Jakob Rosenstetter stand kopfschüttelnd vor dem Briefkasten.
‚‘liebesbriefe‘ klein zu schreiben ist ein doppeltes Verbrechen!‘, dachte er.
Nein nicht zornig, eher etwas resigniert. Er machte sich wieder auf den Weg zu seinem Seniorenheim, wo er ein kleines Appartement bewohnte.
Er war ein pensionierter Gymnasiallehrer, der bis zum „bitteren Ende“ seine Stunden vor den Kursen seiner altehrwürdigen humanistischen Lehranstalt gegeben hatte. Er machte sich keine Illusionen darüber, wieviel er in diesen 45 Dienstjahren vermocht hatte. Er allein hatte den Verfall der deutschen Sprache nicht aufzuhalten vermocht. Immer wieder las und hörte er, dieser Verfall wäre gar kein solcher. Wie jeder lebende Organismus würde sich die Sprache fortentwickeln. Jakob bezweifelte, dass die Amputation des Genitivs und die Verödung des Plusquamperfekts und des Futur II eine tatsächliche Entwicklung darstellen konnten. Aber er wusste, dass diese Prozesse nicht aufzuhalten waren. Trotzdem machte ihn eine solche Nachlässigkeit auf einem Briefkastendeckel immer noch traurig. Jemand hatte den Menschen eine Botschaft zukommen lassen wollen und über der Botschaft die Übermittlung vergessen. Dabei schrieb man Liebesbrief nicht nur aus grammatikalischen, sondern auch aus emotionalen Gründen groß.
Er hatte es sein Leben lang getan. Dabei war er kein Fortschrittsverweigerer. Er besaß ein modernes Smartphone mit Messenger und E-Mail-Programm.
Er schrieb E-Mails nicht anders als Briefe auf Papier. Aber natürlich war es etwas anderes, ein Blatt Papier zu füllen, als auf eine Tastatur einzuhämmern.
Jakob betrat sein Zimmer. Auf seinem Tisch stand das Tablett mit den Medikamenten. Daneben lag ein Brief. Er war mit einer etwas unruhigen Handschrift adressiert und hatte keinen Absender. In einer Zeit, in der Briefe zumeist Rechnungen und amtliche Schreiben enthielten, die zudem automatisch erstellt und ohne Unterschrift gültig waren, erweckte ein solcher Brief besondere Aufmerksamkeit.
Er nahm seine Tabletten, trank einen kräftigen Schluck Wasser und ließ sich, den Brief in der Linken, mit einem kleinen Seufzer in seinem Sessel fallen. Die Rechte zitterte etwas stärker, als er sich dran machte, das Kuvert zu öffnen. Er entfaltete das einzelne Blatt Papier, das aus einem Collegeblock stammen mochte und verfluchte seine Hand. Er konnte nichts erkennen, so heftig war das Zittern. Er spürte plötzlich auch sein Herz ungewohnt hart schlagen und eine schlimme Ahnung schloss eisige Finger um sein Herz.
Er holte seine Lesebrille vom Schreibtisch, wo sein treuer Mac ihn vertraut anblinzelte.
„Sei nicht albern!“, schalt er sich halblaut und kehrte zum Sessel zurück.
„Lieber Jakob, ...“, las er.
Merkte, dass er laut las.
Merkte, dass er einen trockenen Mund hatte.
Angst.
„Du wirst Dich bestimmt wundern, von wem Du diesen Brief bekommst. Es ist eine Ewigkeit her und es kommt mir vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Jakob ließ das Blatt sinken, lehnte sich im Sessel zurück und zwang sich zur Ruhe. Er spürte eine Ahnung aufkeimen und wusste nicht, ob die Wahrheit ihn nicht umbringen würde. Dann las er weiter.
„Ich schreibe dir, weil sich in meinem Leben einige Dinge verändert haben. Mein Mann ist in der letzten Woche gestorben. Ich kann nicht sagen, dass es mir besonders leidtut. Zum einen, weil es eine Erlösung für ihn war und zum anderen, weil unsere Ehe ... Na das weißt du ja selbst.“
Tat er das?
Er machte wieder eine kleine Pause. Trank noch einen Schluck Wasser. Sein Magen fühlte sich an wie ein Mühlstein.
„Ich habe in den Sachen meines Mannes etwas entdeckt, was mich zutiefst erschreckt hat. Das ist der Grund, warum ich Dir diesen Brief schreiben und Dir endlich antworten musste.“
Jakob spürte, dass er die Zähne so fest zusammengebissen hatte, dass seine Kaumuskeln zu schmerzen begannen. Den Zähnen machte das weniger.
„Er hat damals Deinen Brief abgefangen und all die Jahre kein Ton gesagt. Ich weiß nicht, warum er ihn so lange aufgehoben hat. Ich weiß so wenig darüber, was er gedacht und warum er was gemacht hat.“
„Du wolltest es nicht mehr wissen!“, flüsterte Jakob. Er blinzelte eine Träne fort.
„Lieber Jakob!“, setzte sie neu an.
„Wenn ich Deinen Brief damals bekommen hätte, wären die Dinge vielleicht anders gekommen. Aber das kann man hinterher leicht sagen. Sie sind eben nicht anders gekommen. Ich will nicht sagen, dass es mir leidtut. Ich habe Dir nicht gutgetan.“
„Was eine verdammte Lüge ist, wie du selber weißt, mein Herz!“, sagte Jakob mit seiner hellen, jungen Stimme, die nun leise zitterte.
„Trotzdem habe ich Dich geliebt. Ich weiß, das klingt komisch, wenn man bedenkt, wie alles gekommen ist. Trotzdem ist es so.“
„Das weiß ich, mein Herz. Das hat es nicht leichter gemacht, das kannst du mir glauben!“
Sagte er das, oder hörte er es in seinem Kopf? Einerlei. Was er hörte und fühlte, reichte aus, füllte ihn an, ließ ihn fast bersten.
„Liebste“, schrieb er auf das Blatt karierten Papiers, das er in fliegender Hast aus dem Notizblock gerissen hatte.
„Liebste, ich hatte nicht zu hoffen gewagt, von dir noch eine Antwort auf diesen Brief zu bekommen. Er war so voller Liebe aber auch voller Begehren, das ich für dich empfunden habe. Ich war verrückt nach Dir, wenn ich es recht bedenke, bin ich es wohl noch immer. Dieser Brief, den Dein Mann Dir vorenthalten hat - wie ein Leben in Glück und Liebe - war nicht der einzige, den ich in all den Jahren an Dich schrieb. Er war nur der einzige, den ich abzusenden gewagt hatte. Ich hatte sehr wohl damit gerechnet, dass er der Auslöser für einen alles klärenden Konflikt sein könnte. Aber Dein Mann hat das - aus seiner Sicht - einzig Richtige getan, ihn ignoriert und dich behalten.
Nun aber ...“
Jakob zögerte, suchte nach Worten, die nicht verletzen sollten.
„Nun aber, da sich die Dinge verändert haben, möchte ich, dass Du all diese Briefe liest. Ich schicke sie dir.“
Es waren dreiundvierzig Briefe, die Jakob in den Kasten mit der Aufschrift „nur für liebesbriefe“ einwarf. Keinen von ihnen zu Unrecht.
(Ist es wichtig, zu erwähnen, dass ihre Anschrift am Ende ihres Briefes stand? Ich denke nicht.)
Texte: Andreas E. Jurat
Cover: Bild von Holger Schué
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2020
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