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Das Läuten

Bert hörte es und blieb verblüfft stehen. Er sah sich um. Keine Menschenseele auf dem Platz. Kunststück, es war nach acht und eigentlich durfte auch er nicht mehr hier sein. Es war Ausgangssperre und er war spät dran. Aber diese Treffen waren für ihn Teil seines Lebensinhalts und so hatten sie sich verquatscht.

Mal wieder.

Aber Bert brauchte das.

Er brauchte den Austausch, den Widerspruch, das Blitzen in den Augen und den Eifer, mit dem um Standpunkte gerungen wurde.

Früher hatte er das missachtet.

Seit er mit einem Mund-Nasen-Schutz aus dem Haus gehen musste und Risikogruppe war, hatte sich seine Einstellung dazu Monat für Monat, da die Krise anhielt, verändert.

Nein, sie waren keine Leute, die sich klüger als andere dünkten. Sie waren Autoren und ihre Leidenschaft war, sich mit Texten auseinanderzusetzen.

Es läutete wieder. Ein altmodischer Laut. Bert ging darauf zu.

Am Rande des Platzes stand eine „Telefonzelle“. Ein Pylon mit einer zerkratzten Plexiglasscheibe auf jeder Seite, einem massiv wirkenden Gerät auf Augenhöhe mit metallenen Knöpfen, einem Schlitz für eine Telefonkarte und einem metallenen Hörer, der in eine Leitung mündete, die fast an einen Brauseschlauch erinnerte.

Bert ging auf den öffentlichen Fernsprecher zu.

Er wunderte sich, dass ihm dieses Rudiment aus grauer Vorzeit vor Smartphone, Flatrate und Messenger noch nie aufgefallen war. Immerhin ging er diesen Weg ziemlich oft, auch jetzt noch. Er wunderte sich außerdem, dass das Ding läuten konnte. War es nicht einmal der Sinn gewesen, von hier anzurufen und nicht, angerufen zu werden?

Wie auch immer. Es läutete noch immer.

Er zögerte. Er war spät dran und er würde wohl kaum glaubwürdig erklären können, dass er sich noch immer auf dem Heimweg befand, weil er unterwegs ein Münztelefon hatte läuten hören.

Dann nahm er den Hörer ab und stellte verwundert fest, wie schwer er in der Hand lag.
„Hallo?“, sagte er zögernd.

„Na endlich!“, sagte eine Frauenstimme von sehr weit her. In der Hörmuschel knisterten leise Störungen. Dann vernahm er ein leises unterdrücktes Weinen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus.

„Hallo? Kann ich Ihnen helfen?“, brachte er hervor.

„Bist du das, Bertram?“, erkundigte sich die leise Stimme und noch immer klangen Tränen in der Frage mit.

Die Gänsehaut wucherte über seinen Körper. Es schüttelte ihn ein wenig. Im nächsten Moment blitzte in ihm der Gedanke auf, jemand könnte ihm einen makabren Streich spielen. Vielleicht wurde er gerade gefilmt? Er legte eine Hand auf die Sprechmuschel und sah sich um. Wenn es hier Kameras gab – abgesehen von den Überwachungsdingern auf den Dächern ringsum – dann waren sie gut getarnt.

„Bert?“, erklang es aus dem Hörer. Da wurde ihm klar, dass er diese Stimme kannte.

„Ja“, sagte er heiser.

„Ich habe dich gesucht. So lange gesucht!“, sagte die Stimme und ihr Klang hatte jetzt fast etwas Träumendes, Melancholisches.

Sein Verstand sträubte sich, anzuerkennen, was so offensichtlich schien.

„Charlie, Charlotte Stein!“, rief er, plötzlich von Aufregung ergriffen. Er vergaß, wo er sich befand, presste den Hörer dicht ans Ohr.

„Ja“, hauchte sie in der Ferne und er hörte sie wieder weinen. So hatte sie damals geweint, als sie sich verabschiedet hatten. Leise und tief bekümmert. Charlotte war ein leises Mädchen gewesen.

„Wo bist du? Bist du in der Stadt?“, sprudelten die Fragen aus ihm hervor.

„Ich weiß nicht. Es ist dunkel hier“, kam ihre Antwort nach einer Weile. Wieder bekam es Bert mit der Angst.
„Sag mir, von wo du anrufst, Charlie. Ich komme und ...“

Er hielt inne und sah irritiert den Hörer an, aus dem vernehmlich das Besetztzeichen schnarrte. Er schüttelte ihn sogar, als wäre das Teil defekt. Aber die Verbindung war unterbrochen. Langsam legte Bert auf. Dann stand er eine Weile wie erstarrt.

Von irgendwo erklang Lachen, eine Frauenstimme. Andere Stimmen fielen ein.

Bert rückte seine Maske zurecht und machte, dass er heimkam.

 

Bert und Charlotte hatten sich in Rostock getroffen, wo Bert im Rahmen seines Medizinstudiums ein Praktikum auf der Station des Uni-Klinikums absolvierte, wo Charlotte als Schwester arbeitete. Manchmal verbrachten sie die Nachtdienste zusammen, die oft ermüdend aber manchmal auch deprimierend waren. Dann konnte es sein, dass Patienten während der Schicht starben. Es blieb nicht aus, dass sie sich näherkamen und irgendwann lud er sie zum Essen oder ins Kino ein. Schließlich schliefen sie miteinander und Bert fand es ziemlich okay.

Charlotte fand es mehr als okay.

Sehr viel mehr.

Bert spürte dieses Missverhältnis zwischen seinen eher halbherzigen Bemühungen und ihrer Hingabe, mit der sie ihre Beziehung zu vertiefen versuchte. Aber er fand es auch angenehm und er fühlte sich geschmeichelt.
Charlotte machte indes nicht viel her. Sie war schlank, um nicht zu sagen hager. Ihre kleinen, kegelförmigen Brüste verbarg sie zumeist unter etlichen Schichten Kleidung. Ihr Haar, das sehr fein und von nichtssagender Farbe war, hatte sie aus praktischen Erwägungen heraus ständig zu Einzelhaft in einem Pferdeschwanz verurteilt. Das verlieh ihrem Gesicht, das fast krankhaft blass schien, immer einen strengen Ausdruck. Einzig, wenn man ihr in die Augen schaute, konnte es einem passieren, dass man sich in den kühlen, grauen Seen verlor. Aber nicht viele Männer hatten genau hierfür Gelegenheit, denn Charlotte hielt sich zumeist sehr bedeckt, um nicht zu sagen, sie war farblos unsichtbar.

Bert musste sich unter seinen Studienkollegen so manche mehr oder weniger uncharmante Bemerkung gefallen lassen. Das ging so weit, dass er einem seiner besten Freunde zwei Zähne ausschlug und fast von der Uni geflogen wäre.

Aber er war kein Waisenknabe und das eine oder andere Mal nahm er sich ihm bietende Gelegenheiten wahr. Charlotte kam fast immer dahinter, aber wie es ihre Art war, wurde sie nicht etwa wütend, sondern nur traurig und noch hingebungsvoller.

So kam es, dass Bert schließlich bei Charlotte einzog und sie einen Verlobungstermin vereinbarten. Einen Termin, so erinnerte sich Bert mit plötzlich aufkeimendem schlechten Gewissen, den er nie einhielt. Er folgte als frisch gebackener Arzt dem verlockenden Angebot einer großen Reederei und wurde Schiffsarzt auf einem Kreuzfahrtschiff. Nein, er hatte sich nicht für immer von Charlotte verabschiedet, bevor er die Gangway hinaufgestiegen war und sie leise weinend zurückgelassen hatte. Er hätte es nicht übers Herz gebracht. Außerdem konnte man nie wissen. Sein Vertrag auf dem Schiff galt nur für eine Saison.

Drei Monate lang blieb er, so gut es ging, mit ihr in Kontakt. Postkartengrüße aus fremden Städten und fernen Ländern. Manchmal sogar ein Telefonat. Ihre Briefe erreichten ihn nur sporadisch. Sie waren sehr rührend und Bert hatte dann oft ein schlechtes Gewissen.

Das ließ nach und auch die Nachrichten wurden seltener.

Das Leben als Bordarzt auf einem Kreuzfahrtschiff nahm von ihm Besitz. Als Mediziner wurde er nicht allzu sehr gefordert. Oft waren seine Fähigkeiten zu intelligenter Konversation und als Menschenversteher – mehrheitlich Frauenversteher – mehr gefragt.

Nach einem halben Jahr begann ihn dieses Leben zu langweilen. Als die Saison zu Ende ging, war er froh, dass es vorbei war. Er ging in Hamburg von Bord und als er dort bei den Landungsbrücken stand mit seinem Gepäck, überkam ihn die Frage, was er nun als nächstes tun sollte. Er bezog das Zimmer in dem Hotel, das die Reederei ihm großzügigerweise gebucht hatte. Sie hatte ihm auch eine Vertragsverlängerung für die nächste Saison in Aussicht gestellt. Er würde vermutlich dankend ablehnen.

Am selben Abend in einer Bar in der Nähe der Reeperbahn lief ihm sein Schicksal über den Weg. Sie hieß Susanne, war ein Jahr älter als er, sehr agil, um nicht zu sagen völlig überdreht, überaus trinkfest und eine Offenbarung im Bett.

Diese allein war jedoch nicht sein Schicksal. Das ereilte ihn, als Susanne ihm von ihrer Arbeit als Helferin auf einem Rettungsschiff erzählte. Ihre Künste im Bett hatte ihn entzündet, ihre begeisternde Art, diese Arbeit dort vor Afrika im Mittelmeer zu schildern, ließ ihn auf gänzlich andere Weise entflammen.

Zwei Wochen später ging er mit Susanne an Bord. Ohne die geringste Ahnung davon zu haben, was ihn erwarten würde. Charlotte war vergessen.

 

Beim Gedanken an die zehn Jahre, die er auf diversen Schiffen das Mittelmeer durchpflügt hatte, immer auf der Suche nach in Not geratenen Flüchtlingen, havarierten, völlig überladenen Schlauchbooten oder gar Gruppen von im Meer treibenden Überlebenden, begann er kurz und heftig zu zittern. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte mit den heftigen Symptomen, die ihn noch immer dabei heimsuchten.

Zwei Jahre hatte er nach seiner Rückkehr in Reha-Einrichtungen verbracht. Dort lernte er, dass Schreiben und Malen für ihn Möglichkeiten waren, seine Ängste in den Griff zu bekommen. Mehr oder weniger.

Die Erinnerung an Charlotte hatte etwas in ihm wieder in Bewegung gesetzt. Etwas, das ihn anzog, ihn aber zugleich ängstigte.

Er legte sich ins Bett und mit der Überzeugung, dass dieser Anruf von Charlie eigentlich nie stattgefunden hatte, schlief er ein. Schlief traumlos.

Seine Tabletten wirkten zuverlässig.

 

Anderntags verließ Bert, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, schon am frühen Vormittag das Haus. Er ging um die Ecke zum Einkaufen und weiter in Richtung Zentrum. Ehe er sich dessen ganz bewusstwurde, stand er am Rande Platzes mit dem Wasserspiel und sein Blick streifte an der Fassade der Kolonaden entlang. Er verhakte sich an dem seltsamen Gerippe des Fernsprechers mit dem magentafarbenen Häubchen. Er spürte die seltsame Anziehungskraft, die das Gerät auf ihn ausübte und seine Nackenhaare stellten sich auf.

Machte ein paar zögerliche Schritte darauf zu.

Als das Läuten erklang, schrak er zusammen. Er hatte fest damit gerechnet, dass es ausbleiben, ja dass der Apparat sich als nutzlos und tot erweisen würde. Er eilt hinzu, nahm den Hörer ans Ohr.

Sie war dran und sie klang weniger traurig und irgendwie gegenwärtiger, als am Abend zuvor. Das überraschte und verwirrte Bert.
„Wo bist du, Charlie? Warum rufst du mich nicht zu Hause an. Ich stehe im Telefonbuch“, sagte er.

„Es ist gut, dass es dir gut geht, Liebster. Ich habe mir große Sorgen gemacht, als ich nichts mehr von dir gehört und gesehen habe“, sagte sie, als hätte er die Frage gar nicht gestellt.

„Ach, weißt du, Charlotte, ich hatte sehr viel zu tun damals an Bord des Schiffes. Alles war neu und ich musste sehr viel lernen“, sagte er und er hörte aus den Worten das Halbherzige und die Lüge heraus.

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie und ihre Stimme klang wieder fern und wehmütig.

„Es war am Ende doch kein so toller Job als Schiffsarzt auf einem solchen Luxusliner, weißt du“, sagte er nach einer kleinen Pause. Er lehnte gegen den Apparat und hatte seine Umgebung weitgehend vergessen. Er nahm sogar seine Maske vom Gesicht und stopfte sie in die Tasche seiner Jacke.

„Eigentlich hatte ich mir das alles etwas anders vorgestellt. Aber auf so einem Schiff wird niemand wirklich ernsthaft krank oder verletzt sich. Wenn das doch einmal passiert, wird der Patient meistens ausgeflogen und an Land versorgt“, erzählte er und unversehens begann er, ihr Episoden aus seiner Dienstzeit auf dem Schiff zu berichten. Sie reagierte das eine oder andere Mal mit Lauten des Erstaunens und einmal hörte Bert sie lachen.

Er wurde unsanft aus dieser etwas einseitigen Unterhaltung gerissen, als ihn jemand reichlich barsch von der Seite ansprach.

„He, hasch mal en Euro?“ Bert fuhr herum. Vor ihm stand Jockel, ein Obdachloser, der eigentlich sein „Quartier“ im Haltestellenhäuschen gegenüber dem Kriegerdenkmal hatte. Was trieb den um diese Tageszeit ins Zentrum? Bert winkte ungehalten ab, schüttelte energisch den Kopf und hielt dabei die Sprechmuschel zu. Jockel machte eine obszöne Handbewegung und trollte sich.

„Entschuldige, ich bin ...“ Im Hörer war nur noch das Surren des Besetztzeichens zu hören. Verdutzt und ratlos sah Bert den Hörer und dann das kleine Display des Fernsprechers an. Nichts, was ihm weiterhelfen konnte. Enttäuschung machte sich breit und er zerdrückte einen Fluch zwischen den Lippen. Dann legte er auf.

Er blieb noch eine Viertelstunde in der Nähe des Fernsprechers in der Hoffnung, Charlotte könnte noch einmal anrufen. Jockel näherte sich ihm noch einmal und das gab den Ausschlag. Bert machte, dass er nach Hause kam.

 

Dieses Zuhause war ein kleines Einzimmerappartement mit einem winzigen Bad ohne Fenster und einer Kochnische in einem heruntergekommenen fünfstöckigen Wohnblock am Rand der Stadt. Wer hier Quartier nahm, der war nur einen Schritt von der Obdachlosigkeit entfernt und mitten in der Armut angekommen. Wie viele Menschen hier lebte auch Bert von der Grundsicherung.

Er hatte nach seinem kurzen und finanziell vielversprechenden Ausflug als Bordarzt in die Welt der versicherungspflichtigen Beschäftigung zehn Jahre auf dem Mittelmeer zugebracht. Die Schiffe, auf denen er fuhr, wurden von privaten und gemeinnützigen Organisationen unterhalten. Hier war der Gedanke an Einzahlungen in die Sozialkassen der Heimatländer in den meisten Fällen geradezu grotesk erschienen. Darum blieben die meisten Helfer auch nur ein paar Jahre, um sich dann wieder in ein bürgerliches Leben mit einem festen Einkommen einzugliedern. Bert hatte diesen Absprung irgendwie verpasst. Aber nicht nur das. Die sich verschärfende Flüchtlingskrise hatte ihre Spuren auch bei vielen Helfern hinterlassen. Nicht wenige, so wie Bertram Kloos, waren mit schweren psychischen Schäden heimgekehrt.

Zwei Jahre dauerte seine Rehabilitation, die nur möglich gewesen war, weil er Spender fand, die ihn unterstützten.

Dann hatte er versucht, in seinem Beruf als Arzt wieder Fuß zu fassen. Schließlich hatte die Universitätsklinik in einer Stadt im Süden ihm eine Chance gegeben. Da war Bert bereits zweiundvierzig. Er arbeitete zwölf Jahre als Notfallmediziner in der Klinik, immer wieder unterbrochen von monatelangen Phasen, da die Depressionen und Phobien ihn herausrissen. Im letzten Jahr hatte ihm ein amtsärztliches Gutachten Berufsunfähigkeit bescheinigt. Das Loch, in das er fiel, schien bodenlos.

Nun war er hier in diesem berüchtigten Stadtteil gelandet und hatte sich, so gut er konnte, eingerichtet. Er stellte fest, dass hier eine Menge sehr anständiger Menschen lebte. Natürlich auch Schmarotzer und notorische Drückeberger. Es gab ein ständiges Kommen und Gehen. Manche schafften es, von den Blocks wegzukommen, manche wurden selbst noch aus diesen vertrieben. Bert vermutete, dass Jockel einer von denen war.

 

Bert erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Er hatte geträumt; sein Bett stank nach Schweiß und war unangenehm klamm. Dies war ihm seit Monaten nicht mehr passiert. Er überlegte, ob er seine Tabletten vergessen hatte und konnte sich nicht erinnern. Das beunruhigte ihn.

Er begann seinen Morgenrhythmus und zwang sich, nicht davon abzuweichen. Dann zog er das Bett ab, legte das Bettzeug ins offene Fenster. Er versuchte, sich nicht einzugestehen, dass ihn eine tiefe Unruhe hinauszog. Hinaus zu diesem Fernsprecher, der ihm, sobald er genauer darüber nachdachte, immer mysteriöser erschien.

Gegen Mittag hielt er es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Ein Ticket für die Bahn konnte er sich nicht leisten, aber der Fußmarsch half ihm, in Form zu bleiben. Er hatte sich ein gewisses Talent bewahrt, sich bestimmte Dinge schön zu reden, wie er nicht ohne Selbstironie feststellte. Aber er schritt munter aus.

Es wiederholte sich, was am Tag zuvor passiert war. Der Fernsprecher begann zu läuten und als Bert ran ging, war auf der anderen Seite die Stimme von Charlotte.

Sie klang sehr wach und fast ein wenig aufgeregt. Sie begann, in Erinnerungen zu schwelgen.

„Weißt du noch, die Wochenenden in Warnemünde?“, fragte sie und Bert erinnerte sich. Ein paar Seminarkollegen und er hatten regelmäßig an Beachvolleyballturnieren teilgenommen. Charlotte hatte sie vom Spielfeldrand aus mit ihrer hohen und etwas schrillen Stimme angefeuert. Sie hatte die Regeln des Spieles nie ganz verstanden, aber ihr Eifer war rührend gewesen. Manchmal, wenn die Sonne sich anschickte, weit im Westen im Meer zu versinken und ihre golden rote Spur über das Wasser zog, waren sie am Strand entlang geschlendert, Hand in Hand oder sogar Arm in Arm. Daran erinnerte er sich jetzt auch. Er sprach davon und seine Stimme bekam einen seltsam weichen Klang. Er hörte auf der anderen Seite ihren Atem.

„Ich vermisse dich, Bertram“, sagte sie und dann war die Verbindung unterbrochen.

„Ich dich auch, Charlie“, flüsterte er in den Hörer, bevor er ihn fast behutsam auf das Gerät zurücklegte. Plötzlich spürte er Tränen hinter seinen Lidern brennen.

 

Seine täglichen Ausflüge zum Fernsprecher wurden zur Routine, ja mehr noch, sie wurden die wichtigste Abwechslung in seinem ansonsten tristen Alltag. Dabei legte er sich keine Rechenschaft darüber ab, was es mit diesen Anrufen eigentlich auf sich hatte. Er genoss es einfach, einmal am Tag mit Charlotte reden zu können. Ihm war vorher nie aufgefallen, wie sehr es ihm gefehlt hatte, mit jemandem reden zu können. Die Abende mit dem Autorenzirkel waren ihm bis dahin eigentlich genug gewesen.

Es waren zwei Wochen ins Land gegangen, als es geschah. Der Platz mit dem Wasserspiel war abgesperrt und Bert wurde von Ordnern aufgehalten. Die Kolonaden und der Fernsprecher waren in das gleißende Licht von Scheinwerfern getaucht. Von ein paar Schaulustigen erfuhr Bert, dass das Fernsehen hier eine Szene für einen Krimi drehte.

„Die haben diese Telefonzelle extra dafür vor einiger Zeit aufgestellt. Ist natürlich ein Fake“, erzählte ihm eine junge Frau in der undeutlichen Sprache, die die Mund-Nase-Schutzmasken machten.

„Es ist was?“, fragte Bert ungläubig und rang um Fassung.

„Ein Fake, Requisite. Hat mir eine Freundin erzählt, die arbeitet bei der Produktion. Was will man auch heutzutage noch mit einem öffentlichen Fernsprecher?“

„Mit jemand reden“, sagte er halblaut und spürte, wie seine Knie weich wurden.

Aber er hielt durch und verfolgte mit grimmiger Entschlossenheit das Treiben der Filmcrew dort am Set. Es dauerte Stunden. Aus Gründen, die nur die Regisseurin und ihre Assistentin kennen mochten, wurde die Szene, in der ein Mann nach dem Läuten des Fernsprechers den Hörer abhob, drei Sätze hinein bellte, um ihn dann wieder auf den Apparat zu knallen, fast ein Dutzend Male wiederholt.

Aber schließlich waren die Einstellungen im Kasten und die ganze Technik wurde abgebaut. Zwei Männer machten sich am Fernsprecher zu schaffen, offenbar in der Absicht, ihn zu demontieren. Bert ging zu ihnen hinüber.

„Was machen Sie jetzt damit?“, fragte er den Älteren der beiden. Der sah sich nach ihm um, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

„Was wollen?“, fragte er mit starkem Akzent. Zu seinem jüngeren Kollegen sagte er etwas in einer Sprache, die Bert für Serbisch hielt.

„Was machen Sie jetzt mit dem Ding? Wird das noch gebraucht?“

„Keine Ahnung. Wir sollen nur abbauen und zu Lager fahren“, erklärte der Jüngere, der offenbar besser Deutsch konnte.

Der Hörer glitt vom Körper des Fernsprechers und ehe die beiden Monteure sich versahen, fiel er zu Boden. Das Kabel glitt mit einem Rasseln aus dem Korpus. Der Ältere fluchte leise, bückte sich.

„Darf ich den haben?“, fragte Bert, einer Eingebung folgend. Der Monteur sah ihn misstrauisch an und dann auf den Hörer in seiner Hand.

„Was willst du damit? Ist doch nur Spielzeug!“, bemerkte der Jüngere kopfschüttelnd.

„Ich bin Fan“, sagte Bert, lächelte, dass es ihn in die Wangen kniff und streckte die Hand aus. Die beiden Männer in den dunkelblauen Monturen wechselten ein paar Worte. Etwas widerstrebend reichte der Ältere ihm den Hörer samt Kabel.

Bert bedankte sich und machte, dass er fortkam.

 

An diesem Abend ging Bert nicht zum Treffen des Autorenzirkels. Er erwartete einen Anruf. Er wartete nicht sehr lange. Er hörte den schnarrenden Rufton im Hörer und gleich darauf Charlottes muntere Stimme. Sie sprachen über eine Stunde.

„Was hast du die ganze Zeit über gemacht? Bist du in der Weltgeschichte herumgefahren?“, fragte sie und es klang sogar fast ein gelinder Tadel in der Frage mit.

„Nein. Auf dem Dampfer war ich nur eine Saison. Danach bin ich als Arzt und Helfer auf Rettungsschiffen im Mittelmeer mitgefahren. Wir haben versucht, Schiffbrüchige Flüchtlinge aus Afrika zu retten.“

„Oh Gott, das war sicher schlimm, oder?“, fragte sie. Später hätte Bert nicht zu sagen gewusst, was schlimmer gewesen war, die Unbekümmertheit ihrer Frage oder das, was sie in der nächsten Stunde in ihm auslöste. Die Erinnerungen strömten aus ihm heraus, als wären alle Dämme gebrochen.

Er sprach von dem Entsetzen, Menschen ertrinken zu sehen. Menschen, die die Kraft verließ, kurz bevor man sie über Bord ziehen konnte. Er sprach von den Irrfahrten durch das Mittelmeer mit den verängstigten und traumatisierten Menschen an Bord. Immer wieder die Hoffnung, einen rettenden Hafen anlaufen zu können und dann kurz vorher abgewiesen zu werden. Es hatte Menschen gegeben, die dann irgendwann über Bord gesprungen waren in der Hoffnung, es aus eigener Kraft ans Ufer zu schaffen.
Am schlimmsten war die Hilflosigkeit, die ihn als Arzt umtrieb, wenn er tatenlos zusehen musste, wie Menschen starben, in seiner Obhut starben, weil sie manchmal nicht einmal mehr genug Wasser und Nahrung an Bord hatten, von Medikamenten ganz zu schweigen.
Er erzählte ihr von der Angst die sie niederkämpfen mussten, wenn ihr Schiff von bewaffneten Booten der Küstenwache abgedrängt wurde um zu verhindern, dass sie zu Flüchtlingsbooten durchdringen konnten.

Er erzählte ihr von all dem Leid, das er mit ansehen musste und das ihn tief verwundet hatte. Er weinte fast die ganze Zeit und er hörte sie auf der anderen Seite ihrerseits weinen und schluchzen.

„Das habe ich nicht gewusst, Liebster. Es tut mir so leid!“, sagte sie schließlich und dann war der Hörer von einer Sekunde auf die andere stumm.

Bertram erwachte wie aus einer tiefen Trance und sah den Hörer mit der leeren Kabelattrappe sekundenlang mit einer Mischung aus Trauer und Unverständnis an. Etwas tief in seinem Verstand versuchte ihm zu erklären, dass dies alles einfach nicht sein konnte.

„Werd‘ wach, Bert!“, rief diese Stimme in ihm, „Du wirst sonst verrückt!“

Bert stimmte dem zu, aber am nächsten Tag sprach er wieder mit Charlotte.

 

Irgendwann in den folgenden Wochen kam der Punkt, an dem er anfing, dem allem zu misstrauen. Er wurde sich plötzlich bewusst, dass er seit fast einem Monat mit Charlotte sprach, aber eigentlich noch immer nichts von ihr wusste. Sie überging Fragen über den Ort, wo sie sich befand, was sie gerade tat und warum sie immer nur den Fernsprecher anrief.

Etwas stimmte also nicht mit ihr.

Etwas stimmte auch mit ihm nicht. Er sah sich in seinem Zimmer um. Es war nicht zu übersehen. Bert war drauf und dran zu verkommen. Außerdem hatte er dramatisch abgenommen. Sein Spiegelbild sah ihn hohlwangig und mit blutunterlaufenen Augen an. Seine eingesunkenen Wangen und sein spitzes Kinn wurden von einem wilden eisgrauen Bart umwuchert. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wann er zuletzt die Dusche benutzt hatte. Das Ergebnis war alarmierend.

„Oh Gott, ich bin ein Junky!“, stöhnte er in die betäubende Stille des Zimmers. Er ergriff das lose Kabelende des Telefonhörers und zog diesen zu sich heran, als finge er eine elektronische Ratte. Er öffnete den Schrank und warf das Untier schwungvoll hinein. Dann knallte er die Schranktür zu.

„Du brauchst Hilfe!“, sagte die leise Stimme in seinem Kopf.

„Alles, was ich brauche, ist eine Dusche und frische Unterwäsche!“, sagte er derb. Aber die leise Stimme sollte Recht behalten.

 

„Es ist eine Weile her“, sagte Frau Dr. Köller-Hansen, als Bert Platz genommen hatte. Er nickte nur. Die Frau war groß, trug ihr graues Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengerafft und ihre meerfarbenen Augen blickten aufmerksam und etwas kühl. Sie war fast siebzig Jahre und Bert konnte sich glücklich schätzen, dass er ihr Patient war. Sie war eine sehr herzliche und einfühlsame Therapeutin. Sie konnte gut zuhören und verstand es auch, ein Schweigen richtig zu deuten. So wie jetzt das seine.

„Es ist etwas passiert, habe ich Recht? Ich meine nicht diese schrecklichen Umstände, die wir gerade haben. Dir ist etwas passiert. Etwas, das dich mehr beunruhigt als all diese speziellen Erinnerungen.“ Das war eine Feststellung. Bert nickte noch einmal. Er schluckte schwer.

„Eine Frau?“, erkundigte sie sich, nur scheinbar aufs Geratewohl.

„Ja und nein. Ich bin mir nicht sicher“, sagte er schließlich.

„Ob es eine Frau ist?“ Sie hob die dezent gefärbten Augenbrauen. Er lächelte ein wenig gequält.
„Ob es überhaupt etwas ist“, sagte er und wusste, dass dies weit weg war von einer verständlichen Erklärung. Also erzählte er von dem Fernsprecher und Charlottes Anrufen, von der Entdeckung, dass dieser Fernsprecher nur eine Filmkulisse war und er trotzdem seit Wochen mit dem Telefonhörer sprach. Mit Charlotte sprach.

„Hast du mal versucht, herauszufinden, wo Charlotte ist? Ich meine, nicht nur durch diesen Hörer?“ Sie sah ihn über ihre Brille hinweg an. Um ihren schmalen Mund spielte der Anflug eines Lächelns. Er wusste, dass sie ihn vollkommen ernst nahm.

„Darauf bin ich irgendwie noch nicht gekommen“, gestand er achselzuckend.

„Eigentlich doch das Naheliegendste, findest du nicht?“, sagte sie leichthin. Wieder dieser kühl forschende Blick über den Brillenrand.

„Ja“, sagte er einfach.

 

Wie sich herausstellte, war es ein Ding der Unmöglichkeit, im Moment von hier im Süden bis an die Ostseeküste zu gelangen. Für Bert zumindest. Dass er ein Auto besessen hatte, lag Jahre zurück und er traute sich im Moment auch gar nicht zu, einmal quer durch das Land zu fahren. Ein Bahnticket konnte er sich so wenig leisten wie eine Unterkunft.

Ihm blieb nur, es per Telefon zu versuchen. Es kam ihm ein wenig wie Ironie des Schicksals vor, dass es wieder auf diesem Wege sein sollte. Aber er machte sich wenig Hoffnungen. Zu viel Zeit war inzwischen vergangen, seit er dort als Praktikant gearbeitet hatte.

Es klingelte eine halbe Ewigkeit und er war bereits drauf und dran, aufzulegen, als sich die etwas gehetzt klingende Stimme einer Frau meldete. Bert versuchte, ihr sein Anliegen zu erklären, verhaspelte sich und spürte mit jedem Wort, dass sich seine Chancen gegen Null bewegten.

„Sagen Sie mir einfach, wen Sie sprechen wollen, bitte. Ich habe eine Menge zu tun“, unterbrach sie ihn nicht unfreundlich. Bert nannte Charlottes Namen.

„Wer soll das sein? Ich kenne keine Charlotte Stein. Sie sagen, sie ist Schwester hier auf der Station?“

„Das war sie zumindest damals, bevor wir uns aus den Augen verloren haben.“

„Darf ich wissen, wann das ungefähr war?“ Er sagte es ihr und auch, dass er selbst auf der Station als Arzt im Praktikum gearbeitet hatte. Er hörte sie kurz auflachen.

„Das ist schon eine ganze Weile her, Herr Doktor“, sagte sie.

„Kein Doktor, nur Kloos, Bertram Kloos“, berichtigte er sie. Dann kam ihm, ermuntert von ihrer wenig abweisenden Haltung, ein Gedanke.

„Sagen Sie, kann es sein, dass Oberschwester Doris noch auf der Station ist?“, fragte er.

„Doris Kuttner? Die ist inzwischen unsere Pflegeleiterin. Aber sie geht bald in Rente, soviel ich weiß. Ich kann Sie durchstellen. Vielleicht kann sie Ihnen weiterhelfen.“ Das tat sie und das konnte Oberschwester Doris. Allerdings anders, als Bert gehofft hatte.

„Es tut mir leid, Bertram. Ich würde dir wirklich schönere Nachrichten überbringen. Auch wenn Du es vielleicht nicht verdient hast, so wie du sie behandelt hast, nachdem du auf diesem Kreuzfahrtschiff angeheuert hast.“ Die Oberschwester machte eine kleine Pause, wohl, um Bert Zeit für eine Erklärung zu geben.
„Auf dem war ich nur eine Saison. Sagen Sie mir, was mit ihr ist“, bat er mit fliegendem Puls.

„Sie hat sich leider gleich am Anfang infiziert. Glaubte, es wäre eine Grippe. Hat leider auch noch ihre Eltern angesteckt. Als sie zu uns auf die Intesiv kam, war es schon zu spät. Das war schon im April.“

Dann schwiegen Bertram Kloos und Doris Kuttner ziemlich lange. So lange, dass beide vom jeweils anderen dachten, er hätte aufgelegt.
„Ich habe vor einer Woche noch mit ihr telefoniert“, sagte Bert schließlich mehr zu sich selbst.

„Du hast was?“, fragte die Oberschwester irritiert.

„Nichts, Oberschwester. Ich habe nur mit mir selbst geredet. Das tue ich manchmal. Sie wissen ja, wie alte Männer so sind.“

„Na hör mal, du bist doch erst Mitte Fünfzig, oder?“, sagte sie.

„Manchmal ist es nicht die Anzahl der Jahre, sondern deren spezielles Gewicht. Auf jeden Fall danke ich Ihnen. Passen Sie auf sich auf.“

Bert öffnete die Schranktür und kramte ein wenig, bis er den Hörer fand. Fast behutsam und zärtlich hob er ihn auf, strich über den Griff und die Muscheln. Dann hob er ihn ans Gesicht.

„Hallo Charlie. Ich bin es noch einmal. Ich möchte dir nur sagen, wie leid es mir tut um dich und um uns. Ich danke dir, dass du mir zugehört hast. Echt. Ich vermisse dich und ich wünschte, ich könnte zu dir nach Hause kommen.“

Der Hörer blieb still und tot. So still und tot, wie er wohl die langen Wochen und Monate immer gewesen war.

 

Anderntags warf Bert ihn in den Müllcontainer. Er sah ihn wenige Tage später noch einmal wieder. Kinder hatten ihn offenbar aus dem Container gerettet. Ein Mädchen mit zwei abstehenden Zöpfen auf dem Kopf stand versonnen auf dem Hof vor dem Block und sprach in die Muschel. Ihr Gesicht war noch etwas zu klein, aber das schien ihr nichts auszumachen.

Bert lächelte.

 

Zwei Wochen später stand Diplom Mediziner Bertram Kloos, angetan mit grüner OP-Kleidung, einer Maske und einem Stethoskop um den Hals an der Eingangsschleuse des Impfzentrum. Es war in der Mehrzweckhalle der Stadt eingerichtet worden. Bert hatte davon erfahren und kurzerhand beim Gesundheitsamt angerufen. Inzwischen telefonierte er häufiger. Man hatte ein paar Bedenken geäußert, aber am Ende hatte schlicht die Tatsache den Ausschlag gegeben, dass es wie überall an geschultem Personal fehlte. Zehn Jahre Mittelmeer waren eine nicht zu verachtende Schule gewesen, fand Bert und am Ende die Leute vom Gesundheitsamt auch.

Bert sah auf die Uhr. Es war acht Uhr. Irgendwo läutete ein Telefon. Bert zuckte kurz zusammen, dann lächelte er. Da kam die erste Patientin hereingerollt, geschoben von einer Pflegerin. Die Gesichter waren etwas nichtssagend, weil sie von den Mund-Nasen-Schutzmasken verdeckt waren. Aber Bert sah das Lächeln in den Augen der Frauen, beider Frauen.

Hoffnung.

 

Impressum

Texte: Andreas E. Jurat
Bildmaterialien: Marie Baje
Cover: Marie Baje
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Den Flüchtlingen von Lampedusa bis Moria und jenen mutigen Menschen, die ihnen helfen, am Leben zu bleiben.

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