Cover

Jan und Jonas

Das Telefon klingelte. Nicht sein Smartphone, das Festnetz. Jan sah zu der Basisstation hinüber und verdrehte die Augen. Typisch: Das Handgerät war nicht da! Jan sah auf die Uhr auf dem Desktop. Noch fünf Minuten bis zur Telefonkonferenz. Er stand auf von seinem etwas provisorisch wirkenden Arbeitsplatz, wobei er seine Kaffeetasse herunterstieß. Das war schon die dritte in sechs Wochen Homeoffice! Fluchend ging er der Melodie des Handgerätes nach. Durch den Flur, wo sie lauter wurde, ins Schlafzimmer, wo sie fast verklang. Also blieb nur das Bad. Gerade, als Jan dort die Tür aufriss, verklang die Melodie.
Das Gerät mit dem bernsteingelben Display blinkte magisch vom Schränkchen unter dem Waschbecken her, gleich in Reichweite zum Toilettenbecken, dessen Deckel sogar brav geschlossen war. Mit wem, in aller Welt, hatte Jonas wieder telefoniert, während er hier anderen „Geschäften“ nachging? Diese Unart konnte er ihm nicht abgewöhnen!
Jan ging zurück ins Wohnzimmer, während er die Nummer des verpassten Anrufers herauszufinden suchte. Es war Jonas. Warum wunderte ihn das nicht?
Er betätigte die Rückruftaste, während er auf die Uhr sah. Drei Minuten!
„Möller“, meldete sich die tiefe Stimme am anderen Ende und Jan spürte, wie er eine Gänsehaut auf den Armen bekam.

„Hier auch. Du hast angerufen? Du hast genau zwei Minuten!“
„Kannst Du heute Abend die Kleine abholen? Wir haben ein wichtiges Meeting und ich weiß nicht, ob ich es rechtzeitig schaffe.“
„Kein Problem. War heute früh alles in Ordnung?“, erkundigte sich Jan gewohnheitsgemäß.
„Gabriella hat heute die Gruppe“, sagte Jonas halblaut.
„Scheiße!“, entfuhr es Jan.
Eine Minute!
„Du sagst es. Ich muss Schluss machen. Bis heute Abend!“, sagte Jonas. Dann, als Jan schon fast aufgelegt hatte, hörte er aus dem Hörer: „Was gibt es heute Abend zu essen?“
„Lass Dich überraschen!“, war Jans Standardantwort. Er wusste es im Moment noch nicht.
Der Klingelton des Meetings zwang ihn, aufzulegen.

 

Das Meeting zog sich. Der Kunde hatte keine klaren Vorstellungen von dem, was er eigentlich haben wollte. Klar war nur, dass es schnell gehen musste und so gut wie nichts kosten durfte. Jans Produktmanager litt etwas unter Profilierungssucht und versprach leichtfertig Dinge, die er, Jan, am Ende würde umsetzen müssen. Aber ein solches Gespräch war nicht geeignet, Bedenken anzumelden, ob das Budget dafür ausreichen würde.

Als der Kunde aus der Leitung war, erkundigte sich Torsten angelegentlich, warum Jan so still gewesen sei.
„Dann hätte das alles noch länger gedauert. Du hättest mit mir über Deine Vorschläge vorher reden können. Sollte ich Dir vor dem Kunden sagen, dass wir das für diesen Preis und in dieser Zeit nicht hinbekommen? Ich bin auf Kurzarbeit. Hast Du daran gedacht?“

„Der Auftrag ist wichtig für uns. Wenn die mit uns zufrieden sind, verschafft uns das bestimmt weitere Projekte. Sieh es als Zukunftsinvestition. Außerdem hast Du doch sonst nicht viel zu tun, oder?“
Jan verdrehte die Augen und schwieg. So lief das fast immer. Seufzend machte er sich an die Arbeit. Jonas würde ihm wieder Vorhaltungen machen, er müsse Torsten gegenüber selbstbewusster auftreten. Das ärgerte ihn, weil er wusste, dass er im Grunde Recht hatte.
Aber Jonas hatte gut reden. Der war der Selbstbewusste, Energische von ihnen beiden. Etwas, das Jan seit jeher an ihm bewundert hatte.

Wie immer passierten dann alle Dinge auf einmal. Sein Laptop begann verrückt zu spielen, sein Router im Flur blinkte wild wie ein Christbaum und sein Handy begann zu läuten.

Hilfesuchend sah er sich im Zimmer um. Aber er war allein. Wie immer, wenn das Chaos über ihn hereinbrach, war er allein. Panik flammte in ihm auf und drohte sein Denken mit giftig grünem Feuer zu versengen. Er sah hektisch auf das Display seines Smartphones. Die Nummer kam ihm vor wie ein Menetekel an der Wand: Die Kita rief an.
Er holte mit geschlossenen Augen tief Luft und drückte entschlossen auf den grünen Hörer.
„Jan Möller“, meldete er sich und zwang sich zu einem unbefangenen Tonfall. Das Adoptionsverfahren war in der entscheidenden Phase und sie durften sich keine Blöße geben. Es ging um die Kleine und es ging um sie.
„Herr Möller. Ich rufe an, weil mir die Erzieherin Ihres ...“, die Frauenstimme am anderen Ende machte eine winzige Pause, „... Pflegekindes mitgeteilt hat, dass sich das Mädchen nicht wohl fühlt. Wir fürchten, sie hat sich eine Erkältung zugezogen. Wären Sie so freundlich, sie abzuholen? In diesen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug sein, wissen Sie.“
„Hat Paula Fieber?“, fragte Jan statt einer Bestätigung. Sein Laptop zeigte ihm inzwischen ein trauriges Smilie auf einem Bluescreen.
„Hatte sie denn Fieber, als sie Sie heute morgen gebracht haben?“, fragte die Frau zurück.
„Nein, natürlich nicht. Was genau hat Gabrie ... Frau Schubert denn gesagt? Hustet Paula, hat sie eine laufende Nase? Ich meine, es ist Februar, jedes zweite Kind läuft mit einer Schnupfennase herum!“
Jan hörte, wie er seine Stimme hob und schalt sich einen unbeherrschten Narren. Wozu legte er sich mit der Frau an? Sie war ohnehin am längeren Hebel!
„Wissen Sie, ich arbeite hier zu Hause und im Augenblick habe ich ein paar technische Probleme ...“
„Ist es nicht sicher bei Ihnen zu Hause, Herr Möller?“, erkundigte sich die Kita-Leiterin.
„Da meine Tochter nicht unbedingt auf ein funktionierendes Internet angewiesen ist zum Überleben, denke ich, es ist sicher!“, sagte er betont beherrscht ins Telefon. Seine Finger schmerzten, so fest drückte er das Gerät an sein Ohr.

„Pflegekind“, sagte die Frau ungerührt.
„Bitte?“, fragte Jan zurück.
„Paula ist ihr Pflegekind“, ließ sie sich herab, zu erklären.

„Richtig. Ich bin in einer halben Stunde da. Bitte sorgen Sie dafür, dass sie heute die richtigen Handschuhe in ihrem Fach hat.“ Er legte auf und atmete aus.
Er wusste, dass es Ärger geben würde. Über kurz oder lang würden sie eine andere Kita für Paula finden müssen. Niemand wusste, wie sich das auf die Adoption auswirken konnte.

Jan sah auf die Uhr. Wieder langte Panik nach ihm.
Er rief Torsten an, wurde aber von der Mailbox abgewiesen. Er suchte die Nummer seines Administrators heraus und hörte wieder nur eine Bandansage.
Rasch tippte er eine Mail in sein Smartphone und vergewisserte sich, dass sie auch versendet worden war. Schließlich rief er Jonas an und hörte dessen tolle Stimme mit dem leisen ironischen Unterton, aber auch nur von Konserve. Er zerdrückte einen Fluch und gab es auf.
Auf der Serviceleitung seines Internet-Providers kam er nicht einmal bis zur Auswahl seines Anliegens. Eine hastig auf Band gesprochene Nachricht informierte ihn, dass es eine großflächige Störung gäbe und sie mit Hochdruck an deren Beseitigung arbeiteten.
„Na toll, das dritte Mal in diesem Monat!“, schimpfte Jan in seine Maske, als er die Treppe hinunterlief.

Die Stadt versank gerade im Schnee, was Mitte Februar eine echte Überraschung war. Jan sah davon ab, sein Rad mit dem Kindersitz auf dem Gepäckträger aus dem Keller zu holen und stapfte, die Hände in den Taschen seiner Winterjacke vergraben, in Richtung Straßenbahn. Weil sein Mund-Nasenschutz dies so wollte, lief er ohne Brille in der Gegend herum, was gewisse Gefahren barg. In seinem Führerschein stand nicht ohne Grund: Nur mit Brille.

Für gewöhnlich brauchte man mit der Straßenbahn bis zur Kita zwölf Minuten. Aber es lagen dreißig Zentimeter Schnee. Überall. Dazu war es – völlig unüblich – hundekalt. Also stand Jan dreizehn Minuten an der Haltestelle und als schließlich eine verirrte Bahn hielt, spürte er seine Zehen nicht mehr und wusste endlich, wie sich Reinhold Messmer nach seiner Rückkehr vom Mount Everest gefühlt haben musste.
Sie waren zwei Stationen weit gekommen, da vibrierte sein Handy in seiner Innentasche.
„Möller“, sagte Jan halblaut und an seinem Ohr dröhnte gut gelaunt: „Hier auch. Du hattest angerufen?“

Jan setzte Jonas ins Bild, wobei er ihm vorsichtig zu verstehen gab, dass es mit der Leiterin der Kita nicht so gut gelaufen wäre.
„Ich denke, wir müssen uns wohl eher früher als später nach einer anderen Einrichtung umsehen“, sagte er noch immer fast flüsternd. Er rechnete im Stillen mit ein paar vorwurfsvollen Bemerkungen seines ihm Angetrauten, aber der klang erstaunlicherweise eher verständnisvoll, fragte dann aber doch, wo Jan sich den gerade befände. Die charmante Stimme der Ansage in der Bahn enthob Jan einer Antwort.
„Ich hole Paula ab. Bei uns streikt das Internet sowieso mal wieder.“
„Hast Du die Heinis schon angerufen? Es ist das vierte Mal in den letzten Wochen.“
„Dritte Mal, Jonas. Sie haben eine Großstörung. Die halbe Stadt ist betroffen.“
„Wenn wir so arbeiten würden!“, sagte Jonas. Jan dachte kurz an das Meeting vom Morgen zurück und sagte nichts. Er versprach, mit Paula dann noch einkaufen zu gehen und legte auf.
Als er die Kita erreichte, hörte er bereits von Weitem die fröhlichen Kinderstimmen. Offenbar waren Kinder draußen und durften im Schnee spielen. Trotz Notbetreuung ging es den Kindern gut hier. Nur Paula schien so etwas wie eine Ausnahme zu sein. Sie saß fertig angezogen im Vorraum ihrer Gruppe und sah ihm traurig entgegen. Sie wäre vermutlich auch gern mit den anderen im Schnee umhergetollt.

„Herr Möller?“, erklang hinter ihm sein Name aus dem Mund der Frau, der er hatte eigentlich heute nicht begegnen wollen: Frau Gabriella Schubert. Eine große Frau, eine Definition des Wortes stattlich, die unausgesprochen auch Attribute des Stammes der Amazonen mitlieferte. Jan fühlte sich in ihrer Gegenwart irgendwie ausgeliefert, seit er das erste Mal zum Elternabend hier erschienen war.
Er drehte sich zu ihr um und sah unwillkürlich zu ihr auf. Ihr Gesicht trug Missbilligung zur Schau auch wenn fast nur ihre Augen zu sehen waren.
„Paula hat zu dünne Strümpfe an bei diesem Wetter. Es ist kein Wunder, dass sie schon wieder krank ist!“, sagte sie und ihr Dialekt macht die Feststellung zur Anklage. Auch nach Jahren konnte Jan bei der Larmoyanz im Tonfall der Menschen hier nicht sicher ausmachen, ob sie gerade tödlich beleidigt waren oder einfach nur immer mies drauf. Nur bei Jonas hatte er inzwischen auch die Zwischentöne zu verstehen gelernt.
Jan sah zu Paula hinüber. Sie war sitzen geblieben und beobachtete die Erzieherin aufmerksam. Sie schien etwas blass zu sein, aber krank sah sie eigentlich nicht aus. Was meinte dieses Weib eigentlich mit schon wieder? Jan spürte, wie Ärger in ihm aufstieg und biss sich auf die Lippe.
„Ich werde es meinem Mann sagen“, versprach er und wandte sich Paula zu, streckte ihr die Hand hin.
„Sie meinen Ihrer Frau“, gab die Erzieherin zurück und ihre verwaschenen blauen Augen fixierten ihn genau. Sie liebte dieses Spiel. Jan hatte es inzwischen aufgegeben, sich auf derart platte Provokationen einzulassen. Aber der Tag hatte ihm bereits erheblich zugesetzt.
„Sie haben schon richtig gehört, meinem Mann. Ich habe einen Mann, Sie nicht auch, Frau Schubert?“

„Das kann man ja wohl nicht vergleichen, oder?“, sagte sie schnippisch.
„Sie irren, Frau Schubert. Ich bin genauso verheiratet wie Sie. Vermutlich nur glücklicher. Bringen Sie den Kindern hier ihre homophoben Einstellungen bei?“
„Wissen Sie, das muss ich mir nicht von Ihnen unterstellen lassen!“, fuhr die Frau auf. Drohend stand sie vor ihm und ihr gewaltiger Busen wogte vor seinem Gesicht auf und ab.
„Vielleicht sollten wir das Gespräch mit Ihrer Leiterin in deren Büro fortsetzen, was denken Sie? Aber leider nicht heute, ich habe zu tun. Einen schönen Tag für Sie, Frau Schubert.“
Die war es offenbar nicht gewohnt, in einer Auseinandersetzung nicht das letzte Wort zu haben und holte tief Luft.
„Gaby, ich denke, deine Kinder sind draußen. Würdest du dich bitte darum kümmern?“
Der Satz kam aus dem Halbdunkel des Flurs hinter der Frau. Caroline Lücke, die Leiterin der Kita trat herzu. Gabriella schien um zwei Kleidergrößen zu schrumpfen. Sie murmelte etwas Unverständliches und drängte sich an ihrer Chefin vorbei.
„Das mit den Strümpfen ...“, hob die kleine, drahtige Frau mit dem straff nach hinten frisierten, schwarz gefärbten Haar an und fasste Jan ins Auge. Ihre Brillengläser beschlugen bei jedem Atemzug für einen Moment, was irgendwie gruselig aussah.
„... werde ich meinem Mann sagen. Allerdings glaube ich nicht, dass Paula krank ist. Möglichweise hat sie ein Gespür für die Atmosphäre hier und fühlt sich deshalb nicht so ganz wohl?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Frau Lücke scharf.
„Fragen Sie Ihre Kollegin, was sie von gleichgeschlechtlichen Beziehungen hält“, sagte Jan, nahm Paula auf den Arm, gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie legte die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Jan schluckte und drückte das Kind kurz.
„Auf Wiedersehen, Frau Lücke“, sagte er, rückte seine Maske zurecht und ging.


Auf der Straße blieb er einen Moment stehen, ließ Paula herunter und fasste sie an der Hand. Die andere steckte er in die Tasche, weil er fürchtete, jeder könnte ihr Zittern bemerken. Nur langsam beruhigte sich sein Puls.
Es gab nicht viele Menschen in seiner Umgebung, die ihre Ressentiments so offen vor sich hertrugen. Trotzdem war Jan es müde, sie immer noch und immer wieder über sich ergehen lassen zu müssen. Von Jonas prallten diese Dinge einfach ab, wie es schien.
„Was stört es eine deutsche Eiche, ...“, pflegte er zu sagen, was Jan pflichtschuldig mit: „... wenn sich eine Wildsau an ihr schuppert!“ ergänzte. Nur, dass Jan keine deutsche Eiche war.

Er war ein besorgter und liebevoller Vater, der mit seiner zweijährigen Tochter eines jener einmaligen Vater-Tochter Gespräche führte, zu dem Außenstehende zumeist keinen rechten Zugang fanden, weil ihnen das kindliche Vokabular nicht zur Verfügung stand. Paula, die immer ein wenig Anlauf brauchte, bevor sie ganz aus sich herauskam, plapperte, im Einkaufskorb sitzend, vor sich hin, sah mitunter zu Jan hoch und lachte hell auf, wenn der seine Grimassen schnitt. Dabei sah sie nur die obere Gesichtshälfte, aber ihre kindliche Fantasie schien ihr den schiefen Mund des Vaters hinzuzuliefern.
Sie standen an der Kasse und Jan war gerade dabei, die Einkäufe auf das Band zu legen, als sein Handy klingelte. Es war der Klingelton seiner Firma.
„Jens hier. Du hattest versucht mich zu erreichen?“
Das war der Administrator der Firma und wenn der einen zurückrief, war es ziemlich egal, ob man an der Supermarktkasse stand und eine Zweijährige vor einem saß.
„Jens. Es ist gerade etwas ungünstig. Ich musste meine Tochter aus der Kita holen und bin gerade nicht am Rechner. Außerdem hat mein Provider eine …“
„Ich weiß. Ich bin nur noch eine halbe Stunde hier. Vielleicht kannst Du ja einen Hotspot mit deinem Handy bauen, damit ich auf Deinen Rechner komme. Wir haben den VPN umgestellt und ich muss das bei dir neu einstellen. Melde dich, wenn du am Platz bist.“ Weg war er.
Jan stöhnte ein „Oh Mann" vor sich hin. Eine ältere Dame vorn an der Kasse schien die PIN ihrer Karte vergessen zu haben und war in heller Panik. Die Kassiererin telefonierte mit ihrem Filialleiter und die Minuten verrannen. Dann wurde eine zweite Kasse geöffnet und Jan begann seine Einkäufe in den Wagen zurück zu legen. Paula fand das lustig und wollte helfen, was es nicht besser machte.
Dann hatte die Dame vorn die PIN doch noch gefunden. Es ging also weiter. Von hinten wurde Jan ein Wagen in die Hacken gerammt. Hektik machte sich breit. Er war schweißgebadet, als er mit der Einkaufstasche an der Linken und Paula an der Rechten wieder draußen stand.
Es war nicht mehr weit bis zur Bahn, aber die Kleine konnte nicht besonders schnell laufen. Schließlich nahm er sie hoch und rannte. Sein Herz hämmerte und seine Finger schmerzen, weil die Griffe der Tasche einschnitten. Aber er bekam die Bahn mit letzter Kraft. Er setzte Paula ans Fenster und sich daneben, riss sich den Mund-Nasenschutz vom Gesicht, weil er fürchtete nicht genug Luft zu bekommen.

„Die Kleine sieht Ihnen aber sehr ähnlich!“, sagte die alte Dame über den Gang hinweg. Jan sah zu ihr hinüber. Ihre Maske schien eher als Kinnschutz zu dienen. Jan legte seine wieder an.
„Danke“, sagte er dumpf und dann einer Eingebung folgend: „Wir haben sie adoptiert, mein Mann und ich.“ Sie hob bei der Bemerkung den Kopf und musterte ihn, unsicher, ob sie richtig gehört oder gar verstanden hatte. Er sah nur die grauen Augen und sorgfältig gezupfte Augenbrauen in dem Gesicht der Frau.
„Des hätt's zu meiner Zeit net gä'm!“, sagte eine Altmännerstimme hinter ihm. Jan wollte sich umdrehen, zwang sich aber, die Frau weiter anzusehen. Die Krähenfüße in ihren Augenwinkeln vertieften sich, als sie kurz lächelte. Sie nickte ihm zu, fast verstohlen und mit einer angedeuteten Verschwörergeste. Jan spürte etwas wie Dankbarkeit in sich hochsteigen und er drückte liebevoll das kleine Mädchen neben sich. Sie sah ihn aufmerksam an und ein seltsam wie wissendes Lächeln schickte Sonnenlicht auf die Reise.
Er stieg zusammen mit einer jungen Frau aus und als sie an der Haltestelle auf Grün warteten, sagte sie: „Ich finde das toll. Viel Glück!“
Jan sah ihr verdattert hinterher, wie sie über den Fußgängerüberweg davonging.
„Danke!“, rief er ihr hinterher, etwas halbherzig und zu leise. Zu spät auch.
Die Ampel sprang auf Rot zurück. Jan sah auf die Uhr, versuchte sich zu erinnern, wann er mit Jens gesprochen hatte. Innerlich wusste er, dass er es nicht mehr schaffen würde. Je bewusster er sich dessen wurde, umso mehr Fatalismus machte sich in ihm breit.
Er nahm Paula wieder auf den Arm und sie überquerten die Straße.

 

Zuhause spulte Jan Routine ab. Er bereitete Essen für Paula zu, während sie in ihrem Hochstühlchen saß und selbstvergessen vor sich hinplappernd mit ihren Bauklötzen spielte.
Er half ihr beim Essen. Immerhin war sie zwei und versuchte, allein zu essen. Spinat und Kartoffeln. Gut, dass es Waschmaschinen gab.

Sie holte bereitwillig das Töpfchen aus dem Bad und war einigermaßen stolz, als sie wieder davon aufstand. Jan wusch sie, zog ihr ihren Schlafanzug an. Als er ihr die Windel ummachte, protestierte sie, aber nur kurz. Sie war müde. Jan eigentlich auch, aber das war eine andere Geschichte. Er blieb an ihrem Bett, bis sie die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Dann verließ er auf Zehenspitzen das Kinderzimmer.

Er machte sich einen Kaffee und schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen. Dann setzte er sich an seinen Laptop. Der fuhr gehorsam wieder hoch und als sich Jan einloggte, funktionierte auch dies. Mehr aber auch nicht.

Einer Eingebung folgend sah er in sein Smartphone. Er fand eine Mail von Jens.

„Hallo junger Vater. Ich weiß sehr genau, was bei Dir gerade alles abgeht. Hab selber zwei kleine Quälgeister.“

Was folgte, war eine detaillierte Anleitung für die Einrichtung des VPN-Tunnels zur Firma. Wenig später war Jan wieder im Geschäft.

Das durchdringende Heulen des Rauchmelders aus der Küche ließ ihn wenig später zusammenfahren.

Die Pizza!

Er stürzte in die Küche, die mit bläulichen Rauchschwaden gefüllt war. Er riss das Fenster auf, wobei der Topf mit dem Basilikum vom Fensterbrett kippte und zerbrach. Jan holte den Besen aus der Kammer und brachte mit bebenden Händen und tränenden Augen den Rauchmelder zum Schweigen. Dann schaltete der den Ofen aus.

Im Kinderzimmer hörte Jan Paula weinen. Er ging zu ihr, nahm sie aus dem Bett und sprach beruhigend auf sie ein. Obwohl sie gerade dabei waren, ihr den Nuckel abzugewöhnen, gab er ihr einen, den sie für solche Fälle noch in Reserve hatten.

Das Mädchen beruhigte sich und ließ sich wieder ins Bett legen. Jan dachte flüchtig darüber nach, welches Glück sie mit Paula hatten.

Er kehrte in die Küche zurück, in der der Rauch fast verzogen, es aber inzwischen ziemlich frisch war. Immerhin waren draußen Minusgrade. Fluchend machte sich Jan daran, das Chaos, das er angerichtet hatte, zu beseitigen. Er machte sich ein Wurstbrot und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.

 

Als Jonas nach Hause kam, ging es auf halb acht und Jan badete gerade Paula, was gewohnheitsgemäß zur Folge hatte, dass danach Jan ziemlich durchnässt war und das Bad unter Wasser stand. Jonas steckte den Kopf zur Badezimmertür herein und sagte: „Guten Abend!“.
„Essen ist im Herd!“, rief ihm Jan nach.
Er beendete die Wasserschlacht und machte Paula bettfertig. Als er endlich ins Wohnzimmer kam, war Jonas fertig mit dem Essen, saß mit einem Glas Rotwein auf der Couch und wirkte etwas verloren und nachdenklich. Jan holte sich ein Glas aus dem Highboard und goss sich etwas Wein ein. Er beobachtete den Mann aus dem Augenwinkel. Etwas schien ihn zu beschäftigen.
„Wie war euer Meeting?“, erkundigte er sich und prostete Jonas zu.
„Naja“, machte der und zuckte die Achseln. Jan rückte näher an ihn heran.
„Naja? Klingt aufregend“, sagte er und stieß mit seinem Glas gegen Jonas.
„Es ist schwierig“, wich ihm Jonas aus.
„Schwierig“, echote Jan und griff Jonas in den Nacken.
„Wir müssen umstrukturieren. Es stehen zwanzig Stellen zur Disposition. Ich muss Leute entlassen. Das ist nicht lustig.“

„Das habe ich auch nicht gesagt, Jo. Weißt Du schon, wen?“
„Nein. Ich habe keinen Schimmer“, antwortete Jonas und schloss die Augen. Er sah plötzlich müde aus.
„Scheiß Situation“, sagte Jan. Er massierte Jonas Nacken. Sie schwiegen und nach und nach entspannte sich der große Mann.
„Was war mit der Kita?“, wollte Jonas wissen. Jan spürte, dass er mit der Frage versuchte, sich von den bohrenden Gedanken zu lösen.
„Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit der Schubert. Die Frau ist voller Vorurteile. Wir müssen uns eine andere Kita suchen“, erklärte ihm Jan.
„Was sagt denn die Leiterin?“
„Die ist sauer, weil wir Paula in die Notbetreuung bringen, obwohl ich zu Hause bin. Das war heute morgen deutlich zu merken.“

„Kann ich ja auch irgendwo verstehen“, sagte Jonas und stellte das Glas vor sich auf den Tisch.
„Entschuldige Jo, aber ich arbeite hier!“, entfuhr es Jan. Jonas sah ihn erstaunt an. Eine Pause entstand, in der sich beide stumm maßen.
„Du hast Recht. Eigentlich geht sie das auch nichts an“, lenkte Jonas ein. Er nahm Jans Hand, drückte einen Kuss auf die Finger und drückte sie.
„Aber weißt du was, Jan, wir werden nicht wegen dieser verkappten Amazone die Segel streichen. Eine andere Kita? Das ist ein reines Glücksspiel! Wir müssen uns mit dem Gedanken abfinden, dass es überall Leute wie Gabriella gibt, die uns für abartige Monster halten. Aber wir haben ein Recht darauf, dass unsere Tochter vernünftig betreut wird! Morgen rede ich mit der Leiterin.“
„Denkst Du, das könnte ich nicht auch?“, fragte Jan, der das seltsame Gefühl hatte, Jonas traute ihm eine solche Auseinandersetzung nicht zu.

„Doch, das kannst Du. Ich weiß, dass Du für unsere Prinzessin alles tun würdest. Aber es belastet Dich mehr als mich. Ich habe wohl das dickere Fell.“

„Ist das so?“ Jan sah Jonas ernst an. Plötzlich sah er im Gesicht seines Mannes das Kinn beben und in den großen braunen Augen sammelten sich Tränen.
„Ich wünschte, es wäre so!“, sagte Jonas und die Tränen schwangen in der Stimme mit.
„Hey!“, sagte Jan und nahm ihn in den Arm.
Er kannte die Geschichte seines Mannes.

Der war in einer kleinen Stadt im Schwarzwald groß geworden. Jan wusste um die Exzesse und Prügeleien, um die unausgesetzte Revolte des jungen Jonas Hederle gegen die eigenen Eltern, die die Welt nicht mehr verstanden, als ihr Sohn ihnen offenbarte, dass er schwul sei. Ja, Jonas hatte sich in jungen Jahren ein dickes Fell zulegen müssen. Manchmal glaubte Jan, diese alltäglichen kleinen Gedankenlosigkeiten oder Gehässigkeiten würden ihm nichts ausmachen. Vielleicht war das so. Aber er war kein „harter Hund“. Er wäre gern einer geworden, aber er hatte stattdessen Jan Möller geheiratet.
„Wie war eigentlich dein Tag heute?“, fragte Jonas später. Jan dachte darüber nach.
„Eigentlich war es ein ganz normaler Tag.“

Impressum

Bildmaterialien: Aene Jurat
Cover: Andreas E. Jurat
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Lilith, Maya und Mitya

Nächste Seite
Seite 1 /