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Prolog

Tot.

 

Ein Wort, das so viele Dinge beschreibt und doch nur eine Bedeutung hat. 

 

Drei Buchstaben, eine Silbe, ein Wort.

 

Er seufzte leise und trat noch einen Schritt heran. Da lag sie - bleich, die Augen geschlossen, das rote Haar zerzaust, die gebrochenen Knochen regungslos. Das rote Blut um ihren Kopf bildete einen Heiligenschein. Selbst jetzt war sie noch wunderschön. Langsam ließ er sich neben ihr auf ein Knie nieder, fuhr sanft mit den Fingerspitzen die weiche Haut an ihrer Wange entlang. Es war eine letzte Liebkosung, ein letzter Gruß nach dorthin, wo sie jetzt war.

"Was ist passiert?“ Seine Stimme war gefasst, ruhig. Zu oft hatte er dieses Szenario schon gesehen - sie gesehen.

„Es tut mir leid. Sie ist gesprungen, noch bevor ich reagieren konnte.“

„Selbstmord?“

„Ja. Sie hat den für sich einzig logischen Ausweg gewählt."

"Das glaube ich nicht. Sie hätte vieles getan, aber sich selbst umzubringen ..."

"Sie war noch nicht darauf vorbereitet. Vielleicht hätte sie mehr Zeit-“

„Sie hatte fünfzehn Jahre lang Zeit!“

„Scheinbar war das nicht genug.“

Er schüttelte den Kopf. „Es war genug Zeit gewesen.“

Es war kurz still, als jeder seinen eigenen Gedanken nachging.

„Und was machen wir jetzt?“

„Das, was wir immer machen - uns zurückziehen und warten. Die wievielte war das nun?“

„Die einhundertachte.“

Sein Kopf schoss alarmiert nach oben. Das durfte nicht sein. Niemals. „Nein. Du musst dich verzählt haben.“

„Ich verzähle mich nicht, das weißt du.“

„Aber dann …“ Ungläubig brach er ab.

Verdammt.

„Ich erfülle meine Aufgabe und du kennst deine.“

„Das kann ich nicht tun.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.

„Du kennst die Prophezeiung.“

Er wandte den Blick von dem reglosen Körper vor ihm ab, ihr Anblick war nicht mehr traurig, sondern er widerte ihn an. „Ja, tue ich. Und trotzdem werde ich das nicht tun.“

„Bei der zweiundneunzigsten hattest du nicht halb solche Probleme.“

„Sei still, ich muss nachdenken", zischte er aufgebracht. 

„Nein, du bist jetzt still. Die Rollen in diesem Schachspiel sind klar verteilt: ich bin der weiße Bauer und du der weiße Springer. Und sie ist leider nun einmal die schwarze Königin, daran kannst auch du nichts ändern. Wir alle müssen Opfer bringen.“

„Ich weiß.“

„Siehst du. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass du ihre Reinkarnation findest und tötest, bevor sie uns alle auslöscht.“

 

 

Da war es wieder, das Wort.

 

Das Mädchen zu seinen Füßen war es und ihre Wiedergeburt, die 109. würde es auch bald sein.

 

Durch seine Hand.

 

Das Wort, mit der einen Bedeutung.

 

Tot.

Teil 1 - Leben

Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.

                

- Marcus Aurelius - 

 

 

 

Habt ihr schon einmal über den Sinn des Lebens nachgedacht? Also so richtig? Ja? Nein? Eventuell? Nun, ich eigentlich auch nicht. Das Leben besteht für mich aus Leben und Sterben, mehr kann man nicht tun. Das Leben ist die Vorbereitung auf den Tod. Und das sage ich nicht, weil ich ein „Das-Glas-ist-nur-halbleer-Mensch" bin, sondern weil ich sonst keinen anderen Nutzen darin sehe. Ein Mensch hat Geld, der andere ein schönes Auto, aber was bringt einem das? Wenn man stirbt, kann man anderen dabei zusehen, wie sie das, was man sich hart erarbeitet hat einfach weitergeben. Also, was soll das? Warum führen Menschen Krieg? Um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern? Um ihr Land zu vergrößern? Ganz sicher nicht. Denn was bringt einem das? Richtig, nichts.

Vor dem letzten Gericht, Gott, Buddha, Allah, … oder auch einfach nur vor dem Tod sind wir alle gleich. Niemand wird bevorzugt, nur weil er einflussreich oder immer gut zu jeder noch so kleinen Mücke war. Wir sind alle arme, unvollständige Menschen, die danach streben, vollständig zu werden. Doch das können wir nicht. Und das werden wir auch nie sein. Da kann man sich noch so sehr anstrengen.

Das Leben beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.

 

 

„Eine Fünf?“, rief ich entsetzt, als Mr. Smith mir meinen Aufsatz auf den Tisch legte. Er wollte eigentlich gerade weiterlaufen, stoppte jedoch und drehte sich wieder zu mir herum.

„Ja, sehr richtig, Elizabeth.“

„A-aber wieso?“

„Ganz einfach, weil du das Thema verfehlt hast.“

Ich wusste, dass es eigentlich nichts brachte, vor der ganzen Klasse mit dem Lehrer zu streiten, aber ich konnte einfach nicht glauben, dass ich eine Fünf in Religion bekommen hatte. Ich, Elizabeth Adams, sollte eine Fünf bekommen haben? Himmel, die Welt geht unter.

„Bitte was? Wie kann man bei dem Sinn des Lebens bitte das Thema verfehlen?“

Meine Freundin Mitchy stieß mich mit dem Ellenbogen in die Rippen und bedeutete mir, dass ich aufhören sollte.

„Das frage ich mich auch. Aber laut deiner Interpretation, ist der Sinn des Lebens nicht vorhanden.“

„Das hab ich nie behauptet!“

„Oh doch, hast du.“ Er deutete auf einen Satz. Das Leben besteht für mich aus Leben und Sterben, mehr kann man nicht tun.

Und somit fielen meine eigenen Worte auf mich zurück. Scheiße. „Na großartig“, stöhnte ich und ließ den Kopf mit einem leisen Bumms auf den Tisch knallen.

„Lass den Kopf nicht hängen, der Aufsatz macht doch nur ein Viertel deiner Endnote aus“, versuchte Mitchy mich zu trösten, erreichte damit jedoch nur das Gegenteil. Mr. Smith verteilte währenddessen die anderen Aufsätze unter unseren Mitschülern.

„Mitch?“, brummte ich.

„Ja?“

„Halt die Klappe.“

„Warum?“

„Weil ich es sage.“

„Ja, aber warum?“

Ruckartig setzte ich mich wieder auf. Mitchy war noch nie die hellste gewesen, aber das hier übertraf ja mal alles. „Weil dieser beschissene Test mir meinen ganzen Durchschnitt versaut und meine Eltern mir den Kopf abreißen werden und das nur, weil ein überaus inkompetenter Lehrer denkt, er wäre-“, fauchte ich wohl eine Spur zu laut. Das merkte ich, als Mitchy erschrocken den Kopf einzog und sich plötzlich jemand hinter mir räusperte.

„So, Elizabeth, was denkt dieser überaus inkompetente Lehrer denn?“

Traum. Bitte, lass das einen Traum sein. Bitte, bitte, bitte.

Im ganzen Klassenraum war es mucksmäuschenstill. Keiner wagte es, irgendeinen Laut von sich zu geben, während ich langsam den Kopf drehte und direkt in Mr. Smiths grüne Augen blickte.

 

 

 

Und so kam es, dass ich meinen Mittwochmorgen gleich mal vor der Tür des Klassenzimmers verbrachte. „Na ganz toll. Meine Eltern bringen mich um“, seufzte ich und ließ mich an der Tür des abgeschlossenen Zimmers direkt gegenüber von meiner ganz persönlichen Hölle gleiten. Womit hatte ich das nur verdient?

Ganz sicher nicht durch die Tatsache, dass ich Elizabeth Adams, oder auch einfach nur Lizz war. Oder 17 Jahre alt, normalgroß, schlank, bleich, dunkelbrünett und grünäugig war. Oder dass ich leidenschaftliche Musikliebhaberin war. Und Jungautorin. Das war’s! Ich warf einen Blick auf mein Handy. Noch knapp eine Stunde bis zur Pause. Und da sich Mr. Smith vorhin ziemlich deutlich dazu geäußert hatte, was meine Wiederteilnahme am Unterricht betraf, hatte ich nun Zeit zum Schreiben. Ich öffnete meinen Rucksack und zog meine Kopfhörer und meinen Laptop hervor, den ich zwar eigentlich für andere Zwecke mitgenommen hatte, aber das hier war ein Notfall. Dabei kam auch mein Aufsatz wieder zum Vorschein. Wütend warf ich noch einen letzten Blick darauf, bevor ich ihn zusammenknüllte und in den Mülleimer auf der anderen Seite des Ganges schmiss … oder es zumindest versuchte. Denn wie das halt so war, traf ich nicht. Ich fluchte, entschied mich jedoch, den Zettel dort liegen zu lassen, schnappte mir meine In-Ear-Kopfhörer und stöpselte sie an mein iPhone, bevor meine Ohren von Within Temptation erfüllt wurden. Hach, wie ich diese Band doch liebte.

Ich klappte meinen Laptop auf, legte ihn auf meine ausgestreckten Beine, loggte mich ein und öffnete das neueste Kapitel. Zoey war perfekt.

Zoey Stevens, 16 Jahre alt, war mein fiktiver Hauptcharakter und hauptberuflich Dämonenjägerin. Vor zwei Jahren lernte sie ihren besten Freund Aiden kennen. Auch er ist ein Dämon, sogar einer der mächtigsten – er ist der Dämon der Zeit. Er kann sehen, wann und wie ein Mensch stirbt. Zusammen sind die beiden ein unschlagbares Team. Doch dann tauchen diese Zeichen an Zoeys Handgelenken auf. Zeichen, die besagen, dass ein großer Krieg bevorsteht und sie nur noch 30 Tage zu leben hat.

Wie ich die beiden doch liebte. Bei ihnen konnte ich entscheiden, ob Zoey eine 5 für ihren Aufsatz bekommt, oder nicht.

Als ob sie jemals einen Aufsatz schreiben müsste, dachte ich und musste grinsen. Mit den beiden erschuf ich einfach eine Welt, in die ich abtauchen konnte, wann, wo, und so oft ich wollte. Meine Eltern, sowie auch Freunde schienen das einfach nicht zu begreifen. 

„Das ist nicht real! Hör auf, dich in irgendwelche Fantasiewelten zu flüchten, nur weil dein Leben gerade nicht rund läuft.“

Als hätten die eine Ahnung davon. Ich war mir sicher, dass es genug Leute dort draußen gab, die mich verstanden. Ich holte noch einmal tief Luft und schüttelte den Kopf, bevor ich den letzten Satz noch einmal las und dann anfing, weiterzuschreiben …

 

 

„Verdammt!“, fluchte ich und zog Aiden mit mir hinter eine der Statuen. Auf dem Weg dorthin entdeckte ich auch meine Taschenlampe, nahm sie auf und schaltete sie sie aus.

Lass mich raten: dein Team?", zischte Aiden mir ins Ohr. 

"Ich hab die Zeit vergessen, ok? Sind hier noch andere Dämonen außer dir?"

"Nicht das ich wüsste."

Ich warf kurz einen Blick auf seine Schulter, nur um zu sehen, dass sie fast vollständig verheilt war. 

"Was machen wir jetzt? Ich riskiere Kopf und Kragen, indem ich dich am Leben gelassen habe."

"Ich hab's dir doch gesagt: ich bin nicht feindlich."

"Versuch das mal Cindy zu erklären“, brummte ich und sah ihn an. "Und wo ist eigentlich deine Uhr?"

Ich hatte das so ganz nebenbei gesagt, doch jetzt wurde mir bewusst, WAS ich da gesagt hatte. Ich riss die Augen auf und starrte direkt in seine, die das Gleiche widerspiegelten, wie meine. Ich ließ mich aus der Knie-Position nach hinten fallen, sodass ich hinter der Statue hervorschauen konnte. Tatsächlich - in etwa 5 Meter Entfernung von mir lag die Uhr. 

"Wie hast du die überhaupt verloren?!", zischte ich wütend. 

"Keine Ahnung. Vielleicht da, wo du mich angeschossen hast?", kam genauso schnippisch die Antwort zurück. 

"Wenn sie die kriegen sind wir dran, das ist dir klar? Ist die Uhr wertvoll?"

"Ja. Sie regelt rund fünfzig Prozent meiner Kraft."

Ich seufzte. 

"Na gut. Ich hol sie."

Ich war schon aufgesprungen und halb losgelaufen, als Aiden nach meiner Hand griff und mich zurückzog. Ich funkelte ihn erst böse an, verstand dann aber doch. 

Ich duckte mich, als Cindy zusammen mit allen anderen den Raum betrat. 

"Zo? Bist du hier? Zoey? Antworte doch! Oh, was ist denn das?", rief sie aufgeregt und beugte sich nach unten, um die Uhr aufzuheben. Währenddessen ratterte mein Hirn, als ich nach einer Möglichkeit suchte, hier rauszukommen. Mir fiel nur eine einzige ein. 

"Wenn die Uhr so wichtig ist, dann warte hier. Ich geh und hole sie. Bleib hier im Dunkeln und warte bis wir weg sind. Komm erst dann nach. Ich werde mit der Uhr warten", flüsterte ich und stand auf. 

"Danke.", antwortete er und sah zu mir hoch. In diesem Moment wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, indem ich ihn am Leben gelassen hatte … und er mich. Ich nickte und lächelte, bevor ich meine Klamotten richtete und auf Cindy zu rannte. Diese hatte die Uhr schon aufgehoben und betrachtete sie im Licht der Taschenlampen. Ich rannte an ihr vorbei, riss ihr die Uhr aus der Hand und ließ diese in meiner Jackentasche verschwinden. 

„Zoey, was zum

 

 

Ich brach mit dem Schreiben ab, als ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ich hob den Blick nicht, wollte der Person damit symbolisieren, dass ich nicht an einer Konversation interessiert war und tatsächlich setzte sie sich in Bewegung. Zumindest, bis sie direkt vor mir angekommen war, sich zu mir drehte und in die Hocke ging. Genervt zog ich mir den rechten Kopfhörer aus dem Ohr und wagte einen Blick über den Bildschirmrand.

Vor mir kniete kein anderer, als Austin Felton, Superstar der Highschool und mein Parallelklassenkamerad. Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. Austin hatte noch nie, und ich meine wirklich noch nie mit mir gesprochen. Also zumindest nicht direkt.

„Was willst du?“, zischte ich, da ich eigentlich weiterschreiben und garantiert nicht mit ihm reden wollte. Austin war groß, hatte kurzes, helles, aschblondes Haar und smaragdgrüne Augen. Nicht so waldgrün und langweilig wie meine, sondern fast schon unnatürlich leuchtend. Seine feinen Lippen waren gerade zu einem spöttischen Grinsen verzogen, die markanten Augenbrauen erhoben.

„Gehört das dir?“

Mit Zeige- und Mittelfinger hielt er ein zerknittertes Stück Papier hoch, auf dem ich ganz deutlich oben meinen Namen lesen konnte. Super, mein Schulnote-5-Aufsatz hat also die Fähigkeiten eines Bumerangs. Ob das vielleicht Pluspunkte bei Mr. Smith gibt?

Doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Denn ebenso deutlich, wie man meinen Namen lesen konnte, war auch die nette 5 zu sehen. Ich verengte die Augen zu Schlitzen. „Gib das sofort her!“, zischte ich und versuchte es ihm zu entreißen, doch mit einer schnellen und gleichzeitig lässigen Bewegung zog er es aus meiner Reichweite.

„Wie sagt man?“ Er grinste, wobei zwei Reihen gerader, weißer Zähne zum Vorschein kamen. Gott, war an dem Typen auch etwas nicht perfekt?

„Hä?“, fragte ich irritiert und versuchte erneut, den Aufsatz zu erwischen, doch wieder griff meine Hand ins Leere.

„Das Zauberwort mit Doppel-T?“

Ich hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ihn ein paar Sekunden lang an. Junge, ist das dein Ernst? Wo sind wir hier, im Kindergarten? Stattdessen jedoch sagte ich mit einem bezauberndem Lächeln und ziemlich viel Wimperngeklimpere, wie er es von seinen weiblichen Fans vermutlich gar nicht anders kannte: „Oh, Entschuldigung, ich hab nicht dran gedacht. Also – Gib das sofort wieder her, aber flott!“

Da hatte er sein dämliches Zauberwort. Flott hatte sowohl zwei T, als war es auch eine Bitte, etwas schnell zu tun. Austin legte den Kopf in den Nacken und lachte, bevor er kopfschüttelnd den Blick seiner strahlenden Augen wieder auf mich richtete. Konnte es sein, dass er Kontaktlinsen trug?

„Also bist du wirklich Elizabeth Adams?“, kicherte er. Meine Laune hingegen war schon tiefer als die Titanic gesunken.

„Was ist daran so lustig? Du heißt Austin Felton, das ist auch nicht gerade besser.“

„Wieso? Was ist denn so falsch daran?“

Da er nur auf einem Knie vor mir kniete, stütze er den rechten Ellenbogen darauf und legte das Kinn auf seine Hand. Er wartete auf meine Antwort.

„Nun … Ach, keine Ahnung. Auf jeden Fall ist das mein Aufsatz, deswegen würde ich ihn jetzt gerne zurückhaben.“

„Deshalb knüllst du ihn zusammen und wirfst ihn im Gang rum?“

„Wer sagt, dass er mir nicht auch aus der Tasche gerutscht ist?“, fauchte ich und griff nun endgültig nach dem Zettel in seiner Hand, erwischte ihn sogar. Dabei streifte meine Hand die seine. Augenblicklich zog sich eine Gänsehaut über meinen Arm, meine Finger fühlten sich, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen. Austin hingegen zog nur eine Augenbraue hoch, scheinbar hatte er nichts bemerkt. Das Blatt hielt er weiterhin fest.

Ich sage das.“

„Wow, das klang jetzt wirklich eingebildet“, grummelte ich und zog ein letztes Mal, woraufhin er es endlich freigab. Ich holte meinen Rucksack zu mir heran und beeilte mich, das Scheißding verschwinden zu lassen.

„Was machst du?“ Er wies mit dem Kinn auf den total unauffällig zwischen uns herumstehenden und leise summenden Laptop.

„Das geht dich nichts an!“ Ich seufzte erleichtert, als das Papier endlich verstaut war, entsperrte mein Handy und schaltete die Musik aus. Jetzt brachte das eh nichts mehr.

„Ich hab nur gefragt.“

„Und ich hab dir nur gesagt, dass dich das nichts angeht“, gab ich zurück, klappte den Laptop zu und begann das Kabel meiner Kopfhörer um mein iPhone zu wickeln.

„Wenn du meinst. Um auf deinen Aufsatz noch einmal zurückzukommen …“

„Das geht dich a) ebenso wenig an und b) spar dir deine Kommentare, ich bin wirklich nicht darauf angewiesen."

„Du schreibst gut“, fuhr er unbeirrt fort.

„Danke. Erklär das mal Mr. Smith“, schnaubte ich ironisch.

„Jedoch …“

Ich stoppte. „Jedoch was?“

„Jedoch hast du etwas vergessen.“ Austin stand auf und klopfte sich den Schmutz vom Knie.

„Bitte?“

Ein letztes Mal beugte er sich zu mir herunter, bis unsere Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. „Du hast etwas ziemlich wichtiges vergessen. Es gibt nicht nur Leben und Sterben, Elizabeth.“

Mit diesen Worten richtete er sich wieder auf, drehte sich herum und ging den Gang weiter. Ich starrte ihm auch noch dann völlig perplex hinterher, als er bereits hinter der Biegung verschwunden war …

 

 

Denn Austin hatte Recht. Ich hatte bei meinem Aufsatz ganz vergessen, dass es neben Leben und Sterben auch noch das Wort Existieren gab …

Der Friedhof

Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen.

                

- Marie Curie -

 

 

 

Wisst ihr eigentlich, wie psychohaft es ist, mit The Nutcracker, Op. 71: Dance of the Sugar-Plum Fairy im Ohr über einen Friedhof zu laufen? Allein? Im Dunkeln? Nein? Tja, also ich weiß es. Normalerweise ist das Stück ja eigentlich ziemlich schön, nur hatte es in meiner Lage derzeit ein wenig was von einem schlechten Horrorfilm. Jede Sekunde rechnete ich damit, dass irgendjemand aus dem Gebüsch springen und mich angreifen würde. Doch natürlich passierte das nicht.

Andererseits hatte ich jedoch auch keine Lust, mein Handy aus der Tasche zu holen und ein Lied weiter zu spulen. Zumal ich eh in der einen Hand einen zehn Dollar teuren Rosenstrauch hielt. Weiße Rosen. Ich hasste rote Rosen. Ebenso wie zu bunte Blumen. Trotzdem bekam ich zu meinem Geburtstag immer einen viel zu großen Strauß mit sonst was für süßlich riechenden Blumen.

Jedoch wurde ich irgendwie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ständig drehte ich mich herum, was auch an der Tatsache liegen konnte, dass mir Tchaikovsky das Gehör nahm. Naja. Vielleicht war es auch nicht die beste Idee gewesen, abends in der Dunkelheit noch einmal auf den Friedhof zu gehen. Aber natürlich war mir das nicht eingefallen, bevor ich in Jacke und Schuhe geschlüpft, den Strauß gekauft und hierhergelaufen war. Aber das war einmal wieder typisch Elizabeth Adams. Ich hatte nur Aussicht auf ein paar Stunden Ruhe mit Musik, Zoey und Aiden gesehen, da war ich auch schon Feuer und Flamme gewesen.

Weg. Einfach weg von meinem chaotischen Elternhaus. Ich war ein Einzelkind, nicht gerade froh darüber, und genau das war der Grund, weshalb meine Eltern sich rund um die Uhr mit mir beschäftigen wollten. Aber nicht gerade auf die positive Weise - räum dein Zimmer auf; iss endlich richtig; hör auf, in deiner Fantasiewelt zu leben; unternimm doch mal etwas mit deinen Freunden; rede mit uns, … und all solcher Kram. Verstand den wirklich niemand auf der Welt, dass ich einfach einmal meine Ruhe haben wollte? Nein? Ich schnaubte laut und blieb stehen. Ich war bei dem Grab angekommen, welches ich gesucht hatte.

 

 Mirabelle Longwood, geborene Grace

Geboren am  24.09.1922

Gestorben am 19.03.2011

Begrenzt ist das Leben, doch unendlich ist die Erinnerung.

 

Heute war es genau drei Jahre her, dass sie gestorben war. Ich seufzte leise, bevor ich mich hinkniete und den Strauß auf die feuchte Erde ihres Grabmahls legte.

„Hallo, Omi. Na, war Mama heut schon da und hat dir Blumen gebracht?“, schmunzelte ich, bevor ich meinen Blick über die unbedeckte Erde schweifen ließ. Einzig und allein meine weißen Rosen bedeckten sie. Ich stieß laut die Luft aus. „Nein, das hat sie natürlich nicht. Warum sollte sie auch? Heute ist ja nur der Todestag ihrer Mutter.“

Das Gefühl, beobachtet zu werden war stärker denn je, doch ich redete mir ein, dass da nichts sein konnte. Um diese Uhrzeit war so gut wie niemand mehr auf dem Friedhof unterwegs.

Meine Mutter war eine ziemlich beschäftigte Modedesignerin, weshalb sie nicht gerade viel Zeit für uns hatte. Und wenn, dann nutzte sie die wie eben schon erwähnt. Außerdem war der Draht zu ihrer Mutter nie besonders gut gewesen, doch was niemand wusste: ich hatte die Übernachtungen bei meiner Oma immer genossen. Sie war so ganz anders als meine Mutter. Sie war nett, meckerte so gut wie nie an mir rum und half mir immer mein Zimmer aufzuräumen, wenn meine Mutter mal wieder einen ihrer typischen Anfälle hatte. Und vor allem hörte sie sich immer jedes einzelne Kapitel meiner selbstgeschriebenen, bis jetzt jedoch noch nicht fertiggeschriebenen Bücher an. Mit einer Herzensgüte hatte sie uns immer Tee gekocht, mich und sich in eine warme Decke eingewickelt und mich dann stundenlang vorlesen lassen. Zumindest so lange, bis eines Tages der Anruf kam, – ich war zu diesem Zeitpunkt 14 - sie sei in der Nacht einfach eingeschlafen und verstorben. Sie war der Grund, weshalb ich unbedingt Autorin werden wollte, das war ich ihr schuldig.

„Ach, Omi. Ich vermiss dich so“, murmelte ich, als das Lied in meinen Kopfhörern endlich wechselte. Das war der Moment, in dem ich es hörte – das Knirschen von Kies, direkt hinter mir. Elizabeth, jetzt reiß dich aber zusammen! Da. Ist. Nichts!

Da begannen auch schon die ersten Töne des neuen Liedes zu spielen. Shatter Me, von Lindsey Stirling und Lzzy Hale.

Ich stand auf, zwang mich dabei, mich nicht umzudrehen (typisches Horrorfilmklischee) und ging den Kiesweg weiter. Der Friedhof hatte zwei Ausgänge, und da ich keine Lust hatte, den ganzen Weg noch einmal zurück zu gehen, lief ich halt zu dem anderen. Da hörte ich es wieder, trotz der lauten Musik aus den Kopfhörern. Irgendjemand direkt hinter mir sagte etwas. Zögerlich blieb ich stehen und meine Hand tastete sich langsam zu meiner Jackentasche, glitt hinein und wollte eigentlich die Lautstärke runterregeln, als ich die Stimme so genau hörte, als käme es direkt aus dem Handy.

„Elsebeth, wie schön, dass du mich besuchen kommst.“

Meine Finger rutschten ab und anstatt den Ton leiser zu drehen, rissen sie das Kabel heraus, was zur Folge hatte, dass das Lied nun laut durch mein iPhone erklang. Doch das war nichts im Vergleich zu der Gänsehaut, die meine Arme überzog und die Härchen, die sich in meinem Nacken aufstellten.

Elsebeth. Der Spitzname, den meine Oma immer für mich verwendet hatte. Den nur sie verwendet hatte. Mirabelle Longwood. Meine heute drei Jahre lang tote Großmutter. Niemand anders kannte, oder wagte es, diesen Spitznamen für mich zu verwenden.

Quälend langsam drehte ich mich herum, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, doch mein Körper bewegte sich wie von selbst, da mein Verstand sich komplett abgeschalten hatte. Und als ich das tat, taumelte ich zurück, als hätte man mich geschlagen.

Diesen Anblick würde ich nie wieder in meinem ganzen Leben vergessen. Er brannte sich in mein Gedächtnis ein, zwang mich, es zu sehen, selbst wenn ich die Augen schloss.

Da war sie, wie ich sie in Erinnerung hatte. Klein, ein wenig breiter, das Gesicht faltig, die silbernen Haare bis knapp zu den Ohren. Doch das war nicht das, was mich störte.

Auf den ersten Blick sah sie ganz normal aus.

Auf dem zweiten sah man, dass sie nicht stand, sondern in der Luft schwebte.

Und auf dem dritten Blick erkannte man, dass ihre sonst so liebevollen, haselnussbraunen Augen blutrot und gierig auf mich gerichtet waren.

„Oma Mira?“, keuchte ich und trat noch einen Schritt zurück.

„Oh hallo, meine Kleine. Wie geht es dir?“, säuselte sie und kam näher. Lag es an mir, oder war es mit einmal unnatürlich kalt geworden? Eigentlich war es ein warmer März, und nun konnte ich meine Atemwolke sehen.

„G-ganz gut“, stotterte ich und wich weiter zurück. Oma hatte keine Atemwolke. Ganz ruhig, Elizabeth. Du hast dir nur gewünscht, Mira würde wieder da sein und jetzt fantasierst du. Das hier ist nicht echt.

„Und wie geht es Alexa, Tristan und Ximon?“

Die drei gehörten zu einer Story, die ich mir im Alter von 10 überlegt und ihr vorgelesen hatte. Automatisch kniff ich die Augenbrauen zusammen. „Die hab ich begraben. Ebenso wie du es auch sein solltest.“

„Ach, sollte ich das?“

Und dann passierte das wohl unglaublichste, was hätte passieren können. Sie rollte die Augen so weit nach oben, dass man nur noch das weiße sah und schüttelte sich wie ein Hund. Erst den Kopf, dann den kompletten Körper. Dabei stieß sie irgendwelche tierischen Laute aus, doch ich blieb nicht länger. Ich wirbelte herum und rannte los. Ich rannte so schnell, wie ich noch nie gerannt war. Mein Handy plägte derweil ununterbrochen weiter, während ich lautstark nach Hilfe schrie. Irgendjemand musste mich doch hören, oder? Oh Gott, dieser Tag war echt der schlimmste in meinem Leben. Erst die 5 im Aufsatz, dann der Stress mit Mr. Smith, das Gespräch mit Austin und letztlich noch der Streit mit Mitchy, da ich sie für mein Verlassen des Unterrichts verantwortlich gemacht hatte. Und … Das war’s! Mitchy. Telefon! Handy! Wo zum Teufel war mein verdammtes Handy?!

Ich wollte gerade in meiner Tasche danach greifen, als plötzlich ein mir ziemlich vertrautes Gesicht vor mir auftauchte und sich eine kalte Hand mit eisernem Griff um meinen Hals schloss und mich hochhob. Die pupillenlosen, weißen Augen mit den roten Äderchen waren auf mich gerichtet, während sich ihr Mund zu einem Grinsen verzog. Ihr Mund war ein rabenschwarzes Loch. Alles in allem war es eine grässlicher, verunstaltete Fratze vor mir.

„Wo willst du denn so eilig hin, meine Kleine?“

Bevor ich etwas antworten konnte, hatte sich mich weggeschleudert, sodass ich schreiend durch die Luft segelte, bevor ich ächzend auf dem harten Boden aufschlug. Die Kiessteine bohrten sich in meine Haut, rissen sie auf, zerkratzen sie. Da wurde ich schon wieder an der Kehle gepackt und grob hochgezerrt.

„Bitte … lass mich gehen“, wisperte ich. Eigentlich wollte ich schreien, doch ich brachte nur dieses leise Flehen über die Lippen.

„Dich gehen lassen? Aber wohin denn?“, fragte sie und schwenkte mich durch die Luft, wie kleine Mädchen ihre Stoffpuppe. Krampfhaft holte ich tief Luft, da ihr Griff meine Luftröhre zu zerquetschen schien.

„Ich … krieg … keine … Luft“, krächzte ich, strampelte hilflos mit den Beinen und versuchte mit meinen Händen, die ihre zu lockern. Ihre Haut war kalt, tot. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.

„Und das ist auch gut so.“

„Oma, … bitte“, versuchte ich es erneut. „Was willst du von mir?“

„Was ich von dir will? Nun, meine kleine Elsebeth, das kann ich dir sagen.“ Ihre Stimme hatte rein gar nichts Menschliches mehr. „Ich will dich.“

Ich hatte unterdessen damit zu tun, nicht das Bewusstsein zu verlieren. „Was? Wofür willst du mich?“

Sie ließ mir noch Zeit genug, zu antworten, bevor sie mich erneut wie eine Puppe davonwarf – das schlimme: ich fühlte mich auch so. Ich knallte mit dem Kopf gegen den Stamm einer am Wegesrand stehenden Kastanie und sackte daran zu Boden. Benommen sah ich auf und begegnete ihrem Blick.

„Wofür ich dich will? Nun, sieh mich doch an, alt und unmenschlich. Aber du …“ Sie kam auf mich zu, während sich Angsttränen in meinen Augen sammelten. „So jung und menschlich. Du wirst eine schöne neue Hülle für mich sein.“

„Oma, bitte … tu das nicht“, startete ich einen letzten Versuch. Und dir hab ich extra zehn Dollar teure Rosen gekauft. Weiße Rosen.

Das Wesen lachte ein boshaftes Lachen, während ich zu ihr aufsah. „Ich bin nicht mehr deine Oma, Elizabeth.“

Damit überwand sie den letzten Abstand zu mir und schnitt mir damit meinen letzten Fluchtweg ab. Ich schloss die Augen. Das war es also, mein Leben. Und da hatte ich mich heute Morgen noch mit Mr. Smith darüber gestritten, was denn der Sinn des Lebens war. Nun, jetzt würde ich es nicht mehr herausfinden können. Ich würde jetzt getötet werden, durch dieses … Wesen.

Ich wartete auf das, was kommen müsste, spürte bereits ihre kalte Hand an meiner Wange, fühlte den eiskalten Tod nahen.

Da hörte ich, wie sich uns schnelle Schritte näherten.

„Lass sie in Ruhe!“, rief eine wütende Stimme, eindeutig männlich und mir definitiv unbekannt. Ich öffnete die Augen wieder, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie irgendetwas gegen meine „Oma“ prallte und sie von mir wegriss. Die beiden Körper überschlugen sich mehrmals, bevor mein Retter in einer tierähnlichen Kauerstellung hocken blieb, fauchte und den Kopf zu mir drehte. Es war ein Junge in meinem Alter, er war vielleicht einen Tick größer als ich, muskulös, hatte rabenschwarzes Haar, eine leicht gebräunte Haut und strahlend dunkelblaue Augen, die so stechend waren, dass ich aus Angst, mich an ihnen zu verbrennen, den Blick nicht direkt darauf richtete. Er trug – soweit ich das erkennen konnte – ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt, eine dunkelblaue Röhrenjeans, die perfekt saß und hatte an beiden Oberarmen jeweils ein breites, schwarzes Band. Mit gerunzelter Stirn, zu Schlitzen verengten Augen und verschlossener Miene musterte er mich; vergewisserte sich, dass mit mir alles in Ordnung war. Zumindest körperlich.

„Lauf“, sagte er nur, bevor er sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf die sich wieder aufrichtende Mirabelle stürzte. Doch ich blieb nicht, um mir den Kampf anzusehen, denn ein Lauf ließ ich mir in meiner Lage nicht zwei Mal sagen. Taumelnd kam ich wieder auf die Beine, bevor ich zurück in die Richtung rannte, aus der ich gekommen war.

 

 

 

Ich wusste nicht mehr, wie lange ich gerannt war, aber immer wieder warf ich Blicke über die Schulter zurück und betete, dass es meinem Retter gut ging.

Vielleicht hätte ich doch dableiben sollen … Was ist, wenn er wegen mir verletz wird, oder gar schlimmer?

Erneut tauchte das Bild dieser strahlend blauen Augen in meinem Hinterkopf auf, weshalb ich so abgelenkt war, dass ich gegen irgendjemanden rannte. Oma!

Noch bevor ich mich daran hintern konnte, schrie ich in einer Lautstärke, die mich selbst überraschte. Hände schlossen sich um meine Schultern und schüttelten mich.

„Elizabeth! Beruhige dich! Was ist den passiert?“, rief irgendjemand, doch ich ignorierte das und krallte meine Hände weiter in den Stoff des warmen T-Shirts. Moment. Warm?

Augenblicklich verstummte ich und starrte verwirrt hinauf in leuchtend grüne Augen, welche mich besorgt musterten. „Austin?“

Langsam ließ er meine Schultern los und trat einen Schritt zurück. „Was ist denn mit dir passiert?“

Ein normaler Mensch, hätte jetzt tief Luft geholt und ihm sachlich die Lage erklärt. Nur leider war ich kein normaler Mensch, weshalb ich mehrere Versuche brauchte, um überhaupt etwas zu sagen. „M-M-Monster…“, war schließlich alles, was ich herausbrachte.

Austin sah mich ein paar Sekunden an, als hätte ich ihm gerade erklärt, dass 1 und 1 fünf ergab. Toll, er glaubte mir also nicht. „Monster?“

Ich nickte gefühlte tausendmal. „Ja.“

„Elizabeth, es gibt keine Monster“, sagte er in einem beruhigendem Tonfall, während ich weiterhin in seine Augen starrte.

„Doch“, beharrte ich und wollte eigentlich stark klingen, doch es war nur ein Flüstern.

Es war ein paar Sekunden lang still, als er nichts darauf erwiderte. Naja, fast still.

„Hörst du gerne laut Musik?“

Mein Handy plägte ununterbrochen weiter, meine Kopfhörer waren spurlos verschwunden. Langsam ließ ich meine Hand in meine Jackentasche gleiten, zog es hervor und wollte es eigentlich entsperren, brauchte dafür jedoch mehrere Anläufe, da meine Finger taub waren und ich mittlerweile zitterte wie Espenlaub.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Austin besorgt und sah argwöhnisch zwischen mir und meinem iPhone hin und her.

Ich schüttelte den Kopf und ließ mein nun verstummtes Handy wieder verschwinden. Danach fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht. „Es ist nichts, nur … ich glaub, ich werd verrückt.“

Kurze Stille.

„Das kann sein. Aber ich meinte das hier.“ Als ich ihn nur verwirrt ansah, nahm er sanft mein rechtes Handgelenk und drehte es herum, sodass mein Unterarm zu sehen war. Ein zehn Zentimeter langer Schnitt zog sich blutig darüber. Mein ganzer Arm war schon rot.

„Oh, verdammt!“, fluchte ich und besah mir die Wunde genauer. Oder wollte es, denn Austin war schneller. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen darüber, hatte die Stirn konzentriert in Falten gelegt.

„Sieht schlimmer aus, als es ist. Mach einen Verband drum und dann müsste es eigentlich von selbst wieder heilen.“

„Es muss nicht genäht werden?“

„Nein.“ Er ließ mein Handgelenk los und ich ließ meinen Arm einfach schlaff neben meinem Körper baumeln. „Wie ist das überhaupt passiert?“

„Ich denke mal, als ich durch die Gegend geworfen wurde“, gab ich zurück.

Austins Augenbraue hob sich und sein Mundwinkel zuckte. „Wer hat dich denn bitte durch die Gegend geworfen?“

„Na du ganz bestimmt nicht“, zischte ich.

„Und da ist sie auch schon wieder, die Elizabeth von heute Morgen.“

„Halt die Klappe, Felton.“

„Bist du so zickig mit mir, weil ich dir nicht glaube, dass du auf einem Friedhof ein Monster gesehen hast?“, lachte er.

„Ja“, war alles, was ich daraufhin erwiderte.

Augenblicklich verstummte er. „Gut, dann gehen wir halt zurück und du kannst mir zeigen, wo dein „Monster“ ist“, meinte er, zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung.

Mit der linken Hand ergriff ich seinen Arm und zog ihn zurück, doch alles, was ich erreichte war, dass er stehenblieb und sich mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht wieder zu mir herumdrehte. „Austin, nicht. Sie wird dich töten.“

„Sie?“

„Meine Großmutter.“

„Deine Großmutter ist das Monster, vor dem du geflohen bist?“

„Ja … Nein … Ach, keine Ahnung.“

Toll gemacht, Lizz. Jetzt hält er dich für das offiziell durchgeknallteste Mädchen der ganzen Schule …

Ich seufzte über meine eigene Dummheit. „Okay, wir gehen zurück. Aber wenn dir dabei was passiert, ist das nicht meine Schuld.“

Austin kicherte. „Ach, lass das mal meine Sorge sein.“

 

 

 

„Weg! Sie sind weg!“, rief ich aufgebracht und suchte alles nach Anzeichen für einen Kampf ab.

„Was hab ich dir gesagt? Es gibt keine Monster.“

„Aber ich versteh das nicht! Sie waren genau hier!“

Ich stand neben dem Baum, vor dem ich vor wenigen Minuten noch gesessen hatte und sah mich verwirrt um. Weder der fremde Junge noch meine Monster-Oma waren irgendwo zu sehen.

„Sie? Also waren es mehrere Monster?“

Betreten starrte ich auf den Boden und schob ein paar Kiessteine mit der Fußspitze umher. Es fühlte sich irgendwie falsch an, ihm von meinem Retter zu erzählen. „Eventuell.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich werd wirklich verrückt.“

„Soll ich dir sagen, was ich denke, was wirklich passiert ist?“ Austin bückte sich und hob meine Kopfhörer auf, die da einsam und verlassen auf dem Weg herum lagen.

Ich hingegen lehnte mich gegen den Baum und zog träge die Augenbrauen hoch. „Jetzt bin ich aber gespannt.“

„Ich denke, dass du bei dem Grab deiner Großmutter warst und dann wieder nach Hause wolltest. Dabei hast du dich erschrocken – ich mein, es ist dunkel und wir befinden uns hier auf einem Friedhof - und eine Wahnvorstellung bezüglich deiner Angst gehabt. Das hat dazu geführt, dass du blind losgerannt bist und dabei deine Kopfhörer verloren hast.“

„Und wie erklärst du meine Verletzung und meine zerrissenen Klamotten?“

„Nun ja. Du könntest hingefallen sein.“

Das schlimme an Austins Worten: es klang wirklich nach mir und meiner Art. „Aber warum sollte ich mir meine tote Oma als Monster vorstellen, welches mich dann auch noch angreift?“

Er zuckte mit den Schultern. „Du glaubst gar nicht, wozu Menschen in Angstzuständen alles fähig sind.“

Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Na großartig. Jetzt bin ich nicht nur verrückt, sondern auch noch ein Psycho.“

„Ach, Quatsch.“ Austin kam auf mich zu und drückte mir meine Kopfhörer in die Hand. „Du solltest nur vielleicht fürs Erste Friedhöfe meiden.“

Ich lachte, auch wenn es nur halb aus Belustigung war. „Da hast du Recht. Und ich muss jetzt echt nach Hause. Aber bevor ich es vergesse: was hast du hier eigentlich gemacht?“

Ich reckte das Kinn und waldgrüne trafen auf leuchtende, als unsere Blicke sich begegneten. Er stütze die Hand an der Rinde des Baumes hinter mir ab und beugte sich zu mir herunter. „Nun, ich war in der Nähe spazieren und dachte dann, ich könnte eine alte Freundin von mir noch einmal besuchen.“

Augenblicklich hätte ich mich selbst ohrfeigen können, denn mein Tonfall war ziemlich patzig gewesen. „Oh, wie alt war sie?“

„Fünfzehn.“ Er blinzelte nicht einmal.

„Was ist passiert?“ Ich wusste, dass ich eigentlich aufhören sollte, weitere Fragen zu stellen, aber ich konnte einfach nicht anders.

„Sie … ist von dem Dach eines Hochhauses gestürzt. Es war ein Unfall.“

„Tut mir leid“, murmelte ich und beendete den Blickkontakt dadurch, dass ich zur Seite schaute. Unsere Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt.

„Sie war dir ziemlich ähnlich. Nur waren ihre Haare rot und nicht braun. Trotzdem bist du die schönere.“

Die Stille, die darauf folgte, war ziemlich unangenehm … für mich. Ich räusperte mich. „Ähm … ich sollte … jetzt wirklich gehen.“ Ich duckte mich unter seinem Arm hindurch und schlug den Weg in Richtung Ausgang ein.

Austin schnaubte belustigt. „Dann bis morgen, Elizabeth.“

Ich nickte nur und lief weiter. Kurz, bevor ich um die Ecke bog, warf ich noch einen letzten, flüchtigen Blick zurück. Und bereute es gleich wieder. Denn noch bevor mein Gehirn ganz realisieren konnte, was ich gerade gesehen hatte, war ich schon weitergelaufen. Sofort drehte ich mich komplett um, doch er war verschwunden.

 

 

Das, was ich gesehen hatte, verfolgte mich noch den ganzen Weg nach Hause. Das war keine Einbildung gewesen, ganz sicher. Denn als ich mich herumdrehte, hatte Austin - die Arme vor der Brust verschränkt - an dem Baum gelehnt dagestanden und mir zufrieden grinsend hinterhergesehen.

Und in der Hand hatte er eine einzelne, schneeweiße Rose …

Gespräche

Das Glück des Lebens besteht nicht darin, wenig oder keine Schwierigkeiten zu haben, sondern sie alle siegreich und glorreich zu überwinden.

           

 - Carl Hilty -

 

 

 

„Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, aber ich hab mir das nicht ausgedacht!“ Aufgebracht lief ich in meinem Zimmer auf und ab.

„Beruhige dich, Lizz. Wir glauben dir ja“, versicherte mir meine beste Freundin Sara.

„Auch, wenn es ein wenig … absurd klingt. Du warst nie der Typ für paranormale Ereignisse“, stimmte Louisa zu. Die beiden wohnten mehrere Kilometer von mir entfernt, weshalb wir uns über Skype unterhielten. Sara und ich waren zusammen aufgewachsen, kannten uns sozusagen seit dem Babybauch. Louisa und ich waren erst seit vier Jahren befreundet, doch ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.

„Das weiß ich selber“, zischte ich und blieb stehen. „Es ist nur so, ich … ich …“

„Du?“ Sara strich sich eine ihrer blonden Locken aus dem Gesicht.

Ich seufzte. „Es hat sich so echt angefühlt.“ Ich schielte zu meinem rechten Unterarm, der nun dick bandagiert und seit ich zu Hause war ziemlich zu schmmerzen angefangen hatte. Das lag wohl daran, dass der Schock und das Adrenalin aus meinem Körper gewichen waren.

„Naja. Das kann schon sein. Wie hat dieser … Justin-“

„Austin“, warf ich ein. Da wir nicht auf eine Schule gingen, kannten die beiden auch Austin nicht.

„Ja, dieser Austin hat dir ja erklärt, dass du dir das nur eingebildet hast und gestürzt bist.“

„Das meine ich nicht. Ich sprach von diesen Augen …“ Ich brach ab. Warum nochmal habe ich die beiden angeschrieben, dass ich unbedingt mit ihnen reden muss? Ich hatte den beiden die ungekürzte Version meines „Abenteuers“ erzählt, und keine Sekunde ausgelassen. Ich wandte mich zum Bildschirm meines Laptops.

„Nun, das kann schon ziemlich verstörend sein, wenn man bedenkt, dass sie deine Großmutter-“

„Lu?“, unterbrach Sara sie.

„Ja?“

„Ich glaube nicht, dass Lizz die Augen ihrer Oma gemeint hat …“

Louisa riss die Augen auf. „Oh, du meinst, sie ist …“

„Davon gehe ich aus.“

„Aber gleich so schnell?“

„Wie da halt so ist.“

„Ähm, Leute? Elizabeth ist auch noch anwesend“, brummte ich augenrollend, nahm meinen Laptop hoch und setzte mich damit im Schneidersitz auf mein Bett. „Also, über was tut ihr gerade wieder gedankenkommunizieren?“

Das Problem: bei den beiden klappte das selbst übers Internet. Ich hingegen kam mir dabei immer wie ein Stockfisch vor.

„Öhm …“ Lulu starrte auf die linke Seite ihres Bildschirms - die Seite, wo Sara sein müsste. „Nichts.“

Ich stieß Laut die Luft aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sari? Klär mich auf. Bitte.“

„Nun, ich denke nicht, dass … Also … Nun …“, druckste sie herum.

Es war schließlich Louisa, die antwortete. Sie hustete gekünstelt und dazwischen zischte sie ein Wort: „Fiktophilie“.

„Bitte was?“, fragte ich irritiert. Ja, Fremdwörter waren definitiv nicht mein Fall.

„Google es doch“, murmelte Sara und ich konnte sehen, dass ihr dieser Begriff in Bezug auf mich ziemlich peinlich war.

Also schob ich die beiden mit dem Mauszeiger ein Stück weit zu Seite und öffnete die Suchmaschine. „Ist nicht euer Ernst, oder?“, fauchte ich, nachdem ich mich durch mehrere Ergebnisse durchgelesen hatte. „Damit bestätigt ihr ja nur, dass ihr mir nicht glaubt.“

„So war das gar nicht gemeint. Es ist nur so, dass du schon immer so veranlagt warst, dich ausgerechnet in die Typen zu verknallen, die nicht existieren und deshalb unerreichbar für dich sind.“

„Ich hab mich überhaupt nicht in den Typ verknallt“, rief ich wütend.

„Du hättest dich mal hören sollen, als du von seinen Augen geschwärmt hast.“

„Na und? Die waren ja auch … schön …“ Die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Okay, dann bist du zumindest in diesen Austin.“

„WAS?“, schrie ich jetzt schon. Vermutlich eine Spur zu laut, denn kaum eine Sekunde später hörte ich meinen Vater rufen: „Elizabeth, ob es auch ein wenig leiser geht?!“

„Jaha!“, rief ich zurück.

„Hör mal, Lizz. Wie lange ist es jetzt schon her, seitdem du das letzte Mal einen Freund gehabt hast?“, fragte Sara, lehnte sich zurück, strich ihre Haare über eine Schulter und begann sie geschickt zu flechten.

„Ein paar Monate“, gab ich zu. „Aber das hat überhaupt nichts zu sagen! Ich kenn Austin doch erst seit heute Morgen.“

„Und indirekt?“

„Seit Beginn der Highschool.“

„Na, siehst du?“

„Das hat trotzdem nichts zu sagen. Und kommt mir jetzt nicht wieder mit „Er ist offensichtlich an dir interessiert“, denn dafür habt ihr keine Beweise. Wieso sollte er das sein? Weil er meinen Aufsatz aufgehoben hat? Oder mich auf dem Friedhof beruhigt hat? Wenn ihr mich fragt, ist das absurd.“

„Reg dich deshalb doch nicht gleich so auf.“ Louisa schüttelte den Kopf, weshalb ihr letztendlich ihre dunkelbraunen Ponysträhnen ins Gesicht fielen.

„Tu ich doch gar nicht“, widersprach ich. Zeitgleich hoben beide die Blicke und begegneten meinem. „Okay, vielleicht doch. Aber ich kann das einfach nicht mehr hören.“

„Ja, wir sind ja schon still. Konzentrieren wir uns wieder aufs Hauptthema. Was wirst du machen, wenn das wieder passiert?“ Sara ließ ihre geflochtenen Haare am Ende offen und sah mich durch den Monitor hin besorgt an.

„Keine Ahnung“, brummte ich und wollte gerade weiter nach Fiktophil suchen – der Cursor blinkte gleichmäßig in der Suchzeile – als mich ein Geräusch zusammenzucken ließ und ich erschrocken den Blick hob.

„Lizz? Alles in Ordnung?“

„Das weiß ich noch nicht. Da hat gerade irgendetwas gegen das Fenster geklopft.“

„Ähm … vielleicht war es ein Vogel?“

„Ja, bestimmt war das ein Vogel“, äffte Sara die Dunkelhaarige nach. „Ehrlich mal, es ist mitten in der Nacht - garantiert war das kein Vogel. Und komm mir jetzt ja nicht mit einer Eule oder Fledermaus.“

Den Blick noch immer nicht von meinem Fenster lösend, stand ich auf. „Leute, ich bin gleich wieder da.“

„LIZZ! Komm sofort wieder her! Was ist, wenn das auch so ein Monster ist?“, rief Lu panisch, während Sara gleichzeitig „Such dir eine Waffe!“ schrie.

Ich ignorierte die beiden und ging auf das große Fenster mit den fast durchsichtigen Satinvorhängen zu. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, sollte wirklich irgendetwas auf meiner Fensterbank hocken. Ich stellte mich an die rechte Seite und streckte die Hand aus. Dann, mit einer einzelnen, schnellen Bewegung riss ich die Vorhänge weg und siehe da – nichts.

„Elizabeth! Lizz? Jetzt sag doch bitte was!“

„Mir geht es gut. Hier ist nichts!“, lachte ich und spähte noch einmal nach draußen. Wirklich, es war alles so still wie immer.

„Sicher?“ Louisas Stimme klang durch den Laptop ein wenig verzerrt.

„Ja, hundertprozentig.“ Ich kam wieder zum Bett zurückgelaufen und ließ mich darauf nieder. Doch augenblicklich erstarrte ich.

„Lizz? Hey, Süße! Was ist denn jetzt schon wieder los? Ich dachte, vor dem Fenster war nichts.  Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

„Leu…te? War irgendjemand während meiner Abwesenheit am Laptop gewesen?“, hauchte ich und starrte weiter auf den Bildschirm. Mein Mund war staubtrocken.

„Ähm … nee? Wer sollte denn bitte an deinem Laptop gewesen sein?“

„Das wüsste ich auch gerne.“ Ich rückte ein Stück von dem Gerät weg.

„Da war wirklich niemand dran.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Sara legte die Stirn in Falten. „Warum, was ist los?“

„Das ist los.“ Auf meinem Bildschirm, in der Suchleiste von Google, in der ein Wort geschrieben gestanden hatte, blinkte der Cursor gemächlich auf. Der einzige Unterschied war, was in der Zeile stand.

Du bist nicht Fiktophil, Elizabeth

 

 

 

„Oh. Mein Gott. Lizz, ich hab Angst“, keuchte Sara und sah mich, ebenso wie ich sie kreidebleich an.

„Vielleicht hat sich jemand bei dir übers Internet reingehackt …?“, versuchte Louisa eine logische Erklärung zu finden, während ich alle Lichter im Zimmer einschaltete, die Fenster nachkontrollierte und meine Zimmertür verschloss.

„Na klaaar. Um mir einen riesigen Schrecken einzujagen, weshalb auch sonst?“

„Keine Ahnung.“

Ich rieb mir die Schläfen. „Und da war wirklich niemand?“

„Ja, es haben nicht mal die Tasten der Tastatur geklickt.“

„Ich versteh das einfach nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Glaubt ihr mir jetzt?“

„Natürlich. Wenn du uns versicherst, dass das kein Scherz ist.“

Ich war das ganz sicher nicht.“

„Und was hast du jetzt vor? Warten, dass der blauäugige Typ kommt, um dich wieder zu retten?“

„Haha, sehr witzig. Was ich jetzt mache? Ich werde schlafen gehen“, murmelte ich und gähnte.

Beide rissen die Augen auf, Sara kaute nervös auf ihrer Unterlippe. „Nicht dein Ernst, oder? Wie kannst du jetzt bitte noch ans schlafen denken?! Hast du denn keine Angst?“

„Die hab ich heute schon verloren, als meine Oma mir gesagt hat, dass sie mich als „Gefäß“ benutzen will. Glaub mir, Albträume fürs Leben“, lachte ich sarkastisch, woraufhin meine Freundinnen besorgt mit einstimmten.

„Kannst du mir morgen früh wenigstens kurz eine SMS schicken, damit du noch lebst?“

„Na, klar. Hört mal, Mädels. Ich bin wirklich geschafft und muss das ganze erst einmal verarbeiten. Ich verspreche euch, dass mir nichts passiert, versprochen. Vielleicht war das wirklich nur ein Hacker, der uns belauscht und einen Spaß gemacht hat .Oder jemand von der NSA lacht sich gerade den Arsch ab, weil wir und wie Teenager in billig produzierten Horrorfilmen benehmen.“

„Ich trau dem ganzen trotzdem nicht. Können wir morgen um die gleiche Zeit noch einmal skypen? Lizz, du hältst währenddessen Ausschau nach weiteren paranormalen Ereignissen.“

„Geht klar, Lulu.“

„Okay. Dann gute Nacht, Leute.“ Das Feld, in dem Louisas Kopf war, wurde schwarz. Ich klickte auf das Kreuz.

Sara hingegen starrte mich noch ein paar Sekunden lang an. „Ich find‘s wirklich schön, dass du so optimistisch veranlagt bist. Vergiss die SMS nicht, sonst hast du morgen früh das FBI und SWAT-Team vor der Haustür stehen.“

Ich lachte. „Ich hab dich auch lieb, Sari. Bis morgen dann.“

„Bye. Und schlaf gut.“

Dann war auch sie offline. Ich seufzte leise, fuhr den Laptop herunter und hing ihn ans Ladekabel. Dabei fiel mir wieder ein, dass er immer Sicherheitsaufnahmen vom Desktop machte und leider meine Aktivitäten immer filmte. Einerseits war das ganz praktisch, andererseits verschwendete ich damit gefühlte Milliarden Gigabyte an Speicherplatz. Morgen könnte ich nachsehen, ob da wirklich nichts an dem Gerät gewesen war.

„Ich find’s wirklich schön, dass du so optimistisch veranlagt bist …“

Jaja, wenn sie nur wüsste. Denn zum ersten Mal verspürte ich heute keine Panik, sondern nur pure, eiskalte Angst …

 

 

 

„Nichts … warum zum Teufel ist da nichts?!“, fauchte ich, spulte zurück und sah mir die Szene noch einmal komplett an. Da man bei Skype auf dem Bildschirm nicht nur seine Freunde, sondern auch sich selbst sah, konnte ich beides zeitgleich überwachen. Es war immer das Gleiche: ich stand auf, Sara und Louisa sahen mir geschockt hinterher und plötzlich begannen die Buchstaben wie von selbst auf dem Bildschirm aufzutauchen. Und in der Frontkamera sah man … niemanden. „Verdammt!“, fluchte ich und schlug mit den Fäusten auf die Tastatur. Ich saß ähnlich wie gestern in dem leergefegten Flur der Schule - wir hatten eine Stunde früher aus und ich hatte mich entschieden zu bleiben, anstatt wie alle anderen nach Hause zu gehen.

„Na, wie geht‘s uns denn heute?“, fragte urplötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Augenblicklich zuckte ich zusammen, denn urplötzlich stand Austin neben mir. Ich drehte den Kopf und sah ihn wütend von unten herauf an.

Erstaunt zog der Blonde die Augenbrauen hoch, musterte mich von oben bis unten. „Was ist denn mit dir los? Machst du jetzt einen Imagewechsel vom unschuldigen Mädchen zur Gruftibraut?“

Verärgert funkelte ich ihn wütend an. „Nur so zur Info, die Augenringe sind echt!“

Sichtlich amüsiert rollte er mit den Augen. „Ich meinte nicht nur die Augenringe. Hast du dich heute schon mal im Spiegel gesehen?“

Oh ja, das hatte ich. Gleich heute früh, als ich einfach das angezogen wonach ich gegriffen hatte. Und vor dem Spiegel dementsprechend einen Schreikrampf bekommen hatte. Aber der war nichts im Vergleich zu dem meiner Mutter, als sie mich sah: schwarzes Kleid, Netzstrümpfe und kniehohe Stiefel. Alles in schwarz.

„Nein“, log ich.

Austin zuckte mit den Schultern. „Steht dir“, meinte er nur und in dem Moment war ich so überhaupt nicht froh, dass ich heute dank Schlafmangel ziemlich bleich war. So fiel eine leichte Errötung, wie meine, ziemlich schnell auf. Mist.

„Danke“, murmelte ich deshalb, senkte den Blick und klappte meinen Laptop zu.

„Wie bist du überhaupt an die Klamotten gekommen?“

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Es gefiel mir irgendwie nicht, dass er so von oben auf mich herabsehen konnte. „Wieso fragst du?“

„Nun ja, du gehörst irgendwie nicht zu den Menschen, bei denen man so was vermutet.“

Jetzt war es an mir, mit den Schultern zu zucken. „Ich hatte mit Zwölf mal so eine Gothic-Phase.“

Nächste Untertreibung des Jahrhunderts. Was er nicht wusste: diese Phase hatte ich bis letztes Jahr, also knapp 5 Jahre lang strikt durchgezogen. Und dass eben diese Lebenseistellung meine Einstellung zum Sinn des Lebens so geprägt hatte, musste er auch nicht unbedingt wissen.

„Das erklärt so einiges“, grinste er.

„Klappe, Felton. Also, was willst du?“, seufzte ich genervt, verstaute meinen Laptop, warf mir meinen Rucksack über die Schulter und stand auf.

„Ich wollte fragen, ob du Lust hast, was mit mir zu unternehmen?“

Ich stoppte mitten in der Bewegung. „Mo-Mo-Moment. Was wird das jetzt?  Glaubst du, nur weil ich gestern auf dem Friedhof eine leichte Panikattacke hatte, bin ich gleich ein potentielles Ziel für dich?“, zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, schrammte dabei mit dem rechten Unterarm über die Silberarmreife am linken Handgelenk und biss mir auf die Wange, um nicht vor Schmerzen aufzuschreien.

„So würde ich das jetzt nicht ausdrücken …“

„Ach ja? Wie denn dann?“ Ich reckte stolz das Kinn nach oben, starrte direkt in seine leuchtend grünen Augen.

„Nun, du scheinst nicht gerade viele Freunde zu haben … in der Nähe“, fügte er hinzu, als er sah, wie meine Miene noch grimmiger als möglich wurde.

„Und …?“

„Deshalb dachte ich, dass du – zumindest nach dem Schrecken gestern – eine Ablenkung gebrauchen könntest.“

„Und der gütige Ritter Felton kommt direkt mit seinem treuen Ross angeritten, um der holden Schönheit zu helfen?“, schnaubte ich verächtlich, bevor ich an ihm vorbeilief. „Danke, aber nein, danke. Und außerdem …“, ich blieb nicht einmal stehen, „… habe ich bereits einen Freund.“

„Ach, wirklich? Nun, wie heißt er denn?“

„Als ob ich dir das sagen würde.“

„Dann sag mir doch wenigstens, wie er aussieht.“

Austins Tonfall war so spöttisch, dass ich doch stehenblieb und mich zu ihm herumdrehte. „Das geht dich genauso wenig an.“

Etwas huschte durch den Blick der grünen Augen, bevor er lächelnd den Kopf schüttelte. Und noch bevor ich irgendetwas dagegen unternehmen konnte, war er auf mich zugelaufen, hatte mich am Handgelenk gepackt und mitgezogen.

„Hey, lass mich sofort los!“, fauchte ich wütend, bemühte mich aber so sehr wie möglich, nicht zu laut zu sein, da in einigen Räumen ja immer noch Unterricht stattfand.

„Nein“, war das Einzige, was er dazu zu sagen hatte. Arrogantes Arschloch.

Er warf mir einen Blick von der Seite her zu. „Danke.“

„Oh, Mist Hab ich das etwa laut gesagt?“ Ich spürte, wie ich rot anlief.

„Ja, hast du.“

„Dann tut es mir nicht leid.“

Austin seufzte. „Du bist echt unverbesserlich, ist dir das klar?“

„Natürlich.“

Und genau in dem Moment entschied sich mein Handy dazu, zu klingeln. Ich ließ meine freie Hand nach hinten zu meinem Rucksack gleiten und zog das vibrierende Ding aus der Tasche. Sara.

Ich nahm den Anruf an. „Hey, du, es ist grad wirklich schlecht.“

„Warum ist es denn grade schlecht? Deine beste Freundin ruft an, und du sagst, es sei schlecht?“, rief sie gespielt empört und lachte.

„Ja, weißt du … ich bin derzeit ein wenig unfreiwillig unterwegs.“ Austin lief um die Ecke und zog mich stolperndes Ding hinter sich her.

„Oh mein Gott. Lizz, wirst du etwa entführt?“

„Nein. Könnte ich denn sonst noch telefonieren?“

„Hm, hast Recht. Also, was ist los?“

„Nichts besonders, wenn man mal davon absieht, dass ich-“ Noch bevor ich ganz zu Ende gesprochen hatte, prallte ich gegen Austin, welcher unvermittelt stehen blieb. „Hey, was soll das?“, brummte ich.

„Wer ist da?“

„Niemand. Du, Sara. Ich muss jetzt auflegen, okay? Wir reden heute Abend weiter.“ Ich ließ ihr keine Zeit zum Antworten, sondern unterbrach die Verbindung.

„Bist du jetzt fertig?“

Ich rollte mit den Augen. „Ja.“

„Gut.“ Damit setzte er sich wieder in Bewegung.

„Ach, nur damit das klar ist.  Das hier ist kein Date, verstanden?“

Austin lachte. „Wenn du meinst.“

Es war ein paar Minuten lang still, während wir schweigend nebeneinander herliefen. „Das hier ist ein Date, oder?“, grummelte ich resigniert.

„Exakt.“

Ich rollte mit den Augen. „Na, großartig.“

Impressum

Texte: Außer den Zitaten und Liedtiteln/-texten gehört alles mir.
Bildmaterialien: Das wunderschöne Cover wurde gemacht von: Annibunny.
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

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