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8.45 Uhr.
Ein alter Zug aus Prag ratterte einsam in dem Bahnhof einer verlassenen Kleinstadt ein. An den Bahnsteigen war kein Bahnhofshaus zu erkennen, Bäume mit gelbroten Blättern schützen die wenigen Fahrgäste, die hier jährlich ausstiegen, vor der herbstlichen Witterung. Durch die Baumkronen stach die Sonne hindurch und blendete an diesem Morgen den Fahrgast, der sich schnaufend aus dem Zug zog. Es war eine junge Frau, die vorsichtig ihren rechten Fuß aufsetzte, sobald sie sich auf dem Bahnsteig befand. Ihr Knöchel war verstaucht, ihre blonden Haare strähnig und verklebt. Ihr auffälliges Auftreten wurde durch die marineblaue Schuluniform unterstützt, die blutbefleckt und an manchen Stellen zerrissen war. Sie hatte ein sehr kindliches, fahles Gesicht, das im Kontrast zu ihrem leeren Blick stand. Mühselig humpelte sie von dem Zug weg. Die Frau wollte so schnell wie möglich weg, auch wenn sie nicht wusste, wo sie sich befand. Sie war nicht mehr in Prag und das war genau das, was sie in diesem Moment wollte.

Ihre Erschöpfung durch die Flucht und die letzten zwei Wochen ohne viel Schlaf, die Schmerzen in ihrem rechten Fuß und in ihrem Kopf waren unerträglich. Zeitweise sah sie alles doppelt und war orientierungslos. Aber ihr Fluchinstinkt war stärker. Sie musste weg, raus aus Prag und all das Geschehene sofort vergessen. Die Tränen in ihrem Gesicht bemerkte sie nicht, ebenso ignorierte sie die Müdigkeit. Verzweifelt versuchte sie schneller zu laufen, um einfach wegzukommen von den Erinnerungen, doch ihr Körper ließ es nicht zu. Mittlerweile war sich die Studentin sicher, dass sie ihnen allen Medikamenten unter das dürftige Essen gemischt hatten. Nur um sie ruhigzustellen und vermutlich, um die Wirkung abzuwarten. Sie hörte die Schreie der anderen Mädchen in den verlassenen Fluren, weit entfernt und versteckt in irgendeinem dunklen Raum. Sie schrien manchmal stundenlang aus Angst und einige von ihnen vor Schmerz, wenn sie noch welchen verspürten. Am meisten hatten die Mädchen, die in den Schlafsälen zurück geblieben waren, jedoch vor den Räumen Angst, in denen die Schreie bereits erloschen waren. Manche der Mädchen, die nicht mehr um ihr Leben kämpften, blieben noch Stunden weg, bevor sie fast leblos wie ein Sack Getreide von zwei Männern in schwarzen Anzügen, die sie zuvor mit aller Gewalt von der Mädchengruppe weggezogen hatten, wortlos in den Schlafsaal zurück geworfen wurden; andere kamen nie wieder.
Sie hatte Angst über diese Mädchen nachzudenken. Was war mit ihnen Geschehen? Als ihr die Gesichter mancher Mädchen aus ihrem Schlafsaal in den Sinn kamen, lief es ihr eiskalt den Rücken herunter.

Immer weiter hievte sie sich in Richtung Ausgang und betete still in sich hinein, dass sie die Steintreppe erreichen und schnell ein Telefon oder ein Versteck finden würde. Sie wollte nach Hause, sie vermisste ihre Eltern. Schluchzend lehnte sie sich gegen einen Glaskasten, in dem Fahrpläne aushingen und versuchte auf ihren zitternden Beinen zu stehen.
Die Kopfschmerzen waren unerträglich, ihr Magen grummelte, die Kraft in ihren Beinen ließ nach. Eigentlich wollte sie nur noch schlafen und ihren Schmerz vergessen. Die Gesichter aus ihrem Kopf verbannen. Einerseits hatte sie immernoch Angst, dass sie sie finden würden, andererseits wäre sie gerne zurück gereist und hätte die Verantwortlichen umgebracht. Sie foltern und leiden lassen, so wie sie es verdienten. Schlimmer noch, als sie es mit mit den Mädchen gemacht hatten.

Plötzlich packte sie eine Hand an der Schulter. Panisch wollte sie sich losreißen, doch fiel sie durch ihren Schwindel unsanft auf den kalten Steinboden. Verbissen schaute sie auf und sah das verschwommene Bild eines jungen Fremden vor sich.
,,Was wollen Sie? Wer sind Sie?" schrie sie panisch und versuchte sich aufzurappeln. ,,Keine Angst. Ich habe Sie weinen gehört und gefragt, ob ich Ihnen helfen kann. Doch Sie haben nicht reagiert. Ich wollte Sie auf keinen Fall erschrecken." entschuldigte sich der junge Mann und trat einen Schritt zurück. Ihr fiel es schwer klar zu denken und zu verhindern, dass ihr Körper zitterte.
,,Sie sehen nicht gut aus." bemerkte der Fremde nur und sah sie besorgt an.
,,Ich fühl mich auch nicht gut..." murmelte sie und unterdrückte ein weiteres Schluchzen.
,,Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen auf. Vielleicht sollten Sie in ein Krankenhaus fahren.´´ Wehrlos nickte sie und stützte sich an den helfenden Armen ab. Als sie wieder auf ihrem gesunden Bein stand, hüpfte sie mit Hilfe des Unbekannten Richtung Steintreppe. Er fragte nicht, was ihr passiert sei, vermutlich ahnte er, dass sie nicht darüber sprechen wollte ... oder konnte.

Als sie den Bahnhof hinter sich gelassen hatten, setzte sie sich schnaufend auf einen großen, Stein, der am Straßenrand lag. ,,Ich rufe mit meinem Handy vielleicht besser einen Krankenwagen, wenn das für Sie in Ordnung ist?" schlug der Mann vor. ,,Ja, das wäre nett." Er entfernte sich einige Meter und telefonierte.
Wo war er so plötzlich her gekommen? Die Medikamente hatten ihr schwer zugesetzt. Wahrscheinlich hätte sie in einer Menschenmenge inmitten einer Großstadt stehen können und sie hätte es nicht bemerkt. Mühselig sah sie sich um. Um sie herum war ein Wald, einige Meter entfernt tauchten hinter den Baumwipfeln Häuser auf. Kein Auto fuhr die Straße entlang. Absichtlich hatte sie sich eine Kleinstadt als Fluchtort ausgesucht, denn hier würden sie sie nicht so schnell vermuten. Sobald sie in einem Krankenhaus untersucht worden war, würde sie den Ärzten alles erzählen und die Polizei rufen. Dann wollte sie nach Hause. Sie wollte nur noch ihre Eltern besuchen und sich in ihrem alten Kinderzimmer verstecken. Zuerst wollte sie ein Pause von ihrem Studium einlegen, damit sie ihre Ruhe hatte. Sie überlegte, ob ein Gang zum Psychotherapeuten nötig war. Gerade dann müsste sie von all den Grausamkeiten erzählen, die ihr widerfahren waren. Aber musste sie das bei der Polizei nicht eh? Würde sie je wieder eine Nacht ruhig durchschlafen können?
Der Mann kam wieder auf sie zu und sagte: ,,Ein Krankenwagen ist unterwegs. Brauchen Sie sonst irgendetwas?" ,,Nein, danke. Ich will einfach nur nach Hause und meine Ruhe haben.", antwortete sie leise und räusperte sich nervös. ,,Entschuldigen Sie, aber sie sind mir auf dem Bahnsteig überhaupt nicht aufgefallen." Verdutzt sah er sie an. ,,Wirklich nicht?", fragte er. ,,Dabei bin ich doch mit Ihnen ausgestiegen. Sie sahen mir im Zug bereits etwas krankhaft aus. Da sie an diesem verlassenenOort aussteigen wollten, bin ich mit Ihnen ausgestiegen, da ich mir nicht sicher war, ob Sie eventuell Hilfe bräuchten." ,,Das ist wirklich freundlich..." Der Fremde zuckte mit den Schultern. Lächelnd starrte sie vor sich hin. Ihr Kopf war leer, auf einmal fühlte sie sich fast sicher. Natürlich war ihr Aussehen auffällig: Die zerrissene Kleidung, der Dreck und die blauen Flecken. Das wäre jedem Fahrgast aufgefallen. Die letzten zwei Wochen hatten sie paranoid gemacht. Sie sah Gespenster. Dennoch wunderte sie sich, warum der fremde Mann sie nicht fragte, was passiert sei. Er wirkte völlig unbeeindruckt.

Von weitem war ein Auto zu hören. ,,Wollen Sie schon mal aufstehen? Vielleicht ist das bereits der Rettungswagen." murmelte der junge Mann, er musste in ihrem Alter sein. Student schien er jedoch nicht zu sein, da seine Kleidung teuer, unauffällig und eher nach einem Banker aussah. Sie taumelte, er fing sie auf und hielt sie fest. ,,Sie brauchen dringend medizinische Versorgung.´´ meinte er knapp und hakte sie fest bei sich unter. Stöhnend versuchte sie auf den Beinen zu bleiben und schloss die Augen. ,,Hoffentlich ist es der Krankenwagen..." dachte sie müde und atmete tief durch. Ein größeres Auto kam sehr schnell angefahren und wurde immer langsamer. Der Griff des Fremden wurde immer fester, fast schon schmerzhaft. Sie verzog das Gesicht und sah ihn vorwurfsvoll an. Als sie seine versteinerte Miene bemerkte, die das nahende Auto anstarrte, stutze sie. Irgendetwas stimmte nicht. Sie drehte sich nach links und sah, wie ein alter Transporter neben ihnen anhielt. Die Türen öffneten sich und sie schrie erschrocken auf. Drei Männer in schwarzen Anzügen stiegen aus und kamen mit einer langsamen Sicherheit auf sie zu. Panisch zappelte sie mit den Beinen, versuchte sich von dem fremden Mann loszureißen, kratzte und kneifte in seinen Arm, aber er ließ sich nicht beirren. Er war zu stark und sie zu geschwächt. Wie konnte sie ihm nur vertrauen? Sie schrie weiter, doch die Gegend war zu verlassen; niemand hörte sie. Zwei der Männer packtzen sie, drückten sie auf den Boden, ein Weiterer öffnete einen silbernen Koffer und bereitete eine Spritze vor. Der Größere von ihnen setzte sich auf ihre Füße, wodurch es gefährlich in ihrem Knöchel knackte. Tränen stachen ihr vor Schmerz in die Augen. Weinend flehte sie die Männer an, beschimpfte sie, bespuckte denjenigen, der ihre Schultern gepackt und sie auf den Boden gedrückt hatte. Sie sah, wie eine milchige Flüssigkeit aufgezogen wurde, war komplett auf die sich nähernde Spritze fixiert und wedelte verzweifelt mit den Armen in der Luft herum. Der Mann mit der Spritze drückte mit aller Kraft ihren rechten Arm herunter und rammte die Spritze hinein . Sie hatte keine Chance, sie waren zu viele. Allmählich floss die Flüssigkeit in ihre Blutbahn über. Ängstlich sah sie zu dem jungen Mann, dem sie vertraut hatte. Bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel, sah sie die Gewissensbisse in seinem Gesicht, bevor er sich von dem Spektakel abwandte und wortlos in den Transporter einstieg.

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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2011

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