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Heiligabend

Er hob nur kurz den Kopf, als die Tür aufging. Eine seltsam farblose Gestalt betrat den Raum, sah sich kurz um und ging tiefer in den Gastraum hinein. Drüben bei den Spielautomaten war ein Tisch frei. Die Automaten dudelten unablässig ihre aufreizend atonalen Jingles. Zur Feier des Tages irgendeine abgefahrene Version von „Jingle Bells“.

Es war der Heiligabend für die farblosen Leute. Herrmann Liebig gehörte zu ihnen, zu jenen Menschen, die den vierundzwanzigsten Dezember in jedem Jahr in der Kneipe ihres Vertrauens verbrachten; die der trostlosen Einsamkeit ihrer vier Wände entflohen, nur um in der Tristesse jenes Zufluchtsortes zu landen, der ihnen das gesamte Jahr über die Illusion von Geselligkeit und Frohsinn vorgegaukelt hatte.

Natürlich wusste Herrmann sehr genau, dass dies hier Selbstbetrug war. Aber er dünkte ihn immer noch besser, als eine leere Wohnung mit alkoholgeschwängertem Selbstmitleid zu verunstalten. Außerdem war die Gänsekeule hier um Klassen besser als die warm gemachte Dose Ravioli, die er sich zur Feier des Tages zu Hause bereitet hätte.

Hermann legte das Besteck zusammen, schob den Teller ein wenig von sich und faltete die Serviette zusammen. Dann lehnte er sich zurück.

„Kann ich noch was für dich tun, Hase?“, erklang Rosalies Stimme hinter ihm. Er sah schräg hinauf. Ihr nicht mehr junges Gesicht wirkte auf traurige Art schön. Er griff ihr um die Hüfte, zog sie dicht neben sich. Sie ließ es geschehen. Ein Lächeln huschte über die tiefrot geschminkten Lippen ohne die gelblich verfärbten Augen zu erreichen.

„Noch einen zur Verdauung?“, fragte sie, während sie den Teller aufnahm.

„Du weißt, dass ich nicht darf“, antwortete er.

Sie seufzte auf und nickte.

„Sehen wir uns heute Abend noch?“, fragte er halblaut und drückte kurz ihre Hüfte.

„Du, sonst gern, aber heute ist Heiligabend“, sagte sie und drehte sich geschickt aus seiner Umklammerung, „Ich hab’ doch meine Eltern zu Besuch“, setzte sie mit einem bedauernden Blick über die Schulter hinzu und verschwand mit diesem wiegenden Schritt in die Küche.

Herrmanns Blicke folgten ihr auch mit ein wenig Bedauern. Wirklich gerechnet hatte er allerdings nicht damit, dass die Kellnerin ihn mit sich nach Hause nehmen würde. Unter dem Jahr kam es schon das eine oder andere Mal vor, dass beide eine oder zwei Nächte mit einander verbrachten. Herrmann mochte sie, ihre unkomplizierte Art, ihre ausladenden Hüften und ihre für ihr Alter noch recht straffen Brüste. Er hatte ihr einmal halb im Spaß halb im Ernst angeboten, bei ihr einzuziehen. Sie hatte ein Auge zugekniffen und ihr komisches schiefes Grinsen sehen lassen. Er hatte den Vorschlag nie wiederholt.

Drüben bei den Spielautomaten wurde es laut. Jupp, der dort wie immer seinen Abend verbrachte, schimpfte lauthals und ziemlich deftig über den „Einarmigen“, vor dem er saß.

Die farblosen Menschen im Raum kannten seine Ausbrüche.

Karl, der hinter dem Tresen stand und Gläser spülte, sah hinüber und schob die Augenbrauen in seinem feisten, geröteten Gesicht zusammen, dessen Nase von einer unbehandelten Gesichtsrose zu einer gewaltigen, gefurchten Knolle verunstaltet worden war. Seine von farblosem Flaum bedeckte Glatze glänzte im trüb gelben Licht der Weihnachtsbeleuchtung über dem Tresen. Er wischte sich die nassen Hände an der weinroten Schürze ab und kam hinter seinem Platz hervor. Sein fadenscheiniger, mausgrauer Pferdeschwanz wippte lustig, als er zu den Automaten hinüber watschelte, den immensen Bierbauch vor sich herschiebend.

Etwas kurzatmig aber sehr entschieden baute sich der Wirt vor Jupp auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt.

„Kannst du dein ollet Schandmaul nich’ wenigstens heute im Ssaum halten, Mann!“, herrschte er den Spielsüchtigen an. Sein ausgeprägter Sprachfehler verhinderte indes, dass die Anwesenden die Sache besonders ernst nahmen. Jupp eingeschlossen. Die zwei kannten sich seit fünf Jahren, seit Britta, Jupps Frau, an Krebs gestorben war. Sie stritten und vertrugen sich filmreif wie ein altes Ehepaar.

Herrmann hörte nicht weiter zu. Er beobachtete Rosalie, die sich nun ihrerseits hinter dem Tresen zu Schaffen machte. Natürlich fing er den Blick von Käthe auf. Er hätte blind sein müssen, dass er um dieses zweifelhafte Vergnügen herumkommen hätte können. Käthe war auf Männerfang.
Ihr teigiges Gesicht, das ihr eine erfolgreiche Raucherkarriere attestierte, war fast bis zur Unkenntlichkeit mit Make-up unbestimmter Farbe bedeckt. Ihre zu einem permanenten Kussmund geformten Lippen glänzten in einem fürchterlichen Feuermelderrot. Allein ihre Augen hatten eine geradezu magische Anziehungskraft. Leider war das linke etwas zugeschwollen und die Haut darum hatte eine grüngelbliche Färbung, was ein Indiz für den Grund sein mochte, warum sie sich wieder in ihr unvermeidliches rotes Satinkleid mit dem tiefen Dekolleté gepresst hatte und als ihre eigene Karikatur eines männermordenden Vamps dort auf dem Barhocker thronte. Herrmann schlug die Augen nieder. Er erinnerte sich nicht so gern an diese Sache mit Käthe, wirklich nicht.

„Nein, ich will das nicht!“, rief es von hinten aus den Tiefen des Gastraumes.

„Ich hab’ dir gesagt, du sollst mir nichts schenken!“

Die Frauenstimme klang eher trostlos als ärgerlich. Ihre Benutzerin war eine kleine, zierliche Person mit langem Haar eisgrauer Farbe, das straff nach hinten gekämmt und in einem dicken Zopf geflochten war. Sie hatte feine Züge, die noch immer eine Ahnung einstiger Schönheit erkennen ließen. Der Mann ihr gegenüber mochte nur wenig älter sein als sie, aber die Zeit hatte es weniger gut mit ihm gemeint. Sein breites Gesicht wirkte aufgedunsen und mit dem weißen Dreitagebart sah es dem eines alten Katers nicht unähnlich. Er hatte sich zur Feier des Tages in einen Anzug gezwängt, der ihm nicht mehr so recht passen wollte und ihm offenbar Unbehagen bereitete. Die Krawatte saß schief und ihr Knoten wirkte unbeholfen. Sah man die knotigen Hände des Mannes und ihren leichten Tremor, wusste man, warum.

Herrmann schlug seufzend die Augen nieder. Was er sah, schien ihm wie eine Vision seiner eigenen Zukunft, ganz so, als hätte er einen Abstecher in Dickens Weihnachtsgeschichte gemacht.

Das ungleiche Paar erinnerte ihn an die vertanen Chancen seines Lebens, etwas, wenn nicht richtig, so doch weniger falsch zu machen. Ruth, seine Exfrau, könnte ein Lied davon singen, wenn sie denn hier wäre. War sie nicht, seit fünf Jahren nicht mehr. Hatte sich von ihm getrennt. Nach über dreißig Jahren Ehe! Das war eines der Probleme: Herrmann wusste nicht einmal genau, wie viele Jahre genau. Er war ein gedankenloser Esel gewesen. Als ihm das klargeworden war, sah er schon nur noch den Rücklichtern hinterher. Zug abgefahren!

Er schüttelte unbewusst ein wenig den Kopf, wie, um die unfrohen Gedanken los zu werden. Es wurde Zeit für ihn. Wenn er weiter hier säße, würden die Gedanken ihn unweigerlich dazu bringen, dass er sich betrank. Er war seit drei Jahren trocken, was gut war, wenn auch mindestens zehn Jahre zu spät.

Er gab Rosalie ein Zeichen. Sie kam mit ihrem Block herüber und nannte ihm die Summe. Er gab ihr ein festliches Trinkgeld, sah sie mit seinem Hundeblick an und machte eine bittende Geste. Sie griff mit ihrer zärtlichen festen Hand rasch über den Tisch und streichelte sein Gesicht.

„Frohe Weihnachten, Herrmann!“, sagte sie freundlich und ging rasch zurück hinter den Tresen.

Herrmann trat hinaus in die Dunkelheit, zog den Reißverschluss seiner Joppe hoch und stopfte die Fäuste in die Taschen. Mit hochgezogenen Schultern und leicht gebeugtem Oberkörper lief er schnell und fast blicklos durch die dunklen Straßen, die in Ermangelung von Schnee und Eis grau, schmutzig und ganz und gar nicht weihnachtlich anmuteten. Es fror nicht, aber die Kälte kroch den farblosen Menschen in die Knochen und Seelen.

Er stand vor der Haustür und fingerte sein Schlüsselbund an der Kette aus der Hosentasche. Eine schmale Gestalt trat aus dem Dunkel des Nachbaraufgangs und trat auf ihn zu. Im toten Licht der Straßenlaterne erkannte Herrmann im Hochschauen eine Frau im roten Mantel mit einer roten Mütze, deren Rand mit weißem Fell besetzt war.

Für einen Weihnachtsmann ziemlich dürr’, dachte er und schloss die Tür auf.

„Du lässt ganz schön auf dich warten, mein Lieber“, sagte die Frau hinter ihm. Er erstarrte beim Klang ihrer Stimme, in der ein freundliches und auch wieder anzügliches Schmunzeln mitschwang. Herrmann hatte das seltsame Empfinden, den besonderen Klang dieser Stimme zu kennen. Allein, er konnte sich nicht erinnern, woher. Langsam, den Türknauf noch in der Linken, drehte er sich halb herum. Sein misstrauischer Blick fiel auf das Gesicht der Frau, die keine zwei Schritte vor ihm stand. Sie war nicht sehr groß, reichte ihm gerade bis zur Schulter. Der Mantel ließ erahnen, dass sie eine schlanke, wenn nicht zierliche Person war. Ihr Gesicht war bemerkenswert. Herrmann hätte nicht zu sagen gewusst, wie alt diese Frau sein mochte. Er schob es auf die schlechte Beleuchtung, aber ganz sicher war er sich nicht. Er verspürte nur eine fast magische Anziehungskraft, die vor allem vom fantastischen Grün der Augen auszugehen schien.

„Entschuldigung. Müsste ich Sie kennen?“, erkundigte er sich und bemühte sich, seiner Stimme einen weniger mürrischen Klang als sonst zu geben.

„Ich denke schon, Herrmann. Hast du vergessen, dass wir seit Jahren zusammen den Heiligen Abend verbringen?“, sagte sie und ihre Stimme hatte einen liebevoll nachsichtigen Unterton.

Herrmann blieb vor der Treppe stehen und schaute zurück, die Stirn gerunzelt. Er griff sich sogar an die Stirn und versuchte, der Erinnerung habhaft zu werden, der Erinnerung an den Heiligen Abend des letzten Jahres. Da war nichts. Er schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Sie müssen sich irren, junge Frau“, sagte er mit knarrender Stimme, räusperte sich, sah verwirrt in das Gesicht, das im trüben Licht der Treppenhausbeleuchtung etwas Maskenhaftes hatte. Eine Maske, aus der diese wunderbaren Smaragde heraus glühten wie Sonnenlicht durch das frische Grün eines Laubwaldes im Mai. Er schüttelte bei dem Gedanken verwundert den Kopf. Was war mit ihm los, dass er plötzlich solche Bilder im Kopf hatte?

„Willst du mich nicht hereinbitten?“, fragte sie halblaut. Sie stand dicht vor ihm, sah zu ihm auf. Herrmann sah in ihren Wimpern kleine Tröpfchen blitzen, ganz, als schmölze dort Schnee.

Aber draußen fiel kein Schnee!

Mit einem Mal wurde Herrmann vom Gefühl einer diffusen freudigen Erwartung erfüllt. Er wurde fast so etwas wie aufgeregt.

„Natürlich, junge Frau. Kommen Sie!“, sagte er hastig, machte eine unbeholfene Geste die Treppe hinauf. Dann verlosch das Treppenlicht.

Herrmann spürte plötzlich die Lippen der Frau auf seinen und nahm diesen betörenden Duft wahr. Es war kein billiges Parfüm, es duftete ernster, wahrhaftiger, menschlicher. Es duftete nach Frau auf diese verwirrende Weise, an die sich Herrmann nunmehr kaum noch erinnern konnte. Hatte es zuletzt in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer nicht immer nur nach abgestandenem Schweiß und Kneipe gestunken? Hatte ihm Ruth nicht am Ende auch das an den Kopf geworfen: „Hier stinkt alles nach Alter!“

Das brachte ihn auf die Frage, wie es oben in seiner Wohnung riechen mochte, oder aussehen. Er wusste es nicht so genau. Eigentlich dachte er über diese Dinge nicht mehr wirklich nach. Er bekam so gut wie nie Besuch. Seine Tochter Laura vor ein paar Jahren mit diesem kleinen, rothaarigen, aufgeweckten Mädchen. Er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.

„Christa“, sagte die Frau im Dunkeln vor ihm. Er kam wieder zu sich. Noch etwas benommen schüttelte er den Kopf.

„Nein, so hieß sie nicht. Irgend etwas mit M“, sagte er versonnen.

„Ich, Herrmann! Ich bin Christa!“, sagte die Frau mit diesem nachsichtigen Tonfall neben seinem Ohr. Er bekam eine Gänsehaut und einen trockenen Mund. Er besann sich, überwand mit einem großen Schritt die drei Stufen des Eingangs und machte Licht. Dann wies er wieder die Treppe hinauf. Sie ging an ihm vorbei die Stufen hinauf und er folgte ihr mit zwei Stufen Abstand. Er vermied es, nach oben zu schauen, bis sie vor seiner Wohnungstür anhielt und sich nach ihm umsah. Er trat zu ihr und versuchte zu überspielen, dass er etwas kurzatmig war. Sie legte ihm begütigend eine Hand auf die Schulter, als er die Kette mit dem Schlüssel nicht gleich in die Hand bekam. Ihm zitterten die Hände und er spürte plötzlich Schweiß seinen Rücken hinunter rinnen.

„Ich hab’ keinen Besuch erwarten, musst du wissen“, sagte er, indem er in den Flur trat und Licht machte.

„Ich weiß, Herrmann. Ich hab’ es nicht anders erwartet. Wir kennen uns schon ein wenig!“, sagte sie und knöpfte den Mantel auf. Er trat auf sie zu, wischte sich die schwitzigen Hände an seiner Joppe ab und half ihr aus dem Mantel, wandte sich um, ihn aufzuhängen. Dann fielen ihm die Veränderungen auf, die seit seinem Fortgang aus der Wohnung passiert sein mussten. Er stand, den Mantel schulterhoch erhoben, vor dem Rechen seiner Flurgarderobe und wusste nicht, was er davon halten sollte, was er sah: All die Jacken und Mäntel, die noch vor einer Stunde wirr durch einander auf dem Geweih der Garderobe ihr Dasein gefristet hatten, jenen muffigen Geruch lange nicht gelüfteter Textilien atmend, waren verschwunden. Nur sein Dunkelgrüner Lodenmantel baumelte sacht auf einem Kleiderbügel. Er schien ausgebürstet worden zu sein und seine Knopfleiste zeigte eine makellose Reihe von dunkelbraunen Lederknöpfen.

Herrmann fasste sich, wandte sich kurz zu seiner geheimnisvollen Besucherin um und nahm den freien Bügel vom Haken, hängte den Mantel mit fast übertriebener Sorgfalt darüber und dann an die Garderobe. Er besann sich, schlüpfte aus seiner schwarzen Joppe und hängte sie daneben.

Dann klatschte er mit den Händen auf seine Oberschenkel und drehte sich mit einem Ruck zu Christa um.

Sie sah umwerfend aus.

Das weißblonde Haar war zu einem kunstvollen Zopf geflochten, der ihr beinahe bis auf die Hüfte fiel. Die umspielte ein rotes Röckchen mit weißem Pelzbesatz. Er ließ gerade so viel von ihren wohlgeformten Beinen sehen, dass es noch als anständig durchgehen konnte. Ihr rotseidenes Mieder hingegen war mehr als eine Spur freizügiger. Allerdings konnte sich das Dekolleté auch sehen lassen.

Christas Augen blitzten vergnügt, als sie die Hände in die Hüften stemmte und sich kokett hin und her drehte.

„Gefalle ich dir?“, fragte sie mit gurrender Stimme, bei deren Klang sich Herrmanns Nackenhaare aufstellten. Er hätte sich gern gekniffen, weil er vermutete, er könnte irgendwo betrunken oder mit klaffender Kopfwunde in einem Hinterhof liegen und dies alles könnte nichts als ein Hirngespinst sein. Er nickte abwesend und gleichzeitig drehten sich seine Gedanken auf konfuse Weise um die Frage, wie es in der Wohnstube und im Schlafzimmer aussah. Er konnte diese Frau unmöglich ...
„Du machst dir zu viele Gedanken, Herrmann. Das war schon immer dein Problem“, sagte sie, die sie behauptete, Christa zu sein und ihn zu kennen. Er kramte verzweifelt in seinen Erinnerungen. Kannte er sie? Nein. Entschieden nein! Er wusste, dass sein Leben ein anderes wäre, kennte er eine Frau wie diese.

Ihre Hand lag schmal und weiß auf seinem Arm. Er spürte diese ungewohnte Wärme durch den Stoff seines Hemdes. Wann hatte ihn zuletzt eine solche Hand berührt, auf diese so einzigartige Weise?
„Willst du mich nicht reinbitten?“, fragte sie noch einmal in diesen kuriosen Strudel aus halbfertigen Gedanken. Er sah ihr Gesicht vor sich, die roten Lippen, die glänzten, die Augen, die in seinem Gesicht spazieren zu gehen schienen. Er sah plötzlich einen feinen, sich auffächernden Strahl von winzigen Fältchen von ihren Augenwinkeln ausgehen. Eine Entdeckung, die ihm ein wenig von dem Gefühl der Unwirklichkeit nahm. Er fasste sich ein Herz, zog sie mit den Händen auf ihrer Taille an sich und küsste sie. Sie trat den halben Schritt auf ihn zu und schmiegte sich kurz an ihn. Ihre Lippen waren voll und weich und öffneten sich leicht. Ihre Brüste berührten ihn. Er nahm es mit wachsender Verwirrung und Erregung wahr. Ihm wurde plötzlich die Luft knapp. Er spürte erneut, wie ihm Schweiß kitzelnd den Rücken hinab lief. War es hier jemals so warm gewesen?

„Wer schickt dich, der Himmel?“, fragte er heiser und sah ihr ins Gesicht. Sie schmunzelte auf eine seltsame Weise, zog eine Braue hoch dabei und flüsterte: „Wer weiß?“

Herrmann deutete auf die Tür zum Wohnzimmer. Seine Nervosität war geblieben, aber die leichte erregte Vorfreude hatte sich mit einem deutlichen Kribbeln im Bauch hinzugesellt.

Christa betrat das Zimmer, drehte sich nach drei Schritten zu ihm um, erwartungsvoll.

Er stand in der Tür und vergaß einen Moment, dass er die Klinke noch in der Hand hatte.

In der Ecke neben dem Fenster glitzerte ein fast deckenhoher Weihnachtsbaum in Silber und Rot. Das Zimmer war in warmes, goldenes Licht getaucht, das von zwei Dutzend Kerzen herrührte, die überall im Raum verteilt waren. Ein Raum, wie ihn Herrmann nur noch aus der Erinnerung kannte an bessere Tage seiner Ehe. Ein Raum, der die lebendige Ordnung eines bewohnten und liebevoll gepflegten Ortes atmete.

Als er Christa ansah, schimmerten seine Augen wie altes Silber. Sein Mund bebte bis zum stoppeligen Kinn.
„Das warst du, oder? Ich weiß nicht, wie du hier hereingekommen bist, aber ich weiß, dass du das warst. Hab’ ich recht?“

„Frohe Weihnachten, Herrmann“, flüsterte Christa, legte ihm die Arme um den Nacken und küsste ihn.

 

 

Herrmann stand vor dem jungen Gemeindepfarrer und hatte das unwirkliche Gefühl eines kleinen Jungen, der ein absolut abwegiges Ansinnen vorbringen wollte. Der Pfarrer verabschiedete die jungen Leute und drehte sich zu ihm um. Sein offenes, sympathisches Gesicht drückte gelindes Erstaunen aus.
„Herr – Liebig. Das ist ja mal eine Überraschung. Was führt Sie zu mir? Wie lange ist das her?“

„Sieben Jahre, Herr Pfarrer. Im Sommer werden es acht. Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. Haben Sie einen Moment für mich alten Mann? Können wir uns irgendwo ungestört ...“ Herrmann deutete mit einer knappen Geste in den leeren Kirchenraum.
„Oh, ich versichere Ihnen, Herr Liebig, er wird uns nicht weiter stören. Aber bitte, gehen wir in mein Büro.“

Kurz darauf saß Herrmann ihm gegenüber, drehte die Mütze nervös in den Händen und vermied es, den Geistlichen anzusehen. Der lehnte sich in seinem Bürosessel etwas zurück, legte die Fingerspitzen behutsam an einander und sah seinen Besucher erwartungsvoll an.

„Sie wissen, Herr Liebig, Sie können hier ganz offen reden. Ich unterliege auch einer Schweigepflicht.“

„Also gut“, sagte Herrmann mit spröder Stimme und gab sich einen Ruck. Zuerst wollte er dem Pfarrer nur die dürren Fakten berichten: Eine junge Frau, die behauptet, seit Jahren mit ihm Heiligabend zu verbringen, die auf geheimnisvolle Weise Zutritt zu seiner Wohnung hat und die ...
An dieser Stelle stockte Herrmann Liebig, sah sein Gegenüber hilfesuchend an und wusste nicht weiter.

„Ich glaube, ich habe an Heiligabend Besuch von einem Engel gehabt. Aber sagen Sie mir, Herr Pfarrer: Seit wann sind Engel so weiblich, so aufregend? Ich habe mit ihr ... ihm ...“ Er begann zu stottern und senkte die Stimme zu einem Flüstern: „Ich hatte Sex mit diesem Engel. Glauben Sie, dass das möglich ist?“

Der Pfarrer lächelte bei der Frage einen Moment und nickte dann.

„Ich weiß nicht, ob diese Frau wirklich ein Engel war, aber sie war barmherzig mit Ihnen. Der Herr ist barmherzig mit uns und er sorgt für uns.“

„Aber ich bin gar kein religiöser Mensch!“

„Manchmal kommt es darauf gar nicht an“, sagte der Geistliche.

Herrmann glaubte ihm.

Impressum

Texte: Andreas E. Jurat
Cover: Bild von Victoria Borodinova auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen Männern und Frauen am Rande unserer Gesellschaft, die diesen Abend allein verbringen müssen.

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