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in letzter Sekunde

In letzter Sekunde

„Ach du Scheiße!“, sagte ich und konnte nicht anders, als gebannt in Richtung Fenster zu starren. Claudia sah missbilligend auf – ich sah es nicht, aber ich wusste, dass ihr Blick missbilligend war – führte die Gabel mit dem fein dosierten Bissen Lachsterrine zum Mund und begann zu kauen. Hielt inne, die Brauen – Conchita, die Visagistin hatte sie noch gestern Nachmittag fein säuberlich getrimmt und gefärbt – zusammengeschoben. (Es gelang nicht so ganz wie früher, die Botox-Injektion war noch zu frisch.) Ich sah das nicht, aber ich wusste es.

Ich war abgelenkt, zugegeben: Ich sah, dass der Baum brannte.
„Der Baum brennt!“, sagte ich zwischen Faszination und Unglaube. Ihre Gabel klirrte auf den Teller wie ein Nierenstein in die Sanitärkeramik. Nur lauter, empörter.
„Mach’ nicht immer solche ...“, sagte sie unwirsch, aber dahinter keimte schon die Erkenntnis, dass dieser Scherz wahr sein könnte. Sie schnüffelte hörbar in Ermangelung eines Hundes, der dafür besser geeignet gewesen wäre. 

Überhaupt wäre höchst wahrscheinlich alles anders gekommen, hätte sie die Idee mit dem Hund nicht verworfen damals. 
Der Verdacht auf Hundeallergie hatte sich im Nachhinein als Irrtum erwiesen. 
Ich hatte allerdings kurzzeitig den Verdacht gehabt, sie hätte sich vor dem Gedanken gefürchtet, eines Tages eine Plastiktüte über einen noch warmen ... 
Ja, nur kurz. Es gab Leute, die so etwas für Claudia erledigten.

Es ging uns gut an diesem Heiligabend 2017. Besser als noch im Jahr davor. Ein wenig nur, aber besser.

Bis ich das mit dem brennenden Baum sah.
Hätte ich doch nur nicht hingesehen. Im Fernsehen sang ein Knabenchor: „Es ist ein Ros’ entsprungen“ in der Kulisse einer Renaissance-Kirche. Das Lieblingsweihnachtslied meines Schwiegervaters, wie Claudia immer behauptet hatte, solange der lebte. Als er beerdigt wurde, spielten sie „Ännchen von Tarau“, weil: Es war April. Das war auch ein Lieblingslied von ihm, wurde mir später gesagt. Ich habe sehr geweint damals in der Kapelle, als das Lied erklang. Ich bin so.

Ich habe mich damals mal mit ihm über „Schwarz braun ist die Haselnuss“ und „In einem Polenstädtchen“ gestritten. Er nannte es Volksliedgut und meinte es fatalerweise ernst. Ich hab’ ihm das übelgenommen; nicht so sehr wie seine Sauferei, aber fast. Bis zu dem Moment, als der CD-Player „Ännchen von Tarau“ anstimmte. Manchmal ändern sich die Dinge von einem Herzinfarkt auf den anderen, musste ich erkennen.

„Der Baum brennt!“, sagte Claudia mit einem Kloß im Hals. Ich war einen Moment versucht, ihr zu raten, sie solle einen Schluck trinken. Aber es gab Wichtigeres. 
Richtig: Der Baum brannte! 

Ich sah es für einen kurzen Moment im Spiegel ihrer ungläubig aufgerissenen Augen. Inzwischen nicht mehr nur der Baum allein. Die Vorhänge hatten sich hinzugesellt. Ein Umstand, der mich irgendwie aus meiner mit Faszination angefüllten Starre aufwachen ließ. Ich sprang auf.

Wie immer, wenn ich unbedacht einfach aufsprang, passierte etwas, was die Sache noch schlimmer machte. In diesem Fall sehr viel schlimmer. Fast so schlimm wie bei dieser denkwürdigen Sitzung des Strategieteams meiner Firma, bei der es um den Investor ...

„Der Baum brennt, Henry, tu’ doch was!“, sagte Claudia und riss mich aus meinen Gedanken. (Hatte ich meine Tabletten heute nicht genommen?)
Als ich hinsah, brannte auch der Tisch vor mir. Ich hatte die Kerze umgeworfen! 

In 897 von tausend Fällen – statistisch gesehen (ich habe das später gegoogelt) – verlischt eine Kerze beim Umfallen. Also normalerweise, wie wir so dahinsagen. 
Aber es war Heiligabend 2017 und nichts war an diesem Abend normal. Also ergoss sich eine Lache brennenden Wachses über den Damast des Esstisches. Später sollte sich herausstellen, dass dreißig Prozent dieses Stoffes Synthetik waren und das Siegel „Textilien ihres Vertrauens“ ein Fake. Jedenfalls brannte er sofort und mit blassblau-grünlicher Flamme.

Nun hatten wir zwei Baustellen, äh, Brandherde und für keinen von beiden einen Plan. Wir sind Bildungsbürger, Humanbildungsträger, nicht Bob der Feuerwehrmann
(Ich weiß, es heißt Bob der Baumeister, aber hey, unser Baum brannte!).

Ich habe ein Beargrill Klappmesser von Gerber. Aber ich bin kein Überlebenskünstler in der Wildnis. Ich nehme es zum Äpfel schälen.
(Von wegen auch „fpäter noch kraftvoll zubeifen können“, daff ich nift lache!)
Das brennende Wachs lief schnurstracks auf Claudia zu, die es instinktiv versuchte, mit den Händen daran zu hindern, auf das neue Kleine Schwarze zu tropfen (Vorjahreskollektion - so gut ging es uns nun auch wieder nicht!).

Plötzlich standen ihre Hände in Flammen und da war der Spaß endlich vorbei. Aber eigentlich fing er da erst an. Nur nicht für uns.

Claudia schrie auf, ein Schrei, der ärgerlich empört anfing und sich zu bloßer, nackter, lodernder Angst hinaufschwang. Irgendwie brach sich bei meiner Frau die Erkenntnis Bahn, dass sich das hier von einem Missgeschick rasend schnell zu einer wirklichen Bedrohung auswuchs. Sie hielt mir angeekelt und anklagend ihre Hände entgegen. Ich machte die zwei Schritte, die nötig waren auf sie zu, sah die beiden Hände, die Ringe an den Fingern, das Wachs, das herunter tropfte und die fast durchsichtigen Flämmchen. Brennendes Stearin ist ja nun nicht gerade Napalm. Unangenehm aber war es wahrscheinlich schon. Ich nahm in meiner zunehmenden Ratlosigkeit Claudias Handgelenke und stopfte sie mir unter die Achsel meines Jacketts. Die Flämmchen erstickten und unter meinen Armen wurde es ein wenig wärmer.
‚Meine Frau hat mal warme Hände!’, schoss es mir durch den Kopf.
Vom Fenster her war ein klapperndes Geräusch zu vernehmen. Ich sah hinüber und gerade rechtzeitig, um die Reste des Stores herunter tropfen zu sehen. Das Klappern stammte von der Bleikante, die auf das Echtholzparkett fiel.
‚Die Versiegelung ist im Eimer, soviel steht mal fest!’, dachte es in mir und meine Geistesgegenwart schüttelte darüber fassungslos den Kopf: ‚Hast du keine anderen Sorgen? Der Baum brennt, verdammt!’ Falsch! Darüber waren wir schon hinaus. Das Zimmer brannte!

Claudia entzog mir ihre Hände. Ich wandte mich zum Weihnachtsbaum hin und stemmte kurz die Hände in die Hüften.
„Wo ist der Wassereimer?“, schrie ich. Ich war mir sicher, dass ich einen roten Plastikeimer neben den Baum gestellt hatte. Das hatte ich mir von meinen Eltern abgeschaut, nur dass deren Eimer damals aus grauem Zink gewesen war und in der Wohnküche neben dem Küchenschrank gestanden hatte.
„Den habe ich rausgebracht. Wie sah denn das aus, so ein rotes Ding auf den Fotos“, sagte Claudia in einem Tonfall, der nicht so recht wusste, ob er entschuldigend oder ungehalten klingen sollte. Kunststück, ihre Hände klebten noch vom Wachs.
„Du musstest ja unbedingt darauf bestehen, echte Kerzen zu nehmen statt der LED-Beleuchtung. Nun siehst du ...“ Der Rest ging in dem Geräusch unter, den der Baum – eine fast zwei Meter hohe Nordmann – von sich gab, als er in Richtung Klavier stürzte. Funken stoben auf. In mir erwachte so ein seltsam irres Gefühl von Heldentum, das mir vorgaukeln wollte, es könne mir nun wirklich nichts passieren. Ein ehr irrationales und leicht traumwandlerisches Gefühl. Als ich dem Baum näherkam, verflog es indes, denn die Hitze wurde spürbar und kräuselte leicht meine Barthaare und die Büschel meiner Augenbrauen. Ich riss die Decke vom Sofa und warf sie über den brennenden Baum um die Flammen zu ersticken. Wieder flogen glühende Teile des knochentrockenen Geästs durch den Raum.
„Alexa, wähle den Notruf!“, brüllte ich in den Raum. Im TV läuteten Glocken. Ein brennender Zweig hatte sich am Display des Apparates festgebrannt und das Bild begann, sich darum zusammen zu ziehen.

Pflichtgemäß hörte ich den Wählton aus dem Bose-Soundsystem. Er füllte mit Kinosound den Raum. Die Flammen züngelten unter der Decke hervor.
„Kein Anschluss unter dieser Nummer! The number you’ve called ...“
„Halt die Klappe blöde Kuh!“, machte ich meinem wachsenden Ärger und meiner aufkommenden Angst Luft. Luft wurde ohnehin irgendwie ein Thema. Sie war inzwischen geschwängert vom Gestank verbrennenden Kunststoffs vermischt mit dem anheimelnden Duft brennender Tannenzweige. Claudia liebte diesen Duft. Bis jetzt.

„Willst du da Wurzeln schlagen?“, rief ich und sah mich nach meiner Frau um. Sie stand da, die Schultern hochgezogen und das Gesicht eine starre Maske des Entsetzens. Das unruhige Flackern des Feuers, das inzwischen den Lack des Klaviers zu Blasen aufwarf, ließ rote Schatten über ihre etwas verhärmten Züge spielen. Wenn Frauen, wie meine, in ein gewisses Alter kamen, verschwand die Fettschicht unter der Gesichtshaut und die Schwerkraft misshandelte den Rest.

„Alexa, wähle einseinszwo!“, gebot ich dem dienstbaren Geist mit Kommandostimme. Manchmal hatte selbst ich so etwas wie Metall in der Stimme.
„Entschuldigung...?“, erwiderte die Maschine ungerührt. Es waren ihre letzten Worte.
„Claudia, wähle den Notruf, den deutschen Notruf!“, bellte ich sie an. Ich hatte mir ein Sofakissen geschnappt und schlug auf die Flammen ein. Dabei schien ich sie fast noch anzufachen. Ein glimmender Zweig setzte sich mir in den ausrasierten Nacken und ich verbrannte mir erst diesen und dann die Finger, die ihn fortwischen wollten.

„Schrei mich nicht an, Henry!“, keifte sie zurück, hundert Prozent Hysterie und Panik in der Stimme. Wie auf Kommando begann der Rauchmelder zu heulen. Der Fernseher verlosch mit einem Plop, das in der Kakophonie des Feueralarms unterging.

„Ich habe mein Handy im Arbeitszimmer. Wir hatten doch gesagt ...“, erklärte sie mit fast überschlagender Stimme im Falsett.
„Frau, ruf die verdammte Feuerwehr, unser Haus brennt ab!“, rief ich beschwörend, ohne mich umzudrehen. Im Klavier riss eine Saite mit einem Laut wie ein Pistolenschuss. Inzwischen roch es nach verbranntem Büffelleder, weil der Zweisitzer ein oder zwei Brandnester aufgenommen hatte. Ich hatte ihn eigentlich nie leiden können. Treuloses Möbel! Ich hatte vor ein paar Jahren einmal versucht, auf diesem Teil mit meiner Frau Sex zu machen. Was hatte es mir eingebracht: einen Hexenschuss und den unverhohlenen Spott meines Chiropraktikers. Worauf man alles kam, während einem die Bude abbrannte!
Ich gab auf, drehte mich zur Flucht, ergriff die Hand meiner Frau, riss die Tür zur Diele auf. Die unverhoffte Frischluftzufuhr ließ das Feuer in der Stube aufheulen. Ich schloss die Tür hinter mir und lehnte mich einen Moment dagegen. Erst jetzt merkte ich, dass ich völlig außer Atem war und meine Brust brannte.

„Geh hoch, räum den Safe aus und hol den Versicherungsordner. Beeil dich!“, schnauzte ich Claudia an. Sie hätte noch vor ein paar Wochen bei diesem Ton ihre rechte Augenbraue hochgezogen. Allein, unser Haus stand in Flammen und das Botox ... Sie gehorchte wortlos. Unter anderen Umständen ein Umstand, an den ich mich würde gewöhnen können.
Im Wohnzimmer starb das Klavier einen lauten und disharmonischen Feuertod. Dann gab der Rauchmelder resigniert seinen Geist auf. Vermutlich hatten die Flammen ihn erreicht.

Ich nahm den Hörer des Festnetzanschlusses und wählte den Notruf. Die fünf Klingeltöne zogen sich eine Ewigkeit hin. Im Wohnzimmer lieferte sich das Feuer mit sich selbst ein Feuergefecht. Der Esstisch war Massivholz. Die Frauenstimme am anderen Ende klang professionell aber genervt. Ich zwang mich zur Ruhe, auch als ich sah, dass sich das Furnier der Wohnzimmertür zu verfärben begann. Die Frau von der Zentrale erklärte mir, was zu tun sei und sagte mir, dass die Einsatzkräfte gerade eine Menge zu tun hätten. Ich fragte zurück, was dies für uns bedeuten könnte und sie sprach von „circa zwanzig Minuten“. Ich holte tief Luft und legte auf. Inzwischen begann sich die Diele mit Rauch zu füllen.

„Claudia, wir müssen hier raus!“, schrie ich die Treppe hinauf.

„Eine Minute!“, hörte ich sie. Was trieb die Frau dort oben? Ich hörte durch das Rauschen des Feuers das Quarren der Tür des begehbaren Kleiderschranks und wusste, was sie dort oben trieb.

„Du hast keine Minute. Den Inhalt des Safes und den Versicherungsordner aus meinem Zimmer! Jetzt!“ Sie erwiderte etwas, was allerdings im Bersten der Wohnzimmertür unterging. Die Fenster des Zimmers waren geplatzt und der leichte Wind, der draußen als mutwilliger Geselle umherstrich, verschaffte dem gelbroten Teufel neuen Sauerstoff. Eine Glutwelle fasste mich an.
„Weib, wir verbrennen!“, schrie ich mit sich überschlagender Stimme. Nichts mehr mit Heldentum und Kommandoton. Die Panik hatte das Sagen.

„Bin ja schon da!“, sagte ein Berg mit Kleidungstücken am Fuß der Treppe zu mir, mit der etwas gepresst und atemlos klingenden Stimme meiner Gattin. Kopf und Hals waren nicht zu sehen. Das war ihr Glück. Meine Hände öffneten und schlossen sich ein paarmal pumpend.

Wir flohen aus dem Haus. Die Flammen folgten uns aus der offenen Haustür.

An unserer Auffahrt stand der Nachbar von gegenüber und das Feuer tauchte seine Glatze in rotes Licht.

„Bei euch brennt’s. Habt ihr die Feuerwehr schon gerufen?“ Er hob sein Handy hoch. Meine Hände pumpten schon wieder. Aber ich hatte anderes zu tun. Die Autos mussten aus der Garage heraus und ich musste das Gas abstellen. Ich wandte mich dem Kleiderberg zu, der rötlich angestrahlt etwas verloren auf unserem Rasen neben der gepflasterten Einfahrt stand.

„Hast du die Schlüssel mitgenommen, Schatz?“, fragte ich den Berg und versuchte besonnen zu klingen und trotzdem das Geräusch des Feuers zu übertönen. Das leckte inzwischen durch die verrußte Fensteröffnung des Wohnzimmers in Richtung Traufe.

„Wie denn, du siehst doch, dass ich die Hände voll habe!“, entgegnete der Haufen Damenoberbekleidung beleidigt. Folgerichtig kam, was kommen musste: Die Haustür fiel mit vernehmlichem Knall hinter mir ins Schloss.
„Da hast du’s! Warum hast du sie nicht mitgenommen?“, sagte sie überflüssigerweise. ‚Weil ich sie vergessen habe, verdammt!’, schrie es in mir. Wir kennen das doch: Wenn wir jemand anderem die Schuld geben können, fühlen wir uns gleich besser.
Aber dafür war keine Zeit. Im Übrigen wäre ich vermutlich sowieso nicht mehr bis zum Schlüsselbrett gekommen, ohne mir den Pelz anzusengen.

Die frische Luft indes half meinen grauen Zellen auf die Sprünge. Ich rannte hinters Haus, wo ich seitlich der Terrasse den Kellerniedergang wusste. Unter dem Keramiktopf mit der Agave meiner Schwiegermutter lag ein Schlüssel zum Kellereingang. Das Licht im Kellervorraum ging nicht. Ich hatte seit Wochen immer wieder vorgehabt, eine neue LED-Lampe einzuschrauben. Aber da hielt ich es gern mit meinem Schwiegervater: ‚Es gibt viel zu tun – warten wir es ab!’ Ich stolperte über ein paar Gartengeräte und stieß mir sehr schmerzhaft das linke Schienbein an dem Rasenmäher an, der neben der Tür zum Flur hockte und auf den Sommer wartete. Er hätte mir leidgetan, wäre ich nicht in Eile gewesen. Humpelnd – und weil Gattin außer Hörweite – hemmungslos fluchend, eilte ich in den Hausanschlussraum, wo ich die Absperrhähne wusste. Die Neonröhren sprangen klimpernd an und tauchten den Raum in fahles Licht. Ratlos stand ich vor den Rohren und Hebeln. Welcher von denen war für das Gas? Ich folgte mit den Augen den Leitungen. Sie verschwanden alle in dem großen weißen Kasten unserer Warmwasserbereitung. Ich zögerte nicht lange und drehte alles zu.

Zurück in den Flur und hinüber zur Garagentür. Wieder zurück, das Licht löschen im Anschlussraum. Ich hörte schon den mild resignierten Tonfall meiner Frau: „Hast du wieder das Licht angelassen im Keller? Da wunderst du dich über die hohe Stromrechnung?“

In die Garage. Die Autos hatten Infrarot-Fernbedienungen für die Sektionaltore und Fingerabdrucksensoren zum Anlassen. Manchmal liebte ich unseren Wohlstand wirklich.

Die Tore ratterten langsam nach oben und ich trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad meines A6 herum. Der Bordcomputer erlaubte sich einen ironischen Scherz und wünschte mir frohe Weihnachten.

Ich erklomm die Steigung der Einfahrt, ließ das Fenster herunter und rief Claudia zu, sie solle gefälligst die Klamotten endlich wegschmeißen und ihr Auto aus der Garage fahren.

Inzwischen hatten sich noch einige Schaulustige zu meinem Nachbarn gesellt. Ein paar halfen ihm auch wirklich dabei, seine Krawatte aus den Fängen des sich öffnenden Einfahrtstores zu befreien. Ja, wir waren schon eine intakte Gemeinschaft hier in dieser Einfamilienhausidylle.

Leider konnte ich unter den mit Smartphones filmenden Schaulustigen noch immer keinen in Feuerwehrmontur entdecken. Ich war nicht ganz bei der Sache und als ich den Wagen in die Parkbucht zirkelte, gaben die Alufelgen der linken Seite gequälte Geräusche von sich. Ich verzog an ihrer statt vor Schmerzen das Gesicht. Ich stieg aus und da endlich hörte ich aus einiger Entfernung den Klang von Sirenen.

Ich hatte allerdings keine Zeit, zu lauschen, ob sie denn näherkämen. Eine kühne Idee hatte von mir Besitz ergriffen: Ich würde zumindest erste Vorarbeit leisten mit meinem sauteuren Gartenschlauchsystem. Von dieser Idee beseelt hastete ich über den Rasen und merkte nicht, dass weder Claudia noch ihr Wäscheberg dort herumstanden. Ich befand mich im Löschmodus. Rudi, der Nachbar mit der rot angestrahlten Glatze, begriff als erster von den zuschauenden Helfern, was ich vorhatte und reihte sich an meinem Gartenschlauch hinter mir ein. Ich warf ihm über die Schulter einen kurzen Blick zu. Ich sah in seinen Augen, dass er sich den Ruf „Wasser Marsch!“ gerade noch so verkniffen hatte. Ich hätte ihm andernfalls wahrscheinlich die Spritzdüse des Schlauches in den ... Ich verdrängte den unfrohen Gedanken rasch, drehte herzhaft den Absperrhahn des Wasserverteilers – und nichts geschah. Ich schaute reflexartig in die Spritzdüse in meiner Hand. Ein kleiner müder Strahl, ein Rinnsal, mühte sich ängstlich aus der Öffnung, stark genug, mein verdutztes Gesicht zu treffen und meine Brille gänzlich undurchsichtig zu machen, aber zu nichts sonst in der Lage. Ich schlug mir erst innerlich und dann auch tatsächlich mit der nassen, vom Schlauch dreckigen Hand vor die Stirn: ich hatte alle Hebel im Keller auf Null gestellt! Rudi begriff es noch etwas später, ließ mit verlegener und fast beiläufiger Bewegung den Schlauch fallen und trat aus der Reichweite meines zu erwartenden Wutausbruchs. Der allerdings blieb aus. Dafür traf die Feuerwehr ein, aber durchaus nicht in allerletzter Sekunde. Eher später.

Allerdings ging es dann auch rasend schnell, fast so, als hätten die Jungs vom Löschzug noch einen anderen Termin. Mir fiel erst ein wenig später ein, dass ja Heiligabend war. Noch ein wenig später – ich war von den Feuerwehrleuten ziemlich barsch hinter die Absperrung verbannt worden – fiel mir auch auf, dass ich meine Frau nicht unter den Schaulustigen fand. Unter anderen Umständen wäre das eher normal gewesen, denn sie hasste solche Menschenansammlungen und die Gaffer bei Autounfällen auf der Autobahn konnte sie nicht ausstehen, aber immerhin war es ihr Haus das gerade abbrannte. Da hätte ihr zumindest eine Decke um die Schulter, ein Becher dampfender Tee und ein Platz gleich am Zaun zugestanden.

Der Einsatzleiter dränge sich zu mir durch und fragte mich, ob noch Personen im Haus wären oder Haustiere.

Ich wollte erst verneinen und hinzusetzen, dass meine Frau keinen Hund gewollt hätte, aber dann schwante mir, warum sie nicht unter den Menschen hier am Zaum zu finden war: Sie war noch drin! Ihr Auto war auch nirgendwo zu sehen, also waren beide noch in der Garage.

Plötzlich wurde mir für ein paar Herzschläge schwarz vor Augen und ich musste mich am Zaun festhalten.
„Ist Ihnen nicht gut? Soll ich den Notarzt holen?“, hörte ich den Einsatzleiter wie aus weiter Ferne fragen. Ich schüttelte mühsam den Kopf und das Bild kam wieder, fast, als hätte jemand das HDMI-Kabel wieder angeschlossen. Meine Zunge indes schien zu dick für meine Mundhöhle und für Worte kein Platz. Ich fuchtelte in Richtung Garageneinfahrt. Er verstand nicht. Hätte ich auch nicht.

Ich verstand nur noch, dass es Zeit war, zu handeln. Kennen Sie dieses alptraumhafte Gefühl, wenn Sie gleichsam aus Ihrem Körper heraustreten und sich fast unbeteiligt dabei zusehen, wie Sie drauf und dran sind, eine Riesendummheit zu begehen?

Nicht? Ich bis zu diesem Moment auch nicht.

„Aus dem Weg!“, brüllte ich und wie von Zauberhand bildete sich entlang des Zaunes eine Gasse. Wie ich feststellte, rannte ich schon, stolperte, fing mich, erreichte das Tor zur Einfahrt.

„Wo wollen Sie hin? Sie dürfen ...“, rief einer der Feuerwehrleute und versuchte, mich festzuhalten. Ich entkam dem ausgestreckten Arm und strauchelte über die Zufahrt auf das spärlich beleuchtete Loch des Garagentores zu.

„Meine Frau!“, brüllte ich wie von Sinnen. Ich kam mir kaum hinterher.

Plötzlich grellten vor mir Lichter auf: Xenonscheinwerfer warfen blauweiße Lichtschwerter nach mir. Das lippenstiftrote Gefährt meiner Frau sprang mit aufheulendem Motor aus dem Schlund der Garage geradewegs auf mich zu. Etwas oder jemand riss mich zur Seite und ich stürzte, rappelte mich hoch und wurde erneut zu Boden gerissen. Der Atem wurde mir aus den Lungen gepresst.

Ich gab auf.

Ich sah mich selbst da halb unter dem Feuerwehrmann liegen, die Augen fast aus den Höhlen gequollen. Ein Stück meines sauteuren Rasens klebte an meiner Stirn und meine Unterlippe blutete. Ich beschloss widerwillig, mir selbst beizustehen.

Derweil rammte meine Frau mit ihrem rechten Kotflügel den Pfeiler unserer Ausfahrt und blieb sehr abrupt stehen. Der Fahrerairbag indes verhinderte, dass sie mehr als nur ein paar Injektionen für ihr Gesicht brauchen würde. Hatte ich das mit dem Wohlstand schon erwähnt? Er wurde mit jeder weiteren Minute dies Heiligabends mit exponentieller Geschwindigkeit geringer, aber das war mir gerade völlig egal.

Der Feuerwehrmann rappelte sich auf, beugte sich kurz zu mir herunter: „Geht es Ihnen gut? Habe ich Ihnen weh getan?“ Meine Antwort wartete er nicht ab. Er hatte ein Haus zu löschen, mein Haus, nein, unser Haus. Ich setzte mich auf, holte tief Luft und sah zum Auto und meiner Frau hinüber. Die Fahrertür stand offen und ein Sanitäter beugte sich ins Innere. Gleich darauf stieg meine Frau aus. Sie hielt eine Hand vor ihr Gesicht, die andere klammerte sich an den Arm des Rettungshelfers. Diese Geste gab mir einen Stich. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen. Plötzlich griffen Hände unter meine Achsel und hievten mich empor: Rudi. Er schlug mir auf die Schulter, deutete zum Haus hin und sagte humorlos: „Schöne Scheiße.“ Ehe ich etwas sagen konnte, holten ihn Uniformierte vom Rasen. Ein Sanitäter kam herüber und legte mir eine Decke um. Plötzlich merkte ich, dass es trotz des Feuers hinter mir kalt war. Ich fröstelte.

Ein Sanitäter holte mich vom Rasen, eine Decke um die Schultern. Der Siegerpokal – der Topf mit heißem Tee – blieb mir versagt. Ich ging hinüber zu meiner Frau, die noch immer neben dem Auto stand. Der Sanitäter tupfte ihr das Gesicht ab und ich dachte flüchtig an einen Maskenbildner an einem Filmset für einen Katastrophenfilm: Das Weihnachtsinferno mit Monika Ferres und Heino Ferch in den Hauptrollen. Ich fand es nicht mehr witzig. Ganz und gar nicht.
Claudia sah hoch und mich an. Ihr Gesicht sah aus wie mit grobem Sandpapier behandelt. Ihre schmalen Lippen bebten für einen Moment.

Sie schluckte.

Der Sanitäter sah mich an, sein Blick fiel auf meine Unterlippe und er nahm etwas aus seinem aufgeklappten Koffer, der auf der Motorhaube des Autos lag. Er wollte sich an meiner Lippe zu schaffen machen, aber ich wehrte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. Dann nahm ich Claudia in den Arm.

Ich spürte uns beide beben und zittern. Ein trockenes Schluchzen drängte sich aus meiner Kehle. Sie legte mir ihre Hand auf den Hinterkopf, eine vertraute Geste von der ich erst in diesem Moment begriff, wie sehr ich sie vermisst hatte in den letzten ... Monaten, Jahren?
„Herr Klaasen?“, sagte die Stimme des Einsatzleiters hinter mir und sie klang etwas zurückhaltender als noch vorhin. Ich drehte mich zu ihm um, ohne Claudia loszulassen. Ich sah in sein Gesicht und all die Müdigkeit und Frustration dieses vermaledeiten Heiligen Abends.

Er tat mir leid.

Ich tat ihm leid.
„Ich fürchte, wir können das Haus nicht retten. Wir tun alles, dass das Feuer nicht auf die Nachbarschaft übergreift. Es tut mir leid.“
„Danke, trotzdem!“, sagte ich heiser.
‚Er hat dir gerade gesagt, dass du obdachlos bist und du bedankst dich?’, rief es in mir mit einer Stimme, die ein wenig nach meiner Frau klang. Ich sah sie an. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie mochten brennen auf der aufgeschürften Haut. Unser Haus brannte heißer.
„Was machen wir jetzt? Wo sollen wir hin?“, fragte sie und der Klang dieser Stimme machte mir einen Moment eine Heidenangst.
„Wir suchen uns ein Hotel“, sagte ich, froh, etwas tun zu können. Die Nachricht des Einsatzleiters hatte in mir ein Gefühl von Hilflosigkeit hervorgerufen aber auch das seltsam entrückte Gefühl, nun nichts mehr tun zu können, nicht länger irgendetwas tun zu müssen, der Verantwortung enthoben. Aber das war falsch. In jeder Beziehung. Ich sah Claudia an und wusste es sehr genau: quasi in allerletzter Sekunde.

Am Morgen des Ersten Feiertages hatten Claudia und ich nach einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr einfach nur Sex. Wir liebten uns mit einer Intensität, die ich uns nach all den Jahren nicht mehr zugetraut hatte.

Später zeigte Claudia auf die Ordner, die sie aus ihrem Auto mitgenommen hatte.
„Was ist das?“, wollte ich wissen, nicht so ganz brennend – ich hatte eine gewisse und nicht ganz unverständliche Aversion gegen dieses Wort entwickelt. Außerdem war ich noch in der Zwanzig-Minuten-Phase, jener Zeitspanne eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit eines Mannes nach erfolgtem Koitus, wo sowohl seine Standfestigkeit als auch seine Denkfähigkeit infolge vermehrter Hormonausschüttung einer ernsthaften Prüfung unterzogen wurde.

„Der Versicherungsordner“, sagte Claudia mit seltsamer Betonung. Sie nahm ihn von dem kleinen Tisch neben dem Fenster und reichte ihn mir mit einer fast andächtigen Geste. Ich öffnete ihn und erstarrte im selben Moment. Da waren Versicherungspolicen ganz anderer Natur, die ich vorfand. Briefe, mit der Hand geschriebene Briefe, zwanzig und mehr Jahre alt. Liebesbriefe aus meiner Zeit in Amerika.
„Ich hab’ ihn durch Zufall zwischen den Sachen entdeckt“, sagte Claudia und ihre Stimme wollte sachlich klingen.
„Darum warst du so lange ...?“ Mir versagte die Stimme.
„Die Versicherungen?“, fragte ich später. Eigentlich kannte ich die Antwort. Na und?


Die schönsten und ehrlichsten Geschenke, die wir zu vergeben haben, sind wir selbst.

 

Impressum

Cover: Andreas Jurat
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2020

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