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Die Farbe der Gedanken

Die Farbe der Gedanken

„Welche Farbe haben meine Gedanken gerade?“, fragte er mit seiner brüchigen Greisenstimme. Er nuschelte, seit er hier in diesem Zimmer lag, verbunden mit all den Maschinen und Apparaturen. Regine sah hinüber zum Monitor.

„Weiß, Opa. Sie sind weiß, wie frisch gefallener Schnee“, sagte sie halblaut und ihre Finger streichelten mechanisch seinen Handrücken mit den dunkel hervortretenden Adern. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass er auf Grund der Lähmung nichts mehr spüren könnte in der Hand. Regine wusste es besser. Wie sie wusste, dass seine Gedanken nicht weiß waren, auch wenn die Kurven auf dem Monitor so fluoreszierten. Sie waren nachtblau, die Gedanken.

„Das wundert mich“, krächzte er und seine Stimme ging in ein schleimiges Husten über. Regine half ihm beim Trinken und tupfte ihm die Lippen ab. Sein Gesicht lag fast ganz im Dunkeln, was es ihr etwas leichter machte. Sein linker Mundwinkel hing schlaff herab. Es kostete sie Überwindung, ihn so zu sehen. Sie hatte sein Lächeln geliebt. Geliebt, wenn er dabei die Augen zusammenkniff. Die Augen! Trüben Glasmurmeln gleich rollten sie ziellos in ihren Höhlen. Der Schlag hatte ihm das Augenlicht genommen. Darum war es so dunkel in diesem ohnehin trostlos technischen Raum. Das Piepsen der Monitore zerrte an den Nerven.

„Ich dachte, sie wären rot. Rot wie die Fahne, das Blut und die Liebe, weißt du“, setzte er hinzu. Seine andere Hand hob sich von der Bettdecke, bewegte sich etwas in ihre Richtung. Fiel herab, ein schmaler Vogel mit gebrochenen Flügeln. Sie kratzten über den Stoff. Die Bewegung hatte etwas Insektenhaftes.

„Rot, Opa?“, fragte sie. Sie wusste, was kommen würde: Liebe!

„Ich hab eine Menge geliebt, weißt du“, sagte er und obwohl der hängende Mundwinkel seine Aussprache verwusch, hörte Regine den Schalk in seiner Stimme.

„Am meisten habe ich deine Großmutter geliebt. Allein die lange Zeit. Meine Gedanken müssten dunkelrot sein, wenn ich drüber nachdenke.“

„Sie sind weiß, Opa. Vielleicht an den Rändern ein klein wenig rosa“, entgegnete die junge Frau und musste unwillkürlich etwas lächeln.

Von wegen, du Schwerenöter! Du hast sie wegen einer Jüngeren im Stich gelassen! Daran erinnerst du dich nicht, was, alter Mann?

Regine dachte das inzwischen fast ohne Zorn. Als Kind damals war das anders gewesen. Mittlerweile wusste auch sie, wie das Leben spielen konnte. Und ob sie das wusste!

Sie stellte sich selbst insgeheim die Frage ihres Großvaters und sah ihren Gedanken in blassem Blau vor sich glimmen. Es war die Farbe der Augen ihrer Tochter. Regine wischte das fort: Das kleine Gesicht, die Farbe, den Gedanken.

„Weiß also“, murmelte der Alte und Regine sah, dass er wieder wegdämmerte. Sie richtete sich in ihrem Stuhl etwas auf, schob die Schulter zurück. Ihr Nacken schmerzte und ihr tat der Hintern weh vom ungepolsterten Stuhl, auf dem sie seit Stunden saß. Sie nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Die waren leer geweint und trocken. Sie schmerzten, als liefen sie in Höhlen von gestoßenem Glas.

Sie war so müde, dass ihr schlecht war. Sie war so verstört, unglücklich und hatte diesen fast unbezwingbaren Drang nach einer Zigarette und einem Schluck. Seit einem Jahr hatte sie nichts mehr angerührt.

 

Hätte er nicht noch ein Jahr warten können? Dann würde sie stärker und stabiler sein.

 

Regine erhob sich sacht, legte die dürre, knorrige Hand des Alten sorgfältig und sehr zärtlich auf die Decke. Sie würde sich einen Kaffee holen, auf die Terrasse der Cafeteria hinausgehen und versuchen, der Versuchung zu widerstehen, einen der rauchenden Besucher dort um eine Kippe anzugehen. Es war nicht klar, ob ihr das gelingen würde, aber das war egal. Sie musste aus dem Zimmer raus, wenigstens für einen Moment.

„Es war einmal ein Mann, den nannten alle, die ihn kannten, nur den Weißen, sagte die Märchenerzählerstimme vom Bett her.

Es war des Großvaters Stimme aus jenen Tagen, da er ihr seine Geschichten erzählte, wenn sie bei Oma übernachten durfte. Dabei hatte sie ihn insgeheim immer ein wenig gefürchtet. Er konnte streng und ungeduldig sein mit einem hyperaktiven Kind.

Nur wenn seine Stimme diese besondere Farbe annahm, fing er sie ein. War er ihr nicht ein wenig wie aus einer anderen Welt vorgekommen: Eine Märchenfigur, die ihre eigenen Märchen erzählte?

 

Er hieß so, weil die Summe der Farben seiner Gedanken und Erinnerungen ein reines Weiß ergab.

 

Regine sah dem Alten ins Gesicht. Er saß in seinem Bett, seine Augen leicht zusammengekniffen, die Lippen zu diesem feinen Lächeln gekräuselt. Er streckte ihr kurz die Rechte hin, bedeutete ihr, neben ihm Platz zu nehmen. Sie sah, wie er auffordernd auf die leere Stelle neben sich klopfte.

Das Staunen verging. Wie selbstverständlich setzte sie sich auf die Bettkante, schwang die Beine hinauf und kuschelte sich in den Arm, der sich gütig um ihre Schulter legte.

Er war kein besonders guter Mann, musst du wissen. Er hatte viel erlebt, manchem Herrn gedient und oft nicht danach gefragt, ob es denn Rechtens wäre, was er tat. Manchmal konnte er es nicht wissen, manchmal schon. Aber er mochte die Menschen, auch wider besseres Wissen.

Seine Hand streichelte ihren Arm und Regine spürte, wie der Schlaf über sie kam.

Wie oft war sie in seinem Arm so eingeschlafen?

Sie erinnerte sich nicht mehr.

Sie hatte das Gefühl, dass es nicht oft genug gewesen war und der Gedanke war von violetter Trauer umkränzt.

Kümmere dich um sie, bevor es zu spät ist“, sagte der Märchenerzähler und es klang wie von weit her.

Regine schlief und wusste, dass sie das eigentlich nicht durfte. Da war wieder dieses Gefühl, das sie wolkengleich einhüllte, graugelb und erstickend: Sie war nicht genug.

Das war ihr bisheriges Leben: sie war nie genug.

 

Dickes Kind, gehänselt, verspottet, ausgeschlossen.

Ausgenutzt von denen, denen sie helfen wollte.

Sie half so gern! Das kam aus der weiblichen Linie der Familie auf sie wie Fluch und Segen in eins.

In einem fort sprang die Ampel um:

Das Strahlen des Grüns ihrer Hoffnung ergoss sich giftig gelb und neidvoll in die Eifersucht und finster rot glimmend in die Verzweiflung.

 

Als sie elf war, zog ihre Mutter von zu Hause aus und nahm sie mit. Regine verstand die Welt nicht mehr und ihre Mutter erst Recht nicht. Die war zerrieben zwischen Ausbildung, Karriere, erdrückender Beziehung und Kind. Fast am Ende ihrer Kräfte.

Regine lief so lange immer wieder von ihr fort, bis sie schließlich im Heim landete. Ihre Eltern indes stritten erbittert darüber, wer die Schuld daran trug.

Das wusste Regine da längst: sie selbst.

 

Mit sechzehn kam sie in ein offenes Wohnprojekt.

Die Ampel schien auf Grün zu stehen. Sie schaffte die Schule und bekam eine Ausbildung als Altenpflegerin.

Dort lernte sie Tobias kennen.

Er machte eine Ausbildung zum Erzieher, aber Regine merkte schnell, dass er selbst eigentlich einiges davon hätte gebrauchen können. Er war ein poetischer Rebell, seine Texte waren obszön, zerstörerisch und radikal.

Tobias war das ganze Gegenteil von ihr und sie bewunderte ihn dafür. Ein Jahr später zog sie mit ihm zusammen in eine völlig herunter gekommene Wohnung ohne Strom und Wasser in einem besetzten Haus.

 Sie tranken und kifften, sie bewarfen Polizisten mit Farbbeuteln und Steinen. Sie diskutierten mit Tobis Freunden über Anarchie und Revolution. Manchmal gingen sie sogar zur Schule.

Dann wurde Regine schwanger. Tobias tobte und beschuldigte sie, die Pille absichtlich nicht genommen zu haben.

Die Ampel sprang flackernd um auf gelb.

Regine rang mit sich und der Frage, ob sie das Kind wirklich bekommen sollte. Als sie sich entschied, war es vor allem aus Angst vor dem Eingriff und seinen möglichen Folgen.

Tobias ging immer mehr seine eigenen Wege. Manchmal zog Regine noch ihren zerschlissenen Parka an und mit der Clique los: Nazis klatschen.

Das hörte auf, als sie nach einer solchen Tour völlig betrunken in einer Ausnüchterungszelle aufwachte und für einen Moment die heiße Angst spürte, sie könnte das Kind verloren haben.

Hatte sie nicht.

Verloren hatte sie Tobias.

Er kam wegen schwerer Körperverletzung in den Knast. Als sie ihn das letzte Mal besuchte, war sie im siebten Monat. Er verhöhnte sie wegen ihres unförmigen Aussehens und gab ihr zu verstehen, dass es zwischen ihnen aus sei.

Die Ampel funkelte in bösem, grellem Rot.

Das änderte sich nur kurz, als sie wieder bei ihrer Mutter unterkam. Es dauerte nicht lange, da wurde Regine die herablassende Freundlichkeit zu viel. Sie spürte, wie sie in der kaum verhohlenen Geringschätzung zu versinken drohte: Sie war und blieb nicht genug.

Ihre Mutter war eine harte und bittere Karrierefrau geworden, die immer genau einen Schritt vor dem endgültigen burn-out entlang schlitterte. Sie war zu diszipliniert um sich zu gestatten, zu erkennen, wie einsam und enttäuscht sie vom Leben war.

Regine entdeckte, dass sie heimlich trank und sich mit Tabletten über Wasser hielt.

Der Gefahr wollte sie ihre Tochter nicht aussetzen.

Sie fand Platz in einem Frauenhaus.

Es gab einen Moment in ihrem Leben, das waren ihre Gedanken, da war ihr Fühlen und Hoffen strahlend weiß: als sie Paula das erste Mal im Arm hielt.

Die Ampel verblasste vor diesem Glück.

Ein Glück freilich, das sie, so glaubte sie, nicht so recht verdient zu haben schien.

Sie war noch immer nicht genug.

Das Geld reichte hinten und vorn nicht, sie brauchte Sachen für die Kleine, die Windeln waren teuer und sie brauchte für das Kind und sich ein zu Hause.

 

Sie bekam Post von einem Anwalt, der ihr im Namen von Tobias‘ Mutter vorschlug, ihr das Kind zu überlassen, es würde es auf jeden Fall besser haben als bei ihr in ihrer Lage. Dazu bot ihr der Anwalt viertausend Euro an, wenn sie dem zustimmte.

Ihre erste Reaktion war, sie hatte in ihrem Leben noch nie viertausend Euro auf dem Konto gehabt! Die Zweite war ein grellroter, entrüsteter Aufschrei: Die wollen mir mein Kind abkaufen! („Für gerade einmal viertausend Kröten? Lächerlich!“, hätte sie denken wollen, aber die Entrüstung übertönte den Gedanken.)

Sie erinnerte sich, dass Tobias ihr einmal erzählt hatte, der neue Mann seiner Mutter stünde auf Kinder. Tobias kleiner Bruder hätte das am eigenen Leib zu spüren bekommen, aber Tobias‘ Mutter hatte es nicht wahrhaben wollen.

Regine schauderte bei dem Gedanken, zerriss den Brief des Anwalts und drückte ihre Tochter an sich.

Das waren die glücklicheren Momente.

Aber es gab auch weniger glückliche. Schlafmangel, Geldnot und Unsicherheit bestimmten ihr Leben. Von allen Seiten wurde sie bedrängt. Die Schule drohte damit, ihre Ausbildung nicht fortsetzen zu wollen, das Heim drängte sie, sich endlich eine eigene Wohnung zu suchen oder wieder zu ihrer Mutter zu ziehen. Das Jugendamt beäugte sie argwöhnisch.

 

Zu allem Unglück lief ihr ein ehemaliges Mitglied von Tobias alter Clique über den Weg. Sie gingen einen Abend aus. Regine gab Paula in die Obhut einer Mitbewohnerin. Zum allerersten Mal.

Am nächsten Morgen wusste Regine nicht mehr, wie sie heimgekommen war.

Paula, die die halbe Nacht das Heim zusammen geschrien hatte, fanden andere Mitbewohnerinnen im Zimmer der jungen Frau.

Die hatte sich eine Überdosis gesetzt. Wie hätte Regine das wissen können. Sie war eben nicht genug!

Als die Heimleiterin mit Regine reden wollte und sie völlig verkatert antraf, ging alles sehr schnell. Noch am selben Tag wurde Paula von einer Mitarbeiterin des Jugendamtes mitgenommen.

Der Blick dieser Frau war von diesem giftigen, schwefeligen Gelb umwabert, der Regine bestätigte, was sie doch schon wusste: sie war nicht genug.

Das Heim gab ihr zwei Wochen Frist. Ihr Platz wurde dringend gebraucht.
Regine stürzte ab.

Das Heim machte ihre Mutter ausfindig. Die hatte ihre eigenen Probleme, war zur Reha: burnout.

Es war ihr Opa, der schließlich vor dem Heim auf sie wartete. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen und Regine erschrak nicht minder darüber wie er aussah, als er, da er sie in diesem Zustand auf sich zukommen sah. Er war alt geworden und sie auf erbarmungswürdige Weise erwachsen.
Er nahm sie mit und bei sich auf.

Er zwang sie auf seine gnadenlos freundliche Art, die Ausbildung zu beenden. Er fing sie auf, wenn sie drohte, wieder abzustürzen.

Er fing sie einige Male auf.

Dass er selbst immer wieder nahe dran war, registrierte Regine fast wie nebenbei. Manchmal las sie seine Geschichten, die er abends schrieb auf diesem in die Jahre gekommenen Computer.

Sie sah ihn dabei mitunter weinen. Wenn sie las, wusste sie warum. Viele Geschichten waren angefüllt von nachtblauer Trauer und Einsamkeit.

Manchmal, wenn sie eine Weile nüchtern war und ein Gefühl dafür bekam, wie es sein konnte, das Leben auf die Reihe zu kriegen, dachte sie, er täte das alles für sie als eine Art von Wiedergutmachung für das, was er der Familie angetan hatte, als er Oma verließ. Gesprochen haben sie nie darüber.

Sie bekam eine Stelle in einem kleinen Altenpflegeheim am Rand der Stadt. Das Heim bot ihr eine kleine Wohnung im Dachgeschoß des Haupthauses an und Regine nahm an. Die Ampel blieb draußen. Drei Farben waren ihr inzwischen zu wenig. Darüber war sie hinaus.

 

Es schien nur, als würde es leichter.

Tobias spürte sie auf und gab sich reumütig und geläutert.

Er war über und über tätowiert, der rechte Schneidezahn war halb abgebrochen und sein Gesicht hatte etwas Lauerndes, Verschlagenes.

Sie tranken und kifften eine Woche lang, dann kam Opa dahinter und war Tobias raus.

Regine wusste in diesem Moment nicht, um wen sie mehr fürchtete. Sie hatte ihren Opa nie so erlebt, davor nicht und später auch nicht.

Regine wechselte das Altenheim und die Wohnung.

Noch einmal malerten sie und ihr Opa eine Woche lang, lachten zusammen und tranken nichts, was stärker war als Mineralwasser Birne mit Melisse von „gut & günstig“.

Dabei fragte er sie: „Weißt du eigentlich, dass dein Name ‚Königin’ bedeutet?“. Er machte eine ausholende Bewegung und schloss das Zimmer darin ein. Sie wusste es natürlich. Er machte sie verlegen damit aber auch ein klein wenig stolz.

 

Es dauerte zwei Jahre, bis man ihr erlaubte, ihre Tochter zu sehen. Als Regine die Angst und die Fremdheit in den hellen blauen Augen des Kindes sah, brach sie in Tränen aus. Da war es wieder das graugelbe Gefühl: sie war nicht genug.

Sie sah vor ihrem inneren Auge andere Kinder Paula mit jener kindlich naiven Gehässigkeit fragen: Wer ist denn die dicke Frau da, die dich neuerdings immer besucht?
Regine hungerte und fraß, hungerte und fraß.

Überwand ihre Furcht vor Ablehnung, wie ihre Tochter die Fremdheit. Sie wurden Freundinnen, Mutter und Tochter wurden sie nicht.

Die Frau, zu der Paula „Mama“ sagte, war die adrette und sportliche Frau ihrer Pflegefamilie.

 

Als Regine vom Jugendamt auf ihren Antrag hin, Paula wieder zu sich zu nehmen, einen abschlägigen Bescheid bekam und sie kurz darauf erfuhr, dass die Familie sich mit dem Gedanken trug, Paula zu adoptieren, wichen die Farben aus ihrem Blick und scheinbar auch aus ihrer Welt. Nach einigen heftigen Abstürzen war sie endlich so weit, sich einzugestehen, dass sie ohne Hilfe untergehen würde. Das gelbgraue Gefühl nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Sie ging in den Entzug.

 

„Frau Ziegler...“, hörte Regine von sehr weit her. Sie sah sich vor dem Tor der Klinik und Opa stand dort und ein Stück weiter hinten stand ihre Mutter oder was von ihr übrig war...

„Frau Ziegler!“, die Stimme war ganz nahe und drängend. Sie wurde an der Schulter gerüttelt. Und dann war sie wach. Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihr Rücken protestierte. Nur langsam fand sie sich zurecht, fand sie in den Moment zurück. Den Moment der Erkenntnis.

„Frau Ziegler, ihr Großvater ist gestorben“, sagte die spröde Frauenstimme neben ihr. Regine schlug die Augen auf und das grelle, seelenlose Neonlicht der Deckenbeleuchtung stach ihr buchstäblich ins Hirn. Sie überlegte kurz und zusammenhanglos, ob sie einen Kater hätte.

Hatte sie nicht. Sie saß am Bett ihres Opas. Seit gestern schon.

Regine drehte den Kopf und sah das Gesicht des Alten.

Ja, er war tot.

In ihrem Job sah man, wenn einer tot war. Das war so ziemlich das erste, was man lernte.

Sie erhob sich etwas unsicher von dem Stuhl und bemerkte erst jetzt, dass sie ihre Gesäßmuskeln nicht mehr spürte.

Regine sah die Schwester endlich an, die neben ihr stand. Sie war etwas älter als sie selbst, hatte aber im Prinzip die gleiche Figur, bei deren Beschreibung das Wort „rundlich“ einer Schmeichelei gleichkam. Regine empfand für einen Moment eine warme Welle der Sympathie, die lindgrün über sie hinwegging.
„Es tut mir leid, aber ich muss ...“, setzte die Schwester an. Regine nickte.
„Wollen Sie sich noch kurz verabschieden?“, fragte die Frau in dem hellblauen Kittel. Regine schüttelte nur kurz den Kopf.

„Ich hab’ eben noch mit ihm gesprochen. Er hat mir das Märchen vom Weißen Mann erzählt. Dabei waren seine Gedanken nachtblau.“ Regine deutete auf die nun dunklen und stummen Monitore im Hintergrund.

Sie sah das fragende Gesicht der Schwester und hätte sie um ein Haar in den Arm genommen.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte die sich mit besorgter Stimme.
„Ich denke schon“, sagte Regine und ihre Stimme klang fast versonnen. Sie sah noch einmal auf die schmale weiße Maske des Toten und ging hinaus.
Vor dem Krankenhaus stand sie im sterbenden Licht des Tages, holte tief Luft und dabei hörte man die ungeweinten Tränen. Regine zog ihr etwas ramponiertes Smartphone aus der Tasche – es war von ihrem Großvater vor einem Jahr auf sie gekommen – und suchte in ihren Kontakten. Zögerte einen Moment, holte noch einmal tief Luft und wählte.
„Ziegler?“, sagte die heisere Stimme der Mutter.

„Hier auch. Opa ist gestorben. Darf ich zu dir kommen?“

„Oh Gott. Natürlich, Kind.“
„Ich bringe Paula mit“, sagte Regine, einer Eingebung folgend. Sie legte auf, straffte sich, drückte den Rücken durch und zog geräuschvoll die Nase hoch.

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Tag der Veröffentlichung: 31.08.2020

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