durchgeknallt bin und das Wasser wirklich Vertrauen und Verständnis hat, wenn es sich mit mir verbündet hat … Kurz dachte sie über diesen Gedanken nach und über die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht von einem betrunkenen Vollidioten stammte.
Trotzdem! Es wäre dann doch möglich, dass ich das Wasser ebenfalls beeinflussen kann. Wenn ich’s mir genauer überlege … das Wasser hat einen gewissen Einfluss auf mich und mein Leben, nur keinen offensichtlichen. Ohne es würde ich schließlich nicht leben, stimmt’s? Meiner eigenen Logik nach müsste ich dann Gleiches mit Gleichem vergelten können!
Selbst in ihrer aufkeimenden Aufregung bemerkte sie, wie unsinnig der Gedankengang war, wenn man sich kurz hinsetzte und darüber vernünftig nachdachte. Aber sie hatte auch nicht vernünftig darüber nachgedacht, ob es eine gute Idee war, sich vom Seeturm zu stürzen. Und hier stand nicht einmal ihr Leben auf dem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Awen Eibner
Lektorat: Rebecca Söregi
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2016
ISBN: 978-3-7396-7451-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Taylor, meiner Allegorie für unerwartete, aber umso fruchtbarere Hilfsbereitschaft.