Rosa trat hinaus auf die Lichtung. Sie hob das Gesicht dem silbernen Schein des Mondes entgegen. Einer schimmernden Münze gleich lag er gebettet in das Daunenbett der Wolken. Schwarz hob sich die Silhouette der Krone einer hoch aufragenden Fichte vor dem silbrigen Licht ab, vielfingerig sich reckend.
Maurice folgte ihr über den Saum des dichten Waldes hinaus auf die Lichtung. Wenige Schritte, dann blieb er stehen. Er gab einen unterdrückten Laut von sich.
Rosa drehte sich kurz nach ihm um. Seine Gestalt verschmolz fast zur Gänze mit den dunklen Schatten hinter ihm. Nur seine Augen schimmerten im Licht des Himmelskörpers. Sie wies mit ihrer schlanken, weißen Hand hinauf. Ihre kupfernen Armereifen klangen leise aneinander.
„Schau, wie schön es ist!“, sagte sie halblaut. Immer wieder wurde sie sehnsüchtig beim Anblick des vollen Mondes. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Herz schlug schneller und in ihrem Leib erhoben sich ein wundersames Ziehen und Kribbeln.
Der junge Mann hinter ihr sagte nichts. Rosa schritt weiter hinaus in das silbrige Hell. Das Gras der Lichtung schimmerte von frühem Tau. Grillen hatten sich zu einem vielstimmigen Konzert verabredet. Ein junger, sanfter Wind strich über die Pflanzen und um ihre nackten Beine. Er neckte sie mit schmeichelnden Händen, dass sie einen süßen Schauer verspürte, der ihr über Arme und Rücken strich. Ihre Schläfen waren heiß und der kecke Geselle versprach ihr ein wenig Kühlung. Dies und mehr.
Bei dem Gedanken wurde sie wieder der leisen Geräusche gewahr, die Maurice hinter ihr machte. Er war ein geschickter Jäger, hochgewachsen für seine knapp zwanzig Sommer und muskulös. Nicht so muskelbepackt wie die Männer ihres Stammes, zugegeben, aber was sie an Kraft und Masse voraus besaßen, machte er durch Schnelligkeit und Geistesgegenwart wett. Es gab nicht wenige unter den jungen Männern, die ihn argwöhnisch beäugten. Er war ein Fremder, er war anders. Er sprach wenig und wenn, dann leise und mit seltsamem Akzent.
Die Mädchen des Dorfes wisperten und kicherten hinter vorgehaltener Hand, wenn er am Langhaus der Frauen und Mädchen vorbeiging. Er schien allerdings keine Blicke für so manch lockenden Augenaufschlag oder einladendes Lächeln zu haben. Er hatte nur Augen für Rosa. Scheue Augen, voller respektvoller Zurückhaltung. Rosa wusste nicht, ob dieser Respekt wirklich ihr galt oder eher der Tatsache, dass sie die Tochter des Häuptlings war. Sie vermutete, dass es von beidem etwas war. Sie lächelte etwas versonnen bei dem Gedanken. Diese aufmerksame Art, ihr den Hof zu machen, gefiel ihr sehr. Sie machte sie stolz. Nur manchmal wünschte sie sich, dass er etwas weniger rücksichtsvoll sein mochte. In Nächten wie dieser hier zum Beispiel.
Ein kleiner, gewundener Wasserlauf zerschnitt das Oval der Lichtung in zwei ungleiche Teile. Wie flüssiges Silber glitzerte das Wasser, glitt leise plätschernd über die rund gewaschenen Steine. Tausendfach spiegelte sich die Mondscheibe in den kleinen Wellen des Baches.
Rosa strebte auf eine Gruppe junger Weiden zu, die sich am Ufer einer der Schleifen des Baches angesiedelt hatten. Sie umgaben einen niedrigen Quader aus behauenem Stein. Er sah im Mondlicht alt und verwittert und geheimnisvoll aus. An seinem Flanken waren Runen und Zeichen eingegraben, von denen ein schwaches Leuchten auszugehen schien.
Rosa ließ sich mit einer anmutigen Bewegung auf dem Stein nieder. Sie sah mit einem kleinen Lächeln zu Maurice auf. Der war beim Anblick des Altars – um genau das musste es sich zweifellos handeln – argwöhnisch stehen geblieben.
„Was ist das hier?“, fragte er und seine Stimme klang rau. Unter dem Klang seiner Frage zuckte sie zusammen. Ihr Blick wurde suchend, tastend. Die Weiden verdeckten teilweise den Mond. Das gab seinem Gesicht etwas Unruhiges und fast Beängstigendes. Sein Bart wirkte irgendwie länger und struppiger. Sein Haar glich fast einer Mähne. Rosa wurde von einer fast körperlich spürbaren Unruhe ergriffen. „Habe ich gar Angst vor ihm?“, fragte sie sich flüchtig.
„Es ist ein heiliger Ort meines Stammes", erklärte sie und bemühte sich, es harmlos und beiläufig klingen zu lassen.
„Wir sind zur unrechten Zeit hergekommen, Rosa. Lass uns in den Wald zurückgehen. Bitte.“ Sie sah in seinen Augen mehr als nur eine Bitte. Sie sah ein Flehen; aber sie sah noch etwas anderes: Gier.
Was geschah mit ihm?
„Warum, Maurice? Was ist mit dir?“, fragte sie. Aber schon während sie die Frage aussprach, wurden die Anzeichen deutlicher. Sie sah seine Hände, die plötzlich von struppigen Fellbüscheln bedeckt wurden.
Seine wunderbaren, kräftigen Hände!
Sie sah, wie sie sich in Klauen bewehrte, langgliedrige Greifinstrumente verwandelten. Maurice zog die bärtige Oberlippe nach oben und entblößte ein Gebiss, das immer weniger dem eines gesunden Mannes ähnelte. Er gab ein tiefes, rollendes, kehliges Knurren von sich.
„Ich werde dir nichts zu leide tun, Rosa. Aber wir müssen diesen Ort verlassen. Sofort!“ Seine Stimme schien tief aus seiner Brust zu kommen und Rosa wusste nicht, ob sie alles richtig verstanden hatte. Maurice indes schien nicht warten zu wollen, ob dies der Fall sein würde. Er drehte sich steifbeinig herum und wandte sich in Richtung Waldrand. Seine Schritte waren unbeholfen und Rosa sah zu ihrem wachsenden Entsetzen, dass sich seine Beine verändert hatten. Er wurde des ungeachtet immer schneller. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, strebte er der Dunkelheit des Waldes zu.
Rosa spürte die Veränderungen, die unter ihr von statten gingen. Das leise Beben des steinernen Opfertisches teilte sich ihrem Körper in sanften Wellen mit. Hitze stieg in ihr auf. Ohne es recht zu merken, griff sie an ihren Gürtel und die Klinge ihres silbernen Dolches blitzte kurz auf.
„Maurice!“, rief sie dem Mann nach, der sich anschickte, sich auf alle Viere niederzulassen, um einem Tier gleich, den Waldrand zu gewinnen. Da war fast kein Mann mehr, soviel sah die junge Frau selbst im von Wolken verschleierten Licht des Mondes. Der übermütig freundliche Wind, der ihr als verführerischer kleiner Spielgeselle um die nackten Beine gestrichen war und ihr weißes, halb durchscheinendes Kleid gebauscht hatte, war zu einem willkürlichen und unfreundlichen Kobold missraten. Er traf ihre bloßen Arme mit den klirrenden Reifen und machte sie frösteln. Sie ließ sich von der Kante des Steins gleiten, richtete sich auf und reckte den Arm zum Himmel. In ihrer Hand schimmerte die kleine spitze Waffe. Noch einmal rief sie den Namen. Sie rief ihn, aber nicht mit ihrer eigenen Stimme.
Sie erbebte von der Macht des Opfersteins, die ihr in geheimen Kanälen zuströmte. Sie war angespannt und auf seltsame Weise erregt. Ihre Angst war einer fast taumelnden, euphorischen Freude gewichen. Nichts konnte ihr etwas anhaben, nichts und niemand. Sie würde diesen bösen Zauber brechen, der Maurice umfangen hielt.
Der hatte den Waldrand gerade erreicht. Beim Klang dieser gewaltigen Stimme verharrte er jäh, als hätte ihn der Name zurück gerissen. Ein winselnder Laut entrang sich seiner Kehle. Er wandte den Kopf in Richtung der Frau, die nun in dieser blass blau leuchtenden Gloriole vor dem Altar stand, den Dolch gen Himmel gestoßen. Seine Augen schienen das einzig noch Menschliche in diesem zerstörten Antlitz. Sie blickten schmerzerfüllt und voller Trauer.
„Komm zu mir!“, befahl die Stimme des Steins. Maurice hob die Vorderläufe zu einer abwehrenden Geste. Er warf den Kopf heftig hin und her. Aber er rührte sich nicht von der Stelle.
„Ich kann nicht!“, hatte er rufen wollen, aber seiner Wolfskehle entrang sich nur ein klagendes Jaulen. Von irgendwo weit hinter ihm erklang ein vielstimmiges, langgezogene Heulen als Antwort. Maurice wusste, dies waren keine seiner Art. Hier, so weit im Westen gab es nur noch wenige von ihnen.
„Komm her zu mir. Ich kann dich heilen!“, rief die gnadenlose Stimme des Steins. Maurice Nackenmähne stellte sich auf bei diesem Wort: heilen. Er musste nicht geheilt werden. Er war so, wie tausend Generationen seines Volkes vor ihm: Ein Mensch, aber eben mehr als das.
„Bitte!“, gellte die Frauenstimme über die Lichtung. Das klang fast wie die Stimme Rosas, die Stimme seiner Liebe. Er sah zu ihr hinüber. Sie hielt noch immer den Dolch in der Rechten aber sie hatte beide Arme nach ihm ausgestreckt. Nun sah er seinerseits das Flehen in ihren Augen. Es zerriss ihm fast das Herz.
Er ließ alle Hoffnung fahren, richtete sich mühsam auf die Hinterbeine auf. Ein Blitz zuckte über den nun schwarzen Himmel. Der Wind riss an Rosas weißem Kleid. Sie indes hob die Rechte. Er sah die Bewegung und ein Schrei wollte aus seiner Brust. Er ließ sich nach vorn fallen und sprang.
Rosa sah ihn auf sich zueilen, ein gewaltiges Tier mit aufgerissenem Maul. Der Dolch schnitt durch das dünne Gespinst des Kleides, erreichte den Gürtel aus geflochtenem Leder und durchtrennte ihn ohne Mühe. Der Wind zerrte an dem Stoff. Mit einem deutlichen, zischenden Reißen vollendete er des Messers zerstörerisches Werk und trug das sich bauschende Segel fort. Aber nicht weit, die Weiden fingen es auf, sich unter dem Ansturm biegend. Rosa ließ die Arme sinken. Sie war erfüllt von traumgleicher Ekstase. Der Dolch fiel ins Gras. Sie sah dem Heranstürmenden entgegen. Ihre Brüste aufgerichtet und schmerzhaft zusammengezogen. Die Schultern zurückgebogen, das Becken vorgeschoben, bot sie sich ihm dar, das Opfer, das ihn reinigen sollte, heilen. Der Stein hinter ihr glomm in düsteren Farben. Blitze zuckten, schlangengleich, um ihre Füße. Das Laub der Weiden klang wie das aufgeregte Flüstern eines Chores in einer klassischen Tragödie.
Maurice durchlief während der wenigen Schritte zum Altar eine rasante Metamorphose. Als er noch drei vor Rosa hochsah, stoppte er. Teils Tier, teils Mann kam er vor der weiß schimmernden und beinahe glühenden Gestalt der Frau zum Stehen. Sein Gesicht drückte fassungsloses Erschrecken aus. Er wandte den Kopf zur Seite. Seine Hände – seine wunderbaren, kräftigen Hände – krallten sich in das feuchte Erdreich.
„Was tust du, Rosa!“, kam es heiser aus ihm heraus. Sie trat zu ihm. Er spürte die Hitze, die von ihr ausging und wollte zurückweichen. Ihre Hände berührten sein Gesicht, zwangen ihn, sie anzusehen. Seine Augen – es waren wirklich und wahrhaftig seine Augen- tanzten hastig und ziellos über ihr Gesicht und ihre Nacktheit. Plötzlich blieb sein Blick an einer Stelle unterhalb ihrer linken Brust haften. Er zog die Oberlippe kurz über die Zähne hoch, aber das verging wie ein Schauer. Er beugte sich zu der Stelle und Rosa spürte erschauern, wie einer seiner Finger über diese Stelle strich. Als er ihr den Finger hinhielt, lief ein Blutstropfen an ihm hinab. Sie sah an sich hinab. Offenbar hatte der Dolch sie eben verletzt. Sie nahm den Finger zwischen ihre Lippen und spürte den kupfernen Blutgeschmack. Einer Eingebung folgend griffen sie Maurice in den Nacken und zog sein Gesicht zu sich. Sie küsste ihn und er schmeckte ihren Kuss und er schmeckte das Blut. Ein Stöhnen quoll aus den Tiefen seiner Seele die Kehle hinauf.
Wieder wurde Die Welt grell von einem Blitz erhellt, fast gleichzeitig erklang der Donner, als bräche die Himmelskuppel auseinander. Maurice' Kopf hob sich, rückte herum in Richtung Waldrand. Rosa vernahm ein Knurren und zugleich die undeutlichen Worte: „Verschwindet von hier!“
Rosa folgte seinem Blick und in der in Aufruhr befindlichen finsteren Kulisse des Gebüsches konnte sie undeutlich Gestalten ausmachen: die Wölfe.
Rosa spürte, wie sich seine Körper unter ihren Händen spannte. Sie streichelte seine Schultern.
„Sie werden uns nichts tun. Vertrau mir, Maurice!“, sagte sie leise und eindringlich. Er schien es nicht zu können. Sie nahm wieder sein Gesicht in ihre Hände. Küsste ihn erneut, drängte sich an ihn. Er legte seine Arme um sie, zögernd, als koste es ihn große Anstrengung. Sie zog ihn zum noch immer glühenden Stein, legte sich auf seine glatt geschliffene Fläche, sah voller Verlangen zu ihm auf. Er stand über sie gebeugt. Seine Blicke sogen ihren Anblick ins sich auf. Plötzlich wurde er sich seiner eigenen Nacktheit bewusst und er schrak zurück. Er hatte auf dem Weg zum Waldrand seine Kleider durch seine Umwandlung verloren. Sein Messer lag irgendwo dort am Waldrand, geradewegs dort, wo sich das Rudel Wölfe unruhig und unentschlossen auf und ab bewegte.
Er versuchte mit einer fast rührend schamhaften Geste, seine Blöße zu bedecken. Lief hinüber und riss ihr zerschnittenes und zerfetztes Kleid von den Ästen der Weide und warf es Rosa über. Dann stand er für einen Moment unschlüssig neben dem Altar und sah vom Waldrand zu der Frau, die unter ihm lag und ihn erwartete, begehrte. Das Begehren spürte er heiß in seinen Lenden und hatte keinen Begriff dafür, in seiner Sprache nicht und ihrer auch nicht.
Schließlich legte er sich zu ihr. Für ein paar Momente schreckte er vor jeder Berührung zurück. Rosa lachte leise und lockend. Sie zog ihn zu sich, spürte, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Sie selbst hatte es das eine oder andere Mal bei den Frauen im Dorf gesehen, wenn die Männer bei Nacht zu ihnen kamen.
Als es geschah, war der Schmerz heiß und füllte ihren Leib für drei Herzschläge mit Loderndem Feuer. Dann spürte sie den Zauber seine Gegenwart, das Verschmelzen der beiden Körper, die Berührung ihrer Seelen. Ihr Geist öffnete sich und ein neues Wissen um die Welt strömte hinein.
Maurice liebte sie mit sanfter aber unbezwingbarer Gewalt. Sie sah sein Gesicht nahe über sich, sah im unruhigen Licht der Blitze mal das Gesicht des Mannes mal etwas, das einem Wolf viel ähnlicher sah. Aber sie verspürte keine Angst. Sie hatte sich in seine Hand begeben. Wenn es das Schicksal und die Götter wollten, würde sie hier und jetzt sterben und ihr Tod würde sein Menschsein besiegeln. Aber eigentlich glaubte sie nicht daran. Eigentlich wusste sie schon, dass sein Menschsein beschlossene Sache war.
Der Regen rauschte hernieder und er mischte sich mit ihrem Schweiß, der ihnen kitzelnd und neckend an den Seiten herabfloss. Nichts hätte sie beide in diesem Moment aufhalten können. Selbst der Mond nicht, der bald darauf durch die aufreißenden Wolken brach. Er spiegelte sich in den offenen Augen der Frau, die endlich die Erregung verstand, die sie beim Angesicht des Trabanten so oft ergriff.
Als der Mann sich in ihr verströmte, erlosch das Licht des Steins fast augenblicklich. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Körper atmete das Leben in seine tiefsten Tiefen. Erst die aufsteigende Kühle ließ sie erkennen, dass der Zauber erloschen war. Das Ritual war beendet.
Maurice hatte sich neben sie gelegt, den Kopf auf dem Oberarm. Er sah ihr unverwandt ins Gesicht.
„Du hast gesagt, du willst mich heilen“, sagte er schließlich ruhig. Es war wieder diese ruhige und melodiöse Stimme, die sie von Beginn an an ihm geliebt hatte, wie sie jetzt wusste.
„Aber ich bin nicht krank!“, sagte er etwas nachdrücklicher, hob den Oberkörper, um ihr besser ins Gesicht schauen zu können. Sie sah seine Ernsthaftigkeit und sagte kein Wort.
„Ich bin ein Mondmensch. Mein Volk lebt weit von hier im Osten. Die Legende besagt, dass unsere Vorfahren dereinst ...“ Er saß mit einem Mal ganz aufrecht neben ihr. Er spähte hinüber zum Waldrand. Rosa meinte, seine Nasenflügel beben zu sehen.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie werden gleich angreifen“, sagte er in einem Ton, der keinen Zweifel ließ.
„Wer sie?“, fragte Rosa und erhob sich. Maurice nickte in Richtung Wald.
„Das Rudel.“
Er holte den Dolch aus dem Gras. Sie sah ihn erstaunt an. Er bemerkte den Blick, hob eine Augenbraue und schürzte die Lippen.
„Silber macht uns nichts aus, wenn du das meinst. Das sind alles Märchen.“ Er wandte sich der größten der Weiden hinter dem Stein zu. Mit raschen Bewegungen schnitt er zwei Äste, die kurz über dem Boden aus dem Hauptstamm gesprossen waren, ab, streifte die Blätter und Zweige ab. Spitzte das dickere Ende eines jeden Astes an. Hielt Rosa einen davon hin.
„Fliehen hat jetzt keinen Sinn. Bleib auf dem Stein und lass sie nicht zu nahe an dich heran“, erklärte er und sah ihr besorgt ins Gesicht.
„Was wirst du tun?“ Sie bemühte sich, sachlich zu klingen.
„Ich werde ihren Leitwolf töten und die Leitwölfin bespringen.“
„Du wirst was!?“, rief sie, aber er verschwand in der Dunkelheit. Wenig später erscholl das Heulen und ein tiefer, kehliger Laut. Dann drangen die Kampfgeräusche herüber. Jaulen und Schmerzenslaute, Brechen von Unterholz. Schließlich wütende Schreie und sich entfernende rasche Pfoten auf dem Waldgrund. Stille. Rosa stand auf der glatten Fläche des Altars und wartete. Fast schien ihr, als könne sie ihr Herz in der Brust hämmern hören.
Der Mond brach wieder durch den Wolkenvorhang. Er war nun schon ein gutes Stück tiefer über den Bäumen. Auf halber Strecke zwischen Waldsaum und Weidengruppe lag eine dunkle Gestalt im Gras.
Rosa unterdrückte einen Schrei und lief hinüber.
Es war Maurice und er war ein Wolf und er war verletzt. Das Blut sickerte schwarz aus einem tiefen riss in seiner Flanke. Als sie sich neben ihn kauerte, öffnete er seine Augen. Die Menschenaugen.
„Du wolltest mich heilen? Nun, dann hast du jetzt Gelegenheit!“, wollte er ihr sagen. Es wurde ein ziemlich klägliches Winseln. Sie verstand ihn irgendwie trotzdem. Sie eilte zurück zum Stein, riss das zerfetzte Kleid an sich und kehrte zurück. Sie sah ihn gerade noch hinkend im Wald verschwinden.
Sie rief ihm nach, sie schrie und weinte. Sie schleppte sich zurück zum Stein, legte sich dort nieder, bereit, zu sterben.
Sie starb nicht. Als der Morgen farblos heraufzog, raffte sie sich auf, bedeckte notdürftig ihre Blöße mit den Resten des Kleides. Machte sich, den Weidenspieß in der Rechten und das Messer in der Linken, auf den Weg zurück in ihr Dorf.
Als sie dort ankam, lugten die ersten Strahlen der Sonne über den östlichen Horizont. Über den Dächern der Langhäuser kringelte sich bläulicher Rauch. Rosa hörte gedämpftes Stimmengewirr. Dann sah sie die Kampfspuren auf den Dorfplatz. Dort lagen drei oder vier Wölfe in ihrem gerinnenden Blut. Weiter hinten zwischen den Hütten sah sie den zugedeckten Körper eines Menschen. Unter dem Vordach der nächsten Hütte hielt Susa, eine ältere Frau mit schütterem grauem Haar einen Mann im Arm. Sie hob den Kopf und sah Rosa mit verwilderten Augen ins Gesicht.
Die Wölfe waren ins Dorf gekommen und hatten sich gerächt!
Rosa ging hinüber zur Hütte ihres Vaters. Je näher sie kam, umso größer wurde ihre Gewissheit, dass etwas Grässliches geschehen sein musste.
In der Hütte war es dunkel und klamm. Das Herdfeuer brannte nicht. Aber die Hütte war nicht verlassen!
„Vater?“, rief Rosa in die Stille. Aus der Ecke, wo Rosa das Felllager ihres Vaters wusste, ertönte ein röchelndes Stöhnen, ein feuchter und ekelerregender Laut.
Sie machte Licht und brachte das Feuer in Gang. Dann kniete sie neben dem Lager ihres Vaters. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen, aber es gelang ihm nicht. Rosa sah eine Menge Blut. Sie hob das Fell unter dem er lag und ließ es schnell wieder sinken. Sie legte ihre Stirn auf seine Hand.
„Verzeih Vater, das habe ich nicht gewollt!“, flüsterte sie und ihre Tränen mischten sich mit seinem Blut.
Dann war er tot.
Rosa war wie betäubt. Sie hockte mit zerrissenem Kleid, wirrem Haar und ausdruckslosem Gesicht vor der Hütte ihres Vaters. Ihre Augen folgten dem Treiben auf dem Dorfplatz, aber sie verstand nicht, was vor sich ging.
Die Frauen kamen und holten den Leichnam des Häuptlings. Er und noch vier Männer des Stammes waren im Kampf gegen das Rudel gestorben. Die wurden dem Ritual entsprechend auf dem Platz auf Holzgestellen aufgebahrt. Ihrem Vater hatten die Frauen ungeachtet seiner fürchterlichen Verletzungen seine Häuptlingskleider angezogen. Die Ältesten bezogen Totenwache. Später kamen die Frauen hinzu und begannen ihre Klagen heraus zu schreien.
Kurz nach Sonnenuntergang traten alle vom Dorf vor ihre Hütten und Häuser, bildeten einen stummen, andächtigen Halbkreis. Susa kam zu Rosa herüber. Sehr sanft nahm die Ältere die Jüngere bei den Armen und führte sie in den Kreis. Viele Augen richteten sich auf Rosa. Die aber bemerkte sie nicht.
Als das letzte Tageslicht verloschen war, zündete einer der Alten das Feuer an. Es brannte lange. Schließlich gingen die Dorfbewohner zurück in ihre Hütten. Nur Rosa stand vor den qualmenden Überresten des Feuers. Sie sah blicklos gerade aus. Sie schwankte ein wenig hin und her. Sie sprach kein Wort. Sie war sich nicht einmal bewusst, dass sie dazu fähig war. Am Morgen wurde ihr mit seltsamer Gewissheit klar, dass sie ein Kind empfangen hatte.
Dieser Gedanke begrüßte den Morgen im Osten. Sie spürte ihre Beine nicht, als sie die Hütte ihres Vaters aufsuchte. Sie spürte aber, dass es sie dürstete und dass sie seit über einem Tag nichts gegessen hatte. Sie raffte sich auf, begann die Hütte zu reinigen und die grausigen Spuren des Todes ihres Vaters zu beseitigen.
Dann standen plötzlich drei vom Rat der Alten in der Tür zur Hütte. Sona, der Älteste von ihnen, von dem niemand zu sagen wusste, wie viele Winter er gesehen hatte, wischte sich verlegen mit der knotigen Hand über die Glatze.
Tako, ein vierschrötiger Mann mit rotem Gesicht und einer hässlichen Narbe unter dem linken Auge, ergriff mit schiefem Lächeln das Wort.
„Rosa, es tut uns sehr leid, was deinem Vater und auch den anderen zugestoßen ist. Es hat schon seit zwei Generationen keine Überfälle von Wölfen in diesem Wald gegeben. Etwas – oder jemand ...“ – bei dem Wort sah er sich Zustimmung heischend zu seinen beiden Begleitern um – „ ... muss dieses Rudel hier her geführt haben. Ich ... wir dachten, Maurice könnte uns in dieser Sache weiterhelfen. Er ist ein vortrefflicher Jäger und Fährtensucher.“
Rosa spürte, dass sie bei dem Namen blass wurde und für einen Moment schien die Welt weit fort.
Sie riss sich zusammen.
„Tako, danke für deinen Zuspruch. Ich danke euch allen.“ Rosa machte eine Höflichkeitsgeste, die die drei Männer erwiderten.
„Ich weiß nicht, wo Maurice ist. Wir haben uns gestern bei dem Unwetter im Wald aus den Augen verloren. Ich habe ihn gesucht, jedoch nicht gefunden. Ich fürchte fast, er hat es auch mit diesem Wolfsrudel zu tun bekommen.“
„Bist du ihnen denn begegnet bei deiner Suche?“, fragte Tako und Rosa hörte das Lauernde in seiner Stimme.
„Ich habe ihr Heulen gehört, aber das war weit weg.“
„Ist dir an Maurice etwas aufgefallen?“, fragte Sona mit seiner hohen brüchigen Stimme. Rosa sah ihm in die trüben, blass grünen Augen.
Was sollte diese Frage bedeuten?
Was wusste der Alte?
„Der Mond hat ihn beunruhigt, glaube ich“, sagte sie wage.
„Der Mond, ja?“, fragte Tako. Er schien offensichtlich nicht zu verstehen. Sona machte Anstalten, die Hütte zu verlassen. Luto, der die ganze Zeit nur verlegen herumgestanden hatte und dem sein Unbehagen ins Gesicht geschrieben stand, beeilte sich, ihm zu folgen. Tako verstand noch immer nicht. Er sah unzufrieden aus und wusste offenbar nicht einmal genau warum. Sie waren schon halb über den Dorfplatz, da wandte sich Sona noch einmal zu ihr um, wie sie in der Tür der Hütte stand. Er gab ihr ein Zeichen mit der Hand, das sie sofort verstand.
Er würde wiederkommen, allein.
Gedankenverloren stand sie noch eine Zeit lang in der Tür der Hütte und sah den Kindern zu, die über den Dorfplatz tollten. Drüben rauchte noch immer das Feuer. Bald würden die Frauen kommen und es löschen. Die Überreste der Toten in irdene Gefäße sammeln. Später würden sie sie im Wald vergraben.
Rosa fühlte sich zerschlagen und Müdigkeit kroch ihr bleischwer in die Eingeweide.
‚Jetzt hinlegen und schlafen‘, dachte sie sehnsüchtig. Aber das ging nicht. Bei dem Gedanken an die blutverkrusteten Felle auf des Vaters Lager drehte sich ihr der Magen um. Seufzend machte sie sich an die Arbeit.
„Wir fanden ihn bei einem Streifzug, weit im Südosten von hier“, erzählte Sona und sah Rosa nicht an. Sein hageres Greisengesicht lag im Schatten. Das Feuer war fast heruntergebrannt.
„Wie weit?“, fragte sie. Sie nippte vom Tee, der inzwischen fast kalt war.
„Zwei Wochenmärsche, vielleicht auch drei. Unser Stamm lebte damals weiter östlich. Es waren unruhige Zeiten.“ Er wich ihr aus.
„Wann war das?“, wollte sie wissen. Eigentlich war sie zu müde für dieses Gespräch, aber sie brauchte Gewissheit. Sie wusste, dass sie ein Kind in sich trug. Vielleicht hatten die Zauber des Steins es ihr verraten, vielleicht war es ihre Bestimmung. Das wirkliche Opfer, das man ihr abverlangte für die Heilung eines Mannes, der nicht geheilt werden wollte. Der vielleicht schon in den Tiefen des Waldes seinen Wunden erlegen war. Der Gedanke ließ sie schaudern.
„Dreißig Winter her“, sagte Sona halblaut. Noch immer sah er auf seine knotigen Hände.
„Das kann nicht sein, Sona. Dein Gedächtnis lässt dich im Stich. Da war ich noch gar nicht geboren!“ Sie klang müde und überdrüssig.
„Sie werden alt, Rosa, sehr alt“, sagte er.
„Er ist noch ein so junger Mann, auf jeden Fall jünger als ich!“, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme etwas mehr Nachdruck zu verleihen.
„In Wahrheit ist er fast doppelt so alt wie du“, entgegnete Sona mit brüchiger Stimme. Rosa erhob sich. Sie spürte ihre Beine nicht mehr und die Welt begann sich rasend schnell von ihr zu entfernen. Ihre Gedanken überschlugen sich in einem wirbelnden Kreis in ihrem Kopf. Sie hob beide Hände an ihre Schläfen, wankte. Dann waren die Hände des Alten an ihren Schultern, hielten sie. Der Schwindel verging.
„Es tut mir leid, Tochter, dass wir dir nicht früher die Wahrheit über ihn gesagt haben. Ihr seid wie Geschwister aufgewachsen. Dein Vater und ich haben geglaubt, das würde euch schützen. Wir haben uns geirrt. Das Blut findet seinen eigenen Weg.“ Sie schüttelte den Kopf, sah dem Mann ins Gesicht.
„Ich war es!“, rief sie, nun endlich wach und entflammt genug.
„Ich habe es gewollt. Selbst, als ich gewahr wurde, was im Mondlicht mit ihm geschah, war ich mir sicher, dass ich ihn retten, heilen konnte. Und ihn in mir spüren.“ Sie wurde in der Erinnerung von einem Schauer geschüttelt.
„Dann ist es entschieden“, sagte Sona und diesmal klang seine Stimme fest. Er nahm seine Hände von ihren Schultern. Sie sah ihn verwirrt an.
„Entschieden? Was meinst du?“, fragte sie und legte ihm eine Hand auf den Arm. Er entzog sich ihr.
„Du musst uns verlassen.“
Er stand auf und ging. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Gegen den Nachhimmel ein hagerer Schatten.
„Es tut mir leid, Rosa.“
„Warum?“, rief sie verzweifelt.
„Du bist jetzt eine von ihnen“, sagte er mit trauriger Stimme und ging.
Im ersten Moment spürte sie nichts als hilflose Panik in sich. Was sollte nun aus ihr werden? Gestern noch die Tochter des Stammeshäuptlings, ausgestattet mit ziemlich vielen Freiheiten und Privilegien, heute eine Ausgestoßene. Sie war eine angehende Priesterin, sie durfte den silbernen Dolch führen und wusste um die Geheimnisse der Lichtung und des Altars. Konnte man sie dann so einfach wegschicken? Andererseits hatte sie das Gesetz missachtet und einen Fremden auf die Lichtung geführt. Hatte sie am Ende nicht nur sich sondern auch den Stein entweiht? Ihr kam ein furchtbarer Gedanke. Die Weisen Frauen würden sie fortschicken, den Dolch zurückfordern, ihr auferlegen, sich nie mehr in die Nähe des Heiligtums zu begeben. Andernfalls… ‚Würden sie mich töten!?‘, dachte sie entsetzt. In der Hütte hockten die Schatten schwarz und erfüllt von schweren Gedanken. Sie spürte die Müdigkeit, aber sie wusste, dass der Schlaf ihr böse Träume bescheren würde. Sie musste hier raus, die Sterne über sich sehen und den Mond. Vor allem den musste sie sehen.
Sie schlich lautlos hinüber zum Haus der Priesterinnen. Bis gestern war dies hier ihr zu Hause gewesen. Wie sie sich in den Schlafraum stahl, schien ihr das Winter entfernt zu sein.
Sie hörte den ruhigen Atem der fünf anderen Frauen. Das Glutbecken in der Nische ließ noch ein paar rötliche Funken sehen. Rosa raffte ein paar Sachen zusammen.
„Was tust du?“, zischte sie eine Stimme von links an. Lora, die Jüngste, richtete sich auf ihrem Lager auf.
„Schlaf weiter!“, sagte Rosa tonlos. Lora ließ sich wieder auf die Felle sinken. Rosa verließ den Raum, das Haus und hatte plötzlich das Gefühl, dass sie dies alles hier nie wiedersehen würde. Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Sie schüttelte ihn energisch ab.
In der Hütte ihres Vaters kleidete sie sich an. Sie zögerte einen Moment, als sie den Dolch in den Gürtel stecken wollte. Dann jedoch überkam sie ein trotziges Gefühl. Noch war sie nicht verstoßen. Noch war es ihr Recht, ihn zu tragen! Sie nahm einen der Jagdbögen von der Wand neben der Tür und einen Lederköcher mit Jagdpfeilen, deren Spitzen keine Widerhaken aufwiesen. Kurz bevor sie die Hütte verließ, hielt sie kurz inne und fragte sich, was sie eigentlich vorhatte. Sie war gerüstet wie zu einem Jagdausflug. Hatte sie nicht nur die Sterne über sich spüren wollen und den Mond sehen? Worauf lief das hinaus? Sie wusste es nicht. Sie gab vor, es nicht zu wissen. Aber das war nicht ganz ehrlich. Allein, wenn sie sich eingestanden hätte, dass sie aufbrach, um Maurice zu finden, wäre ihr vielleicht der Mut gesunken und sie wäre verzagt. Denn wenn sie ihn fand und er gestorben war, was würde sie dann tun? Was, wenn sie ihn fand und er am Leben war? Sie hätte keine Antwort gewusst, auf beide Fragen nicht.
Sie stahl sich aus dem Dorf wie ein Schatten. Keiner der Späher, die das Dorf sicherten, hörte oder sah sie. Sie ging nach Süden. Wenig später erhob sich der Mond über die Wipfel der Bäume. Rosa sah kurz zu ihm auf, zwang sich dann, weiter zu gehen. Sie umging das Dorf in einem weiten Bogen. Der Mond sah inzwischen kalt und fast feindselig auf sie herab. Je näher sie der Lichtung kam, umso vorsichtiger wurden ihre Bewegungen. Sie blieb im Schatten der Bäume, kroch schlangengleich in ein Gebüsch und beobachtete die Szenerie fast eine Stunde. Nichts regte sich. Das knochenbleiche Gesicht des Mondes wanderte über den Stein und die Weidengruppe. Rosa spürte, wie ihre Anspannung ganz allmählich einer schleichenden Müdigkeit Platz machen wollte. Sie musste etwas unternehmen, sonst schlief sie hier womöglich ein.
Sehr vorsichtig überquerte sie die Lichtung und erreichte den Altar. Angekommen suchte sie nach den Spuren der vorletzten Nacht. Aber der Regen und der Sturm hatten alle Spuren getilgt, die beim unsicheren Licht des Mondes zu finden gewesen wären. Trotzdem spähte sie hinüber zum Waldrand. Eine bebende Erwartung bemächtigte sich ihrer. Dort drüben war er hinkend im Dickicht verschwunden. Wenn sie ihn finden wollte, musste sie dort ihre Suche beginnen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie hatte bis weit in die Nacht gewartet, anstatt das Tageslicht für etwas zu nutzen, was sie in ihrem Innern sowieso vorgehabt hatte. Aber sie hatte hierher zurückkehren müssen, sich dieser Wahrheit bewusst zu werden. Das wusste sie erst jetzt, da ihre Finger versonnen über den glatten Stein des Altars glitten. Die Erinnerung wollte sie einen Moment lang überwältigen. Sie spürte in ihrem Leib das süße Ziehen und ein Echo des Schmerzes, als er in sie eingedrungen war.
‚Schluß!‘, schalt sie sich.
Sie schlich hinüber zum Waldrand. Das Mondlicht malte einen unsteten Schatten neben sie ins Gras.
Sie war eine Priesterin. Noch nicht lange, das war ihr bewusst. Priesterinnen lernten ihr Leben lang, eins zu werden mit der Natur. Sie stand noch ziemlich am Anfang. Trotzdem versuchte sie es. Sie klärte ihren Geist, streckte ihre Sinne aus und wartete. Manchmal kamen die Eindrücke fast augenblicklich. Manchmal dauerte es eine Ewigkeit. In dieser Nacht flirrten ihre Nerven und sie fürchtete schon, sie würde versagen. Doch dann klärte sich ihr Blick. Ruhe floss in sie. Der Wald hob ein wenig den Umhang über seinen Geheimnissen.
Die Spuren war schwach, aber sichtbar. Nach einer Weile begannen sie, ihr eine Geschichte zuzuflüstern. Der Wald teilte seine Erinnerung mit ihr.
Es hatte noch die eine oder andere Rauferei mit dem Rudel gegeben, aber der große Mann in Wolfsgestalt hatte sie schließlich vertrieben. Rosa fand überall Blut an Bäumen und dem Laub des Unterholzes. Es war schwer zu sagen, ob es seines oder das seiner Feinde gewesen war. Sie hatte trotzdem kein gutes Gefühl. Sie erinnerte sich, als er dort auf der Lichtung im Gras gelegen hatte. Das Blut war aus den tiefen Rissen in seiner Flanke in den Boden gesickert. Er hatte etwas sagen wollen, aber das Winseln hatte allzu kläglich geklungen. Er hatte ihr nach Hundemanier die Hand geleckt und das hatte sie seltsam berührt und tief erschreckt. Sie hatte Mitleid empfunden und zugleich eine gewisse Fremdheit. Er hatte mit ihr das Lager auf dem Altar geteilt und wenig später lag er als wundes Tier vor ihr.
Aber das spielte nun keine Rolle mehr. Sie musste ihn finden. Sie drang tief in den Wald ein. Einmal glaubte sie in einiger Ferne das Heulen der Wölfe zu hören, aber es war unmöglich zu sagen, wo.
Die Spur wurde undeutlicher. Die Stunden verrannen. Rosa brannten vor Anstrengung und Konzentration die Augen. Ihr Rücken schmerzte von der schleichenden und gebückten Haltung. Kurz vor der Morgendämmerung gelangte sie in eine kleine, flache, fast kreisrunde Mulde. Sie wusste fast sofort instinktiv: Hier hatte Maurice gerastet. Irgendwo in der Nähe hörte sie Wasser rieseln. Eine Gruppe kleiner Nadelbäume stand fast in der Mitte der Mulde und bildete einen natürlichen Schutzschild.
Dort hatte er gelegen. Sie fand am mit Nadeln bedeckten Boden kleine Büschel von Haaren; Wolfsfell, wie Rosa annahm. Aber da waren auch lange dunkle Haare, wie Maurice sie trug.
Er hatte als Wolf und als Mensch hier gelegen.
Etwas abseits fand sie Blutspuren, aber die stammten weder vom Wolf noch vom Mann. Er hatte offenbar ein Kaninchen gefangen und verzehrt. Als sie suchte, fand sie frisch aufgeworfenes Erdreich. Er hatte die Überreste seiner Mahlzeit vergraben. Das alles konnte noch nicht allzu lange her gewesen sein! Rosas Aufregung wuchs. Sie wollte ihm unbedingt folgen.
Sie musste!
Als sie sich jedoch aus der hockenden Position aufrichten wollte, begann sich plötzlich Die Welt um sie zu drehen. Sie fiel vornüber und lag sekundenlang am Rande eine Ohnmacht auf der Stelle, wo Stunden zuvor Maurice gelegen hatte. Sie atmete den würzigen Duft der Nadeln ein, der auf erregende Weise mit seinem Duft versetzt war. Sie erinnerte sich an diesen Duft, animalisch und irgendwie tröstlich. Sie kämpfte gegen den Wunsch an, die Augen zu schließen und sich einfach fallen zu lassen. Aber das dürfte sie sich nicht gestatten! Mühsam richtete sie sich auf und versuchte, auf die Beine zu kommen, aber die gaben unter ihr immer wieder nach. Schließlich kroch sie auf allen Vieren in die Richtung, aus der sie vorhin das Wasser hatte plätschern hören. Sie fand die Quelle und trank gierig. Die Kälte biss sie in die Kehle und trieb ihr einen eisigen Dolch in die Schläfe. Aber sie war schlagartig wieder wach.
Rosa fand in der Nähe der Quelle ein paar Sträucher mit Beeren. Während sie diese pflückte und fast gierig verschlang, versuchte sie sich zu erinnern, wann sie das Letzte gegessen hatte. Es gelang ihr nicht. Ihr Magen versuchte die Beeren wieder los zu werden und für Minuten kämpfte die Frau mit Schwäche und Übelkeit. Sie hockte auf den Fersen, ließ den Kopf zwischen die Arme sinken und konzentrierte sich darauf, wach zu bleiben.
Im Osten färbte sich der Himmel rot. Rosa ahnte es mehr als sie es sah. Unsicher und fast wie trunken machte sie sich wieder auf den Weg. Mit stärker werdendem Licht fand sie die Spur nun leichter. Fußabdrücke im Moos! Er war nun als Mensch unterwegs. Sie fragte sich nur, wohin er eigentlich wollte.
Das Gelände stieg stetig an und der Wald bestand bald nur noch aus Krüppelkiefern. Da wusste sie, dass er nach Südosten ging, auf die Berge zu.
Die Erkenntnis traf sie. Warum kehrte er nicht zu ihr zurück? Ohne ein weiteres Wort war er verschwunden und hatte sie zurück gelassen! Sie hielt inne und fragte sich, ob sie ihre Suche aufgeben sollte. Vielleicht wollte er ja gar nicht gefunden werden! Dagegen sprach, dass er sich keine Mühe gemacht hatte, seine Spuren zu verwischen.
Ihre Hilfe brauchte er offenbar nicht mehr.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie erschöpft und hungrig sie war. Darunter wurde ihr mit zunehmender Panik bewusst, wie weit sie sich vom Dorf entfernt hatte. Man würde nach ihr suchen. Die Priesterinnen würden Krieger ausschicken. Ihre Vergehen waren in deren Augen sicher schwer genug. Sie hatte sich fortgeschlichen. Plötzlich kam ihr ihr eigenes Verhalten der letzten Stunden völlig unsinnig vor und Scham stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie würde ins Dorf zurück kehren und sich dem Spruch der Priesterinnen und der Alten stellen.
Rosa trat aus dem Dickicht auf ein Plateau hinaus. Die Sonne tauchte die Gipfel der Berge im Hintergrund in purpurnes Feuer. Der Anblick traf sie unvermittelt und tief. Sie stand, schwer atmend und spüre nicht, wie ihr Tränen über das Gesicht rannen.
Ein Mädchen trat still neben sie, als wäre es das Selbstverständlichste in dieser Einsamkeit am Rande der ihr bekannten Welt.„Wunderschön, nicht?“, sagte das Mädchen leise, fast verträumt. Rosa nickte nur.
Eine Wölfin, ein großes Tier mit weißem Fell und rosig heraushängender Zunge, trat lautlos neben das Mädchen. Ihr Kopf war mit deren Gesicht auf gleicher Höhe.
„Können wir dir helfen?“, fragte das Mädchen mit einem raschen Blick zu Rosa. Rosa schaute weiter hinüber zu den glühenden Bergen.
„Den Weg muss ich ganz allein finden. Ich danke dir trotzdem.“ Jetzt richtete sie ihr Gesicht auf das Mädchen neben sich.
„Euch,“ berichtigte sie ihren Satz und sah zur Wölfin hinüber. Die richtete ihre hellen Augen auf Rosa.
„Der Mondmensch ist zum Himmelsauge gegangen", sagte sie mit ihrer tiefen irgendwie mütterlichen Stimme. Rosa sah das Tier für einige Momente mit laut schlagendem Herzen an.
Sie glaubte nicht, zu träumen. Sie wusste, sie verlor gerade ihren Verstand.
„Wir haben ihn gestern getroffen", sagte das Mädchen, als könnte sie Rosas Gedanken lesen.
„Wer bist du, Mädchen?“, erkundigte sich Rosa mit heiserer Stimme.
„Ich bin Melissa. Das ist Ou. Der Alte Mann hat uns geschickt.“
„Dann sag ihm meinen Dank, Melissa. Ich brauche eure und seine Hilfe nicht. Wer immer er sein mag.“ Das klang abweisender, als Rosa beabsichtigt hatte. Sie sah die Enttäuschung im Gesicht des Mädchens.
„Wie geht es ihm, dem Mondmenschen? Ist er noch verletzt?“, fragte sie, drehte sich nun zu dem Mädchen Melissa hin. Ou ließ sich auf die Hinterläufe nieder und legte ihren buschigen Schwanz um ihre Pfoten.
„Wir haben ihn beim Aufstieg gesehen. Er schien unverletzt. Gesprochen haben wir ihn nicht.“
„Das Himmelsauge… Ich habe in Legenden davon erzählen hören. Ich wusste nicht, dass es wirklich existiert. Wo finde ich es?“
Melissa wechselte einen raschen Blick mit Ou, dann sah sie Rosa ernst in die Augen.
„Der Aufstieg ist beschwerlich und gefährlich, Rosa. Es ist kalt dort oben. Du müsstest dich besser für diese Reise rüsten.“
„Sorg' dich nicht um mich, Mädchen. Zeig mir die Richtung!“, sagte Rosa und wieder schwang Ungeduld in ihrer heiseren Stimme mit.
„Wir könnten dich begleiten. Es reist sich angenehmer und sicherer in Gesellschaft!“, sagte Ou bedächtig. Melissa nickte zustimmend.
„Ich glaube, Mädchen, ich bin allein schneller“, gab Rosa zurück.
Sie wusste, dass dies nicht zutraf. Sie wusste, dass sie jede Hilfe brauchte, die sie würde bekommen können. Allein der Gedanke, diesen Weg mit einem seltsamen kleinen Mädchen und einer weißen Wölfin gehen zu wollen, die überdies sprach, machte ihr Angst. Wieder hatte sie das panische Gefühl von Unwirklichkeit.
„Wir wünschen dir viel Glück, Rosa!“, sagte die Wölfin, erhob sich und ging mit federndem Schritt zum Waldrand zurück. Drehte sich dort zurück. Melissa hob enttäuscht die Achseln und grüßend die Hand. Ging mit hängenden Schultern zu dem Tier.
Rosa spürte in sich das widerstreitende Gefühl, eine große Chance zu verpassen und wollte das seltsame Paar aufhalten. Dann waren sie eingetaucht in das dunkle Grün des Waldes. Sie war wieder allein.
„Himmelsauge", murmelte sie vor sich hin. Sie wusste nicht, ob das, was das Mädchen ihr erzählt hatte, den Tatsachen entsprach. Sie wusste nicht einmal, ob es dieses Mädchen und ihre weiße Begleiterin wirklich gegeben hatte. Je länger sie dort am Rand des Waldes stand, umso unwirklicher erschien Rosa inzwischen diese Begegnung.
Aber der Stachel war gesetzt.
Rosa hob den Kopf und sah hinüber zu den Gipfeln der Berge, die im Licht der aufgehenden Sonne goldrot schimmerten.
„Himmelsauge", sagte sie noch einmal, aber diesmal klang es anders.
‚Was habe ich schon zu verlieren? Der Stamm wird mich verstoßen. Ich werde ihn finden. Immerhin ist er der Vater meines Kindes!‘, dachte sie trotzig.
Natürlich war ihr klar, dass diese Gedanken einem klaren Zweck folgten. Natürlich betrog sie sich selbst damit. Aber sie hasste es, aufzugeben. Sie hasste den Gedanken, sich selbst vor den Alten demütigen zu müssen, nur um danach ihr Leben mit dieser für alle sichtbaren Narbe der Schuld leben zu müssen.
Rosa sah sich um. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf ihre Umgebung. Ein schmaler Pfad verlief am Waldrand zwischen Kieferngestrüpp den Hang hinab. Rosa folgte ihm. Sie fand die Spur des Mondmenschen wieder. Sie weigerte sich, ihn weiterhin Maurice zu nennen, selbst in ihren Gedanken.
Der Abstieg in das schmale Tal vor ihr wandte sich in engen Schleifen. Er war nicht besonders anspruchsvoll. Allerdings war Rosa erschöpft und mit sich uneins. Sie stolperte mehrfach über hervorstehende Wurzeln und Steine. Ihre Muskeln schrien nach Ruhe und ihr Magen nach etwas Handfesterem als ein paar Waldbeeren. Sie musste an das seltsame Gespräch mit dem Mädchen Melissa denken. Ganz gleich, ob sie wirklich existierte oder nur Produkt ihrer Fantasie gewesen war, in einem hatte sie recht gehabt: Sie, Rosa, war nur ungenügend gerüstet für einen Ausflug in die Berge. Sie hatte keinen Proviant dabei, ihre Kleidung würde sie kaum gegen das raue Klima dort oben schützen. Allein, irgend etwas trieb sie vorwärts.
Als sie den Talgrund erreichte, überwand sie sich und legte eine Rast ein. Ein schmaler Wasserlauf schlängelte sich zwischen Weiden und Erlen dahin. Das Wasser war kalt und schmeckte etwas bitter. Rosas Magen protestierte, aber sie behielt es bei sich. Sie kauerte am Rand des Baches und spürte, wie die Kälte in ihre Knochen kroch. Sie wollte schlafen und wusste, dass dies ausgeschlossen war. Sie musste etwas zu Essen finden und ein Feuer machen.
Mühsam richtete sie sich auf. Sie war eine gute Fährtensucherin und Jägerin gewesen, als sie aufgebrochen war. Wieviel war von diesen Fähigkeiten noch übrig? Sie wusste es nicht und fürchtete sich vor der Antwort. Das Wissen, dass davon vermutlich ihr Leben abhing, sickerte gleich dem Wasser des Baches kalt und bedrohlich in ihr Denken.
‚Du bist eine Priesterin, du bist die Tochter deines Vaters, der ein großer Jäger war. Du wirst dich dessen erinnern und nicht verzagen!‘, hörte sie die strenge Stimme der Ältesten in ihrem Kopf. Tonka war unerbittlich gewesen, wenn es um das Überleben in den Wäldern ging.
Sie ignorierte die Schmerzen in ihren Waden und Oberschenkeln. Sie missachtete das Pochen in ihrem Rücken. Sie schärfte ihre Sinne. An diesem Wasserlauf musste sie Spuren von Wild finden. Sie zwang sich zu leisen und bedächtigen Bewegungen. Ihre Blicke glitten tastend über den weichen Boden des Ufers. Nach ein paar Schritten ging es besser. Die Jagdinstinkte stellten sich ein. Sie entdeckte winzige Büschel von Fell an den Zweigen der Büsche, den Abdruck eines gespaltenen Hufes im Moos. Der Wildwechsel war nur für das geübte Auge zu erkennen, aber nach ein paar tastenden Schritten und ein wenig Suchen fand sie ihn und folgte den Spuren. Sie erreichte eine kleine Lichtung. Sonnenstrahlen fielen schräg auf das fast hüfthohe Gras. Rosas Bewegungen wurden lautlos. Sie streifte den Bogen von der Schulter und legte einen der Jagdpfeile an die Sehne.
Eine kleine Herde von Bergschafen graste friedlich keine zwanzig Schritte entfernt. Rosa beobachtete die Tiere, beobachtete die Bäume und das Gras. Es war fast windstill. Gab es Wächtervögel hier in diesem Tal? Ihre Rufe konnten eine solche Herde aufscheuchen. Rosa lauschte. Ihre Nerven vibrierten. Ihre Hände waren klamm, aber sie zitterten nicht.
Eines der beiden Lämmer entfernte sich etwas von der Herde. Rosa spürte, dies würde ihre Chance sein. Sie spannte den Bogen, erhob sich zielend auf ein Knie und schoss. Das Geräusch des Pfeils ließ die grasenden Tiere aufblicken. Das Lamm brach ohne Laut zusammen. Die Herde setzte sich in Bewegung, stob blökend und meckernd davon.
Rosa vernahm von links ein leises, kehliges Fauchen.
Sie kannte dieses Geräusch. Ein Luchs schien ihr ihre Beute vor der Nase wegschnappen zu wollen. Sie riss den Dolch aus der Scheide und lief gebückt hinüber zu dem Körper im hohen Gras. Sie hörte neben sich die Katze durch das Gebüsch laufen und machte sich auf einen Angriff gefasst. Ihr Bogen würde ihr kaum von Nutzen sein. Sie erreichte das Lamm und richtete sich auf. Für einen Moment sah sie das gefleckte Fell der Katze im Gras vor sich und hörte wieder das ärgerliche Fauchen. Dann entfernten sich die Geräusche. Der Luchs hatte offenbar eingesehen, dass ein Angriff ihn hätte teuer zu stehen kommen können.
Rosa brach das Lamm auf, opferte den Göttern und schlug dann den Kadaver aus dem Fell und zerlegte das Tier. Sie überlegte, dass sie die Decke eigentlich reinigen und gerben müsste, aber es blieb dafür keine Zeit. In ihrem Beutel war nur Platz für ein wenig Fleisch und Innereien, die sie in Teile des Fells einschlug. Sie ließ schweren Herzens den Rest für den Luchs zurück, der sicher nicht weit entfernt darauf wartete, dass sie sich entfernte.
Die Sonne stieg höher und ihre Strahlen hatten nun genug Kraft, die erschöpfte Frau zu wärmen. Das Licht gab ihr Zuversicht. Sie kehrte zu dem kleinen Bach zurück, folgte ihm ein paar hundert Schritte in das Tal hinein. Dann fand sie eine geeignete Stelle und entfachte ein Feuer. Brennholz fand sie ausreichend und bald hatte sie ausreichend Glut, um etwas von den Innereien zu garen. Am Bachufer wuchsen Kräuter. Schon bald aß Rosa vorsichtig in kleinen Bissen von der Schafsleber. Ihr Magen rebellierte nur kurz, dann nahm er die warme Speise dankbar an.
Müdigkeit überkam Rosa.
Die Sonne schien durch das lichte Dach der Blätter und malte warme Kringel auf ihren Körper.
Sie wusste, dass es gefährlich war, in diesem unbekannten Terrain einfach zu schlafen. Sie hätte sich einen geeigneten Unterschlupf suchen müssen, sich tarnen, ein paar Fallen aufstellen.
Sie wusste nichts über dieses Tal und seine Bewohner. Gab es andere Stämme jenseits ihres Waldes? Waren sie ihr womöglich feindlich gesonnen? Plötzlich wurde sich Rosa bewusst, wie wenig sie von all diesen Dingen wusste. Ihre Ausbildung war längst nicht abgeschlossen. Das ahnte sie inzwischen. Aber es half nichts. Sie musste sich allein in dieser Wildnis zurechtfinden. Aber vor allem musste sie schlafen, sich ausruhen, zu Kräften kommen.
Sie rollte sich nahe beim Feuer zusammen und schloss die Augen. Im Hinüberdämmern nahm sie sich vor, wieder wach zu werden, bevor die Sonne über der aufragenden Fichte stehen würde, die sie in ihrem Blickfeld hatte.
weiße Wölfin lag nicht weit entfernt im Gebüsch auf der anderen Seite des Baches. Ihre hellen Augen schauten aufmerksam. Melissa kraulte mit ihrer schmalen braunen Hand das Fell hinter dem Ohr.
„Ich muss zurück!“, flüsterte das Mädchen nahe am Ohr des Tieres.
„Ich weiß. Ich gebe auf sie acht“, gab Ou zurück. Das Mädchen verschwand.
Als Rosa die Augen aufschlug, stand die Sonne weit im Westen und berührte bereits die Wipfel der Bäume. Sie hatte sehr viel länger geschlafen, als sie die Absicht gehabt hatte.
Das Feuer war erloschen. Die Schatten krochen auf sie zu und sie begann zu frösteln. Sie versuchte auf die Beine zu kommen. Ihre Muskeln schrien auf, doch nach wenigen Schritten ließen die Schmerzen nach.
Sie erinnerte sich, wo sie die letzte Spur des Mondmenschen gesehen hatte. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie sie wiederfand. Ihre Priesterinnensinne schienen nachzulassen. Die Sonne sank hinter die Baumspitzen und blaugrüne Schatten hüllten die Welt ein.
Sie kämpfte sich durch den Wald, der hier im Tal vorwiegend aus Laubbäumen bestand, Erlen, Birken und glattstämmigen Buchen. Darunter einzelne Holzäpfel und Ahorn. Es roch nach Moos und Pilzen.
Einige Zeit folgte sie dem Lauf des murmelnden Baches. Dann stieg der schmale Pfad nach Süden hin an und der Wasserlauf machte eine Kehre nach Nordosten. Rosa machte kurz Rast, trank noch einmal von dem kalten, bitteren Wasser. Sie hatte einen Wasserschlauch dabei und füllte diesen, schlang ihn sich dann um die Hüfte.
Der Mond kroch langsam über den Horizont. Er war nicht mehr ganz rund und er wirkte kalt wie ein Totenschädel. Rosa sah zu ihm hinauf und versuchte sich zu erinnern, wie lange das her sein mochte, da sie und der Mondmensch auf jener heiligen Lichtung gewesen waren.
Es gelang ihr nicht so ganz.
Sie spürte ein leises Echo jenes Gefühls, das sie bis zum Bersten angefüllt hatte, als sie auf dem Altarstein gelegen hatten, Maurice in sie gepresst, zärtlich und ungestüm. Es schien ihr wie aus einem anderen Leben herüber zu wehen. Jetzt folgte sie einem Mondmenschen, halb Wolf, halb Mensch. Sie hätte nicht genau zu sagen gewusst, warum sie das tat. Aber das war inzwischen nicht mehr wichtig. Sie würde den Grund wissen, wenn sie ihn fand dort oben beim Himmelsauge.
Wenn sie ihn fand.
Jedoch die Spuren wurden wieder deutlicher. Das spornte Rosa an und da der Pfad sich stetig aufwärts schlängelte, war sie nach einiger Zeit ausgepumpt und verschwitzt.
‚Ich muss langsamer gehen, muss meine Kräfte einteilen. Ich benehme mich wie eine unreife Göre!‘, schalt sie sich selbst.
Als sie wieder bei Atem war, sah sie sich genauer um. Der Gebeinmond über ihr schüttete gespenstisches silbriges Licht über die Bäume. Sie war ein gutes Stück aus dem Tal heraus und näherte sich dem schmalen Rücken des Gebirgszuges der in südöstlicher Richtung verlief. Unter ihr verschwammen die Bäume im Nebel. Der Pfad führte weiter im Spitzen Winkel aufwärts. Sie sah deutlich den geknickten Zweig und am Boden den Fußabdruck. Sie stutzte, bückte sich, sah sich die Spuren genauer an. Dies hier war nicht zufällig entstanden!
‚Er legt die Spuren. Er will, dass ich ihm folge!‘, schoss es Rosa durch den Kopf. ‚Warum? Was hat er vor?‘
Sie konnte nicht verhindern, dass Misstrauen in ihr Denken einsickerte wie Wasser in ein undichtes Boot. Gleich darauf kamen ihr Zweifel. Woher sollte er gewusst haben, dass sie ihm folgen würde?
‚Er kennt dich zu genau‘, gab sie sich selbst die Antwort.
Bilder fluteten in ihr Denken, Bilder ihrer Kindheit und Jugend. Er war immer um sie gewesen, ausgenommen, wenn sie von den Priesterinnen unterwiesen wurde. Er hatte sie Fährten suchen und Jagen gelehrt.
Er war der Vater ihres Kindes!
Sie erschauerte bei diesem Gedanken. Ein Mondmensch! Wie hatte Sona zu ihr gesagt: „Du bist jetzt eine von ihnen!“ Er hatte traurig und hoffnungslos ausgesehen bei dem Satz. Rosa sah hinauf zum Mond, der sie ungerührt und kalt anblickte. Von dort würden weder Trost noch Zuspruch kommen. Sie trank von dem bitteren Wasser und machte sich wieder auf den Weg.
Der Aufstieg zum „Himmelsauge“ dauerte zwei Tage und als Rosa über den letzten Grat kletterte und das blaue Oval des Kraters vor sich sah, war sie am Ende ihrer Kräfte. Sie war am Tag zuvor gestürzt und hatte sich Hände und Gesicht aufgeschrammt. Ihre Lippen waren spröde und aufgesprungen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, eingerahmt von violetten Schatten.
Sie stand schwankend dort und ihr Schatten stürzte lang und schieferfarben vor ihr in den Talkessel. Der Abstieg auf brüchigem Geröll war gefährlich, der Pfad nur schwer zu erkennen. Obwohl sie langsam ging, keuchte sie. Ihre aufgerissenen Hände schmerzten, wenn sie sich abstützte. Die Wunden brachen immer wieder auf und bluteten. Sie merkte es kaum noch.
Sie hatte am Ufer des Sees eine Hütte ausgemacht.
All ihr Trachten galt nur noch einem Ziel: Diese Hütte zu erreichen, sich niederzulegen und zu schlafen – vielleicht, um nie wieder zu erwachen. Aber diesen Wunsch verwarf sie, sooft sie ihn verspürte.
Eine Hütte, das bedeutete, dort konnten Menschen sein. Rosa dachte nicht darüber nach, ob diese Menschen ihr womöglich feindlich gesonnen sein würden. Es war müßig, darüber nachzudenken, wenn diese Gedanken sie Kraft kosteten, die sie nicht mehr hatte.
Das „Himmelsauge“ war in den Legenden ihres Volkes ein heiliger Ort. Sie war Priesterin, sie würde hier in Sicherheit sein. Das wusste sie nicht, sie spürte es, wie ein Tier spüren mochte, ob es grasen durfte oder auf der Hut sein musste.
Als sie fiel, wähnte sie sich bereits zu sehr in Sicherheit. Der Boden unter ihr gab nach, sie rutschte den Abhang hinab, der zusehends steiler wurde. Scharfkantige Steine rissen an ihren Beinen und ihrem Rücken. Sie versuchte ihre Hände in den Untergrund zu krallen, die Schmerzen nicht achtend, die ihr den Arm hinauf zuckten. Dann war sie plötzlich im freien Fall, schlug mit einer Schulter hart gegen eine Vorsprung.
In ihrem Denken explodierten dunkele Sterne. Sie kam hart auf, rutschte noch einige Schritte weiter.
Blieb liegen.
Sie roch Wasser und merkte, dass sie entsetzlichen Durst hatte. Dann spülte der Schmerz über sie hinweg. Sie versuchte verzweifelt, nicht ohnmächtig zu werden, riss die Augen auf und sah vor sich die silbrige Wasserfläche des Sees. Dann wurde alles dunkel, als versänke sie in ihrem eigenen See des Vergessens.
Sie erwachte in einer Welle von Schmerz. Ihr Kopf schien auf doppelte Größe aufgebläht zu sein und pochte. Ihr Körper loderte geradezu. Gleichzeitig wurde sie von Schauern heimgesucht, die sie unkontrolliert zucken ließen. Sie versuchte verzweifelt, ihr Denken aus dem zähen Sumpf der Ohnmacht zu lösen.
Wo war sie? Was war ihr zugestoßen?
Langsam, sehr langsam und widerwillig kehrten Fetzen von Erinnerungen zurück.
Sie war beim Himmelsauge, soviel wusste sie. Sie war beim Abstieg ins Rutschen gekommen.
Plötzlich spürte sie wieder das kalte Entsetzen, als sie den Halt verloren hatte und senkrecht in die Tiefe gestürzt war. Sie hörte sich selbst aufstöhnen.
Etwas berührte sachte ihr Gesicht, etwas Kühles und Feuchtes. Sie wollte zurückzucken, aber wurde festgehalten.
„Sch...“, machte es nahe bei ihrem Ohr. Sie versuchte den Kopf in die Richtung des Geräusches zu wenden, aber ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Nacken. Sie sank zurück. Sie wollte die Augen öffnen, endlich die Augen öffnen.
„Hab Geduld, Rosa. Sie sind geschwollen“, sagte eine dunkle Stimme und ein feuchtes Tuch wischte über ihre Augen. Dann versuchte sie es erneut. Schmale Sicheln Licht drangen ihr in die Augen und lösten stechende Schmerzen in ihrem Kopf aus. Sie ließ die Lider wieder sinken. Sie spürte, dass sie auf einem Lager mit Heu und Fellen lag. Sie roch es. Langsam kehrten ihre Sinne zu ihr zurück. Dann kam auch der Durst zurück. Sie erinnerte sich, das Wasser vor sich gesehen und den gleichen brennenden Durst in ihrer Kehle empfunden zu haben.
Kühle Tropfen benetzten ihre Lippen. Rosa leckte sie gierig ab, spürte zugleich, wie schrundig und aufgesprungen sie waren. Eine weitere Stimme im Chor ihrer Schmerzen.
„Mehr!“, krächzte sie tonlos.
Sie spürte, wie ein Horn ihre Unterlippe berührte. Dann rann ihr ein feines kühles Rinnsal in den Mund. Sie schluckte, verschluckte sich, hustete, was wieder Sterne hinter ihren Augäpfeln explodieren ließ. Ihre rechte Seite krampfte sich vor Schmerz zusammen. Sie krümmte sich.
Eine Hand stützte ihren Rücken. Sie kam keuchend zu Atem, sank wieder auf die Felle. Sie fühlte sich schwach und elend und aus einem seltsamen Reflex heraus schämte sie sich ihres Zustandes.
Sie öffnete endlich die Augen.
In der Hütte herrschte Dämmerlicht. Irgendwo rechts von ihr flackerte ein Feuer. Sie hörte Holz leise summen und knacken.
Die Gestalt stand gegen das Licht, das durch das Fenster hereinfiel. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, aber die Statur, das lange Haar, das war alles unverkennbar: Vor ihr stand Maurice.
Ihre Gefühle wirbelten durcheinander. Sie fühlte sich hilflos und überfordert. Sie schloss die Augen wieder.
Es vergingen ein Tag und eine Nacht, in der Rosa immer wieder schweißgebadet erwachte, von Alpträumen verfolgt. Maurice, der Mondmensch, saß an ihrem Lager, tupfte ihr den Schweiß vom Gesicht und gab ihr zu trinken. Manchmal nur Wasser, meistens Tee, der oft bitter war.
Einmal zwang er sie, ein paar Löffel Suppe zu trinken. Aber ihr Hals war rau und schmerzte beim Schlucken.
Sie sprachen nicht. In den wenigen Momenten, in denen Rosa ganz bei sich war, trieb es sie, ihn zu bedrängen, ihm Vorwürfe zu machen. Aber ihr Hals tat weh und sie war sich am Ende nicht sicher, ob sie ein Recht dazu hatte, ihn zu bedrängen.
Sie überwand Fieber, Schwäche und Schmerzen. Ihre Wunden heilten. Irgendwann erhob sie sich, wartete, bis der Schwindel verflogen war. Sie fand ihre Kleidung und nach einigen Mühen trat sie vor die Hütte. Ein scharfer Wind fuhr ihr ins Gesicht und ließ sie fröstelnd. Sie atmete tief ein und spürte, wie die kalte frische Luft sie belebte.
Die Sonne stand als silbrige Scheibe zwei Hände breit über dem gezackten Rand des Kraters. Rosa wandte ihr das Gesicht zu, hob ihre Arme dem Gestirn entgegen und sprach ihr Gebet. Eine große Ruhe erfasste sie. Sie hatte plötzlich das Gefühl, nach der langen Zeit der Suche angekommen zu sein.
Sie spürte ihn, bevor er hinter sie trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie ließ es geschehen, aber sie brauchte ein wenig Überwindung. So standen sie und blickten über den See, den der scharfe Wind kräuselte und aufwühlte.
„Sie haben das Dorf heimgesucht. Mein Vater ist gestorben. Sie haben sich gerächt für das, was du ihnen angetan hast.“
Ihre Stimme klang scheinbar teilnahmslos. Seine Hand drückte ihre Schulter einen Moment, dann nahm er sie fort.
„Sie hätten uns beide getötet, wenn ich sie nicht in die Schranken gewiesen hätte. Wäre das besser gewesen?“
Sie sagte eine Weile nichts. Dann zog sie fröstelnd und ratlos die Schultern hoch.
„Die Ältesten haben mich ausgestoßen. Sie sagen, ich gehöre nicht länger zum Stamm. Ich wäre jetzt …“, sie stockte kurz, als ränge sie um Worte.
„Ich wäre jetzt eine von euch, weil ich dir angehört habe. Aber wer seid ihr? Kannst du mir das sagen? Bin ich jetzt ohne Stamm, ohne Heimat, ohne Recht zu leben? Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten uns getötet.“
Er gab hinter ihr ein tiefes Knurren von sich, ein kehliger, nicht ganz menschlicher Laut. Ein Laut, der sie veranlasste, sich nach ihm umzudrehen. Sie rechnete damit, dass sie ihn wieder in dieser Tiergestalt erblicken würde und wappnete sich. Aber da stand nur Maurice, der Mann, zu dem er neben ihr herangewachsen war. Er sah jedoch ernster aus, entschlossener und ein klein wenig wilder als noch an jenem Tag, da sie auf die Lichtung gegangen waren.
„Sie?“, fragte er mit Bitterkeit in der Stimme. Er breitete die Arme aus.
„Ich bin alles, was von meinem Stamm übrig ist. Den Rest von uns haben sie hingeschlachtet. Mich haben sie in den Trümmern der Hütten gefunden. Sie haben geglaubt, ich wäre von den Mondmenschen geraubt worden. Sonst …“. Er machte eine eindeutige Geste.
„Wer?“, fragte sie scharf. „Wer hat das getan?“
Er sah sie nur an. Sie wusste, wer.
Mondmenschen, so hatte man ihnen von klein auf erzählt, waren verflucht und besessen. Manchmal gelang es, sie zu heilen. Zumeist aber blieb nur, sie zu töten und so von ihrem Leid zu erlösen.
Maurice schien in ihren Gedanken zu lesen.
Er nickte nur, wandte sich ab und ging zur Hütte hinauf. Auf halbem Weg drehte er sich nach ihr um.
„Komm rauf. Wenn du dich erkältet, ist es um dich geschehen!“, rief er. Sie folgte ihm. Er schürte das Feuer, begann das Essen zuzubereiten. Sie stand neben der Tür und sah ihm zu.
„Wenn ich etwas kräftiger geworden bin, gehe ich wieder", sagte sie mit dumpfer, ungerührter Stimme. Er drehte sich nach ihr um, den Hornlöffel in der Hand. Es war seltsam, ihn am Herdfeuer hantieren zu sehen.
„Wo willst du denn hin?“, fragte er und sie hörte seine Ungeduld heraus.
„Weiß ich noch nicht. Aber …“, begann sie, aber er fiel ihr ins Wort.
„Aber was? Du trägst mein Kind in dir, Rosa. Wo willst du es zur Welt bringen? In der Wildnis, als Ausgestoßene?“
„Woher weißt du das?“, fragte sie nur.
„Ich bin ein Mondmensch. Unsere Sinne sind schärfer als die anderer Völker. Ich kann es riechen, dein Schweiß hat den Geschmack.“
Sie löste sich von der Wand, ging auf ihn zu.
„Du hast meinen Schweiß …“, sie suchte nach Worten, „ … gekostet?“
„Nein. Ich habe ihn geschmeckt. Du weißt, dass ich das tun musste um zu wissen, wie schwer das Fieber dich verbrennt“, erklärte er mit wachsender Ungeduld in der Stimme. Dann wandte er sich ihr ganz zu. Sein Gesicht war finster und wirkte entschlossen. So hatte sie es nie zuvor gesehen, nicht einmal bei der Jagd.
„Du klingst abweisend und anklagend, Rosa. Warum bist du hergekommen, wenn du so empfindest? Welchen Grund hast du, so zornig auf mich zu sein?“
„Du hast mich im Stich gelassen, Maurice!“, rief sie aufgebracht. Sie wusste, das war vermutlich nicht gerecht, aber sie empfand seine Frage nicht als weniger ungerecht.
„Ich wäre dir keine Hilfe gewesen, Rosa, glaub mir!“, entgegnete er mit einem humorlosen Lachen.
„Aber ich vielleicht für dich?“, erwiderte sie.
„Du wolltest mich heilen. Nicht meine Wunden, meine Natur. Du glaubst, ich wäre besessen, krank. Aber ich bin nur anders als du.“ Er sprach jetzt ruhiger.
„Warum hast du es mir nicht früher gesagt?“, fragte sie und sah ihn an, eine Bitte in den Augen.
„Weil ich es nicht wusste. Es ist dort auf der Lichtung zum ersten Mal geschehen. Ich war selbst völlig überrascht. Es passierte so viel mit mir in diesem Moment. Alles Denken, alles Fühlen änderte sich. Es gingen Tore auf und plötzlich hatte ich die Erinnerung von Generationen meines Volkes in mir.“
„In diesem Moment wollte ich nur eins: mit dir vereint sein. Ich dachte wirklich, das könnte dich retten!“ Sie schüttelte bei diesen Worten verständnislos den Kopf. Sie war so blind und unwissend gewesen!
„Das hat mich entsetzt und angezogen zugleich. Du hast mir so viel bedeutet und ich hatte gar keine Hoffnung, du könntest mehr sein als meine Vertraute.“ Er sprach jetzt leise und rang mit den Worten wie mit den Erinnerungen.
„Bedeute ich dir jetzt nichts mehr?“
Er ließ sich Zeit mit der Antwort, reichte ihr statt dessen eine Schüssel mit Brühe und Fleisch. Sie aßen schweigend.
„Du bedeutest mir sehr viel", sagte er schließlich und sah ihr ins Gesicht.
„Aber alles hat sich verändert. Du hast dich verändert und ich mich auch. Ich muss das alles doch erst begreifen.“
Sie nickte.
„Was wollen wir nun tun? Was willst du tun?“, fragte sie.
„Gesund werden. Meine Wunden sind noch nicht sehr lange geschlossen. Du selbst bist auch noch nicht wieder bei Kräften“, sagte er sachlich.
„Aber wir müssen entscheiden, wie es weitergehen soll, oder nicht?“
„Das werden wir, wenn Die Zeit gekommen ist", entgegnete er und begann, das Geschirr zu reinigen. Sie trat hinter ihn und als er sich zu ihr umdrehte, nahm sie ihm die Schale aus der Hand, stellte sie vorsichtig auf den Tisch und legte ihm die Arme um den Hals.
„Ich habe dir Unrecht getan. Es tut mir leid“, flüsterte sie und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss scheu und Rosa spürte, wie er sich spannte. Sie ließ ihn los und sah Bedauern in seinen Augen.
In der Nacht teilten sie das Lager, scheu, behutsam aber mit dem beginnenden Gefühl von Geborgenheit. In den folgenden Nächten wagten sie sanfte Berührungen, Tieren gleich, bei geringstem Anlass zu fliehen bereit.
Sie genasen und richteten sich ein dort oben in der dünnen Luft und den eisigen Stürmen. Das seltsame war, dass trotz der Kälte der See nicht einfror. Er schien immer die gleiche Temperatur zu haben.
Wild gab es weniges hier oben und auch der See hatte wenig Fisch zu bieten. Maurice blieb oft tagelang fort, wenn er zur Jagd aufbrach. Rosa fand bei ihren Sachen den silbernen Dolch, jenes Insignium ihrer Priesterschaft und sie dachte an das, was Maurice zu ihr gesagt hatte: dieser Ort hier war das Heiligtum ihres Glaubens. In den langen Tagen, da sie allein und sich selbst überlassen war, nahm sie ihre heiligen Handlungen wieder auf, betete zu der stumpfen, silbernen Sonne, die sich nie besonders hoch über den Rand des Kraters erhob.
Rosa spürte, wie die Kraft in sie zurück kehrte, in ihren Körper wie in ihr Denken und Fühlen. Sie trat immer öfter wieder in Dialog mit der Großen Mutter, versank in Trance, um Bilder zu empfangen, Gesichte aus ferner Vergangenheit und ferner Zukunft. Sie vermochte nicht zu sagen, was sie wann sah.
Keiner Priesterin war dies je gelungen.
Der Mond wurde schmal, verschwand und wurde wieder voller. In den wenigen windstillen Nächten, wenn sich über dem Krater des Sees ungezählte Sternenwelten ausbreiteten, konnte Rosa sehen, wie sein Gesicht wieder Gestalt annahm.
Sie beobachtete Maurice, um heraus zu finden, ob sich Unruhe oder andere Anzeichen der kommenden Veränderung bemerkbar machen würden. Sie hatte viele ihrer Fähigkeiten als Priesterin zurückgewonnen, ihre Sinne geklärt und geschärft. Aber sie konnte keinerlei Zeichen erkennen.
„Du sorgst dich, ich könnte mich wieder in diese andere Gestalt verwandeln?“, fragte er sie geradezu. Natürlich hatte er ihre Blicke bemerkt. Sie schlug die Augen nieder, als hätte sie etwas Unrechtes getan und wäre ertappt worden. Dann nickte sie stumm.
„Ich werde mich nicht verwandeln. Nicht, wenn du es nicht willst und wenn du dich vor mir fürchtest. Es gibt aber auch keinen Grund dazu, sich zu fürchten.“
„Woher weißt du das, Maurice? Du hast selbst gesagt, dass es damals auf der Lichtung das erste Mal für dich war. Woher kannst du wissen, dass ich mir keine Sorgen machen muss?“
„Ich weiß es eben“, sagte er und sah sie an. Lag da eine trotzige Herausforderung in seinem Blick? Nein. Er sah sie nur an, forschte in ihrer Miene.
„So, wie ich eben weiß, dass ich dein Kind unter dem Herzen trage?“
„Wahrscheinlich“, antwortete er nach einer kleinen Pause.
„Roon“, sagte er dann, als er auf dem Weg hinaus war, um Feuerholz zu holen. Sie sah auf und in ihren Augen stand eine Frage.
„So ist mein Name. Maurice haben die Männer mich genannt, die mich fanden und mitnahmen.“
„Warum hast du das nicht gesagt, als du es konntest? Roon...“, sie schmeckte den Namen auf der Zunge. Er war gut.
„Weil ich es erst seit der Nacht auf der Lichtung weiß. Ich weiß vieles erst seit dieser Nacht.“ Er schlüpfte hinaus in die Nacht und kam gleich darauf mit einem Arm voll Holz zurück.
„Ich muss los und Holz machen. Unser Vorrat geht zur Neige. Ich fürchte, wenn der Winter hereinbricht, wird es schwer werden, den Krater noch zu verlassen.“
„Gibt es wirklich niemanden mehr von deinem Volk?“, fragte sie später. Sie war mit dem Ausbessern von Kleidung beschäftigt. Er saß an dem grob gezimmerten Tisch und schnitzte.
„Das weiß ich nicht“, sagte er einfach, ohne aufzustehen.
„Wirst du sie suchen gehen?“, fragte sie, einer Eingebung folgend.
„Wozu? Ihr seid mein Stamm, ward es zumindest“, sagte er nach einer kleinen Pause. Er klang nicht sehr überzeugt.
„Nach dem, was passiert ist, werden sie dich nicht mehr bei sich dulden. Dich nicht und mich auch nicht", erklärte sie mit Resignation in der Stimme.
„Wir sind nicht dafür verantwortlich, was die Wölfe getan haben.“ Das war eine Feststellung. Er äußerte sie ohne große Gefühlsregung.
„Sie haben dich gespürt, sie haben dein Erscheinen gespürt. Das hat sie angelockt“, erklärte sie und ihre Stimme bebte bei der Erinnerung.
„Wölfe waren immer voller Neid auf die Menschen meines Volkes“, erinnerte er sich.
„Das weißt du, oder vermutest du es?“, wollte Rosa wissen.
„Ich weiß es. Ich weiß es von meinen Ahnen und ich habe es in den Erinnerungen der Wölfin gesehen, als ich sie ...“ Er sprach nicht zu Ende.
„... als du sie besprungen hast, um dem Rudel deine Macht zu demonstrieren?“, beendete Rosa den Satz als Frage, aus dem etwas wie Verachtung und Bitterkeit mitschwang.
‚Was, wenn die Wölfin ihm Wolfsjunge gebar?‘, überlegte sie und der Gedanke erschreckte sie.
Was, wenn dieser Sohn, den sie in sich trug, ein Wolf war und kein Mondmensch? War das möglich? Der Gedanke ließ sie schaudern.
„Ja“, sagte er einfach, „Du solltest dich hinlegen und ausruhen.“, fügte er hinzu, „Du wirst deine Kräfte noch brauchen.“
„Warum? Was meinst du?“, fragte sie und ließ ihre Arbeit sinken.
„Wir werden dein ... unser Heiligtum aufsuchen“, entgegnete er und sah zu ihr hinüber.
„Das darf ich nicht. Ich bin ausgestoßen“, erwiderte sie. Ihre Blicke trafen sich.
„Wer sagt das, Rosa? Du bist die Priesterin und du trägst den Dolch. Wir gehen zum Heiligtum und bitten um Rat.“
„Vielleicht werden wir dort sterben“, sagte sie halblaut.
„Dann ist es so. Aber ich glaube es nicht.“
Danach schwiegen sie.
In der Nacht liebten sie sich.
Zwei Tage später verlor sie ihren Sohn. Sie erwachte im Morgengrauen von heftigen Stichen im Unterleib. Sie versuchte, sich einzureden, dies wären Blähungen, aber als Krämpfe begannen, sie zu schütteln, konnte sie das Stöhnen nicht mehr unterdrücken.
„Das Kind?“, fragte Roon neben ihr. Er klang besorgt und etwas hilflos.
„Ja", presste sie zwischen den Zähnen hervor. Als sie die klebrige Flüssigkeit zwischen den Beinen spürte, schrie sie ihre Trauer und Angst heraus.
Er halfen ihr, stumm, umsichtig und mit starrem Gesicht.
Sie war eine Ewigkeit wie betäubt. Die Blutung verebbte, die Schmerzen versandeten zu einem unterschwelligen Ziehen. Sie hockte blicklos auf den Fellen des Lagers, aß nichts, trank nichts, sprach nicht.
Womöglich wartete sie auf den Tod, aber der kam nicht.
Am dritten Tag gab er seine Zurückhaltung auf. Er drückte ihr eine Schale mit Brühe in die Hand. Sie sah mit leerem Blick durch ihn hindurch.
„Ich werde nicht dabei zusehen, wie du hier vor Selbstmitleid stirbst. Zwing mich nicht, dir das mit Gewalt einzuflößen.“ Er klang gefährlich ruhig.
„Es war auch mein Sohn", setzte er bitter hinzu.
Ihre Augen, diese verwilderten, trauerverschleierten Augen füllten sich mit Tränen. Mit bebenden Händen hob sie die Schale an die Lippen und trank in kleinen Schlucken.
Sie erhob sich, schwankte. Er griff nach ihr, stützte sie. Sie riss sich los, stürzte aus der Hütte. Er hörte sie sich würgend übergeben. Ihr Klagelaut schnitt ihm ins Herz. Sie kam langsam mit unsicheren Schritten zurück in die Hütte. Er drückte sie zurück auf das Lager.
„Du musst trotzdem etwas zu dir nehmen", sagte er und hielt ihr wieder die Schale hin. Sie seufzte ergeben und nippte an der noch warmen Flüssigkeit. Diesmal behielt sie es bei sich.
Sie sprachen nicht über ihren Verlust. Rosa fühlte diesen kalten, seelenlosen Fatalismus Besitz von sich ergreifen und in Roons Augen sah sie ähnliches.
Sie verbrachten ihre Tage damit, ihr Leben in diesem wilden Kessel zu bestreiten. Holten Holz für den nahenden Winter, jagten, gerbten Felle und fertigten Kleidung.
Rosa spürte, wie ihr mit jedem Tag etwas von ihrem Priesterinnentum entglitt. Sie spürte es mit seltsam ferner Wehmut.
Die ersten schweren Herbststürme peitschen den See und rüttelten an der Hütte.
Roon sah Rosa nachdenklich an.
Dann, eines Morgens nach dem Frühstück, begann Roon, Ausrüstung zusammen zu packen, Proviant und Waffen.
Rosa sah ihm ein Weile zu, dann fragte sie: „Wohin willst du? Es sieht aus, als wolltest du eine Woche fortbleiben.“
Roon sah sie über die Schulter hinweg an und seine Augen wirkten ungeduldig.
„Es ist hoch im Jahr. Der Winter kommt früh. Wenn du zum Heiligtum willst, müssen wir aufbrechen.“
„Warum hast du gestern nichts gesagt?“, fragte sie kopfschüttelnd.
„Weil du es wahrscheinlich abgelehnt hättest. Du musst endlich aufwachen!“
Das letzte sagte er fast vorwurfsvoll. Sie sah ihn einen Moment nachdenklich an. Dann nickte sie und begann, sich für den Marsch zu rüsten.
Es war noch früh, die Sonne berührte im Osten gerade den Rand des Kraters, dort, wo ein Abbruch eine Scharte in den gezackten Rand geschlagen hatte. Über dem See stand wabernder Nebel. Die Luft war kühl und schwer von Feuchtigkeit. Es herrschte eine wattige Stille.
Sie folgten dem Ufer des Sees in Richtung Süden. Es war übersäht mit rundgeschliffenen schwarzen Kieseln, die das Laufen erschwerten.
„Woher weißt du, wohin wir müssen?“, fragte sie, nachdem sie ein Weile schweigend durch den Morgen gestolpert waren.
„Der Weg in die andere Richtung endet beim Steilufer. Es gibt nur diesen Weg!“, erklärte er ihr gleichmütig.
Es leuchtete ihr ein, aber befriedigte sie nicht besonders.
Sie sah sich um. Die Böschung rechts von ihnen wurde zunehmend höher und steiler. Der Strand vor ihnen blieb flach und steinig, war aber bald nur noch wenige Schritte breit.
„Du bist die Priesterin, Rosa. Kannst du es nicht spüren? Hast du keine Fühlung zu diesem Ort?“, fragte er nach einer Weile, ohne sich umzusehen.
Sie lauschte dem nach. Machte er sich lustig über sie?
Nein, sein Humor war von anderer Natur. War es bisher zumindest gewesen. Sie dachte an die Zeiten zurück, in denen er ihr mit achtungsvoller Zurückhaltung begegnet war. Freilich nicht, wenn sie zusammen jagten. Da war er der unangefochtene Anführer und duldete keinen Widerspruch.
Konnte er sich in so wenigen Wochen so sehr verändert haben? Waren Mondmenschen, wenn sie sozusagen ausgebrochen waren, plötzlich andere Wesen?
Rosa dachte Wesen, nicht Menschen.
Sie erinnerte sich an die Gestalt, die auf sie zugetrabt war, als sie ihn mit ihrer Priesterstimme gerufen hatte. Sie hatte nur wenig Menschliches an sich gehabt in diesem Moment.
Und doch hatte sie sich auf dem Altarstein mit ihm vereinigt. Wenn sie jetzt daran dachte, verstand sie immer weniger, was sie dazu getrieben hatte.
Nun hatte sie die Frucht dieser Vereinigung verloren, ihr Körper hatte sie abgestoßen.
Vielleicht hatten die Götter nicht gutgeheißen, was geschehen war auf dem Opferstein?
Hatte möglicherweise das Heiligtum selbst bewirkt, dass sie ihren Sohn verloren hatte?
War dessen Stimme ein für alle Mal verstummt für ihre, Rosas Ohren und Sinne?
Sie war, wenn das stimmte, längst keine Priesterin mehr, ganz gleich, ob sie den Dolch noch bei sich trug und in der Lage war, sich in den transzendenten Zustand einer Priesterin zu versetzen.
Die Zweifel fraßen an ihr und sie spürte, wie sie unsicher wurde. Mehrmals trat sie fehl und wäre um ein Haar gestürzt. Roon blieb stehen, sah sich nach ihr um. Sein Gesicht zeigte ein wenig Besorgnis.
„Vielleicht ist es doch zu früh für diesen Marsch. Du bist noch nicht stark genug dafür. Sollen wir umkehren?“
Rosa sah auf. Sie zögerte einen kleinen Moment, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Sie wies nach vorn. Er nickte und ging weiter.
Die Sonne stieg höher, ein leichter Wind aus Westen begann, den Nebel über der Wasserfläche zu vertreiben.
Rosa spürte es, noch bevor Roon vor ihr den Arm hob und hinüberwies.
Aus dem Dunst erhob sich eine Meile weit draußen auf dem See die Insel. Sie war flach, Krüppelkiefern duckten sich vor dem scharfen, kalten Wind, der hier oft blies. Aus dem Dickicht ragte fast im Zentrum des Eilands ein Gebäude auf.
Es sah alt und verwittert aus. Aber Rosa glaubte die Kraft zu spüren, die es aussandte, die sie zu rufen schien.
„Wir müssen dort hinüber!“, rief sie.
„Suchen wir einen Weg", sagte er halblaut, als sie zu ihm aufschloss. Sie sah ihn an, fragend.
„Wir sind nicht allein. Wir werden beobachtet", sagte er, ohne die Lippen zu bewegen. Dann spürte Rosa es auch. Eine seltsame Präsenz, nicht ganz menschlich, aber auch kein Tier.
„Ein Mondmensch?“, fragte sie zurück.
„Nein. Größer. Fremdartiger“, gab er zurück. Seine scharfen Augen blickten die steinige Böschung hinauf.
„Gefährlich?“, fragte sie flüsternd.
„Möglich. Fragen wir ihn!“, sagte Roon laut. Er deutete hinauf zu einem Felsvorsprung.
„Zeig dich. Wir wissen, dass du dort oben bist. Wir sind friedliche Menschen.“
Es blieb still. Nichts regte sich. Dann kullerten ein paar kleine Steine die Böschung hinab.
Roon spannte sich. Rosa hatte den Bogen von der Schulter gestreift und zwei Pfeile in der Hand.
„Ihr seid friedliche Menschen?“, erklang eine tiefe, kollernde Stimme hinter Rosa.
Sie fuhr herum und hatte im selben Moment den Pfeil auf der Sehne. Roon war mit zwei Sätzen neben ihr, den Speer zum Wurf bereit. Rosa stieß einen leisen Schrei aus. Roon ließ den Speer langsam sinken.
Es war ein zotteliger Riese, der mit dieser furchterregenden Lautlosigkeit hinter ihnen aufgetaucht war. Rosa schien wie erstarrt. Sie versuchte zu sprechen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Roon stieß seinen Speer in den steinigen Boden und sank auf ein Knie. Sein Gesicht war grau geworden. Er schlug die Augen nieder.
„Ein seltsames Paar, das muss ich schon sagen. Ein Mondmensch und eine“, die tiefe Stimme machte eine fast amüsierte Pause, „Menschenfrau. Eine Priesterin gar?“ Es klang nur sehr wenig nach einer Frage.
„Es war nicht unsere Absicht, dich zu stören. Wir sind auf dem Weg zum Schrein unserer Göttin“, erklärte Roon und seine Stimme klang heiser.
„Es ist vielleicht ihre Göttin, Mondmensch, aber sicher keine Göttin, die dein Volk verehrt. Aber das kümmert mich nicht. Ich finde, jeder sollte glauben, was er für richtig hält. Erhebe dich, Krieger. Ich bin nicht euer Feind.“
Der Riese trat auf die beiden Reisenden zu. Rosa registrierte fasziniert und noch immer starr vor Schreck, wie mühelos und gewandt er seine mächtigen Füße auf dem Geröll des Ufers setzte. Zugleich wurde sie der mächtigen Klauen gewahr, die diese Füße bewehrten.
Sie hatte die Alten von diesen Wesen reden hören. Legenden rankten sich um ihre Existenz. Rosa hatte nie so recht glauben wollen, dass es sie wirklich gab. Nun trat eines von ihnen auf sie zu, ragte zwei Männer hoch über ihr auf. Sie konnte den seltsamen Geruch seines Felles wahrnehmen, das von sehr hellem Grau war. Sie verspürte den irrwitzigen Wunsch, ihre Hände in dieses dichte Haarkleid zu vergraben und es überlief sie ein Schauer.
„Du glaubst deinen Augen nicht recht zu trauen, Weib. Das solltest du aber. Ich bin Kalih, ein Schneebold, wie man uns in deiner Sprache nennt. Wir selbst nennen uns Yeti. So haben uns die Weisen Alten vor drei Zeitaltern genannt.“
Rosa wagte es kaum, ihm ins Gesicht zu blicken. Es wurde von bedrohlich wirkenden Fangzähnen beherrscht, die ihm aus Ober – und Unterkiefer ragten. Er hatte tief in den Höhlen liegende Augen von sehr heller Farbe, deren Blick sie bannen konnte, wie sie sogleich spürte. Er wirkte über die Maßen fremd und auf seine ruhige Art mächtig. Er legte ihr seine gewaltige Pranke mit unglaublicher Sanftheit auf die Schulter und zwang sie auf fast magische Weise , zu ihm aufzusehen. Roon machte neben ihr eine rasche Bewegung und Kalih ließ ein rollendes Knurren vernehmen.
Dann begegneten sich ihre Blicke. Rosa sah mit Erstaunen, dass er seine rechte Braue etwas hochgezogen hatte und lächelte. In der Tat, sie sah, nein eher spürte sie seine Heiterkeit. Plötzlich flutete Ruhe und eine lange entbehrte Geborgenheit in ihr Herz. Ihr entglitten Bogen und Pfeile und sie schloss die Augen.
Roon neben ihr rührte sich, stand auf. Er fasste den Speer fester. Rosa spürte es und Bedauern drang in sie ein wie kaltes, übelriechendes Wasser.
Sie öffnete die Augen. Es bereitete ihr Mühe, fast Schmerzen. Sie sah zu Roon hinüber. Er hatte Wolfsaugen. Nicht exakt jene, die er gehabt hatte, als sie ihn auf dem Opferstein in sich aufgenommen hatte. Aber ähnlich genug, besorgt zu sein.
Kalih hob seinen Arm. Er streckte Roon die Innenflächen beider Pranken entgegen.
‚Sieh her, meine Absichten sind friedlich und lauter‘, schien die Geste sagen zu wollen.
Rosas Blick glich einer stummen Bitte. Roon nickte unmerklich. Die Spannung wich.
„Ich bin der Wächter des Heiligtums“, sagte Kalih und richtete sich dabei zu voller Größe auf.
„Sie mag nicht die Göttin meines Volkes sein, Yeti, aber es würde mich wundern, wenn Schneebolde zu einer Göttin beteten“, sagte Roon und in seiner Stimme schwang gereizter Spott mit.
„Weißt du, Mondmensch, unsere beiden Völker haben eine Menge gemeinsam. Menschen sehen uns mal als Tiere und Monster. Im besten Fall ein andermal als Kuriosität, die man auf Jahrmärkten zur Schau stellt. Du solltest ihre Vorurteile nicht leichtfertig übernehmen.“
Kalih klang eindeutig belustigt, aber seine grollende Stimme wirkte auch bedrohlich. Rosa sah hoch in sein Gesicht. Ihre Blicke begegneten sich erneut. Wieder flog sie dieses Gefühl von Ruhe an, fast wie eine Vision. Sie widerstand ihm. Machte dieser haarige Riese dies absichtlich? Lullte er sie ein? Mit diesen hellen Augen?
Wie auch immer. Das hier musste ein Ende haben, bevor es ernst wurde.
„Hört zu ihr beiden. Die Sonne steht hoch und wir haben noch eine Strecke Wegs. Wollen wir uns das für den Rückweg aufheben?“
„Wer sagt, dass ihr weiterziehen könnt, Priesterin?“, entgegnete Kalih und noch immer klang er, als würde er sogleich in ein mächtiges, kollerndes Gelächter ausbrechen, das das Geröll der Böschung würde in Bewegung geraten lassen.
„Wenn du einer Priesterin, die den silbernen Dolch führt, den Weg zu ihrer Göttin verwehren willst, frage ich mich, ob du der Richtige bist, den Schrein zu bewachen.“ Damit drehte sie sich um und ging davon.
„Warte!“ Das war kein Befehl. Es klang aber auch nicht nach einer Bitte. Rosa sah zurück.
„Lasst uns gemeinsam essen. Ihr könnt dann morgen zum Schrein aufbrechen.“
„Du lädst uns zum Essen ein?“, fragte sie und nun war es an ihr, amüsiert zu klingen. Sie sah Roon an, der zwischen ihr und dem Yeti stand und irgendwie unschlüssig wirkte.
„Was denkst du?“, wollte sie wissen.
„Ich denke, dass der Schneebold uns etwas Wichtiges zu sagen haben wird“, entgegnete er nach kurzem Zögern.
Nun lachte Kalih tatsächlich. Es kullerten ein paar Kiesel zum Strand hinab.
„Allerdings frage ich mich, wohin er uns denn einladen will.“ Roon machte eine ausholende Bewegung mit den Armen, deren Bedeutung nicht misszuverstehen war.
„Der Schneebold heißt Kalih und du solltest ein wenig freundlicher sein, Roon!“, stieß sie halblaut hervor. „Erst kniest du vor ihm und auf einmal behandelst du ihn wie einen Wilden. Ich glaube fast, er hatte Recht mit dem, was er vorhin über gewisse Vorurteile gesagt hat.“
Roon funkelte sie mit seinen fast farblosen Augen an, dann zuckte er wortlos die Schultern.
„Also wir nehmen deine Einladung gern an. Gehst du voraus?“ Sie sah zu dem Riesen hinauf. Der nickte und setzte sich in Bewegung. Blieb stehen und wandte sich halb zu Roon um.
„Du weißt, dass du mich mit deinem Speer nicht töten kannst, nicht wahr? Verletzten vielleicht, aber nicht töten.“
„Ich will dich nicht ...“, setzte Roon an, aber Kalih drehte sich ab und ging mit seinen seltsam wiegenden und anmutigen Schritten auf Rosa zu.
„Er will dich nur beschützen“, raunte er, als er auf ihrer Höhe war. Dann schritt er aus.
Sie hatten Mühe, ihm zu folgen. Er führte sie über die von Geröll übersäte Böschung bergan, fort vom See. Rosa und Roon tauschten skeptische Blicke. Ihr kam es inzwischen nicht mehr wie ein guter Einfall vor, dem Schneebold so rasch vertraut zu haben.
„Wohin führst du uns, Kalih? Dafür, dass du das Heiligtum bewachst, ist deine Höhle sehr weit entfernt davon“, bemerkte Rosa schließlich. Der zottige Riese blieb stehen, wandte sich halb zu ihr um.
„Woher willst du wissen, dass ich in einer Höhle hause wie ein Tier?“, fragte er und seine tiefe Stimme klang eine Spur schärfer als zuletzt. Sie entgegnete nichts und er ging wortlos weiter.
Sie erreichten einen Pfad, der unterhalb des Grates, der den Rand des Talkessels bildete, parallel zum unter ihnen liegenden Ufer weiterführte. Rosa und Roon schlossen auf.
„Ist es noch weit?“, erkundigte sich Rosa, bemüht, versöhnlich zu klingen.
Sie bekam keine Antwort.
Der Pfad senkte sich und strebte wieder dem Ufer zu. Dann standen sie plötzlich vor einem steinernen Gebäude. Es war in den Hang gebaut und hatte zwei Stockwerke, ein mit irdenen Ziegeln gedecktes Dach und einen recht imposanten Kamin der den First des Daches überragte.
Eine in die Böschung eingelassene Treppe aus glattgeschliffenen Steinen führte hinab. Dann standen die Drei vor einem Rundbogen, der von einer zweiflügeligen Tür aus massivem Holz gefüllt war.
„Hier wohnst du?“, entfuhr es Roon erstaunt.
„Hier wohne ich. Findest du, es ist als Behausung einem Wächter des Heiligtums angemessen?“ Kalihs Spott war unüberhörbar, aber er klang gutmütig.
Er lehnte sich gegen die Holztür und drückte sie auf. Mit einem widerwilligen Knirschen gaben die Flügel nach.
Dann drehte er sich zu seinen Begleitern herum und machte eine einladende Geste, die, wie Rosa glaubte, nicht ganz ernst gemeint war. Roon und sie traten an ihm vorbei ins Innere des Hauses, das im Halbdunkel lag.
„Sei auf der Hut!“, knurrte Roon leise. Rosa nickte fast unmerklich.
„Euer Misstrauen beleidigt mich!“, rief Kalih vom Tor her. Dessen Flügel schlossen sich mit demselben Knirschen.
Der Hausherr trat neben sie.
„Wenn ich euch etwas Böses wollte, glaubt ihr, ich würde es euch ausgerechnet in meinem Heim zufügen?“
„Ist es nicht praktisch, wenn das Essen aus eigener Kraft bis ans Herdfeuer kommt?“, entgegnete Roon sarkastisch. Diesen Ton kannte Rosa nicht an ihm.
„Ich bin ein Feinschmecker, Mondmensch. Es käme mir nicht in den Sinn, ein Wesen wie dich zubereiten zu wollen.“
„Wollen wir damit aufhören?“, fragte Rosa und sah von Roon zu Kalih und wieder zurück. Kalih hob ergeben die Arme zu einer versöhnlichen Geste. In Roons Augen stand noch immer Ablehnung und Skepsis. Aber er schwieg.
Rosa betrachtete den Raum, in dem sie sich befanden. Er war groß, viel größer, als sie es von den Hütten ihres Stammes gewohnt war. Es gab einen großen offenen Kamin, in dem die Glut in dunklem Rot waberte. Davor hing ein großer bauchiger Kessel an einer Kette von der gewölbten Decke.
Die Wände waren zum größten Teil mit Fellen und kunstvoll gewebten Teppichen bedeckt. Dicke gelbe Kerzen auf mächtigen geschmideten Kandelabern verbreiteten ein sanftes Licht. Es gab einen mächtigen, ovalen Tisch aus hellem Holz, an dessen linker Seite eine Bank stand, die der Wölbung des Tisches folgte und aus dem gleichen Holz zu bestehen schien. Ihr gegenüber standen drei etwas klobige Stühle, die mit zottigen Fellen behangen waren.
Auf dem Tisch standen verschiedene Gefäße aus einem rötlich schimmernden Material. Rosa staunte. In einer flachen Schale sah sie tatsächlich Früchte liegen. Früchte, von denen sie oft nur aus Erzählungen der Priesterinnen wusste. Kalih folgte ihrem neugierigen Blick.
„Nehmt Platz, bedient euch, wenn ihr mögt“, forderte er mit seiner tiefen, kollernden Stimme auf. Hier in dem sanften Dämmer wirkte sie warm und fast schmeichelnd.
„Ich werde Sora rufen. Sie wird sich um unser Essen kümmern.“
Kalih schob einen der Teppiche neben dem Kamin zur Seite und trat durch eine Türöffnung. Roon und Rosa waren plötzlich allein.
„Wir müssen trotzdem auf der Hut sein“, sagte er leise zu ihr, während sie auf der Bank Platz nahmen. Sie hörte seine Besorgnis, aber auch eine Ungeduld, die sie nicht verstand.
„Ja, das müssen wir. Aber wir dürfen darüber nicht unseren Anstand vergessen. Er ist unser Gastgeber und er hat uns bisher keinen Grund gegeben, ihm unser Misstrauen offen zu zeigen“, entgegnete Rosa sanft. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Er sah sie daraufhin überrascht an. Sie berührten einander noch immer selten.
„Ich werde es mir merken“, sagte er nach kurzem Zögern. Sie lächelte ihn an.
„Wer mag diese Sora sein?“, fragte sie und es war nicht klar, ob sie sich diese Frage nicht nur selbst gestellt hatte. Aber in diesem Moment bewegte sich der Teppich vor der Türöffnung und Kalih kam zurück. Er hielt den Teppich fest und eine weitere Gestalt kam in den Hauptraum.
„Sora, das sind unsere Gäste heute“, sagte Kalih und Rosa hörte, wie geradezu zärtlich der Schneebold den Name aussprach.
Sora war eine Frau in einem Jagdgewand aus feinem Leder, das über und über mit Perlen und Stickereien verziert war. Ihr langes Haar war zu einem dicken, schwarzen Zopf geflochten, der ihr bis weit über die Hüfte fiel. Ihr Gesicht wirkte fremdartig mit den hohen Wangenknochen und den schräg stehenden Augen, die von so dunkler Farbe waren, dass Rosa auf den ersten Blick meinte, sie hätten keine Iris. Ihr Mund war ausdrucksvoll, geradezu sinnlich. Rosa hätte nie erwartet, eine so außergewöhnliche Frau in dieser Umgebung anzutreffen.
„Seid willkommen!“, sagte Sora mit seltsam singendem Akzent. Sie lächelte und verbeugte sich leicht.
„Mögen die Götter dir gewogen sein, Sora!“, sagte Rosa feierlich. Sie machte die Segnungsgeste, wie es ihr als Priesterin gebührte.
„Du bist weit von deiner Heimat entfernt, Sora. Was hat dich hierher verschlagen?“, fragte Roon. Rosa hörte noch immer Argwohn aus seiner Stimme. Sie sah ihn fragend an, aber er schien es zu ignorieren.
„Du hast recht, Mondmensch. Das gleiche allerdings könnte ich dich auch fragen“, entgegnete Sora freundlich. Sie wandte sich dem Kessel zu.
„Ich wurde als Kind verschleppt. Ist dir etwas Ähnliches widerfahren?“
Sora hielt inne, ihr Blick ging zu Kalih, der noch neben der Tür stand, dann sah sie Roon ernst an.
„Wo ich herkomme, leben wir in Frieden und Freundschaft mit den Yeti. Übrigens auch mit den Leuten deines Volkes, Mondmensch.“
„Es gibt so hoch oben Stämme von Mondmenschen?“, erkundigte sich Roon und plötzlich klang er interessiert.
„Aber ja. Die Nordhänge des Massivs sind dicht bewaldet. Dort leben sie. Ich habe als junges Mädchen ...“
„Wir haben nachher noch genug Zeit, Sternchen. Lass uns das Mal bereiten“, unterbrach Kalih Sora sanft. Er trat herzu und ergriff den Bügel des Kessels, hakte ihn von der Kette. Roon erhob sich, kam um den Tisch herum.
„Ich helfe dir“, sagte er und griff mit zu. Kalih, der das Gefäß ganz sicher auch allein bewältigt haben würde, ließ ihn gewähren und die beiden verließen das Haus.
„Kann ich mich auch nützlich machen?“, erkundigte sich Rosa und stand ihrerseits auf.
„Das wird nicht notwendig sein. Du bist eine heilige Frau, Küchenarbeit ist nichts für dich“, entgegnete Sora und hantierte mit allerlei Küchengerät.
„Ist das bei deinem Volk so Brauch?“, fragte Rosa und trat neben die kleine Frau, deren schmale Hände sich flink und sicher bewegten. Sie zerkleinerten Pflanzen und Früchte. Rosa sah seltsam geformte Fische, die sie ausnahm und von den Gräten befreite.
„Heilige Frauen leben nicht mit uns gemeinen Menschen zusammen. Sie leben in ihren Tempeln und Klöstern. Unsereins ist nur dazu da, sie zu umsorgen.“ In diesen Worten schwang ein resignierter Zorn mit. Rosa überlegte kurz, was dieser schönen Frau wohl alles zugestoßen sein mochte.
„Dann bin ich wohl keine heilige Frau, auch wenn ich der Göttin diene“, erklärte sie achselzuckend. „Was soll ich tun?“
Roon und Kalih traten vor das Haus. Zu Roons Überraschung strebte der Schneebold nicht dem Seeufer zu, sondern ging auf den ausgetretenen Steinplatten um das Gebäude herum. Dort, wo dessen Außenwand an die Böschung grenzte, war ein gemauerter Zugang zu einer Höhle im Felsen. Sie betraten sie und das feine Gehör des Mondmenschen vernahm das Glucksen von Wasser. Im Halbdunkel der Höhle erkannte er einen fast kreisrunden Weiher, in den sich eine Quelle ergoss. Sie schöpften das kalte, klare Nass in den Kessel.
Roon nahm undeutlich eine Öffnung in der Wand war, die zum Haus gehörte. Es gab dort offenbar einen weiteren Ausgang direkt zur Quelle.
„Es wäre zu eng gewesen für den Kessel“, erklärte Kalih, der Roons Blick bemerkt hatte.
„Wer hat dies hier angelegt? Waren das Schnee... Yeti? Die Menschen unseres Stammes waren es ganz sicher nicht.“
„Du meinst die Waldbewohner, zu denen auch Rosa gehört? Nein, sie haben längst vergessen, wie man solche Gebäude errichtet. Yeti waren es auch nicht. Mein Volk lebt sehr viel weiter südlich an den Hängen des großen Gebirges, das Sora das Dach der Welt nennt.“
„Wer war es dann?“, fragte Roon und sah den Riesen eindringlich an. Der griff nach dem Henkel des Kessels.
„Die Frauen brauchen das Wasser.“ Roon zögerte einen Moment, packte dann seinerseits zu.
„Wenn wir gegessen haben, mein Freund, werdet ihr alles erfahren“, sagte Kalih. Dann traten sie in das Haus und ließen die Kälte über dem See hinter sich.
Das Essen verlief schweigend aber in wunderbar friedlicher Atmosphäre. Die Männer lobten die Kochkünste der Frauen. Das war nicht nur Höflichkeit. Die Speisen war für Roon und Rosa mehr als nur ungewöhnlich, aber überaus schmackhaft.
Zum Abschluss reichte Kalih jedem einen metallenen Krug mit einem sehr aromatischen Getränk.
„Das ist wunderbar erfrischend! Was ist das?“, erkundigte sich Rosa begeistert.
„Ein Getränk aus meiner Heimat“, erklärte Sora, der die anerkennenden Worte zum Essen fast peinlich zu sein schienen.
„Es wird aus diesen Früchten zubereitet“, nahm Kalih den Faden auf. Er nahm eine der Früchte aus der flachen Schale.
„Ihr lasst den Saft gären, habe ich recht?“, erkundigte sich Roon arglos.
„Richtig!“ Sora nickte eifrig.
„Ihr wollt uns nicht betrunken machen, oder?“
„Wir hätten nicht genügend von diesem Getränk im Haus, dass uns das gelänge“, sagte Kalih leichthin und Rosa sah ihn lächeln. Trotzdem stockte die Unterhaltung. Rosa warf Roon einen Blick zu.
„Würdet ihr uns einen Moment entschuldigen?“, fragte sie dann in Kalihs Richtung und erhob sich. Sie zupfte Roon unmissverständlich am Arm. Er sah sie für einen Moment an und seine Augen stellten eine stumme Frage. Dann schwang er die Beine über die Bank und stand auf. Rosa ging in Richtung Portal. Wider Erwarten ließ es sich recht leicht öffnen.
Ein eisiger Wind begrüßte die Beiden. Rosa schauerte zusammen, drehte sich jedoch, kaum, dass die Flügeltüren geschlossen waren, heftig zu Roon um.
„Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, Roon. Warum bist du so unhöflich, warum stößt du die Beiden immer wieder vor den Kopf? Sie sind aufmerksame und freundliche Gastgeber, aber du bist ein abscheulicher Gast. Warum?“
Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah finster über sie hinweg zur Insel hinüber, die im Dunst des hereinbrechenden Abends lag.
„Warum?“, beharrte sie mit wachsender Ungeduld. Er schwieg. Eine scharfe Böe traf Rosa und sie spürte Eiskristalle im Gesicht.
„Du glaubst, du müsstest mich beschützen. Ist es das?“ Sie hob die Hände zu einer beschwörenden Geste.
„Ich verrate dir etwas, Roon Dickkopfsohn: Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Wenn wir jetzt da wieder rein gehen, möchte ich, dass du aufhörst, hinter allem einen Hinterhalt zu vermuten.“
„Sonst was?“, fragte er mit kalter Stimme.
„Kannst du zu unserer Hütte zurückkehren und auf mich dort warten. Dann gehe ich allein hinüber auf die Insel.“
Sie sprach nicht sehr laut aber sehr deutlich und sie sah ihm direkt ins Gesicht.
„Du schickst mich weg?“, fragte er und seine Stimme hatte einen feinen Riss.
„Wie willst du über den Winter kommen ohne mich?“
Sie sah ihn einen Moment verständnislos an, dann hob sie wieder die Hände und fast sah es aus, als wollte sie sein Gesicht umfassen. Er wich nicht zurück.
„Seit wann bis du so halsstarrig und kindisch, verdammt!?“, rief sie aus. Dann griff sie tatsächlich nach ihm. Er versteifte sich einen Moment. Sie zwang sein Gesicht zu sich herunter.
„Bitte, Maurice, bitte, Roon. Es ist alles in Ordnung. Ich schicke dich doch nicht weg. Aber bitte, mach uns das hier nicht unnötig schwer mit deinem Misstrauen und deiner Vorsicht. Um mehr bitte ich dich nicht.“
„Aber ich trage die Verantwortung“, sagte er störrisch. Sie suchte in seinen Augen und sah Trotz und Unsicherheit mit einander ringen.
„Für mich?“, fragte sie halblaut, etwas ratlos und erstaunt.
„Ich habe dich doch in diese Lage gebracht“, sagte er und sie spürte, dass seine Unsicherheit wuchs.
„Roon. Ich bin für mich allein verantwortlich. Ich habe dich mit auf diese Lichtung genommen. Alles andere wäre nie geschehen, wenn ich nicht wie eine dumme Göre gehandelt hätte, sondern wie eine Priesterin.“
Er hob zu einer Erwiderung an, aber sie legte ihm die Hand auf Mund.
„Ich friere und wir sind hier schon viel zu lange draußen. Habe ich dein Wort?“
Er zögerte, nahm ihre Hand aus seinem Gesicht. Rosa war für einen Herzschlag unsicher, ob er zustimmen würde. Dann küsste er vorsichtig ihre Finger und nickte.
Als sie in das Haus zurückkehrten, schlug ihnen die Wärme entgegen, die vom Kamin ausging. Kalih und Sora sahen nur flüchtig auf und redeten dann leise weiter.
Rosa und Roon setzten sich wieder auf die Bank. Kalih sah auf und fasste beide kurz ins Auge. Er hob den Krug mit dem Cidre und sah Roon fragend an. Der schob wortlos seinen Krug in die Mitte des Tisches.
Sie hoben die Krüge.
„Es ist ein großes Glück, euch getroffen zu haben. Wir danken der Großen Mutter dafür“, sagte Rosa feierlich und sie tranken.
„Nun, ob eure Göttin die Hand im Spiel hatte, weiß ich nicht. Ich jedenfalls überwache diesen Weg jeden Tag. Ihr musstet mich zwangsläufig kennen lernen“, sagte Kalih gut gelaunt.
„Wir danken ihr dafür, dass wir hier sitzen und nicht blutend am Strand liegen“, sagte Roon und hob erneut seinen Krug.
„Da stimme ich dir zu Krieger“, entgegnete der Yeti und erwiderte Roons Geste.
„Er ist ein Jäger, ein Holzfäller, ein Fischer. Er ist mein Gefährte. Manchmal, wenn es die Zeit erfordert, ist er ein tapferer Krieger. Das ist wahr.“ Rosa sah zur Seite und ihre Hand legte sich auf Roons.
„Er heißt Roon“, setzte sie hinzu.
„Der ‚Deuter der Zeichen‘“, sagte Sora leise.
„was meinst du?“, wollte Kalih wissen.
„Das bedeutet der Name in der Sprache der Mondmenschen“, gab sie zurück.
„Du sprichst unsere Sprache!?“ Roon war aufgesprungen und sah die kleine Frau fasziniert an. Rosa widerstand dem Impuls, ihn wieder auf die Bank zu ziehen.
„Unsere Sprache?“, erkundigte sich Kalih erstaunt. Sora sah zu ihm auf und Rosa registrierte fast belustigt, dass die kleine Frau ihn nun ihrerseits mit einem scharfen Blick bedachte, den der Riese sehr wohl mitbekam.
„Was?“, fragte er scheinheilig. „Ich wollte auch mal!“
Sora lachte hell auf und Rosa fiel mit ein. Die Spannung löste sich. Sie tranken vom Cidre und für einen Moment hing jeder seinen Gedanken nach.
„Ich war im Dienst einer Priesterin im Tempel über unserem Dorf. Es war damals Brauch, dass die Familien des Dorfes eine ihrer Töchter für diesen Dienst zur Verfügung stellten“, begann Sora zu erzählen. Sie wirkt auf einmal ernst und fast bekümmert. Rosa spürte, wie die Erinnerung die Frau aufwühlte.
„Ich war erst sieben, als sie mich hinaufbrachten, ganz früh am Morgen. Ich durfte nichts mitnehmen außer dem, was ich am Leib hatte. Ich durfte mich nicht verabschieden. Man sagte uns, dass wir uns nie wiedersehen dürften. Andernfalls drohte man, uns zu bestrafen.“
„Das klingt grausam. Welche Götter sind so?“, fragte Rosa nachdenklich.
Sora schüttelte den Kopf.
„Nicht die Götter, Rosa. Die Priesterinnen. Der Orden herrschte über das Land. So lange mein Volk denken konnte, war er da gewesen, hoch auf dem Berg.“
Was Sora ihnen dann berichtete, war eine sehr seltsame Geschichte. Einerseits hatten die Priesterinnen die Mädchen zu harter Arbeit herangezogen. Andererseits hatten sie Lesen und Schreiben lernen müssen und waren in den Riten und Bräuchen ihres Glaubens unterwiesen worden. Sora hatte sich als außerordentlich sprachbegabt erwiesen und als sie vierzehn oder fünfzehn Winter gesehen hatte, war sie mit einer der Priesterinnen zu einer Mission auf die Nordseite des Gebirges aufgebrochen.
So war sie in Kontakt mit den Stämmen der Mondmenschen gekommen, hatte deren Dialekte gelernt und ihre Sitten studiert. Die Geschichte dieser seltsamen Wesen, die halb Mensch und halb Wolf sein konnten, hatte sie fasziniert und zugleich mit Grauen erfüllt. Wohin sie auch immer gekommen waren, andere Stämme und andere Wesen hatten sie furchtbar verfolgt und oft nicht eher geruht, bis die Dörfer vernichtet und alle ihre Bewohner ausgerottet waren.
„Mein Volk hat sich an diesen Verbrechen auch lange beteiligt“, erklärte Kahli mit ernster und nachdenklicher Stimme. Er sah Roon direkt ins Gesicht.
„Ich muss dich für diese Gräuel ehrlich um Vergebung bitten, Mondmensch!“, sagte er und er reichte dem Angesprochenen die Rechte.
Roon indes war bei Soras Erzählung sichtbar bleich geworden. Seine Fäuste lagen auf dem Holz des Tisches und die Knöchel traten weiß hervor.
Schließlich sah er dem Yeti in die dunklen Augen.
„Das ist lange her und ich glaube nicht, dass du die Sünden deines Volkes an dem meinen allein tragen kannst. Ich habe dir nichts zu vergeben. Es gibt andere, denen ich ihren blinden Hass nicht einfach verzeihen kann. Aber ich bin bei eben Diesen zum Mann herangewachsen und habe ihnen auch viel zu verdanken. Das ist der Zwiespalt, mit dem mein Herz zu leben hat.“ Sprach es und reichte Kahli die Hand.
Rosa war mit ein wenig Unbehagen dem Bericht der Frau gefolgt und hatte sich gespannt, als Kahli seine Bitte um Verzeihung vorgetragen hatte. Roons Entgegnung überraschte sie nicht wenig. Aber sie ließ sie auch mit einem unsicheren Gefühl zurück. Es war ihr Stamm, von dem Roon gesprochen hatte. Ihr Stamm, der sich des Mordes an vielen Mondmenschen schuldig gemacht haben musste, wenn Roons Erinnerungen ihn nicht trogen. Trotzdem legte sie ihm dankbar ihre Hand auf den Arm.
Die Unterhaltung stockte. Rosa sah Roon an in der Hoffnung, seinem Blick zu begegnen. Er schien es zu spüren, lehnte sich zurück und deutete ein Gähnen an.
„Es ist spät und wir haben morgen einen schweren Tag“, sagte er, ohne ihre Gastgeber direkt anzusehen.
„Du hast Recht, verzeih‘ unsere Unaufmerksamkeit“, entgegnete Sora mit einem kleinen, entschuldigenden Lächeln. Sie erhob sich.
„Ich zeige Euch Euren Raum, in dem Ihr Euch zur Ruhe legen könnt“, erklärte sie und deutete auf die Tür, die tiefer in das Gebäude führte. Kahli erhob sich ebenfalls und kam um den Tisch herum.
„Ich werde euch morgen hinüber bringen auf die Insel. Weiter darf ich nicht. Wie ist es mit Dir?“ Er sah Roon fragend an.
„Ich weiß nicht, ob es mir verboten ist, dieses Heiligtum zu betreten. Die Große Mutter spricht nicht mit mir“, entgegnete Roon und zuckte die Achseln.
„Du könntest hier bei mir auf Rosas Rückkehr warten“, schlug Sora vor. Sie war zur Tür getreten und schaute sich um.
„Ich werde Rosa nicht allein dort hinüber gehen lassen“, sagte er ruhig, aber es war klar, dass für ihn das Thema damit erledigt war.
„Lasst uns das morgen früh entscheiden“, sagte Kahli mit seiner kollernden Stimme.
Roon machte kurz Anstalten, ihm zu antworten, aber Rosa zupfte ihn kurz am Ärmel.
Sie folgten Sora durch die Tür in einen schwach erhellten schmalen Flur, von dem rechts und links Türen abgingen. Bei der fünften Tür auf der linken Seite blieb Sora stehen.
„Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, meine Freunde“, sagte sie und ihr Gesicht erstrahlte einen kurzen Moment.
„Möge die Große Mutter Euch beschützen, dich und Kahli“, gab Rosa fast etwas formell zurück. Sora deutete eine Verbeugung an und ließ die beiden stehen.
Der Raum wurde durch Lampen an den Wänden in ein behagliches gelbes Licht getaucht. Er war nicht besonders groß, fensterlos und bis auf das breite, niedrige Bett leer.
Rosa und Roon standen einen Moment vor der Bettstatt und sagten kein Wort. Dann begann Rosa, ihre Kleider abzulegen. Roon sah ihr für ein paar Augenblicke dabei zu, dann folgte er ihrem Beispiel. Rosa schlug die Felle auf dem Bett zurück und stieg hinein. Er stand auf der anderen Seite und sah sie an. Etwas stand in seinen Augen.
„Was ist?“, fragte sie. Er antwortete nicht, ließ sich wortlos neben ihr nieder.
„Etwas beschäftigt Dich, Roon. Sag mir bitte, was es ist. Misstraust Du mir oder unseren Gastgebern?“
Er drehte sich zu ihr und sah ihr ins Gesicht. Sie sah, wie seine Kaumuskeln spielten. Sie hob den Arm und legte ihm ihre Hand auf die Wange.
„Was werden wir auf der Insel finden? Was wirst Du dort finden?“, fragte er nach geraumer Zeit, als Rosa schon nicht mehr damit gerechnet hatte.
„Das weiß ich nicht, Roon. Ich weiß es nicht. Nur wenige Priesterinnen waren bisher je dort auf der Insel, soweit ich weiß. Aber ich bin mir sicher, dass uns nichts geschehen wird. Mir nicht und Dir auch nicht.“
„Die Große Mutter war auf der Lichtung auch nicht sehr hilfreich, findest Du nicht?“, fragte er nach einer Weile.
„Gib nicht ihr die Schuld für meine Torheit“, entgegnete Rosa sanft.
„War es eine Torheit, mich zu wollen?“, fragte er.
Sie seufzte.
„Ja und nein. Wenn Du ein Mann meines Stammes wärest, ja. Aber Du bist ein Mondmensch. Das haben sie mir vorenthalten. Wie vermutlich eine Menge mehr. Auch die dunklen Geheimnisse Deiner Herkunft.“
Sie rückte näher an ihn heran, bis ihre Körper sich berührten. Sie spürte, wie er erschauerte.
„Ich will Dich immer noch, Torheit hin oder her“, sagte sie leise.
Rosa träumte.
Sie wusste, dass sie das tat.
Sie schwamm kurz unter der Oberfläche zum Wachsein dahin und sah sich selbst im Traum. Außerdem sah sie am Rande des sanft abfallenden Hanges hinunter zum Wasser die weiße Wölfin zwischen den Kiefern sitzen. Ihre himbeerfarbene Zunge hing ihr aus dem Maul und ihre farblosen Augen waren starr auf sie gerichtet.
Es gab keinen Grund, sich vor dem Tier zu fürchten. Schon gar nicht, da Rosa doch wusste, dass diese Wölfin Ou hieß und mit ihr sprach, wenn sie wollte. Rosa wunderte sich, dass sie nicht neugierig war, warum Ou ihr hier begegnete. Sie war erfüllt von der heiteren Gewissheit, dass sie es gleich erfahren sollte. Anders konnte es nicht sein.
Aber Träume funktionierten so nicht. Eigentlich musste sie das wissen. Eigentlich hätte sie sich vor dieser trügerischen Gewissheit in Acht nehmen müssen.
Ihre Heiterkeit begann Risse zu bekommen. Es begann an den Rändern, haarscharf außerhalb ihres Sichtfeldes. Unruhe schlich sich aus dem Unterholz ihrer halb gedachten Gedanken an, hinterrücks und voller Heimtücke.
Rosa sah eine Bewegung links von Ou und ein Schneebold brach aus dem Wald. Er hielt etwas in der Linken, die mächtige Pranke mit den spitzen, scharfen Klauen, umschloss es. Am Hang blieb er stehen und sah hinüber zur Wölfin. Er schien etwas zu sagen, aber Rosa hörte ihn nicht. Die Lautlosigkeit begann sie zu beunruhigen. Sie und die wachsende Einsicht, was der Riese dort umklammert hielt. Fast hätte man meinen können, es wäre eine Stoffpuppe. Ihre Arme und Beine pendelten bei jeder seiner Bewegungen hilflos hin und her. Der Kopf der Puppe hatte langes blondes Haar, das wirr und zerzaust um den kleinen Kopf hing. Ein leiser Wind bewegte es und gab einen kurzen Moment den Blick auf das kleine Gesicht frei.
Rosa hielt den Atem an. Sie versuchte einem Impuls folgend zum Yeti hinaufzugelangen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Für gewöhnlich konnte sie in solchen Fällen fliegen; eine Bewegung, die träge und entmutigend war, als schwämme man in Sirup, aber es wäre besser, als hilflos dastehen zu müssen. Aber auch dies blieb ihr versagt.
Das, was der Schneebold da in seiner Faust hatte, war das Mädchen, dem Rosa begegnet war auf ihrem Weg hinauf zum Himmelsauge. Das Mädchen, in deren Begleitung Ou gewesen war.
„Ich habe sie enttäuscht, als ich ihre Hilfe ausschlug, ihre und Ous“, ging es ihr durch den Sinn. Sie spürte Scham in sich aufsteigen. Vielleicht auch Bedauern, vielleicht sogar Schuldbewusstsein? Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten.
„Was soll das? Ich bin nicht verantwortlich für sie. Nicht für sie und auch für die Wölfin nicht!“, sagte ihre Stimme in ihrem Kopf. Sie sollte trotzig klingen, aber sie bebte. Ihre Stimme, ihre Hände, ihr Herz. Alles an ihr wurde wie von einem Krampf geschüttelt.
Sie riss ihren Blick los vom aufragenden Yeti und sah hinauf zur weißen Gestalt der Wölfin. Die hatte den Kopf gedreht und starrte hinüber. Wenn sie etwas zu ihm sagte, so konnte Rosa auch dies nicht hören. Die Welt schien alle Geräusche verloren zu haben.
Der Yeti legte das Mädchen vor sich auf den Boden. Er tat es mit einer gewissen Zärtlichkeit und so behutsam, wie es Rosa nicht für möglich gehalten hätte. Dann trat er zurück. Die Wölfin erhob sich und mit ihren federnden Schritten lief sie zu dem Mädchen hinüber.
„Melissa“, sagte Rosa leise. „Das Mädchen heißt Melissa!“
Plötzlich erkannte sie, dass der Yeti sich veränderte. Auf eine Weise, die sich weder beschreiben noch verstehen ließ, wurde er zu Sona, einem riesigen und scheinbar überaus zornigen Sona. Der einen Bogen gespannt hielt, auf dessen Sehne ein schwarzer Pfeil lag. Das Gesicht des Mannes war zu einer grässlichen Fratze verzerrt. Rosa wusste, dass er schießen würde. Auf diese Entfernung würde er unmöglich sein Ziel verfehlen.
Rosa versuchte zu schreien. Sie versuchte ihrerseits den Bogen von der Schulter zu reißen. Sie war eine geübte Jägerin und sie würde den Mord verhindern. Allein, ihre Hände griffen ins Leere.
„Nein, das darfst du nicht!“
Hände ergriffen ihre Schultern. Sie erschrak, versuchte sich zu befreien.
Dann erwachte sie. Es war, als tauchte sie auf, dem Ertrinken nahe. Sie rang nach Atem, spürte Tränen auf ihren Wangen und ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust.
„Du hast geträumt!“, sagte Roons Stimme neben ihr. Sie atmete seinen Geruch und spürte die sanfte Kraft seiner Hände.
„Du kommst zu spät!“, flüsterte sie benommen an seiner Schulter.
Der Pfeil hatte die Sehne verlassen.
„Wir müssen aufbrechen“, sagte seine Stimme dicht neben ihrem Ohr. Sie schrak auf. Im Raum war es fast dunkel. In der Ecke brannte eine Lampe und spendete unruhiges Licht. Rosa richtete sich auf. Roon stand neben der Bettstatt. Er war bereits angekleidet.
Sie erhob sich, schüttelte den Kopf, um den leichten Schwindel zu vertreiben, der sie anflog. Sie spürte, dass sie nackt war, aber das spielte keine Rolle. Rasch raffte sie Ihre Kleidung vom Boden und begann, sich anzukleiden.
„Ist etwas passiert?“, fragte sie und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Er stand an der Tür und schien sehr ungeduldig.
„Noch nicht. Aber ich spüre es. Vertrau‘ mir, wir müssen fort.“
„Was ist mit der Insel?“, fragte sie und schlüpfte in ihre Fellstiefel.
„Wir werden sehen“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie hielt inne, hob den Kopf und sah ihn an.
„Was meinst Du damit?“, erkundigte sie sich und stand auf. Schritte näherten sich auf dem Gang hinter der Tür und Roon wich zurück.
„Roon?" Rosa sah ihn fragend an.
Dann wurde an die Tür geklopft.
„Rosa, Roon?“ Soras Stimme klang gedämpft durch das Holz.
„Wir kommen, einen Moment!“, rief Rosa, bevor Roon etwas sagen konnte. Sie sah Bestürzung in seinem Blick.
„Was ist los?“, flüsterte sie und ging auf ihn zu.
„Ich spüre es!“, sagte er tonlos und Rosa glaubte Furcht in seinem Gesicht zu sehen.
„Was? Was spürst Du?“ Sie legte ihm die Hand auf die Wange. Sie spürte, dass er am ganzen Körper zu beben schien. Dann hörte sie das Grollen tief in seiner Brust.
Sie riss ihn an sich, legte den Kopf an seine Schulter und umklammerte ihn. Er wurde steif unter ihrem Griff und er sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Er wollte sich lösen, aber sie hielt ihn fest.
„Beruhige dich, Liebster!“, sagte sie leise, aber eindringlich. Sie hatte ihn noch nie so genannt, aber das war ihr nicht bewusst.
Sie schloss die Augen und sandte ihre Gedanken aus. Fand die seinen, flatternd, unstet. Verband sich mit ihnen. Sah flammende Angst und Zorn. Sah Bilder, die sie nicht verstand. Hörte Worte in dieser fremden Sprache.
„Rosa? Alles in Ordnung?“
Kahlis Stimme dröhnte hinter der Tür. Rosa erinnerte sich flüchtig an ihren Traum, an den Schneebold dort am Waldrand, das leblose Kind in der Pranke.
„Die Sonne geht gleich auf. Es wird Zeit, aufzubrechen!“, sagte der Yeti.
„Ja, wir kommen gleich!“, antwortete Rosa und bemühte sich, ihrer Stimme einen sorglosen Klang zu geben.
Die Tür öffnete sich und der Yeti trat ein. Roon riss sich von Rosa los. Ein hässlicher Laut entrang sich seiner Kehle.
„Roon, nein!“, rief Rosa und versuchte, ihn aufzuhalten. Es war zu spät. Die Lampe in der Ecke verlosch und Rosa hörte im Dunkeln die Geräusche des Kampfes. Kurz und heftig.
„Komm!“, sagte dann die tiefe Stimme des Yeti.
Texte: Andreas E. Jurat
Bildmaterialien: Marie Baje
Cover: Andreas E. Jurat
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Marie